Bis einer stirbt - Isabell Beer - E-Book

Bis einer stirbt E-Book

Isabell Beer

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Beschreibung

Nach ersten Drogen-Erfahrungen rutscht Josh mit 17 in die Drogenszene im Internet ab. Das Netz wird ihm zum Shopping-Paradies und zur Heimat wie Christiane F. der Bahnhof Zoo. Über Drogen-Foren und WhatsApp vernetzt er sich mit anderen Konsumenten, manche geben gefährliche Tipps. Josh bestellt immer krassere Substanzen, erhöht die Dosis. Online lernt er auch die heroinabhängige Leyla kennen. Sie tauschen sich über ihr Leben mit dem Rausch aus. Während Leyla ihren Alltag bewältigt, ihr Abi besteht und studieren geht, stürzt Josh weiter ab, Therapieversuche bleiben erfolglos. Den Ausstieg aus der Online-Drogenszene schafft er nicht. Isabell Beer erzählt die Geschichte zweier Jugendlicher, die beim Experimentieren mit Drogen die Kontrolle verlieren. Sie zeigt, wie und wo unsere heutige Drogen-Politik versagt und was passieren muss, um Jugendliche zu schützen. Ein unter die Haut gehender, verstörender Bericht. »Isabell Beer öffnet Türen und gibt den Blick in Räume frei, die sonst im Dunkel versinken. Sie macht das faktenreich, sehr nah am Menschen, sprachlich brilliant.« Isabel Schayani in der Laudatio für den Newcomer-Preis der Otto-Brenner-Stiftung, den Beer für ihren ZEIT-Artikel über Josh erhielt.

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Bis einer stirbt

Die Autorin

Isabell Beer, Jahrgang 1994, ist als 18Jährige direkt nach dem Abi durch ein Praktikum in der Online-Redaktion der Nürnberger Nachrichten in den Journalismus eingestiegen. Mit 20 begann sie beim Berliner Kurier ein Volontariat, das sie mit einem halbjährigen Praktikum im ZEIT-Hauptstadtbüro abschloss. In dieser Zeit recherchierte sie undercover in einem Netzwerk aus Voyeuren und bekennenden Vergewaltigern. Die Recherche wurde ZEITmagazin-Titelstory, Isabell Beer wurde für den Deutschen Reporterpreis in der Kategorie "Investigation" nominiert und schreibt seitdem als freie Investigativ-Journalistin für die Zeit. Für ihr ZEIT-Dossier über Joshs Geschichte erhielt sie 2019 den Newcomer-Preis des Otto-Brenner-Preises.

Das Buch

Ein erschütternder Bericht über die Drogenszene in der Generation Internet  Nach ersten Drogenerfahrungen rutscht Josh mit 17 in die Drogenszene im Internet ab. Er vernetzt sich mit anderen Konsumenten, bestellt immer krassere Substanzen, erhöht die Dosis. Online lernt er auch die heroinabhängige Leyla kennen. Sie tauschen sich über ihr Leben mit dem Rausch aus. Isabell Beer erzählt die Geschichte zweier Jugendlicher, die beim Experimentieren mit Drogen die Kontrolle verlieren. Ihr Buch zeigt, wo unsere Drogenpolitik versagt und benennt alternative Lösungsansätze, wie Jugendliche geschützt werden können.

Isabell Beer

Bis einer stirbt

Drogenszene Internet – Die Geschichte von Leyla & Josh

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Econ ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH© 2021 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin und Carlsen Verlag GmbH, HamburgAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: total italic, Thierry WijnbergLektorat: Regina CarstensenAutorenbild: © Anke-Madlen JaeckelE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 9783843725514

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Vorwort

Leyla & Josh

1Zum ersten Mal high

2Berauschter Alltag

3Kontrollverlust

4Drogen? Immer verfügbar

5Koks-Pipi und die erste Spritze

6Elend und Entfremdung

7Pep-Schulzeit

8Bis einer stirbt

9Nur einmal Heroin

10Drogengeld

11Alles mal probieren

12Die Droge des anderen

13Eine Community, die keine ist

14Drogen-Pläne und ein bisschen Hoffnung

15Offline

16Leylas neues Leben

Nachwort Throwback in meine Jugend

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorwort

Widmung

Für엄마

Vorwort

»Alle Lektüren über Drogen, die ich gelesen habe, egal wie kaputt die Leute waren, egal wie abgeranzt, abgewichst, ob die anschaffen waren, das war mir in dem Moment völlig latte – ich fand es magisch und anziehend. Und genau das soll dieses Buch bitte nicht werden. Also stell es dar, wie es ist.« Das sagt Leyla, Mitte zwanzig, heroinabhängig.

Es wird immer Menschen geben, die Drogen nehmen. Das wird kein Buch verhindern. Und Drogen werden jungen Menschen dorthin folgen, wo sie sich aufhalten. Auf den Schulhof, in Jugendclubs – und ins Internet, auf soziale Plattformen.

In den Sechziger- und Siebzigerjahren griffen Musiker und andere Künstler zu halluzinogenen Drogen wie LSD, die Beatles schrieben sogar einen Song darüber. Heute sind Rap- und Hip-Hop geprägt von Drogen und Medikamenten, die betäuben und die Wahrnehmung dämpfen, etwa das starke Schmerzmedikament Tilidin, angstlösende Xanax-Tabletten oder Dirty Sprite, mit codeinhaltigem Hustensaft versetzte Limonade.

