Bis zu meinem Spiegelbild - Julia Spindler - E-Book

Bis zu meinem Spiegelbild E-Book

Julia Spindler

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Beschreibung

Kann eine neue Freundschaft dein ganzes Leben verändern? Zwei Jahre sind bereits vergangen seit Charlottas Beziehung in die Brüche gegangen ist. Studien- und Arbeitsplatz hat sie verloren. Heute bestimmen die Trauer um ihren Ex-Partner und die Magersucht ihr Leben. Zahlreiche Therapien hat sie bereits hinter sich, ohne Erfolg. Bis sie während ihrem dritten Klinikaufenthalt Leon kennenlernt. Lotta und Leon sind zwei Menschen, die unterschiedlicher wohl nicht sein können und doch verbindet sie ihre so ähnliche Geschichte: Denn auch Leon rutschte nach einer tragischen Trennung in die Essstörung. Sehr schnell entwickelt sich zwischen den beiden eine tiefe Freundschaft und Leon schafft es, Lotta zu inspirieren: Denn wie viel Zeit haben die beiden schon in ihrer Vergangenheit verbracht? Wie viel haben sie verpasst, weil sie Menschen nachtrauern, die ein neues Leben begonnen haben, während sie in ihrem alten festhängen? Zu viel. Und das soll endlich ein Ende haben. Gemeinsam beschließen sie, eine Reise zu machen, einmal quer durch ganz Europa. Um ihre Vergangenheit endlich ruhen zu lassen und ihre Lebensfreude wiederzufinden. Sie entlassen sich aus ihrer Klinik und brechen Hals über Kopf auf. Und zum ersten Mal fühlt Lotta wieder so etwas wie Freiheit und Glück in ihrem Leben. Aber reicht es, sein Leben einfach auf den Kopf zu stellen, um gesund zu werden? Und reicht es, die Orte der Vergangenheit zu verlassen, um den Menschen, den man liebt, zu vergessen?

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Für alle Lottas und Leons da draußen.

Du bist mehr, als die Leute in dir sehen. Du bist mehr als deine Vergangenheit. Und deine Zukunft wartet auf dich. Gib die Hoffnung niemals auf.

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Und immer noch du

Alles läuft im Kreis

Kein Blick mehr

Willkommen in der Hölle

Wenn du es nur versuchst

Teil 2

Ein Lachen aus dem Nichts

Leiste mir Gesellschaft

Wovor ich davonlaufe

Kein weiterer Moment

Träume, die Gestalt annehmen

Nichts kann mich mehr halten

Teil 3

Guten Morgen Sonnenschein

Die Spitze der Welt

Wäre ich dir nie begegnet

Die Stadt der Liebe

Freu dich wenn es regnet

Neue Wege – neue Sorgen

Eingeholt

Teil 4

Lass mich nicht allein

Zurück in der Wirklichkeit

Ein neuer Anfang

Erste kleine Schrittchen

Am richtigen Weg

Loslassen

Ein Lächeln im Rückspiegel

Teil 1

Und immer noch du

Mit jedem Moment, in dem ich mehr zu mir komme und der Schlaf aus meinem Körper weicht, wird ein Gedanke in meinem Kopf immer lauter: Wann bin ich eigentlich das letzte Mal von einem richtigen Wecker geweckt worden? Oder von meinem Handy? Oder zumindest nicht von den Rufen meiner Mutter aus der Küche, die bis in mein kleines, altes Kinderzimmer dringen. Ich werde mit dem Gefühl wach, das kleine Kind zu sein. Die kleine Lotta, die nur wach wird, weil Mama sie ruft. Morgen für Morgen. Nur, dass die kleine Lotta mittlerweile schon einundzwanzig Jahre alt ist. Und trotzdem liegt sie im Kinderzimmer. Und trotzdem steht sie nie von selbst auf.

Aufstehen erscheint mir sinnlos, weil mein erster Termin für heute erst um vierzehn Uhr ansteht und ich diesen Termin genauso gut sein lassen könnte, so wie jede andere Gesprächstherapie davor.

Also öffne ich nur die Augen, drehe ein wenig meinen Kopf und werfe einen Blick auf meine digitale Uhr, die im Regal steht. 7:36 Uhr am 17. März. Ein kalter Schauer rinnt mir über meinen Rücken und für einen kurzen Moment krampft sich mein ganzer Bauch zusammen, als ich begreife, welcher Tag heute ist. 17. März. Heute ist es genau zwei Jahre her, dass Aaron sich von mir getrennt hat. Zwei Jahre. Und immer noch liege ich in meinem Bett wie am ersten Tag und will nicht aufstehen.

Ich drehe den Kopf wieder weg, weil ich das Gefühl habe, den Blick auf dieses Datum kaum auszuhalten. So ruhig es geht, liege ich weiter im Bett, flach auf dem Rücken, Arme und Beine gerade gestreckt. Nur nicht die Knie aneinander streifen lassen. Nur nicht auf die Seite drehen und einen meiner Arme wund legen. Die Schmerzen an einem völlig abgemagerten Körper versteht wohl niemand, der sie selbst nie gespürt hat. Selbst flach auf dem Rücken zu liegen, tut mir manchmal weh.

Wie zu erwarten, geht irgendwann die Tür zu meinem Kinderzimmerchen auf und meine Mutter schaut herein, mit halb besorgtem und halb genervtem Blick.

„Lotta, es gibt Frühstück“, sagt sie, nachdem sie mehrere kritische Blicke auf mich geworfen hat, „kommst du, bitte?“

Es ist wie jeden Morgen. Ich werde nur wach, weil Mama mich ruft und stehe nur auf, weil sie mich aus dem Bett scheucht.

Und wie jeden Morgen versuche ich es mit meiner altbekannten Ausrede: „Ich habe keinen Hunger.“

Obwohl ich genau weiß, dass Mama antwortet: „Doch, du hast Hunger. Und du wirst jetzt etwas essen.“

Und so stehe ich widerwillig auf.

Nur meinen Bademantel habe ich mir übergeworfen, bevor ich in die Küche gegangen bin. Mir schlägt der Duft von frisch aufgebackenen Brötchen, Spiegeleiern, Kaffee und Orangensaft entgegen. Igitt.

Papa sitzt bereits genüsslich kauend mit seiner Zeitung in der Hand am Tisch und spült jeden Bissen von seinem Brötchen abwechselnd mit einem Schluck Kaffee und einem Schluck Orangensaft hinunter. Es widert mich so an. Ich hasse das Frühstück. Von allen Mahlzeiten ist das Frühstück die schlimmste. Ein Brötchen kann man nicht mehr aussehen lassen, als es ist. Ein Ei genauso wenig. Und mit Wasser lässt sich hier auch nichts verdünnen, außer die Getränke.

Papa schaut von seiner Zeitung auf.

„Setz dich doch hin“, sagt er, während er schon Teller und Besteck für mich bereitstellt und beginnt, mir ein Brötchen mit Butter zu bestreichen.

Nein, nein, nein. Alles, nur keine fettige Butter.

„Ich kann mein Brot selbst streichen“, sage ich genervt zu Papa, setze mich hin und will es ihm samt dem Messer aus den Händen nehmen, aber er weicht mir aus.

„Ich mach das schon für dich“, sagt er so freundlich er kann und streicht munter weiter Butter auf mein Brot. Er tut so, als würde er mir eine Freude machen wollen. In Wirklichkeit traut er mir nicht zu, mir selbst ein Brot zu schmieren, ohne an jeder auch nur möglichen Stelle Kalorien einzusparen. Erst als das ganze Brötchen dick mit der ölig glänzenden Masse bedeckt ist, legt er es zurück auf meinen Teller. Dann legt er noch ein Stück Käse, der fast genauso fettig glänzt und zwei Gurkenscheiben darüber.

