Bis zum Horizont und weiter - Carrie Turansky - E-Book

Bis zum Horizont und weiter E-Book

Carrie Turansky

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Beschreibung

England, 1909: Isabella Grayson, die älteste Tochter eines wohlhabenden englischen Zeitungsverlegers, sehnt sich danach, Journalistin zu werden, doch ihre Eltern sind dagegen. Sie möchten, dass sie eine gute Partie macht und ihnen hilft, in der Gesellschaft einen höheren Rang zu erlangen. Als James Drake, ein talentierter Nachwuchspilot, mit seinem Flugzeug auf dem Anwesen der Graysons abstürzt, ist Isabella fasziniert von dem jungen Mann. Denn James ist fest entschlossen, als erster Mensch den Ärmelkanal zu überfliegen. Entgegen aller Widrigkeiten entsteht zwischen den beiden eine zunehmend tiefere Freundschaft … "Bis zum Horizont und weiter" erzählt die Geschichte einer jungen Liebe, die allen Herausforderungen trotzt und aufzeigt, dass Gottes Pläne für unser Leben größer sind, als wir es uns je erträumen könnten.

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Über die Autorin

Carrie Turansky ist bereits mit diversen Preisen für ihre Romane ausgezeichnet worden. Ihre Freizeit verbringt die fünffache Mutter und sechsfache Großmutter am liebsten mit ihrer Familie, im Museum oder in ihrem Garten. Sie lebt mit ihrem Mann im US-Bundesstaat New Jersey.

Dieses Buch ist meinen Enkeln gewidmet:Hudson, Hayden, Hanalei, Sahlor und Everett.Möget ihr eure Träume wahr machen und fliegen!

Groß ist deine Güte, sie reicht über den Himmel hinaus!Und wohin die Wolken auch ziehen: Überall ist deine Treue!Gott, zeige deine Größe, die den Himmel überragt;erweise auf der ganzen Welt deine Hoheit und Macht!Psalm 108,5-6

1

Februar 1909

Isabella Graysons Schuhe versanken in dem weichen roten Teppich auf Broadlands’ Südflur und sie stieß ein wohliges Seufzen aus. Was für ein Luxus! Ihre Eltern schlenderten mit Mr Fielding, ihrem neuen Gutsverwalter, vor ihr einher und neben Bella ging ihre Schwester Sylvia.

Bella hakte sich bei Sylvia unter, beugte sich zu ihr hinüber und fragte sie: „Meine Güte, hast du so etwas schon jemals gesehen?“

Sylvias blaue Augen wanderten von den großen Gemälden an den Wänden zu den sechs weißen Skulpturen, die in gleichmäßigen Abständen in dem Gang platziert waren. „Es sieht hier wie in einem Palast oder einer Kunstgalerie aus.“

„Das finde ich auch.“ Bella und Sylvia lächelten sich an und setzten ihren Weg durch den Flur fort.

Nach ihrer Vorstellung bei Hof und den vielen Bällen und Dinnerpartys während ihrer ersten und zweiten Saison hatte Bella eine Menge schöner Häuser in London besucht, aber so ein prunkvolles Haus wie Broadlands, den neuen Landsitz ihrer Familie, hatte sie noch nie gesehen.

Ihr Vater, Charles Grayson, hatte das große Anwesen praktisch unbesehen erworben, als er vor einigen Wochen erfahren hatte, dass es zum Verkauf stand. Die meisten Details hatte sein Anwalt abgewickelt und jetzt besichtigten er und seine Familie zum ersten Mal ihr neues Zuhause.