Was sich nie geändert hat, ist der Reiz, der von diesen Substanzen ausgeht. Gerade auf junge Menschen. Geändert hat sich aber die Drogenszene durch Internet und Smartphones, die immer mehr unsere Leben bestimmen. Schon 2009 hieß es in einem Bericht des WDR, dass auf dem Portal SchülerVZ Anleitungen zum Drogenkonsum geteilt würden. SchülerVZ gibt es seit 2013 nicht mehr, die Online-Drogen-Gruppen sind zu Facebook abgewandert.

Aber auch auf Facebook sind diese Gruppen inzwischen kaum noch aktiv. Die junge Online-Drogenszene hat sich einfach nur auf anderen Plattformen etabliert, auf denen Jugendliche sich bewegen – das ändert sich alle paar Jahre. Inzwischen werden Drogen über Instagram und Telegram angeboten.

Dieses Buch hat nicht den Anspruch, abschreckend zu sein, sondern den, differenzierte Informationen zu liefern. Es geht um zwei junge Menschen, Leyla und Josh, die als Teenager damit beginnen, Drogen zu nehmen. Es geht um Kontrollverlust, den Kampf mit der Sucht, die Folgen, die man nicht sieht und die doch da sind. Weiterhin thematisiert es die Ausgrenzung und Stigmatisierung, die Scham und die Angst. Und letztlich geht es auch ums Scheitern, um neue Hoffnung und viele Neuanfänge.

Durch meine Recherchen und meine Gespräche mit Drogenkonsumenten und Experten wurde vor allem eines klar: Unsere heutige Drogenpolitik hat versagt. Verbote haben nicht dazu geführt, dass Jugendliche keine Drogen nehmen. Sie haben einen Markt für legale Drogen begünstigt, für Substanzen, die unerforscht sind und oft tödliche Folgen haben. Derartige lebensgefährliche Substanzen konnte sich Josh etwa für wenig Geld oder sogar kostenlos und ganz legal in sein Kinderzimmer bestellen.

Verbote haben aber auch einen illegalen Markt geschaffen, mit der Folge, dass Menschen an Streckmitteln sterben oder versehentlich überdosieren, weil die Reinheit stark schwankt. Sie rutschen in Beschaffungskriminalität ab oder prostituieren sich für ihre Sucht.

Aufgrund dieser Verbote und der Stigmatisierung suchen einige Konsumenten lange keine Hilfe, aus Angst, sich Perspektiven zu verbauen, auch berufliche. Sie führen dazu, dass sich Konsumenten noch mehr selbst schaden, als sie es tun würden, wenn sie offen mit ihrer Sucht umgehen könnten.

Zu einem haben Verbote, Stigmatisierung und die Kriminalisierung von Konsumenten in all den Jahren allerdings nicht geführt: Dass Menschen keine Drogen mehr nehmen. Und das werden sie auch nie verhindern.

Als Autorin habe ich mir viele Gedanken gemacht, was man tun kann, um Jugendliche zu schützen. Warum Leyla, die so alt ist wie ich, heroinsüchtig ist und ich nicht? Durch die Begegnungen mit ihr habe ich jedenfalls eines gelernt: Was uns trennt, sind ein paar Entscheidungen, die wir als Teenager getroffen haben. Und durch Leyla habe ich zum ersten Mal verstanden, warum Menschen Heroin nehmen.

Um Jugendliche vor Überdosen zu bewahren, müssen wir akzeptieren, dass es immer welche unter ihnen geben wird, die Drogen nehmen werden. Genauso wie Jugendliche immer Sex haben werden. Um ihnen zu helfen, müssen wir sie aufklären. Über die Wirkung, die Risiken und auch über Safer Use – so wie wir es bei Safer Sex tun. Damit sie verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen können.

Wenn wir ihnen diese Informationen nicht geben, werden sie sie sich woanders beschaffen – im Internet, wo sie schnell an gefährliche und falsche Infos geraten können.

Denn wenn wir nicht verhindern können, dass Jugendliche an Drogen kommen und zu ihnen greifen, sollten wir ihnen das Wissen an die Hand geben, wie sie risikoärmer konsumieren und Überdosen vorbeugen können. Darum gibt es einen mit Experten abgestimmten Anhang mit den wichtigsten Regeln zum Thema Safer Use.

Alle Personen, die in diesem Buch vorkommen, haben einen anderen Namen, außer Josh. Die meisten haben einem Treffen nur unter der Voraussetzung zugestimmt, dass sie anonym bleiben. Um Leyla darüber hinaus zu schützen, werden keine Städte oder Regionen genannt. Zu Leylas Geschichte konnte ich deshalb auch weniger Menschen aus ihrem Umfeld befragen als bei Josh – nämlich nur die, denen sie vertraut: einen Online-Freund, ihren Freund Fynn, ihre Mutter, ihren besten Freund Aziz sowie einen Mitarbeiter aus der Suchthilfe, der Leyla persönlich kennt. Einige ihrer Erzählungen lassen sich deshalb nicht verifizieren. Leylas Aussagen, die ich überprüfen konnte, haben sich bislang aber als wahr herausgestellt oder ließen sich über Online-Posts nachvollziehen.

Ein Großteil der Zitate aus den Online-Posts wurden nach Rechtschreibung, Grammatik und Tippfehlern korrigiert, um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen. Inhaltlich wurden diese Zitate aber nicht verändert.

Zuletzt möchte ich Leyla selbst zu Wort kommen lassen.