Unentschlossen sitze ich vor meinem Frühstück und fühle mich dieser Situation vollkommen ausgeliefert. Ich will das Brötchen nicht essen. Ich will höchstens die beiden Gurken essen und sonst nichts. Und sicher werden Papa und ich deswegen gleich den nächsten Streit beginnen. Aber das ist es mir wert, wenn dafür diese kleine Kalorienbombe auf meinem Teller, außerhalb von meinem Magen bleibt.

„Iss bitte, Lotta“, sagt Mama, die sich auch zu uns gesetzt hat, „und trink Orangensaft, das wird dir gut tun.“

„Ich habe doch gesagt, ich habe keinen Hunger“, versuche ich mich wieder vor dem Essen zu retten, aber das hat überhaupt keinen Sinn.

„Und ich habe dir gesagt, dass das nicht stimmt“, sagt Mama ruhig aber entschlossen, „es ist absolut unmöglich, dass du keinen Hunger hast, immerhin hast du gestern Abend auch kaum gegessen. Du willst nur, dass es so ist.“

„Mir ist aber ein bisschen übel“, weiche ich weiter aus und frage mich dabei, ob mir wirklich schlecht oder einfach nur schon ganz schwummrig vor Hunger ist, „ich muss mich sicher übergeben, wenn ich jetzt etwas esse.“

„Das erzählst du mir doch jeden Morgen“, winkt Mama ungerührt ab, „ich will, dass du bei uns sitzen bleibst und isst, bis du fertig bist. Dann ziehst du dich an und nach dem Mittagessen bringe ich dich zu Doktor Haider.“

Völlig angeekelt beiße ich das erste Stück von meinem Brötchen ab. Es ist ein winzig kleiner Bissen, ein wenig Brot, ein wenig Butter, ein wenig Käse. Etwas, das jeder gesunde Mensch nach dreimal kauen geschluckt hätte. Aber in meinem Mund fühlt es sich an wie ein Fremdkörper. Wie etwas, das hier nicht sein darf. Als würde es mich vergiften. Ich kaue so lange, bis ich nur noch einen matschigen Brei in meinem Mund habe, vor dem mir immer mehr ekelt. Aber ich kann ihn einfach nicht schlucken.

„Warum kann ich nicht selbst zu Frau Doktor Haider fahren?“, frage ich schließlich mit vollem Mund, „wenn du dich erinnerst, habe ich vor fast drei Jahren meinen Führerschein gemacht. Ich muss nicht herum kutschiert werden.“

Mama atmet tief durch. Das tut sie immer, wenn sie sich nicht aufregen will, obwohl ihre Geduld gerade zu Ende geht.

Papa bringt die Sache sofort auf den Punkt: „Weil wir Angst haben, dass du nicht hingehst, wenn wir dich alleine hinfahren lassen. So einfach ist das.“

„Ihr vertraut mir auch kein bisschen mehr, oder?“, frage ich empört, als ich es endlich geschafft habe zu schlucken, „ich habe euch versprochen, dass ich zu den Therapien gehe, also gehe ich auch. Obwohl ich euch gesagt habe, dass es mir nicht hilft.“

„Aber letztes Mal warst du nicht dort“, sagt Mama da plötzlich, „und deshalb möchte ich, dass du diesmal nicht alleine fährst.“

„Woher weißt du das?“, frage ich fassungslos, „spioniert ihr mir etwa nach?“

„Lotta, bitte“, fleht Mama, „bitte, lass uns nicht schon wieder streiten. Du weißt ganz genau, dass wir einfach nur Angst um dich haben.“

„Also spioniert ihr mir wirklich nach?“, frage ich und tue so, als würden Mamas Worte mich vollkommen kalt lassen.

„Nein“, antwortet Papa direkt, „du hast deine E-Card zu Hause liegen lassen und warst nicht erreichbar. Also habe ich bei der Ärztin deswegen angerufen. Und die Sprechstundenhilfe hat mir gesagt, dass du gar nicht aufgetaucht bist.“

„Das darf sie dir überhaupt nicht sagen!“, behaupte ich eingeschnappt und lege trotzig mein Brötchen auf meinen Teller zurück. Ich habe erst zweimal abgebissen und fühle mich jetzt schon, als würde sich das ganze Fett zielgerichtet auf meine Hüften zusteuern und sie immer breiter machen wollen.

„Sei nicht immer so stur“, sagt Papa und verdreht die Augen, „ich zahle deine Therapiestunden nicht umsonst. Also gehst du dort auch hin. Darüber brauchen wir gar nicht zu diskutieren.“

Und weil ich weiß, dass Papa alles so meint, wie er es sagt und ein weiteres Gespräch zu nichts führen wird, springe ich auf. Ich will duschen. Oder besser gesagt – ich will einfach nur weg von diesem Tisch. Weg von diesem Frühstück und weg von meinen Eltern.

„Lotta!“, ruft Mama mir sofort nach, als ich mich umgedreht und auf den Weg nach oben gemacht habe, „du hast schon wieder nichts gegessen! Bitte bleib zum Frühstück und iss mit uns! So war es abgemacht, wenn du nicht schon wieder in die Klinik willst!“

Als wäre ich taub, renne ich weiter die Treppen hinauf und höre nur noch wie mein Vater sagt: „Das wird sich doch sowieso nicht vermeiden lassen, wenn es so weitergeht.“

Ich versuche mir selbst einzureden, dass ich den letzten Satz nicht mehr gehört habe, verschwinde im Badezimmer und schließe hinter mir ab.

Als ich mich ausgezogen habe, werfe ich sofort prüfende Blicke auf meine Taille und meine Oberschenkel. Alle erzählen mir Tag für Tag, wie dünn mein Körper ist. Aber alles, was ich sehe ist, dass ich weiter abnehmen muss. Nach dem Essen bläht mein Bauch sich auf, selbst wenn ich nur so wenig gegessen habe wie heute morgen. Ich hasse das. Gleich wird mein Körper alles, was er gerade bekommen hat wieder an meinen Hüften und dem Bauch ansetzen. So wie er das immer gemacht hat. Nur dachte ich früher, dass es egal ist, hier und da ein Speckröllchen zu haben. Aber das war es nie. Am wenigsten für Aaron, auch wenn er sich nie getraut hat, das zuzugeben.

Beim Duschen schuppt meine Haut an manchen Stellen und sie juckt fast überall. Das habe ich seit Monaten, ich muss mich unbedingt öfter eincremen. Während meine Finger über meinen Körper gleiten, fühle ich jeden einzelnen Knochen. Die Schlüsselbeine, jede meiner Rippen und die Beckenknochen. Ich kann sie alle direkt unter meiner Haut spüren. Es fühlt sich gut an. Von meinen früheren breiten Hüften und meinem C-Körbchen ist nicht mehr viel übrig geblieben. Eigentlich müsste ich längst keinen BH mehr tragen und mein Oberkörper geht fast ohne Rundung in meine Beine über. Aber es ist mir nicht genug. Ich will erst aufhören abzunehmen, wenn ich mir gefalle.