Er schob seinen Brustkorb vor und musterte mit einem kritischen Blick den Flur. „Dieses Haus wird die feinen Londoner Pinkel hoffentlich ordentlich beeindrucken.“ Ihr Vater wandte sich an den Butler: „Pierson, hat Sir Richard mittlerweile alles mitgenommen, was er behalten will?“

Die Mundwinkel des Butlers zogen sich nach unten. „Ja, Sir. Die letzten Möbel der Familie wurden vor zwei Tagen abgeholt.“

„Sehr gut.“ Er wandte sich an Bellas Mutter. „Nun, Madelyn, was sagst du dazu?“

„Es ist schön, Charles, aber mir wird ganz schwindelig, wenn ich nur daran denke, wie ich das alles managen soll.“

„Keine Sorge. Wir stellen genügend Personal ein, das sich um alles kümmert.“

Der nervöse Blick ihrer Mutter wanderte durch den langen Flur. „Ich habe keine Ahnung, was wir mit so viel Platz machen sollen.“

„Wir laden Gäste ein!“, verkündete Bellas Vater. „Wir veranstalten Partys, Dinnerpartys, Hauspartys.“ Er hob den Kopf und betrachtete die Deckengemälde. „Wir laden die richtigen Leute nach Broadlands ein und knüpfen die Kontakte, die ich brauche.“

„Aber Charles, wir ziehen doch aufs Land, damit du mehr Ruhe bekommst und besser auf deine Gesundheit achten kannst.“ Doch Bellas Vater tat die Worte seiner Frau mit einem Schnauben und einer lässigen Handbewegung ab.

Bellas Schultern spannten sich an. Ihrem Vater gehörten drei angesehene Londoner Zeitungen, die Daily Mail, der Evening Standard und der London Herald, aber sein Aufstieg in der Fleet Street und sein Ehrgeiz, ein großes Vermögen zu verdienen, gingen auf Kosten seiner Gesundheit und der Beziehung zu seiner Familie.

Bella hoffte sehr, der Umzug nach Broadlands würde ihn motivieren, seinen Lebensstil zu ändern und ein gesünderes Gleichgewicht zwischen Arbeit und Ruhe zu finden. Aber ihr Vater hatte ein anderes Ziel vor Augen. Er wollte die Kluft zwischen altem Geld und neuem Geld überbrücken und den Abstand zwischen sich und den Menschen, die einen hohen Rang, Titel und geachtete Familiennamen geerbt hatten, verringern.

Mr Fielding schob zwei große Doppeltüren auf. „Das ist der Salon.“ Mit einem Lächeln wies er mit einer Hand in den Raum, der sich vor ihnen öffnete. „Broadlands ist ein bemerkenswertes Beispiel für die Viktorianische Architektur. Das Haus ist aus weißem, magnesiumhaltigen Kalkstein erbaut, der in den 1860er-Jahren hier auf dem Gelände abgebaut wurde. Eingerichtet und ausgestattet wurde es von der Firma Lapworth Brothers aus London.“

Ihr Vater schritt in den Salon und sah wie ein stolzer König aus, der sein neues Reich in Augenschein nimmt. Der Butler zog an der Kette, die am Kronleuchter befestigt war, und die Gasflammen erwachten flackernd zum Leben.

Bella stockte der Atem, als sie den Blick zu den glitzernden Lichtern und den imposanten Deckengemälden hob. Sie waren atemberaubend und würden die Gäste, die ihr Vater einladen wollte, bestimmt faszinieren. Sie senkte den Blick und sah sich im Salon um. Korallenfarbene gemusterte Seide bedeckte die Wände und schwere gold- und korallfarbene Vorhänge umrahmten die vier hohen Fenster. Rechts von ihr umgab ein kunstvoll gestaltetes Marmorsims den Kamin, über dem ein vergoldeter Spiegel hing.

Die Möbel, die der Vorbesitzer zurückgelassen hatte, sahen aus, als wären sie eigens für dieses Zimmer angefertigt worden – weich gepolsterte Sessel und Sofas in Korallenrot und Gold, ein großes Klavier und mehrere Tische und Vitrinen.