»Liebe Leserinnen, liebe Leser«, schreibt sie. »Auch wenn die Vorurteile oft stimmen, sollte man verstehen, was Sucht ist. Wie schnell ist gesagt: ›Sie soll doch einfach aufhören, Drogen zu nehmen!‹ Was man dabei aber vergisst: Jeden Tag nimmt man sich vor, früher ins Bett zu gehen, jedes Silvester fasst man den Plan, ein paar Kilo abzunehmen, weniger Süßigkeiten zu essen, mehr Sport zu machen, vielleicht mit dem Rauchen aufzuhören. Jedes neue Schuljahr nehmen sich Kinder vor, die Hefte sauberer zu führen, schöner zu schreiben.

Aber es bleiben Vorsätze!

Mein persönliches Laster ist das Heroin, welches – anders als die Laster der Normalbevölkerung – einen gravierenden körperlichen Entzug mit sich bringt, wenn man es absetzt. Also, wie könnt ihr urteilen, wenn ihr eure eigenen kleinen Vorsätze nicht umgesetzt bekommt? Ich würde mir wünschen, dass wir viel toleranter und empathischer mit den psychischen Problemen anderer umgehen. Wie kann man sagen: ›Hör doch einfach auf mit den Drogen!‹, während man nicht einmal sein eigenes vermeintliches Problem lösen kann?

›Hör doch einfach auf!‹ Wenn das so einfach ginge, dann würde es dieses Buch nicht geben. Deshalb lasst uns denken, bevor wir reden. Auch wenn wir nicht nachvollziehen können, was unser Gegenüber gerade durchmacht, so können wir dennoch empathisch und respektvoll sein.«

Über drei Jahre hinweg habe ich immer wieder mit Leyla gesprochen. Ihre Aussagen in diesem Buch sind Momentaufnahmen ihres Lebens mit der Sucht.

Leyla & Josh

Als Leyla zum ersten Mal die Nadel einer Heroinspritze an ihrer Armbeuge ansetzt, durchströmt sie eine unglaubliche Vorfreude. Wie als Kind, als sie ihren ersten Hund bekommen hat. Nur dass sie jetzt nicht in ihrem Zuhause sitzt und sich auf das neue Haustier freut, sondern auf dem Boden eines 50-Cent-Toilettenhäuschens nahe der Heroin-Szene.

Es stinkt hier, doch Leyla ist das egal. Es ist diese Vorfreude, die so mächtig ist, dass sie alles andere überdeckt, auch den Gestank in diesem Klohäuschen und die Tatsache, dass dort noch fremdes Blut klebt – von jemandem, der sich kurz vor ihr einen Schuss gesetzt hat.

Einmal will sie das hier machen, ein einziges Mal. Nur um zu wissen, was so stark ist, dass andere dafür alles aufgeben. Sie ist sich sicher, dass sie stärker sein, dass sie wieder aufhören können wird. Und sie ist sich sicher, dass sie weiß, was sie tut, anders als die, die darauf hängen bleiben oder an Überdosen sterben.

Ein Gefühl, das sie mit Josh verbindet, der ein paar Hundert Kilometer entfernt in seinem Rausch manchmal nicht mehr weiß, was er schon alles genommen hat. Und dann nimmt er noch mehr. Wenn er wieder zu sich kommt, sind seine Vorräte oft schon aufgebraucht und er mal wieder knapp am Tod vorbeigeschrammt. Und doch tut er es immer wieder. Um in seiner Welt zu sein, wie er sagt. Eine Welt, die nichts mit seinem realen Leben und seinen realen Problemen zu tun hat. Alles, was sich um Drogen dreht, saugt er in sich auf. Sie sind zu ziemlich dem Einzigen geworden, was ihn interessiert, sie sind seine große Liebe.

In seiner Wohnung stehen Tropfflaschen, liegen Plastiktütchen mit unterschiedlichen Substanzen verstreut, steht eine Feinwaage. Hier hantiert er mit Substanzen, die schon im Milligramm-Bereich tödlich sind. Manches mixt er selbst zusammen. Er ist sich sicher, dass er weiß, was er tut. »Jede Droge kann gefährlich sein, wenn man nix drüber weiß lol«, schreibt er. Josh kennt sich aus und ist überzeugt, dass nur die sterben, die keine Ahnung haben. Er ist der Laborleiter – und das Versuchskaninchen in einer Person. Oder, wie er das ausdrückt: »die Versuchsschlampe«.

1Zum ersten Mal high

»Er war anders, schon als Kind«, erzählt sein Vater, der auch heute noch in dem Haus lebt, in dem Josh groß geworden ist. Einem Haus in einem kleinen Dorf in Rheinland-Pfalz, in dem nur wenige Hundert Menschen leben und wo es noch nicht einmal einen Bahnhof gibt. Ein Haus mit vielen gerahmten Fotos dieses blonden Jungen mit Sommersprossen und einem breiten Grinsen im Gesicht. Der große Garten öffnet einen unglaublichen Blick auf unberührte Natur. In dieser Idylle wächst Josh auf, in diesem Ort, den er später als das »letzte Kuhkaff« bezeichnen wird.

Unter der Woche arbeitet sein Vater als Bauingenieur in der Schweiz, Josh ist dann mit seiner Mutter in dem großen Haus allein. Jeden Abend singt sie mit ihm Schlaflieder und liest ihm mindestens eine lange Gutenachtgeschichte vor. Am Wochenende übernimmt der Vater das Vorlesen und streicht ihm dabei vom Nasenrücken aus über die Stirn, bis er zufrieden einschläft. Josh ist ruhig und sensibel, ein Träumer. Seine Eltern fördern ihn, versuchen ihn fürs Skifahren zu begeistern, für Fußball, Leichtathletik, Karate, für irgendwas. »Er wollte meist schon nach einem Mal nicht mehr hin. Wir haben ihn aber ein paarmal hingefahren – ohne Erfolg«, erinnert sich sein Vater. Josh hat auf nichts wirklich Lust. Er ist am liebsten zu Hause.