Erst nachdem ich mich dick mit irgendeiner fettigen Lotion aus Mamas Badschrank eingecremt habe, ziehe ich mir wieder Klamotten an und sitze die restliche Zeit bis vierzehn Uhr in meinem kleinen Kinderzimmer ab. Meine einzige Beschäftigung ist es, die Kalorien von heute Morgen sofort in mein kleines Büchlein einzutragen, in dem ich jeden Tag dokumentiere, was ich esse, wie viele Kalorien es hatte und ob ich mich an meine „600 Kalorien pro Tag Grenze“ gehalten habe. Aber momentan schaffe ich das jeden Tag ganz locker. Meistens bin ich sogar unter 500. Auch heute werde ich es schaffen. Zwei Bisschen Brötchen mit Butter und Käse und drei Schlucke schwarzer Kaffee ohne Zucker. Das sind nicht einmal 30 Kalorien. Eigentlich könnte ich zufrieden mit mir sein. Aber ich glaube, ich weiß gar nicht mehr, wie sich zufrieden sein anfühlt.

Die restlichen Stunden vor meiner Therapie sehen mich die Zahlen auf meiner Uhr böse an. 17. März. Vor zwei Jahren war der schlimmste Tag meines Lebens. Und über siebenhundert Tage später sitze ich immer noch am gleichen Ort wie damals, nur über fünfundzwanzig Kilo leichter. Und er fehlt mir immer noch. Er fehlt mir so sehr, dass ich das Gefühl habe, dass ein Teil von mir mit unserer Beziehung gestorben ist. Ein Teil, der nie wieder kommen wird. Und ohne den ich nicht leben kann.

Ich betäube meine Gedanken indem ich heimlich in meinem Zimmer Sport mache. Sit-ups, Liegestütze, Kniebeugen. Immer abwechselnd, zehn Stück von jedem, bis alle Muskeln in meinem Körper anfangen zu brennen. Das fühlt sich gut an, denn es schaltet alles andere aus. Mein Körper schmerzt, endlich fühle ich mich so, wie ich mich fühlen will. Denn ich verbrenne das dumme Fett.

Natürlich bringt Mama mir mein restliches Frühstück noch nach oben in mein Zimmer. Natürlich verspreche ich es zu essen. Und natürlich verschwindet alles in einem Müllsack, den ich dann in den Tiefen meiner Schreibtischschublade verschwinden lasse, damit Mama ihn nicht findet. Für heute Morgen habe ich es geschafft. Aber schon jetzt habe ich Herzrasen und alles in mir dreht sich, wenn ich daran denke, dass in weniger als drei Stunden schon wieder das Mittagessen auf dem Tisch steht.

„Und Charlotta, wie waren die letzten zwei Wochen?“, fragt meine Therapeutin mit demselben übertriebenem Lächeln wie immer, als ich durch ihre Tür gehe. Mit derselben Herzlichkeit in ihrer Stimme. Und ich glaube, dass sie wirklich jedes Mal aufs Neue ehrlich versucht, mir das Gefühl zu geben, dass sie mir helfen kann.

Ich lasse mich auf ihre Couch fallen, schenke mir ein Glas Wasser ein und antworte zuerst nicht. Was soll ich ihr auch antworten? Meine Wochen waren wie immer. Eine Zusammensetzung aus Streitigkeiten mit meinen Eltern, nichts essen und falls doch der Versuchung widerstehen, es wieder zu erbrechen, allen Fragen von meinen wenigen, noch übrig gebliebenen Freunden ausweichen. Und Aaron. Die Gedanken an Aaron wegschieben. Alles ist mir lieber, als an ihn zu denken. Vor allem heute. Zwei Jahre nachdem er mich verlassen hat, für eine andere. Alles will ich lieber, als daran denken. Lieber will ich so sehr hungern, dass sich die Schmerzen durch meinen ganzen Bauchraum ziehen. Lieber will ich einfach umfallen.

„Charlotta?“, fragt Frau Doktor Haider irgendwann wieder, „fühlen Sie sich nicht wohl?“

„Doch doch“, stammle ich und setze mich gerade hin. Ich fühle mich komisch hier. Wie bei einem Verhör. Doktor Haider spricht mich mit Vornamen an, um mir eine persönliche Umgebung zu schaffen. Aber hier fühlt sich nichts persönlich an.

„Die Woche war ganz gut“, sage ich schließlich, weil mir nichts besseres einfällt.

„Wie läuft es mit dem Essen?“, bohrt meine Therapeutin weiter.

Ich zucke mit den Schultern.

„Ganz gut denke ich.“

„Führen Sie noch immer Buch über alle Ihre Mahlzeiten?“

Ich nicke.

„Darf ich das wieder sehen?“, fragt Frau Doktor Haider und ich beginne willenlos in meinem Rucksack zu kramen und drücke ihr dann mein kleines, rotes Büchlein in die Hand. Und nachdem sie es aufgeschlagen und meine Essgewohnheiten der letzten Tage gemustert hat, weiß ich ganz genau, was jetzt passiert.

Meine Therapeutin unterdrückt den geschockten Gesichtsausdruck, ich sehe große Besorgtheit und auch irgendwie Mitgefühl in ihren Augen. Sie versucht, das hier so wenig vorwurfsvoll wie möglich zu machen.

„Ihr Essverhalten hat sich noch weiter verschlechtert, Charlotta“, gesteht sie vorsichtig, obwohl ich das natürlich längst weiß, „wenn Sie so weitermachen, ist Ihr BMI bald wieder lebensbedrohlich.“

Ich nicke nur wieder schweigend, wie eingesperrt in meinen Scham und das Gefühl, versagt zu haben. Alles, was sie mir erzählt, habe ich mir schon so oft angehört. Ohne, dass sich dadurch irgendetwas geändert hat.

„Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich Sie heute noch einmal wiege?“, fragt Frau Doktor Haider dann.

„Ja“, antworte ich und stehe sofort auf.

Bei ihr ist es mir egal, dass sie weiß, wie viel ich wiege. Sie darf es sowieso niemandem sagen und mir dauerhaft damit auf die Nerven gehen wie meine Eltern, darf sie auch nicht.

Also steige ich auf die Waage, obwohl ich schon weiß, was sie anzeigen wird. Gestern Abend hatte ich 41,4 und heute Morgen 41,2 Kilo. Seitdem wird sich nicht viel verändert haben.

Als ich auf die Waage steige, leuchten mir die roten Zahlen mit einem Wert von 41,1 Kilo entgegen. 100 Gramm weniger.

Na immerhin.

Kritisch blickt Frau Doktor Haider zu dem Wert auf der Waage hinunter, schreibt ihn auf und sagt dann: „Das ist fast ein Kilo weniger als letztes Mal.“

Wortlos steige ich von der Waage und frage mich, was als nächstes kommt. Ein Vortrag darüber, dass ich mehr essen muss wahrscheinlich. Dass ich meinen Körper ruiniere. Dass ich alles aufs Spiel setze. Aber ich weiß nicht genau, was „alles“ überhaupt ist.

„Wie groß sind Sie noch einmal?“, fragt meine Therapeutin dann.

„Ein Meter achtundsechzig“, antworte ich ihr und schaue dabei auf den Boden.

Frau Doktor Haider vergleicht den Wert meines Gewichts und den Wert meiner Körpergröße, rechnet irgendetwas mit ihnen aus.

„Ihr BMI liegt bei 14,5, Charlotta“, sagt sie dann zu mir und sieht mir tief in die Augen, „wissen Sie, was das bedeutet?“

„Dass ich schwer untergewichtig bin?“, frage ich ohne auch nur ein bisschen schockiert zu klingen.