Sylvias Gesicht leuchtete auf, als sie sich in dem Raum umblickte. „Wenn wir die Möbel an den Rand schieben und die Teppiche aufrollen, ist dieser Raum groß genug für einen Ball.“

Bella lächelte und schaute ihre Schwester liebevoll an. Sylvia war vor Kurzem achtzehn geworden und würde in diesem Frühling zum ersten Mal an der Londoner Saison teilnehmen. Mit ihrer Schönheit, ihrem Charme und ihrer mitfühlenden Art würde sie zweifellos aus dem Kreis der Debütantinnen herausragen. Wahrscheinlich würden innerhalb weniger Wochen die Verehrer Schlange stehen und sich um sie bemühen. Aber ihre Eltern hatten eine strenge Liste mit Anforderungen und würden nur einem jungen Mann aus einer reichen, angesehenen Familie, der später einen Titel und einen ansehnlichen Landbesitz erben würde, ihre Zustimmung geben.

Erinnerungen an Bellas letzte zwei Jahre in der Londoner Gesellschaft wurden wach und trübten ihre Begeisterung. Sie war einer ganzen Reihe von jungen Männern vorgestellt und von ihnen umworben worden. Die meisten hatte sie als sehr unangenehm empfunden, da sie sich nur wegen ihres künftigen Erbes für sie interessiert hatten. Das war schmerzlich und peinlich gewesen und sie wollte solche Erfahrungen in der nächsten Saison auf keinen Fall wiederholen.

Falls sie je heiratete, dann aus Liebe und nur einen Mann, dem es um sie ging und nicht um das Vermögen ihres Vaters.

Mr Fielding deutete zu den Türen an der Außenwand. „Diese Türen führen auf die südliche Terrasse und die anschließenden Rasenflächen hinaus und bieten einen Blick auf den Springbrunnengarten und die dahinterliegenden Sinkgärten.“ Er schob die Türen auf und trat zur Seite, um der Familie den Vortritt zu lassen.

Bella ging hinaus und atmete die kühle, frische Luft tief ein. Der Februarmorgen war klar und sonnig und nur ein leichter Wind, der den Geruch von umgegrabener Erde und Zedernholz mit sich trug, umwehte sie.

Die Gärten waren gepflegt, aber größtenteils braun, da sie sich noch in ihrer Winterruhe befanden. Sie verschränkte bei der Kälte die Arme vor sich und war froh, dass sie ihren Mantel für die Hausbesichtigung angelassen hatte. Hinter den Bäumen ertönte ein leises Brummen. Sie drehte sich um und suchte die Wiese auf der anderen Straßenseite ab. Das hartnäckige Geräusch wurde lauter, aber sie konnte nicht erkennen, woher es kam.

„Was ist denn das für ein Lärm?“ Ihr Vater runzelte missbilligend die Stirn.

Mr Fielding hielt die Hand als Schild an seine Stirn und blickte über die Straße. „Tut mir leid, Sir. Ich habe keine Ahnung.“

Kaum hatte er das gesagt, tauchte über den Bäumen ein Flugzeug auf und flog über der Wiese direkt auf sie zu.

Bellas Kinnlade fiel nach unten und sie drückte die Hände auf ihr Herz. „Das ist ein Flugapparat!“

Sylvia klammerte sich überrascht an Bellas Arm.

„Bei Gott, tatsächlich!“ Ihr Vater warf einen Blick über die Schulter auf seine Familie und grinste breit. „Schaut euch das an! Das ist so ein Flugapparat, wie wir ihn in Frankreich gesehen haben!“

Bellas Mutter eilte an seine Seite. „Aber er sieht anders aus als Mr Wrights Flugapparat.“

Im letzten August war die Familie in der Nähe von Le Mans im Urlaub gewesen und hatte gehört, dass Wilbur Wright plante, seinen Wright Flyer auf einer Rennbahn unweit der Stadt vorzuführen. Zusammen mit anderen Flugbegeisterten hatten sie verfolgt, wie der amerikanische Flugzeugkonstrukteur seinen Flugapparat zum ersten Mal in Europa geflogen hatte. Sie hatten zusehen können, wie er problemlos vom Boden abgehoben und mit beeindruckender Präzision mehrere Runden über dem Gelände gedreht und das Flugzeug schließlich wieder sicher auf die Erde gebracht hatte. Dieses aufregende Erlebnis würden sie bestimmt nie vergessen.