»Manchmal haben wir ihn mitgenommen zum Radfahren«, erzählt sein Vater, »das hat er dann über sich ergehen lassen. Er war aber nie körperlich aktiv. Er hat sich bei allen Bereichen minimalistisch verhalten, so wenig wie möglich bewegt.«

Jede Anstrengung liegt Josh fern. In den gemeinsamen Urlauben geht er zwar ins Meer, aber nicht, um zu schwimmen. Er lässt sich einfach nur treiben, bis seine Lippen blau und seine Hände ganz schrumpelig sind.

Leyla ist kein geplantes Kind – doch als ihre Eltern von der Schwangerschaft erfahren, freuen sie sich riesig. Sie wird in einer deutschen Großstadt geboren. Mit ihren Eltern lebt sie in einer kleinen Wohnung im dritten Stock eines Plattenbaus, in einer Gegend, in der es viel Armut gibt.

Leylas Vater ist einige Jahre zuvor aus seiner Heimat, einem arabischen Land, geflüchtet. Ihre Mutter hat ebenfalls arabische Wurzeln. Ihre Eltern reisen mit ihr immer wieder für mehrere Monate in das Land ihres Vaters, das sie alle verbindet. Leyla spielt dort stundenlang mit den Katzen, die in den Gassen der Stadt herumstreunen. Schnell ist Leyla im Viertel für ihre unbändige Tierliebe bekannt.

Manchmal, wenn Leyla abends im Bett liegt, hört sie entfernt Schüsse. »Dass mal eine Bombe fällt, ist jetzt nichts so Ungewöhnliches«, sagt sie. Es gibt noch etwas, was sie als bedrohlich empfindet: Immer wieder fällt der Strom aus. »Das ist schon eine Atmosphäre, die einem den Boden unter den Füßen wegreißt. Vor allem das Geheul der Schakale und der Straßenhunde in der Umgebung. Man weiß nie: Wo sind die? Sind die vor dem Haus?« Dämmert es, will sie ihre Familie ganz nah bei sich haben und weigert sich, alleine zu schlafen – und so legt sich ihre Mutter jede Nacht zu ihr ins Bett und erzählt ihr Geschichten, bis ihr die Augen zufallen. Manchmal übernimmt das auch Leylas Vater.

Kurz vor ihrem sechsten Geburtstag bekommt sie einen Hund, den sie nachts zu sich ins Bett holt. Erst verbieten ihr das ihre Eltern. »Aber irgendwann haben sie gemerkt, das ist zwecklos.«

Als Leyla in Deutschland zur Schule geht, heißt es auf Elternabenden, sie sei »hibbelig«, so erinnert sich ihre Mutter. »Ich war voll das ADHS-Kind«, sagt Leyla selbst. Es gibt darüber sogar eine ärztliche Diagnose, die die Mutter aber wegwirft. Sie will das »nicht haben, nicht wissen«.

Leyla leidet unter ihrer Unruhe, besonders in der Schule. »Fünfundvierzig Minuten still zu sitzen – für mich war dieser dauernde Bewegungsdrang schon quälend, und dass ich permanent genervt habe – das hat mich selbst genervt. Konnte ich mich konzentrieren, hatte ich es ziemlich leicht, zwischen Eins und Drei zu stehen. Ließ ich es schleifen, kam es vor, dass ich Fünfen oder Sechsen nach Hause gebracht habe.«

Ihre Eltern bleiben nie lange an einem Ort. Leylas Kindheit ist von ständigen Umzügen in Deutschland geprägt und längeren Aufenthalten in der Heimat ihres Vaters. Als sie acht ist, geht Leyla sogar in der arabischen Heimat ihres Vaters zur Schule und ihre Mutter unterrichtet sie zudem zu Hause, sie leben nun dort. Dort spielt sie viel mit Kindern aus ihrer Familie. Trotz der bedrohlichen Atmosphäre fühlt sie sich hier wohl und frei. »Sie war sehr neugierig und wollte vieles ausprobieren. Ich ließ sie auch alles machen«, erzählt ihre Mutter. Leyla ist ein draufgängerisches Kind. Als sie einen etwa zwölf Meter hohen Mast hochklettert, sorgen sich andere Mütter um sie, sagen ihrer Mutter: »Um Gottes willen! Wie kannst du das zulassen?«, doch sie lässt ihre Tochter weiterklettern. Sie vertraut Leyla blind, sorgt sich nie wegen dem, was sie tut. Sondern nur um Dinge, die nichts mit Leylas eigenen Entscheidungen zu tun und auf die sie keinen Einfluss haben, wie Krankheiten.

In Deutschland genießt auch Josh Zeit mit Gleichaltrigen. An einem seiner Geburtstage pustet er Seifenblasen durch den Garten und tobt mit anderen Jungs und Mädchen herum, auf den Fotos von diesem Tag lächelt er. Josh hat gern Freunde um sich, solange sie zu ihm kommen – doch sie selbst besucht er nur selten. »Woanders hingehen war nie sein Ding«, sagt sein Vater.

Während Josh in Deutschland in einem Garten spielt, ist es bei Leyla ein ehemaliges Kriegsgebiet. In den Feldern liegen Landminen, sie sind Überbleibsel aus dem Krieg, aber niemand weiß, wo sie im Boden vergraben sind. »Und das fordert leider immer wieder Opfer«, so Leyla. Die versteckten Landminen sind nämlich teilweise noch scharf.