„Ab einem BMI unter 14,5 besteht für eine Frau in Ihrem Alter Lebensgefahr“, erklärt Frau Doktor Haider mir, „wenn Sie jetzt noch weiter abnehmen, wird bereits der Stoffwechsel in Ihrem Gehirn beeinträchtigt.“

Ich gebe ihr keine Antwort, sehe sie ungerührt an und warte nur darauf, dass sie weiterspricht, denn ich glaube, das will sie.

„Charlotta, wollen Sie...?“, beginnt sie.

„Nennen Sie mich bitte Lotta“, unterbreche ich sie plötzlich ohne zu wissen, was über mich gekommen ist. Aber dieses ewige „Charlotta“ halte ich nicht mehr aus. Nur mein Vater nennt mich beim ganzen Namen und auch nur, wenn er stocksauer auf mich ist. Und an solche Momente will ich mich gerade wirklich nicht erinnern.

„Okay, Lotta“, spricht Frau Doktor Haider weiter, „in Ordnung. Wollen Sie an Ihrer Situation etwas ändern?“ So eine dumme Frage. Ich sehe meine Therapeutin verstört an.

„Ja, sonst wäre ich doch nicht hier“, sage ich und klinge dabei etwas genervt.

„Sind Sie überhaupt freiwillig hier?“

„Meine Eltern würden mich irgendwann vor die Tür setzen, wenn ich nicht mehr zur Therapie gehen würde.“

„Also nein“, stellt Frau Doktor Haider ernüchtert fest. Ich verstehe überhaupt nicht mehr, wozu dieses Gespräch überhaupt gut sein soll.

„Was wollen Sie mir damit sagen?“, frage ich kleinlaut und Frau Doktor Haider sieht mich ernst an.

„Ich will Ihnen sagen, dass Sie nur etwas ändern können, wenn Sie es selbst auch wollen“, fängt sie an, „wenn Sie einen Grund dafür sehen.“

„Sie meinen, wenn ich einen Grund dafür sehe, weiterzuleben?“, wir erschrecken beide darüber, dass ich es gewagt habe, diese Frage zu stellen. Aber meine Therapeutin bleibt ehrlich und diskret.

„Ja“, antwortet sie, „denken Sie denn manchmal über das Sterben nach?“

Ich zucke mit den Schultern und wirke bestimmt desinteressiert: „Mittlerweile ist es normal, dass das Sterben irgendwie in meiner Nähe ist.“

„Und das finden Sie in Ordnung?“

„Vielleicht. Zumindest habe ich mich daran gewöhnt.“

„Daran sollten Sie sich nicht gewöhnen“, sagt Frau Doktor Haider und klingt fast ein wenig erschüttert, „sonst ist es nämlich bald nicht nur in Ihrer Nähe, sondern ganz da. An Ihrem Zustand muss sich so schnell es geht etwas ändern.

Das muss ich Ihnen als Ihre Therapeutin und vor allem als Ihre Ärztin sagen. Ich muss Ihnen dringend zu einer stationären Therapie raten. Dann sehe ich gute Chancen für Sie. Aber nicht, wenn es so weitergeht.“

„Die stationären Therapien haben mir noch nie geholfen“, sage ich und fühle mich dabei wie ein trotziges Kleinkind.

„Sie brauchen eine Klinik, die auf die Behandlung von Essstörungen spezialisiert ist“, rät meine Therapeutin mir, „am besten nicht direkt zu Hause in München, sondern etwas abseits von Ihrer Familie.“

„Abseits von der Familie klingt ja zur Abwechslung mal ganz gut“, antworte ich und lache kurz schnippisch auf. Zuhause kann es kaum noch anstrengender werden.

„Ich würde es Ihnen wärmstens ans Herz legen“, sagt meine Therapeutin, „Sie brauchen Abstand und Raum, um gesund zu werden. Und Sie brauchen viele Menschen, die Sie dabei unterstützen, aber Ihre Eltern sind in diesem Fall nicht die richtige Hilfe.“

„Da sind wir uns einig“, sage ich und grinse noch einmal verstohlen mit dem Blick auf den Boden.

Den Rest meiner Therapiestunde verbringe ich mit leerem Gerede über meine Situation. Ich muss erzählen, wie ich mich fühle, wenn ich etwas esse oder gegessen habe und welches Gefühl der Hunger in mir auslöst. Ich muss erklären, wem oder was ich etwas beweisen will oder wem es denn meiner Meinung nach gefallen würde, wenn ich eine Modelfigur habe. Ich habe das Gefühl ins Nichts zu reden und jede Woche dasselbe zu erzählen. Vom Essen. Meinem Selbstbild. Meinen Ansprüchen an mich. Von den Gedanken übers Sterben und der Tatsache, dass mein Gewicht lebensbedrohlich sein kann.

Nur von Aaron erzähle ich nie. Von ihm kann ich nicht reden. Meine Therapeutin weiß noch nicht einmal, dass ich eine schlimme Trennung hinter mir habe.

Zum Schluss erzählt sie mir noch, wie so oft, dass ich von der „Modelfigur“, schon lange weit entfernt bin und dass ich mir überlegen muss, was mir wichtiger ist: Das Abnehmen oder das Weiterleben. Und um ehrlich zu sein weiß ich es nicht.

Denn ich hatte in den letzten zwei Jahren nicht einen einzigen Moment das Gefühl, dass ich wirklich am Leben bin.

Alles läuft im Kreis

„Lotta, da bist du ja endlich!“, höre ich meinen Vater aus dem Esszimmer rufen, als Mama und ich wieder zu Hause sind und die Fröhlichkeit in seiner Stimme verrät mir, dass er nicht allein ist.

Kaum bin ich im Esszimmer angekommen, fällt mir auf, dass alles von Kuchen und Schokoladenduft erfüllt ist. Ekelhaft.

Eine Tafel Schokolade hat 540 Kalorien, ein Stück Kuchen ungefähr 300. Das kann ich auf keinen Fall essen. Papa sitzt wie erwartet nicht allein am Schokolade-Kuchen-Tisch, sondern neben ihm mein Bruder mit seiner Verlobten und ihrem ersten Kind auf dem Arm und gegenüber von ihm meine Schwester, Elisa. Ich hasse Familienversammlungen, weil ich mich dabei immer wie das schwarze Schaf am Tisch fühle. Das Sorgenkind zwischen den beiden Musterkindern.

Die Kleine zwischen den zwei Großen. Die Versagerin zwischen den beiden Erfolgreichen.

„Setz dich zu uns“, sagt mein Bruder, Martin und klopft neben sich auf die Bank.

Ohne ein Wort zu sagen, setze ich mich neben ihn und fühle, wie mein ganzer Körper sich anspannt. Ich will hier weg. Mir ist eiskalt und am liebsten würde ich mich unter meiner warmen Bettdecke verkriechen. Eigentlich ist mir fast immer kalt, obwohl der Frühling uns längst erreicht hat und die Sonne durch unser Küchenfenster scheint. Einer der Sonnenstrahlen kitzelt vorsichtig mein Gesicht, aber wärmer wird mir dadurch auch nicht.

Auch Mama setzt sich zu uns und strahlt, als sie den kleinen Emilio, ihr erstes Enkelkind, sieht. Sie sind ja alle so stolz.

„Martin hat gerade erzählt, dass Emilio sich am Wochenende zum ersten Mal umgedreht hat“, schwärmt mein Papa, „sogar ganz alleine.“

„Ja, bald wird er herumkrabbeln“, lacht mein Bruder und gibt zuerst seiner Verlobten und dann dem Baby einen Kuss auf die Stirn.

Emilio strampelt zufrieden mit seinen kleinen Füßchen.