„Wer ist dieser Pilot?“ Ihr Vater deutete über die Wiese. „Und warum fliegt er über Broadlands?“

Der Flügel des Flugapparats neigte sich auf eine Seite und der Pilot flog in einem Bogen wieder zu den Bäumen zurück.

„Das weiß ich nicht, Sir. Aber ich werde mich auf jeden Fall darum kümmern. Ohne Ihre Erlaubnis sollte er nicht über Broadlands fliegen.“

Bella wollte Mr Fielding widersprechen und ihm erklären, dass ihr Vater ein leidenschaftlicher Befürworter des Fliegens war, aber in diesem Moment begann der Motor des Flugapparates zu stottern und starb schließlich ab. Anschließend neigte sich das Flugzeug nach links und die Nase steuerte direkt auf die Erde zu. Bella hielt sich vor Schreck die Hand an den Mund.

Schließlich sank der Apparat in einer besorgniserregenden Geschwindigkeit nach unten und landete unsanft auf der Wiese. Braunes Gras und braune Blätter wurden aufgewirbelt, als es über die Wiese rutschte und die linke Flügelspitze die Erde streifte.

Noch bevor das Flugzeug stehen blieb, eilte ihr Vater die Terrassenstufen hinab und lief in Richtung Straße.

„Charles, sei vorsichtig!“, rief Mutter.

Bella löste sich von Sylvia und eilte ihm nach.

„Bella, komm zurück!“ Die Worte ihrer Mutter erreichten ihre Ohren, aber sie blieb nicht stehen. War der Pilot verletzt? Sie konnte doch nicht stehen bleiben und das Geschehen aus der Ferne beobachten, wenn der Mann womöglich verletzt war und Hilfe brauchte.

Der grauhaarige Verwalter überholte Bella und hatte bald ihren Vater eingeholt. Sie hob ihren Rock, lief über die Straße und folgte den Männern auf die Wiese. Bald näherten sie sich dem Flugzeug von hinten. Als sie es fast erreicht hatten, riss der Pilot die Schiebermütze von seinem Kopf und schlug sie auf sein Bein.

„Sind Sie verletzt?“, rief ihr Vater, der zur Vorderseite des Flugzeugs herumging. Bella und Mr Fielding waren dicht hinter ihm.

Der Pilot hob den Kopf und schaute ihren Vater stirnrunzelnd an. „Mir geht es gut, aber meinem Flugzeug nicht.“

Dankbar, dass der Mann nicht verletzt war, atmete Bella zitternd aus.

Während er aus dem Flugzeug kletterte und zu dem beschädigten Flügel stapfte, brummte er missmutig vor sich hin. Ohne sie zu beachten, untersuchte er die verbogene Flügelspitze, die sich in die Erde gebohrt hatte.

„Das ist schrecklich.“ Er nahm seine Pilotenbrille ab und ließ sie um seinen Hals hängen.

Bella war überrascht. Der Pilot war kein Mann mittleren Alters wie Wilbur Wright. Er sah aus, als wäre er Anfang zwanzig, also nicht viel älter als sie. Einen Moment lang betrachtete sie sein Gesicht mit seinen faszinierenden honigbraunen Augen und seinem starken Kinn, und sie hatte den untrüglichen Eindruck, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, wo das gewesen war.

Der Pilot strich mit der Hand durch sein dunkelblondes, gewelltes Haar, dann wischte er die Erde von der Flügelspitze und zog an einem der Stützdrähte. Mit einem Kopfschütteln richtete er sich auf und humpelte zum Rumpf des Flugzeugs.

Bellas Herz zog sich zusammen und sie streckte die Hand nach ihm aus. „Sie humpeln … Sind Sie sicher, dass Sie nicht verletzt sind?“

Er blickte in ihre Richtung, und ein Gefühl, das sie nicht deuten konnte, trat in seine Augen. „Das ist eine alte Verletzung. Mir geht es gut.“ Aber seine Enttäuschung war seiner Stimme deutlich anzuhören.