Eines Tages tritt einer ihrer Freunde beim Spielen auf eine solche Mine – sie explodiert. Leyla erinnert sich an seine aufgelöste Mutter, daran, wie ihre eigene Mutter versucht hat, sie zu beruhigen. Verwandte transportieren den schwer verletzten Jungen ins Krankenhaus. Leyla und ihre Mutter fahren hinterher. Sie sieht das Auto, in dem er transportiert wurde. Es ist voller Blut.

Die Ärzte können nichts mehr für den Jungen tun. Leylas Spielkamerad stirbt. Äußerlich zeigt sie keine Regung, weint nicht. »Sie hat als Kind nie geweint, bei keiner Sache«, sagt ihre Mutter. Auch nicht, wenn sie sich verletzt habe.

Nach der Beerdigung wird in der Familie nicht mehr darüber gesprochen. Leyla sagt, es sei anfangs schwierig gewesen, mit ihren Eltern über Probleme zu sprechen. Was aber immer da gewesen sei: Liebe und Nähe. »Wir konnten zwar, wenn jemand tot war, schlecht darüber reden, aber waren uns körperlich immer sehr nah.«

Der Tod des Jungen löst in der Familie viel aus. Der Mutter wird das Leben in der Heimat ihres Mannes zu gefährlich, sie denkt an eine Zukunft in Deutschland. Leyla ist zehn, müsste bald auf eine weiterführende Schule und sollte einen festen Ort haben, ohne ständig hin- und hergerissen zu sein.

Einige von Leylas Spielkameradinnen tragen inzwischen Hidschab, also Kopftuch. Auf Fotos aus dieser Zeit sitzt Leyla ohne Kopftuch zwischen ihnen. Sie lebt ihren Glauben anders, betet bis heute gemeinsam mit ihrem Vater. »Unser Glaube ist nicht an eine Religion geheftet«, so Leyla. »Weder an das Christentum noch an den Islam. Alle Religionen verfolgen letztendlich ein ähnliches Ziel, sie verfolgen nur andere Wege. Ich finde, man sollte sich frei von all den Regeln machen, die man nicht fühlt. Wenn mir jemand sagt: ›Trage ein Kopftuch!‹ – das fühle ich nicht.« Leyla sagt, sie lehne alles ab, wo Menschen benachteiligt werden, egal ob aufgrund von Geschlecht, Herkunft oder Religion.

Nicht jeder ihrer Verwandten habe ihre Entscheidung akzeptiert. »Die Familie fing an, Fragen zu stellen und komisch zu werden«, weil alle gleichaltrigen Mädchen Hidschab trugen. »Und das hat uns dann noch mehr weggetrieben. Für uns war das so eine Art Schlussstrich.« Ihre Mutter sieht zudem für ihre Tochter in diesem Land nicht die gleichen Chancen als Frau. Ihre Eltern ziehen deshalb dauerhaft nach Deutschland, damit ihre Tochter hier aufs Gymnasium gehen kann.

Auch in der Schule vermeidet Josh jede Anstrengung. Obwohl er kaum lernt, ist er ein guter Schüler und schafft es wie Leyla aufs Gymnasium.

In beinahe jedem Bereich seines Lebens ist Josh Minimalist, nicht einmal ein zweites Paar Schuhe will er haben. Nur selten spricht er Wünsche aus – bis auf einen, den er permanent wiederholt: Er will einen Hund haben. Einen Spielkameraden, der immer bei ihm ist. In der Nachbarschaft streichelt er jeden Vierbeiner, der ihm über den Weg läuft. Josh verspricht seinen Eltern, gut für einen Hund zu sorgen, und nachdem er lange bittet und bettelt, willigen seine Eltern schließlich ein.

Als in einem Nachbarort eine Labradorhündin Welpen hat, darf sich Josh einen aussuchen. Er entscheidet sich für ein Weibchen und tauft das kleine Fellknäuel Jule. Immer wieder besucht er Jule, bis er sie an seinem elften Geburtstag abholen darf. Seit diesem Tag ist die junge Hündin ständig bei Josh im Zimmer. Sehen seine Eltern nach ihm, liegen sie häufig auf dem Bett und kuscheln. Auf Fotos aus dieser Zeit grinst Josh breit in die Kamera.

Als er in die Pubertät kommt, zieht er sich weiter zurück. Nachts, wenn seine Eltern schlafen, schleicht er sich in den Keller, wo der Computer steht, und trifft sich in der Online-Welt mit gleichgesinnten Zockern. Er muss sein Zuhause nicht mehr verlassen, um Gesellschaft zu haben. Mit Freunden im realen Leben trifft er sich kaum noch. »Der Computer war seine erste Liebe«, sagt seine Mutter. »Und dann ist er in der Schule so abgefallen, weil es gab nichts anderes als Computer und Spiele.« Seine Eltern sind besorgt, seine Mutter geht mit ihm zum Psychologen.

Doch die Lage bleibt schwierig. Er lässt weiter in der Schule nach, seine Noten werden schlechter, bald ist er versetzungsgefährdet. Und egal wie sehr sich seine Eltern bemühen und wie oft sie nachfragen, was mit ihm los sei, Josh schweigt dazu. Er sagt nur: »Will nicht darüber reden.« Oder: »Ich weiß es nicht.«

Seine Eltern überlegen, was ihm noch helfen könnte. Wie sie ihn zurück in ein soziales Leben holen könnten. Kurz vor seinem dreizehnten Geburtstag schicken sie ihn auf ein Internat in der Hoffnung, dass er dort Anschluss und Freunde im echten Leben findet. Josh geht ab jetzt auf eine Realschule, und das Internat verspricht, ihn zu fördern, damit er die Versetzung schafft. Was seine Eltern nicht wissen: Drogenkonsum gehört dort zum Alltag.