„Willst du erzählen, wie deine Therapiestunde war?“, fragt meine Mama und diese Frage ist mir unangenehm, vor allem vor meinen Geschwistern.

Auch wenn meine Eltern immer behaupten, dass Martin und Elisa sich große Sorgen um mich machen, bekomme ich davon nicht viel mit. Unser Verhältnis hat sich stark verändert, seit wir keine Kinder mehr sind und seit ich krank geworden bin. Als hätten wir vergessen, dass wir einmal unzertrennlich waren und dass Martin und Elisa mich wie zwei Löwenmütter vor allem und jedem beschützt haben. Heute leben wir wie in verschiedenen Welten.

„Es war wie immer“, berichte ich und versuche dabei zu verstecken, wie angespannt ich bin, „ich soll eine stationäre Therapie machen, sagt sie.“

„Da haben wir es“, sagt Papa mit rechthaberischem Ton, „ich hab es euch doch gleich gesagt, dass sie Lotta irgendwann wieder in die Klinik schickt.“

„Willst du das denn, Süße?“, fragt meine Mama und versucht zumindest mitfühlend zu klingen.

Zuerst zucke ich mit den Schultern, dann schüttle ich den Kopf.

„Es wird genauso wenig bringen wie die letzten beiden Male“, meine ich.

„Aber was wird dann etwas bringen?“, die Verzweiflung macht sich langsam in der Stimme meiner Mutter breit.

Ich kann ihr nicht antworten.

„Sie muss einfach wieder normal essen“, schwatzt Papa schroff während er selbst Schokokuchen mampft, „dann muss sie auch in keine Klinik gehen.“

„Hör auf“, verlangt meine Mutter, denn sogar sie ist mittlerweile genervt von seinen nichtsnutzigen Kommentaren, „du weißt ganz genau, dass das niemanden von uns weiterbringt.“

„Aber es wäre die Lösung für unser Problem“, meint Papa und schneidet schon die nächsten Kuchenstücke ab, „kein Untergewicht mehr, keine Therapien, keine Angst um unsere Tochter.“

„Aber Magersucht hat eine Ursache!“, verteidigt Mama mich.

„Und was ist die Ursache?“, fragt meine Schwester da plötzlich vorsichtig. Sie war immer schon Meisterin darin, direkte Fragen zu stellen.

Kurz findet mein Blick ihren und ihre braunen Augen wirken für den Bruchteil einer Sekunde vertraut, so wie früher. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, dass ich mit ihr reden könnte. Aber nein, das könnte ich nicht.

„Wenn ich das nur wüsste“, antwortet Mama.

Sie versucht mir auch in die Augen zu sehen und ich will ihr auszuweichen. Aber ihr strenger, durchbohrender Blick zwingt mich, sie anzusehen, so wie er es seit einundzwanzig Jahren tut.

„Süße, ist es wegen uns?“, fragt sie und ich merke ihr an, dass es für sie das Schlimmste wäre, mit Schuld an meiner Krankheit zu sein, „haben wir dir das Gefühl gegeben, dass du perfekt sein musst?“

Mama macht eine kurze Pause, dann spricht sie weiter: „Oder ist es immer noch wegen Aaron?“

„Ich will nicht über ihn reden“, zische ich sofort, „und nein, es ist nicht wegen euch.“

„Die Trennung ist doch fast zwei Jahre her“, bohrt Mama weiter, „warum willst du immer noch nicht darüber reden?“

„Genau zwei Jahre“, bessere ich sie giftig aus und gebe ihr keine weitere Antwort.

Ich frage mich, ob irgendjemandem sonst auffällt, welcher Tag heute ist. Und ich frage mich, ob es Aaron auffällt. Wohl kaum. Vermutlich hockt er in unserer alten Wohnung mit seiner neuen Freundin. Vielleicht feiern sie ja heute sogar Jahrestag. Denn als Aaron sich von mir getrennt hat, waren die beiden schon verliebt. Er hat mich mit ihr betrogen. Mehrmals.

Am Tisch herrscht plötzlich ein unangenehmes Schweigen, nur das Babylachen von Emilio ist zu hören und ich bemerke, dass ich mit meinen Problemen schon wieder schlechte Stimmung gemacht habe. Wie immer. Alles könnte für meine Familie so friedlich sein, wenn ich nicht hier bei ihnen am Tisch sitzen würde.

„Es tut mir leid, wenn ich damit jetzt irgendwie mit der Tür ins Haus falle...“ beginnt Elisa auf einmal, „oder wenn das unsensibel wirkt, aber bei mir gibt es zur Abwechslung auch mal Neuigkeiten...“

Das Lächeln im Gesicht meiner Schwester strahlt so viel Glück und Zufriedenheit aus, dass ich sofort weiß, dass es gute Neuigkeiten sein müssen. Im ersten Moment vermute ich, dass sie auch ein Baby bekommt, aber da hat sie schon ihre rechte Hand ausgestreckt und Mama vors Gesicht gehalten. Auf ihrem Ringfinger trägt sie einen zarten, silbernen Ring mit einem glitzernden Schmuckstein. Er sieht aus wie Diamant.

Mama betrachtet den Ring nur wenige Sekunden, bis sie große, leuchtende Augen bekommt und Elisa voller Glück anstrahlt. Auch alle anderen am Tisch beginnen sich zu freuen.

„Tim und ich werden heiraten“, verkündet Elisa und jetzt haben es wohl wirklich alle verstanden.

Der Zirkus geht los. Alle um mich herum fangen an freudige Geräusche von sich zu geben, umarmen meine Schwester, gratulieren ihr. Mama tupft sich zwei Freudentränen aus dem Gesicht und auf einmal scheint es, als hätte sie kurz alle ihre Sorgen wegen mir vergessen. Immerhin hat sie eine Tochter, auf die sie stolz sein kann.

Auch ich umarme Elisa und gratuliere ihr. Aber es fühlt sich unehrlich und irgendwie falsch an. So sehr ich es mir auch wünsche, ich schaffe es einfach nicht, mich für Elisa zu freuen. Beim Thema „Hochzeit“ kommen nur schmerzhafte Erinnerungen in mir hoch. Denn Aaron und ich haben im letzten Jahr unserer Beziehung auch schon übers Heiraten und Kinder kriegen geredet. Noch kurz bevor er seine neue Freundin kennengelernt hat.

„Wenn wir beide mit dem Studium fertig sind“, hat er damals gesagt, „dann können wir vor den Traualtar schreiten.“

Und wir haben beide gelacht. Einfach gelacht und wir dachten, dass es wirklich so kommen würde. Dass es wirklich so einfach wäre. Aber dieses Wir gab es nicht mehr lang.

Und Studentin bin ich auch schon lange nicht mehr.

„Wir müssen anstoßen!“, beschließt mein Vater schnell und kramt aus unserer Speisekammer eine Flasche Sekt hervor.

Sechs Sektgläser kommen auf den Tisch und mein Herz beginnt wieder zu rasen. Ein Glas Sekt hat etwa 80 Kalorien.

Wenn man so viel einschenkt wie Papa sicher noch mehr. Ich kann das nicht trinken.

Nachdem wir angestoßen haben und alle – bis auf Martins Verlobte, Larissa – genüsslich ihre Gläser leeren, stelle ich meines wortlos vor mich hin und tue so, als wäre es gar nicht da.

Richtig enthusiastisch fängt Papa auch noch an, die Stücke des Schokokuchens zu verteilen. Ich bekomme auch eines.