Das Klappern von Pferdehufen donnerte über die Wiese und Bella blickte auf. Ein großer Bauernwagen, der von zwei Pferden gezogen wurde, tauchte zwischen den Bäumen auf und rollte auf sie zu.

„Wer ist denn das?“ Ihr Vater schaute Mr Fielding fragend an und deutete mit dem Kopf auf den Wagen.

„Tut mir leid, Sir. Ich habe diesen Mann noch nie gesehen.“

Ihr Vater warf Fielding einen vielsagenden Blick zu. „Hier auf Broadlands scheint viel zu passieren, von dem Sie nichts wissen.“

Fieldings Gesicht rötete sich. Er trat auf den Piloten zu und räusperte sich. „Wer hat Ihnen erlaubt, Ihre Flugversuche auf Broadlands durchzuführen?“

Der Pilot schaute Fielding finster an. „Gehört Ihnen etwa die Luft über diesem Feld?“

„Nein, aber Mr Grayson ist der Eigentümer von Broadlands und das hier ist sein Privatgelände.“

Der Pilot schnaubte. „Der Himmel darüber gehört ihm jedenfalls nicht, und ich hatte bestimmt nicht vor, auf seiner Wiese zu landen.“

„Auch wenn das vielleicht nicht Ihre Absicht war, sind Sie mit Ihrem Flugapparat auf seinem Grundstück gelandet. Es ist viel zu gefährlich, Ihre Experimente so nahe bei Mr Graysons Haus durchzuführen.“

„Ich hatte mein Flugzeug unter Kontrolle, auch als der Motor abstarb. Ich wäre auf keinen Fall auf seinem Haus gelandet. Das sieht man doch.“

Bella konnte sich nur mit Mühe ein Schmunzeln verkneifen. Der Pilot sah nicht nur gut aus, er war auch ziemlich klug und ließ sich von dem pedantischen Verwalter nicht unterkriegen.

Fielding kniff seine Augen zusammen. „Es besteht kein Grund, impertinent zu werden, junger Mann.“

Die Augen des Piloten funkelten. „Ich bin nicht impertinent. Ich stelle nur die Fakten klar.“

Fielding sah aus, als wollte er weiter auf seinem Standpunkt herumreiten, aber ihr Vater hob beschwichtigend die Hand. „Ich übernehme das, Mr Fielding.“ Bellas Vater trat vor. „Ich bin Charles Grayson, der neue Eigentümer von Broadlands.“

Der Pilot warf Bella einen schnellen Blick zu und schaute dann ihren Vater an. „James Drake, der Eigentümer dieser Steed IV.“ Er deutete mit dem Kinn auf seinen Flugapparat.

Der Wagen blieb in kurzer Entfernung von ihnen stehen. Ein älterer Mann, der einen langen, verknitterten Mantel und eine rote Krawatte trug, stieg ab. Ein leichter Wind wehte das lange weiße Haar aus seinem eckigen Gesicht. Er sah aus, als wäre er mindestens siebzig, aber er bewegte sich mit der Wendigkeit eines viel jüngeren Mannes. Zwei Jungen, die ungefähr zwölf oder dreizehn waren und eine schlichte Bauernkleidung trugen, kletterten hinter ihm aus dem Wagen.

„James, bist du verletzt?“ Der ältere Mann ging um das Flugzeug herum und trat auf sie zu.

James’ Miene entspannte sich. „Nein, aber der Flügel ist beschädigt, und ich fürchte, die Radaufhängungen sind verbogen.“

„Aber dir geht es gut?“

„Ja, mir ist nichts passiert.“

Der ältere Mann trat auf Mr Grayson zu. „Guten Morgen, Sir. Ich bin Professor Thaddeus Pierpont Steed. Und Sie sind?“

„Mr Charles Grayson von Broadlands.“ Ihr Vater blickte zum Haus.