Auf dem Gymnasium fühlt sich Leyla fremd. Die Angst vor dem Tod, die ständige Sorge um ihre Verwandten und Spielkameraden in der arabischen Heimat begleitet sie auch in Deutschland. Einmal ist ihr Vater bei seiner Familie, als Unruhen ausbrechen und Bomben fallen. Leyla kann kaum schlafen, doch ihr Vater kehrt nach einigen Tagen Bangen unversehrt zurück.

Leyla vermisst ihr arabisches Zuhause. »Die wunderschöne Natur, die Landschaft, wie die Sonne auf die Erde scheint, die Sonnenuntergänge sind komplett anders. Es war ein riesiger Spielplatz, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten für uns Kinder. Wir durften dort Auto fahren. Diese Freiheit, die habe ich nie wieder verspürt.« In Deutschland fühlt sie sich »unglaublich einsam«. Ein Gefühl, das sie dort nicht kannte. Denn dort hatte sie ständig eine große Familie um sich.

Ihre Eltern machen ihr Geschenke, doch sie fühlt sich entwurzelt, akzeptiert aber die Entscheidung ihrer Eltern. »Ich hab gedacht, dass es schon irgendwie richtig ist, auch wenn es sich gerade kacke anfühlt.«

Ihr Vater und ihre Mutter arbeiten viel und steigen beruflich auf, sodass sie in ein kleines Häuschen ziehen können. »Meine Eltern haben sich alle Mühe gegeben, um mich zu belustigen, aber der Grundtenor, das Gefühl, was ich in meiner Kindheit hatte, war scheiße.« Sie fühlt sich gefangen in ihrem »begrenzten, kleinen Kinderkörper«. »Am liebsten wollte ich vierundzwanzig Stunden am Tag bespaßt werden. Das war für meine andauernd arbeitende, leicht karrieregeile Mutter ein bisschen fehl am Platz. Als Einzelkind war ich, auch wenn sich meine Eltern wirklich vieles für mich ausgedacht haben, unglaublich einsam.«

Es ist inzwischen mehr Geld da als Zeit. »Mir wurden dann immer stundenweise so blöde Babysitter gekauft zur Belustigung. Das ging sogar so weit, dass dann, wenn wir in Urlaub flogen, ein, zwei Nannys mitkamen, nur um zu schauen, dass ich nicht im Pool ersaufe oder so. Das ist mir hart auf den Sack gegangen.« Leyla fängt an, sich Freunde zu »kaufen«. Sie spendiert Süßigkeiten, Kinobesuche, den Eintritt fürs Schwimmbad. »Die Leute sind mitgekommen, weil ich irgendwas ausgegeben habe.« Doch Leyla weiß innerlich: »Das sind nicht wirklich meine Freunde.«

Kommt sie nach einem dieser Ausflüge nach Hause zurück und ihre Mutter fragt: »Na, war’s schön?«, antwortet sie: »Ja, hat voll Spaß gemacht, danke.« Wie es ihr wirklich geht, sagt sie nicht. Es ist ihr peinlich. Und so wird ihr Hund bald zu ihrem besten Freund, dem sie alles anvertraut. Wie unglücklich sie ist, weiß ihre Mutter nicht.

In ihrer Schulzeit wird sie das Ziel von Mobbing-Attacken. »Die Vorlage habe ich durchaus geliefert, die Angriffsfläche war da.«

In der Schule ist Drogenaufklärung schon früh Thema, doch auf Leyla haben die Texte und Dokumentationen über Sucht und ihre Folgen eine gegenteilige Wirkung. Sie ist fasziniert von den Geschichten über Drogenabhängige und sehnt sich nach ihrer ersten Drogenerfahrung. Als ein Mädchen eines Tages eine Zigarette zu einem Treffen mitbringt, ist die Gelegenheit da. Leyla zieht daran – und fühlt sich benommen. Danach pflückt sie Lavendel ab, der in der Nähe wächst, und kaut darauf herum, damit sie nicht nach Rauch riecht und ihre Mutter nichts davon bemerkt. Ihr Plan geht auf. Für sie steht fest: Sie will alles mal probieren. Ihr nächstes Ziel ist Marihuana, doch wie soll man sich das als Zehnjährige beschaffen? Bis Leyla an Cannabis kommt, werden noch drei Jahre vergehen.

In dem Internat, in dem Josh nun lebt, gab es ein Drogenproblem; das gibt auch der damalige Internatsleiter zu. Eine Schülerin fliegt ihm zufolge sogar beim Dealen auf – und vom Internat. Über Josh sagt er: »An große Schwierigkeiten hier anzukommen erinnere ich mich nicht. Er war recht beliebt. Und er war sympathisch, etwas träge, ab und zu sehr lustig und oft ruhig und verträumt.«

An einem seiner ersten Abende im Internat setzt ein Betreuer Josh zu ein paar älteren Jungs an den Tisch, darunter ist ein Junge namens Robin. Josh und Robin verstehen sich auf Anhieb; Robin schläft in dieser Nacht bei Josh im Zimmer.

»Er war ein bisschen so wie ich. Ein bisschen antisozial, ein bisschen in sich gekehrt«, sagt Robin. Mit Josh kann er sich stundenlang über Computer und PC-Games unterhalten, die beiden verbindet die Faszination für Technik. Und bald die für Drogen.