Aber für mich ist es kein Kuchenstück. Für mich sind es 300 unnötige Kalorien, die ich auf keinen Fall zu mir nehmen darf.

„Eigentlich“, fängt mein Bruder mit vollem Mund an zu schmatzen, „wäre das jetzt die beste Gelegenheit für eine Doppelhochzeit.“

Elisa lacht, Martins Verlobte auch. Larissa und Martin wollen schon in drei Monaten heiraten. Ihre Hochzeit ist schon fast ganz durchgeplant.

„Ich will euch doch nicht euren großen Tag zur Hälfte stehlen“, lehnt meine Schwester jedoch lachend ab, „außerdem will ich nicht so bald heiraten.“

Und auf einmal sieht sie mich an, ganz so, als ob das irgendetwas mit mir zu tun hätte.

„Weißt du“, sagt sie, „ich glaube ich bin am glücklichsten, wenn Tim und ich erst heiraten, wenn du wieder gesund bist.

Wenn du auch wirklich mit uns feiern kannst.“

Verstört sehe ich Elisa an.

„Das muss du doch nicht von mir abhängig machen“, winke ich ab.

„Ich finde das eine schöne Idee“, meint meine Mutter versöhnlich, „immerhin wäre es dann ein richtiges Fest. Für uns alle. Ohne, dass wir in ständiger Sorge sein müssen.“

„Tut mir leid, dass ich euch alles verderbe“, sage ich gereizt.

Mein Kuchenteller ist schon dreimal zwischen Papa und mir hin und her gewandert. Ich will, dass Papa mein Stück isst, aber er schiebt den Teller immer wieder zu mir zurück.

„Du verdirbst überhaupt nichts“, widerspricht Elisa.

„Das war doch nicht böse gemeint“, behauptet Mama.

Aber ich glaube ihnen nicht. Ich bin längst kein Familienmitglied mehr, sondern nur das größte Familienproblem.

„Süße, was hat dir Frau Doktor Haider denn geraten?“, fragt Mama dann, „was war denn ihr Vorschlag, wie es weitergehen soll?“

„Eine stationäre Therapie, hab ich doch schon gesagt“, erkläre ich entnervt, „aber nicht wieder in München, sondern etwas weiter weg von zu Hause.“

„Wieso das denn?“, fragt Papa und ich merke sofort, dass er von dieser Idee nicht begeistert ist.

„Weil ich Abstand brauche“, sage ich direkt, „meine Familie hindert mich am gesund werden.“

„Wieso, was tun wir denn?“, Papa klingt eingeschnappt, „iss deinen Kuchen, so wie ich es gesagt habe. Würdest du auf mich hören, könntest du schon längst gesund werden.“

Wütend springe ich auf und will weglaufen. Immer dieses ständige „Iss-doch-einfach-etwas-Thema“. Es ist zum Kotzen.

Aber noch bevor ich drei Schritte vom Tisch weggegangen bin, hält Mama mich am Arm fest.

„Süße!“, ruft sie, „Süße, bitte, lass uns doch in Ruhe darüber reden.“

Die letzten Worte stammelt sie nur noch, weil ihr schockierter Blick auf ihre Hand fällt, die meinen Oberarm festhält. Mama kann ihre Finger beinahe um ihn schließen.

Mein Arm ist nur noch Haut und Knochen, genau wie der Rest meines Körpers.

Ich fühle mich ertappt, entreiße Mama meinen Arm und setze mich widerwillig an den Tisch zurück. Ich sehe an Mamas Gesicht, wie sehr sie sich erschrocken hat, aber sie sagt nichts weiter.

„Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee“, meint sie stattdessen, während Papa sie mit seinem „Fall-mir-nicht-in-den-Rücken-Blick“ böse ansieht, „vielleicht tut es dir gut, mal aus München raus zu kommen.“

„Vielleicht fällt es dir dann auch leichter, für dich selbst Verantwortung zu übernehmen“, ergänzt Elisa.

„Ja, das glaube ich auch“, sagt auch Martin.

Nur mein Vater sieht verdutzt zwischen den dreien hin und her.

Ich mache ein desinteressiertes Gesicht und sage: „Ich glaube nicht, dass es etwas nützt. Das hat es ja die letzten beiden Male auch nicht, als ich in der Klinik war.“

„Aber irgendetwas muss doch passieren“, antwortet Mama, „irgendetwas müssen wir doch tun. Es kann doch nicht ewig so weitergehen.“

Mittlerweile ist der Kuchenteller zwischen Papa und mir drei weitere Male hin und her gewandert. Allein von dem Anblick dieses Kuchens, vollgepumpt mit Fett und Zucker, bekomme ich vor Ekel eine Gänsehaut am Körper. Würde ich das essen, würde sich das ganze Fett sofort wieder an meinem Bauch fest fressen. Oder an den Hüften oder den Oberschenkeln.

Und bald wäre ich wieder die kleine, dicke Lotta. Die es nicht wert ist, bei ihr zu bleiben. Die betrogen wird.

Mit einem Ruck versuche ich meine Gedanken zur Seite zu schieben und mich zu sammeln. Nein, nein, nein, ich denke jetzt nicht schon wieder an ihn.

„Frau Doktor Haider meint ich soll in eine Klinik, die auf Essstörungen spezialisiert ist“, fange ich schnell an zu erzählen, „dort hätte ich die besten Chancen, sagt sie.“

Mama nickt vernünftig und sagt: „Ja, da hat sie ganz bestimmt recht. Dann lass uns doch darüber nachdenken, wann und wohin genau du gehen wirst, Lotta“, sie sieht mich noch einmal eindringlich an, „du denkst doch auch, dass das die richtige Entscheidung ist, oder Süße?“

Ich nicke zuerst, dann schüttle ich wieder den Kopf, weil ich eigentlich keine Ahnung habe, was die richtige Entscheidung ist und was ich wirklich möchte. Ich möchte weg von meinen Gedanken, weg von meiner Vergangenheit, weg vom Essen und raus aus diesem Haus. Aber an mehr kann ich nicht denken. Nicht an Zukunft, Glück oder gesund werden. Sowas hat in meinem Kopf keinen Platz mehr.

„Versprichst du mir, dass du Frau Doktor Haider anrufst und dir Kontaktdaten für die Kliniken geben lässt, die sie empfielt?“, fragt Mama, nachdem sie mein Nicken und Kopfschütteln anscheinend als Zustimmung gedeutet hat, „dann melden wir dich dort an und werden sehen, wo du einen Platz bekommst.“

„Ja mach ich“, sage ich willenlos und entscheide, dass dieses Gespräch nun beendet ist, indem ich aufstehe.

„Du brauchst doch nicht schon wieder zu gehen!“, ruft Martin mir nach, „bleib doch bei uns. Willst du Emilio nicht auch einmal im Arm halten?“

„Nein, besser nicht“, antworte ich erschrocken und wende mich ab.

Ich will kein Baby im Arm halten. Ich mag keine Babys. Sie erinnern mich daran, dass ich selbst nie eines habe werde.

Weil ich meinen Körper und meine Beziehung zerstört habe.

Obwohl es mir leid tut, dass ich so abweisend war, weiß ich doch, dass ich nicht anders kann. Ich kann mich nicht um meinen Neffen kümmern. Und so schnell ich kann, verschwinde ich aus unserem Esszimmer, zurück in mein kleines Kinderzimmer, wo unendlich viele Gedanken, die ich gar nicht haben möchte, auf mich warten. Und ich habe schon wieder keinen Bissen gegessen.