„Ah, verstehe“, lächelte der Professor. „Meinen Protegé, Mr James Drake, haben Sie bereits kennengelernt?“

„Ja, wir haben uns kennengelernt.“

„Wie schön, es freut uns, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Dann lächelte er Bella an und fragte: „Und wer ist diese junge Dame?“

„Das ist meine Tochter Isabella.“

Er nickte ihr zu, dann wanderte sein Blick schließlich zu Mr Fielding herüber. „Und Sie, Sir?“

„Ich heiße Fielding. Ich bin Mr Graysons Gutsverwalter und habe diesem jungen Mann gerade erklärt, dass Broadlands in Privatbesitz ist. Niemand sollte so nahe am Haus herumfliegen.“

Der Professor hob den Zeigefinger. „Das ist ein ausgezeichnetes Argument“, sagte er, während er auf den Flugapparat blickte. „Wie Sie sehen können, hat Mr Drake das Flugzeug vom Haus weggelenkt und war auf dem Rückweg zu Mrs Shelbys Farm. Dort befindet sich unsere Werkstatt und dort führen wir unsere Experimente durch.“

Mr Fielding legte den Kopf schief. „Mrs Martha Shelby?“

„Ja, Sir. Sie ist eine sehr großzügige Freundin, die uns erlaubt, ihre Farm als Operationsbasis zu benutzen. Ihre großen, weiten Felder sind zum Starten und Landen ideal.“

Mr Fielding beugte sich zu Bellas Vater vor und senkte die Stimme. „Mrs Shelby ist eine ihrer Pächterinnen, Sir. Sie ist Witwe und bewirtschaftet mithilfe ihres Sohns die Green Meadow Farm.“

Ihr Vater nickte. „Verstehe.“

Ein aufgeregtes Kribbeln lief über Bellas Rücken. Diese Männer führten ihre Experimente hier auf Broadlands durch. Vielleicht würde sie Mr Drake bald wieder fliegen sehen.

Der Professor betrachtete ihren Vater einen Moment lang nachdenklich, dann leuchteten seine dunklen Augen auf. „Sind Sie etwa der Mr Charles Grayson, der Eigentümer der Daily Mail?“

Ihr Vater richtete sich zu seiner vollen Größe auf und schob seinen Brustkorb vor. „Das ist richtig. Mir gehören der London Herald, der Evening Standard und die Daily Mail.“

Der Professor ergriff die Hand ihres Vaters und schüttelte sie herzlich. „Sir, wir freuen uns wirklich sehr, Sie kennenzulernen.“

Ihr Vater lächelte und schien sich sichtlich zu freuen, dass dem Professor sein Ruf bekannt war. „Ich habe großes Interesse am Fliegen. Ich sage oft, der Himmel ist der nächste große Raum für Pioniere und verdient staatliche und private Unterstützung.“

„Dem stimmen wir voll und ganz zu, nicht wahr, James?“ Der Professor schaute James mit einem strahlenden Lächeln an, zog seine weißen Brauen hoch und sah aus, als versuche er, dem jungen Piloten eine Botschaft zu vermitteln. James nickte kurz, schaute den Professor aber mit einem fragenden Blick an.

Ihr Vater legte den Kopf schief. „Ich nehme an, Sie haben von dem Preis gehört, den die Daily Mail für den Piloten ausgesetzt hat, der als Erster über den Ärmelkanal fliegt?“

„Natürlich. Ich glaube, wir stehen kurz davor, unseren Flugapparat zu perfektionieren und den Termin für unseren ersten Versuch anzusetzen.“ Der Professor legte dem jungen Piloten die Hand auf die Schulter. „Ich habe vollstes Vertrauen, dass James diesen Preis gewinnen wird.“

James richtete sich auf, und seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, das ihn noch attraktiver aussehen ließ.