Das Internat liegt abgelegen in einer kleinen Stadt in der Pfalz. »Da ist nichts, das ist ein Kurort, da sind alte Leute«, erinnert sich Robin, der zeitweise mit Josh ein Zimmer teilt. »Da kannst du nichts machen. Das Einzige, was das Internat mir gebracht hat, war: Ich weiß jetzt, wie man Joints raucht und Lines legt. Das ist wirklich das Einzige, was ich von dort mitgenommen hab.«

An einem Sommertag besorgt Robin für einen Zehner ein Gramm Gras. »Das war so ein fingernagelgroßes Knöllchen. Was du so kriegst, wenn du ein kleiner Scheißer bist und zum Ticker gehst.« Er will es mit einem Kumpel auf einem Bolzplatz hinter dem Internat rauchen. Auf dem Weg treffen die beiden Josh, der spontan beschließt mitzukommen. In der Dämmerung hocken sie sich auf den Bolzplatz. Robin weiß nicht, dass Josh noch nie gekifft hat. Aber er hat es ja auch noch nie getan. Der Kumpel weiß, wie man dreht, er rollt den Joint. Die drei reichen die Tüte im Kreis herum, Josh zieht daran. »Er war dann ein bisschen langsamer als sonst, hatte knallrote Augen«, sagt Robin. So gut, wie sie es sich einreden, ist das Zeug wahrscheinlich nicht. Lustig ist es trotzdem.

Seit diesem Tag hat Josh oft rote Augen – eigentlich immer, wenn er Robin über den Weg läuft.

Im Internat werden regelmäßig Urinkontrollen durchgeführt. Als der Drogentest bei Josh positiv ausfällt, werden seine Eltern informiert. »Jedes Kind wird irgendwann damit konfrontiert. Das kannst du nicht vermeiden«, meint Joshs Vater. »Außer du hältst es unter ’ner Glasglocke. Und dann liegt es an deinem Kind, ob es das mal probiert. Wahrscheinlich lässt sich das nicht vermeiden. Es muss ja noch nicht das Schlimmste bedeuten.«

Er und seine Frau haben selbst Cannabis ausprobiert, als sie jung waren, allerdings noch nicht mit dreizehn. »Ich habe ab und an mal gekifft«, sagt sein Vater, »aber als Eltern hatten wir nicht erwartet, dass man mit zwölf oder dreizehn schon sein Kind darauf impfen muss – aus heutiger Sicht mag das naiv gewesen sein.« Sie finden damals vor allem problematisch, dass sich Joshs Gehirn noch mitten in der Entwicklung befindet. »Zu einem späteren Zeitpunkt hätte ich ihm das nicht unbedingt übel genommen. Man hätte ihm bestimmt die Leviten gelesen, aber wenn man es selbst mal gemacht hat – in Maßen wäre es für mich nicht verwerflich gewesen. Aber nachdem es mit dreizehn im Internat passiert ist, da waren wir schon geschockt.«

Sie suchen das Gespräch mit ihrem Sohn, er gibt es offen zu – und kifft weiter.

»Da waren so viele, die regelmäßig positive Tests hatten. Im Endeffekt ist nicht wirklich oft was passiert«, erinnert sich ein Internatsfreund. Oder wie Robin es ausdrückt: »Eigentlich gab es keine richtigen Konsequenzen. Und es war nicht so, dass du dir dachtest: Dieses Mal habe ich Stress bekommen, beim nächsten Mal überlege ich mir das zweimal. Es war eher so egal.«

Auch Josh scheinen die Konsequenzen nicht zu interessieren. »Wenn man mit ihm über Regelverstöße oder Zielvereinbarungen redete, war er zugänglich und fing keine Debatten oder gar Streit an«, erzählt der Internatsleiter. »Dass seine Beteuerungen selten hielten, was er versprach, steht auf einem anderen Blatt.«

Gegenüber seinen Eltern spricht Josh über seinen Konsum. »War scheiße, ich hatte die ganze Woche Küchendienst«, sagt Josh einmal. »Warum?«, fragt sein Vater. »Ach, die haben uns wieder beim Kiffen erwischt.«

»Internat ist gar nicht so schlimm«, schreibt Josh online. »Da chillste mit genauso dummen Leuten wie du und kiffst den ganzen Tag.«

Josh probiert auch eine Ritalin-Pille eines Mitschülers, erinnert sich einer seiner Freunde. »Die Wirkung hat ihm gefallen.« Ansonsten bleibt er aber bei Gras, obwohl auch andere Drogen konsumiert werden, wie Robin erzählt. Koks, Pep, Teile, also Amphetamine und Ecstasy. »Sag, was du willst, du bekommst’s.«

Josh setzt sich bekifft in den Unterricht, in der Schule wird er schlechter, er ist versetzungsgefährdet. Und noch in einer anderen Hinsicht spitzt sich die Lage zu: Josh ritzt sich, schneidet sich immer wieder seinen linken Unterarm auf. Die Wunden versteckt er unter langärmligen Shirts. Seine Mutter entdeckt sie eines Tages und ist alarmiert. Seine Eltern fragen, warum er das tut, warum er sich selbst verletzt, was denn nur los sei. Josh antwortet nicht darauf.

Sie gehen erneut mit ihm zu einem Psychologen, aber auch dem will Josh nicht sagen, was in ihm vorgeht. »Ihr glaubt doch nicht, dass ich so einem Dahergelaufenen was erzähle, was ich euch nicht sag«, erklärt Josh seinen Eltern. Und nach ein paar Terminen will er dort nicht mehr hin.

Nach zwei Jahren auf dem Internat, Josh ist jetzt fünfzehn, holen ihn seine Eltern wieder zu sich. Sie haben nicht das Gefühl, dass Josh auf dem Internat gut aufgehoben ist, wollen ihn mehr im Blick haben und hoffen, dass er sich zu Hause wieder fängt.