Kein Blick mehr

Es ist dunkel um mich herum, aber ich sehe trotzdem seine Augen. Seine Augen, die mich ansehen und seine Lippen, die sagen, dass es vorbei ist. Und als ich an mir herunter blicke, sind meine Beine wieder schwammig, mein Bauch wieder rund und einfach alles an mir schwabbelig. Ich muss abnehmen. Ich muss sofort abnehmen. Ich muss jetzt sofort unbedingt wieder dünn sein. Ich werde nichts mehr essen.

Bis ich dünn genug bin. Es ist aus. Sagt er. Aber morgen bin ich doch wieder schön. Er geht weg. Und ich will ihm hinterher laufen, aber ich kann nicht. Ich habe Angst hier zu ersticken, ohne ihn. Ich habe Angst zu ertrinken, obwohl nirgendwo um mich herum Wasser ist.

Ich bin leicht wie eine Feder. Bald bin ich wieder schön. Aber er kommt trotzdem nicht zurück.

Bzzzt bzzzt. Das Vibrieren von meinem Handy reißt mich aus meinem Schlaf und aus meinen wirren Träumen. Ich bin eingeschlafen. Einfach so, mitten am Tag und fühle mich immer noch erschöpft.

Ich muss mir zuerst die Augen reiben und mich umsehen, bis ich verstehe, wo ich bin und was passiert ist. Ich habe nur geträumt. Die Bilder waren nicht echt. Ich bin nicht ertrunken.

Das hatte ich schon öfter. Im Schlaf überschlagen sich alle meine Gedanken, die ich tagsüber nicht denken will. Und ich sehe Bilder vor mir, die ich nicht sehen will. Bilder von früher, Bilder vor denen ich Angst habe. Sofort jage ich alles, was ich gerade noch im Schlaf vor mir gesehen und gehört habe, wieder weg aus meinem Kopf. Das ist nicht echt.

Immer noch etwas benommen nehme ich mein Handy in die Hand und sehe nach, wer mir geschrieben hat.

Hey Lotta, wie geht‘s so? Willst du diese Woche mal was machen? Shoppen oder so? Küsschen, Pauline

Paulines Nachricht leuchtet groß auf meinem Handy-Display auf. Es ist über eine Woche her, dass wir das letzte Mal Kontakt hatten. Aber sie meldet sich immer wieder. Sie ist noch da.

Aaron und ich hatten einen gemeinsamen Freundeskreis, weil wir uns schon in unserer Schulzeit kennengelernt und immer mit den gleichen Leuten getroffen haben. Zu den meisten habe ich heute keinen Kontakt mehr. Aber Pauline ist mir geblieben, obwohl sie Aaron und seine Freunde noch regelmäßig sieht.

Noch schlaftrunken fange ich an, eine Antwort zu tippen.

Eigentlich hasse ich shoppen. Ich hasse alle Aktivitäten, bei denen ich oft in den Spiegel schauen oder mich umziehen muss. Aber das wird Pauline nicht verstehen und außerdem gibt sie sich solche Mühe mit mir.

Ja, gern. Wie wär‘s am Freitag?

Meine kleine, aber gut gemeinte Lüge erscheint in unserem Chatverlauf und Pauline antwortet sofort.

Super Süße <3 dann hole ich dich um 12 Uhr ab, wir können vorher noch essen gehen :)

Essen gehen. Allein bei diesen Worten fängt sich alles um mich herum an zu drehen, mein Herz schlägt schneller und ich schwitze vor Aufregung. Essen gehen ist fast noch schlimmer als die Mahlzeiten mit meiner Familie. Ich fühle mich von den riesigen Portionen auf den Tellern vollkommen überfordert. Wie erschlagen. Vor einem Teller aus dem nächsten Restaurant könnte ich drei Tage lang sitzen, ohne es zu schaffen, ihn aufzuessen. Aber Pauline vertritt leider eine ähnliche Meinung wie mein Vater: Sie ist überzeugt, dass ich einfach nur wieder essen und Spaß haben muss.

Dass das nicht mehr geht, versteht sie nicht. Aber sie will mir helfen und sie lässt mich nicht allein. Und dafür bin ich ihr dankbar, auch wenn ich ihr es oft nicht zeigen kann.

Meine nächsten Tage bleiben so leer, wie die anderen davor.

Mahlzeiten, morgens, mittags und abends. Morgens, mittags und abends Angst vor dem Essen und Streitigkeiten mit meiner Familie. In mein kleines Kalorien-Büchlein wird jeder Happen sorgfältig eingetragen und an keinem einzigen Tag komme ich über meine 600-Kalorien-pro-Tag-Grenze. Aber zufrieden bin ich trotzdem nicht.

Mama telefoniert mit den ersten Kliniken für essgestörte Jugendliche und Erwachsene, nachdem ich mich bei Frau Doktor Haider nach ihnen erkundigt habe. Meine Therapeutin hat sehr erleichtert und zuversichtlich geklungen, als ich ihr gesagt habe, dass ich ihrem Ratschlag nachgehen werde. Sie sieht jetzt gute Chancen für mich.

Auch, wenn ich noch nicht ganz begriffen habe, wofür sie Chancen sieht. Dafür, dass ich wieder normal esse? Sie ist wie alle anderen. Das Essen ist das Wichtigste. Alles, was sonst noch in mir vorgeht, spielt keine Rolle, solange ich esse.

Am Freitagmorgen zeigt unsere Waage 40,6 Kilogramm an.

Bald habe ich es geschafft. Bald wiege ich unter 40 Kilo. Das ist mein nächstes Ziel, an dem ich seit Wochen arbeite. Nach meinem letzten Klinikaufenthalt vor etwa einem halben Jahr habe ich wieder über 50 Kilo gewogen. Aber das ist zum Glück bald alles wieder runter.

Ohne einen einzigen Bissen zum Frühstück gegessen zu haben, warte ich auf Pauline, die mich pünktlich um zwölf mit dem Auto abholt. Nachdem ich eingestiegen bin, lächelt sie mich an. Gerade so, als würde sie sich wirklich freuen, mich zu sehen, während ihr glitzernder Lidschatten perfekt über ihren geschwungenen Wimpern flimmert und ihr hellbraunes Haar sich über die Schultern wellt.

„Hey Lotta“, sagt sie bevor sie mich umarmt und mir einen Kuss auf die Wange drückt.

Ich versuche auch vergnügt auszusehen und sage: „Hey, wie geht's?“

„Gut“, antwortet Pauline nickend, „aber du siehst müde aus.“

„Hab nicht so gut geschlafen“, meine ich schulterzuckend, obwohl ich genau weiß, dass das nicht der wahre Grund für meine Erschöpfung ist.

„Geht dir viel im Kopf rum?“, fragt Pauline und ihr Blick ist halb mitfühlend und halb besorgt.

Ich nicke vorsichtig, aber ich will nicht darüber reden.

Pauline lächelt noch immer, streichelt einmal über meine Wange und meint: „Naja, jetzt machen wir uns mal einen schönen Tag, okay? Ich hatte bis elf meine letzte Vorlesung und ab jetzt gehöre ich ganz dir.“

Sie grinst. Ich lächle zurück und denke daran, wie unendlich lieb sie eigentlich zu mir ist. Warum fühle ich mich nur immer so unverstanden?

Pauline will aus unserer Einfahrt fahren, als meine Mutter winkend aus dem Haus läuft und auf das Auto zusteuert. Sie hält eine rosa Brotdose in den Händen. Pauline kurbelt das Autofenster neben mir hinunter.