Doch Josh scheint nicht glücklich zu sein. In den ersten Wochen nach der Rückkehr zu seinen Eltern ritzt er sich erneut und schießt Fotos seines aufgeschnittenen Arms.

Leyla ist inzwischen dreizehn. Sie verliebt sich in ein Mädchen und dieses sich in sie. Die beiden kommen zusammen. Aber das Mädchen ist in einer Beziehung – mit einem Jungen. Irgendwann meint die Freundin zu Leyla: »Lass doch mal schauen, wie das mit den Jungs ist. Vielleicht gefällt es dir ja auch.«

»Ich fand es jetzt nicht so cool«, sagt Leyla. Nachdem sie jedoch nochmals darüber nachdenkt, ist sie offen für die Idee. Sie lernt einen Jungen kennen, Tarek. Er spricht sie an, fragt nach ihrer Nummer. Sie gibt sie ihm. »Ich wollte mal schauen, wie das so ist mit Jungs. Es war eine willkommene Abwechslung.«

Tarek lebt in einer Asylunterkunft. Sie verbringt viel Zeit mit ihm und den Leuten aus seinem Umfeld. Sie mag ihn.

»Ich war ja sowieso schon ein bisschen entfremdet. Und am Anfang war das für mich ein Stück Zuhause.« Mit ihm fängt sie eine Alibi-Beziehung an. »Also eine Beziehung, in der alle Beteiligten Bescheid wissen, dass sie nichts Ernstes ist.«

Leyla fühlt sich bei Tarek und seinen Freunden wohler als in der Schule. Doch die Jungs sind für Leyla nicht nur ein Stück Zuhause. Tarek kommt an Marihuana, wofür sie sich schon lange interessiert. »Zugang zu Drogen, das war schon was, was mir gefallen hat.«

Mit ihm kifft Leyla zum ersten Mal – im Winter vor seiner Asylunterkunft zusammen mit anderen Jugendlichen. Anders als bei der ersten Zigarette fühlt sie sich nicht benommen, ihr wird nur schlecht. Richtig schlecht. Sie muss kotzen.

Andere sagen ihr, die Wirkung stelle sich erst ein, wenn man ein paarmal gekifft hat. Sie schwärmen davon. Also kifft sie wieder. Und kotzt wieder.

Eine Wirkung spürt sie aber nicht. Sie nimmt ein bisschen Gras mit nach Hause. Joints kann sie noch nicht drehen. Sie nimmt sich eine Zigarette aus einem Päckchen, das ihr ein Typ an ihrer Schule verkauft hat, und pfriemelt in ihrem Kinderzimmer oben den Tabak heraus. Dann nimmt sie Marihuana, quetscht es stattdessen hinein und zieht daran. »Eine krasse Wirkung habe ich nicht gespürt. Ich war ein bisschen angedichtet, ein bisschen fröhlich, ein bisschen happy. Irgendwann kam auch dieses Lachen.«

Als Leyla gerade an ihrem Zigaretten-Joint zieht, tritt ihre Mutter ins Zimmer. »Riecht komisch«, sagt sie. »Bringt das was?« Sie weiß, dass es Marihuana ist. Sie verbietet es Leyla nicht und geht locker damit um. »Ich sah nichts Gefährliches darin«, sagt sie. »Ein erzwungener Verzicht führt nur zu Trotzreaktion.«

Erst nach einigen Malen wirkt das Gras bei Leyla so, wie die anderen es beschrieben haben. Übergeben muss sie sich auch nicht mehr. Sie kifft jetzt regelmäßig, lässt die Schule schleifen. Ihre Eltern versuchen das zu verhindern, wecken sie jeden Morgen, bringen sie zum Unterricht. So schafft sie die Versetzung.

Der Vater ist gegen das Kiffen. Manchmal schickt er die Clique seiner Tochter nach Hause, redet ihr ins Gewissen, sagt ihr: »Das ist kein Umgang für dich.« Das Kiffen bleibt trotzdem ein Teil von Leylas Alltag, genauso wie Tarek, der gerne richtig mit ihr zusammen sein will. Leyla hingegen möchte, dass alles so bleibt, wie es ist. Doch das Zuhause, das Leyla in ihm gesehen hat, fühlt sich für sie bald wie ein Gefängnis an.

2Berauschter Alltag

Wenige Monate nach Joshs Auszug aus dem Internat sagen ihm seine Eltern, dass sie sich scheiden lassen. Sie fragen ihn, bei wem er leben will – er entscheidet sich für seine Mutter. Die Frage stellt sich auch nicht wirklich, da sein Vater unter der Woche in der Schweiz arbeitet und Josh schulpflichtig ist. Das würde nicht funktionieren. Mit seiner Mutter und seiner Hündin Jule verlässt er das Haus seiner Kindheit und zieht in einen Nachbarort.

Seine Mutter sucht das Gespräch mit ihm. »Vermisst du deinen Papa?«, fragt sie. Josh sagt nicht viel zur Trennung, spricht nicht darüber, wie es ihm damit geht. Er redet wie immer nur wenig.

Eine schwierige Phase beginnt, vieles verändert sich. In der ersten Zeit nach dem Umzug grenzt sich Josh von seinem Vater ab. Sie sehen sich nicht jede Woche, wie es eigentlich verabredet ist. »Er sagte, er hätte keine Zeit«, so sein Vater.

Aber es gibt Lichtblicke. Auf der neuen Schule lernt Josh Jana kennen, sie ist auch neu in der Klasse. »Ich habe ganz vorne gesessen, er ganz hinten«, erinnert sie sich. »Ich habe mich schon immer besser mit Jungs verstanden als mit Mädchen.«