„Lotta hat gar nichts gefrühstückt“, sagt meine Mutter aufgewühlt und legt mir die Brotdose auf den Schoß, „sie soll bitte wenigstens die Jause essen, während ihr unterwegs seid.

Sonst macht ihr Kreislauf das nicht mehr lange mit.“

Mama sieht Pauline flehend an und sie spricht mir ihr, als wäre ich gar nicht da. Sofort nehme ich die Brotdose von meinem Schoß und will sie Mama zurückgeben.

„Ich bin kein kleines Kind, das einen Babysitter braucht“, sage ich eingeschnappt zu ihr, „du kannst auch mit mir reden, wenn du etwas bringst, das musst du nicht Pauline absprechen. Und ich will deine Jause nicht.“

„Doch Lotta, du musst etwas essen“, protestiert meine Mutter und weigert sich, die Brotdose wieder mitzunehmen.

Verzweifelt verzieht sie das Gesicht. So läuft es immer, wenn ich mal für ein paar Stunden das Haus verlasse. Jetzt kann Mama mich nicht mehr kontrollieren. Jetzt kann sie mich nicht mehr zwingen zu essen oder jede halbe Stunde in mein Zimmer schauen, nur um sich zu vergewissern, dass ich noch atme. Sie muss ihre Verantwortung abgeben. An mich. Und davor hat sie noch mehr Angst, als davor, mich in meinem Zimmerchen versauern zu lassen.

„Wir fahren sowieso gleich zum Mittagessen“, beruhigt Pauline meine Mama, „und ich passe auf, dass Lotta etwas isst. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“

Ein wenig Erleichterung macht sich im Gesicht meiner Mutter breit, aber in mir steigt immer schneller die Wut hoch.

„Ich habe gesagt, ich brauche keinen Babysitter“, sage ich giftig zu Pauline und überlege, ob ich nicht einfach wieder aussteigen und sie sitzenlassen soll. Aber nein.

„Das hat doch nichts mit Babysitter zu tun“, will Pauline mich besänftigen, „du darfst schön auf dich selbst aufpassen.

Du brauchst nur ein bisschen Hilfe bei deinen Essgewohnheiten, das ist alles.“

„Ja, da hat sie recht“, stimmt Mama meiner Freundin zu und reicht ihr statt mir die Brotdose, „nimmst du die Jause mit, bitte? Nur falls ihr zwischendurch noch einmal Hunger bekommt...“

„Sicher“ sagt Pauline lächelnd und steckt die Brotdose in ihre Tasche, noch bevor ich irgendetwas dagegen tun kann.

Nachdem Mama ihren Willen bekommen hat, tritt sie sofort vom Auto zurück und winkt uns nach: „Viel Spaß euch beiden!“

Unser Nachmittag hat noch nicht einmal richtig angefangen und schon fühle ich mich wieder von allen Seiten zerquetscht.

„Asiatischer Frühlingsreis mit Huhn und Basilikum“, liest Pauline aus der Speisekarte ihres Lieblingsrestaurants vor, „klingt doch gut, oder?“

Ich nicke abwesend, weil ich damit beschäftigt bin, mit zittrigen Händen durch die Karte zu blättern. Jedes Gericht erscheint mir immer fettiger als das davor. Immer kalorienreicher. Und die riesige Auswahl überfordert mich vollkommen.

„Gut, ich glaube ich nehme einfach den Reis...“, stammle ich irgendwann, weil Pauline mich immer ungeduldiger ansieht.

Sie hat schon längst gewählt.

„Gute Wahl“, lobt sie mich und ich fühle mich wie ihr kleines Kind, „hab ich schon mal gegessen. Das wird dir sicher schmecken.“

Nachdem ich bestellt habe, krame ich panisch in meiner Handtasche, bis ich in einem Seitenfach meine kleine Tablettenschachtel finde. „Dulcolax – Abführmittel“ steht auf der Verpackung. Mit einem Mal fällt mir ein riesiger Stein vom Herzen. Wenn ich direkt nach dem Essen eine Tablette nehme, wird sich nichts an mir festfressen können. Das ganze Fett und alle Kalorien werden einfach durch mich durch laufen, das Abführmittel wird sie einfach wieder nach draußen schicken. Nichts von dem fettigen Essen bleibt bei mir. Auf keinen Fall.

„Was machst du denn?“, fragt Pauline verwundert und sieht verstört auf meine Hände in der Tasche, die gerade noch panisch am Suchen waren, „hast du was verloren?“

„Nein, nein“, stammle ich verlegen und stelle die Tasche wieder auf den Boden, „ich wollte nur sehen, ob mir jemand geschrieben hat.“

„Handyverbot am Tisch, das weißt du doch“, sagt Pauline grinsend. Sie versucht streng zu klingen, aber sie lacht.

Artig nicke ich und wende mich wieder ihr zu. Irgendein Gespräch werde ich doch anfangen können. Hauptsache wir reden nicht übers Essen. Und schon gar nicht über Aaron.

„Am Sonntag ist eine Party“, sagt Pauline da plötzlich, „zum Start in die Osterferien oder so. Willst du mitkommen?“

Erschrocken sehe ich sie an und bin überrascht, dass sie mich überhaupt fragt, ob ich mitkommen möchte.

„Wo denn?“, frage ich.

„Bei Phillip“, antwortet Pauline gelassen, während sie sich die erste Gabel voller asiatischer Nudeln in den Mund schiebt, die der Kellner gerade vor sie hingestellt hat, „es stört ihn sicher nicht wenn du kommst.“

Phillip ist ein Freund von Aaron. Ein ziemlich guter sogar.

Und da Aaron sich noch nie irgendeine Party entgehen hat lassen, kann ich mir sicher sein, dass wir uns dort begegnen, wenn Pauline mich mitschleppt. Und wenn mir irgendetwas zu viel ist, dann das. Lieber würde ich eine ganze Familienpizza alleine verdrücken, als ihn dort mit seiner neuen Freundin sehen zu müssen. Nur, wie erkläre ich das Pauline?

„Ich glaube das ist keine so gute Idee“, sage ich zögernd.

„Warum denn nicht?“, fragt Pauline sofort mit vollem Mund.

Richtig zufrieden sieht sie beim Essen aus.

„Ich...ich weiß nicht“, fange ich an, „ich glaube nicht, dass...“

Unser Kellner unterbricht meinen wackeligen Satz, weil er meinen „asiatischen Frühlingsreis mit Huhn und Basilikum“

vor meine Nase stellt. Die Portion ist riesig. So groß, dass ich keine Ahnung habe, wo ich anfangen soll. Trotz den Abführmitteln – meinen kleinen Rettern in der Handtasche – habe ich regelrechte Angst vor dem Essen, das vor mir steht.

Pauline bemerkt das, da bin ich mir sicher. Aber sie reagiert nicht darauf.

„Also ich würde mich freuen, wenn du mitkommst“, drängelt sie weiter, „du warst schon so lang nirgends mehr dabei. Ein paar von den Mädels fragen sogar ständig nach dir und machen sich Sorgen.“

Zaghaft schiebe ich mir die ersten Reiskörner in den Mund.

Ich werde nicht zunehmen. Ich kann gar nicht zunehmen.

Die Abführmittel werden es verhindern.

„Also?“, hackt Pauline noch einmal nach, weil ich ihr nicht antworte, „willst du nicht doch mitkommen?“

„Ich werde es mir überlegen“, verspreche ich ihr, obwohl ich jetzt schon weiß, dass ich bestimmt nicht auf dieser Party auftauchen werde.

„Na gut“, meint Pauline und lässt mich mit diesem Thema endlich in Ruhe.