„Das ist ja wunderbar!“ Bella schaute ihren Vater an. „Wäre es nicht herrlich, wenn ein Engländer den Franzosen zuvorkommt und den Ärmelkanal als Erster überquert?“

„Auf jeden Fall. Ich kann es gar nicht erwarten, all die Pessimisten zum Schweigen zu bringen, die behaupten, das wäre nie zu schaffen, und uns verspotten, weil wir diesen Preis ausgesetzt haben.“

Bella erinnerte sich an den Ärger ihres Vaters, als eine Konkurrenzzeitung in einem Leitartikel geschrieben hatte, das ergebe genauso viel Sinn, als würde man tausend Pfund für den ersten Flug zum Mond anbieten, und konnte sich ein Lächeln nur mühsam verkneifen.

„Ein erfolgreicher Flug über den Ärmelkanal öffnet diesen Regierungsbeamten vielleicht endlich die Augen“, sprach ihr Vater weiter, „und veranlasst sie, das Fliegen zu unterstützen.“

Professor Steed nickte kräftig. „Es ist ein sehr wichtiges Ziel, die Regierung vom Wert des Fliegens zu überzeugen, um Großbritanniens Verteidigung in der Zukunft zu gewährleisten.“

„Ich stimme Ihnen absolut zu.“ Mit leuchtenden Augen ließ ihr Vater seinen Blick über das Flugzeug wandern. „Wie schnell können Sie Ihren Apparat reparieren und Ihre Testflüge fortsetzen?“

„Es dürfte nicht sehr lange dauern, den Flügel neu zu bauen und die Radaufhängungen zurechtzubiegen.“ Der Professor betrachtete das Flugzeug noch einmal. „Mit etwas Glück kann James in zwei oder drei Tagen wieder in der Luft sein.“

„Es sei denn, wir haben weiterhin Probleme mit dem Motor.“ James warf einen beunruhigten Blick auf den Propeller und den Motor, der sich dahinter befand.

„Ja, solange wir dieses Problem nicht gelöst haben, können wir eine Ärmelkanalüberquerung nicht riskieren.“ Der Professor runzelte die Stirn und steckte die Hände in seine Manteltaschen.

Bellas Blick wanderte von Professor Steed zu James. Er würde doch sicher keinen weiteren Flug wagen, solange sie sich nicht vergewissert hatten, dass der Motor richtig funktionierte. „Mit einem unzuverlässigen Motor zu fliegen, klingt sehr gefährlich.“

James schaute sie an, und seine honigbraunen Augen schienen erkunden zu wollen, was sie zu diesen Worten bewog. Ihre Wangen wurden bei seinem durchdringenden Blick warm und sie schaute weg.

Ihr Vater trat auf den Professor zu. „Wir haben bei der Daily Mail Männer, die technisch sehr versiert und begabt sind. Sie sorgen dafür, dass unsere Druckerpressen rund um die Uhr laufen. Ich könnte einen von ihnen aus London kommen lassen, damit er sich Ihren Motor ansieht. Vielleicht kann er Ihnen helfen.“

James und der Professor wechselten einen schnellen Blick, aber Bella konnte unmöglich sagen, was sie von dieser Idee hielten.

„Dieses Angebot ist sehr freundlich, Sir“, antwortete der Professor, „aber wir möchten Ihre Angestellten nicht belästigen.“

„Einer von ihnen hat bestimmt nichts gegen einen Tag auf dem Land und eine Gelegenheit, sich einen Flugapparat genauer anzusehen.“ Der Blick ihres Vaters wanderte von James zum Professor. „Nun, meine Herren, was sagen Sie?“

Erst als James leicht nickte, kehrte Professor Steeds Lächeln zurück. „Wenn das so ist, sehr gerne. Wir würden uns über den Rat von einem Ihrer Männer aus London sehr freuen. Er könnte in unsere Werkstatt kommen und sich den Motor ansehen.“

„Gut.“ Ihr Vater nickte und ließ seinen Blick wieder zu dem Flugzeug wandern. „Mich interessiert Ihre Arbeit sehr und ich würde gern mehr darüber erfahren. Wenn Sie einverstanden sind, begleite ich den Mann.“

Bellas Herz schlug höher. Wie aufregend! Wenn ihr Vater die Werkstatt besuchte, könnte sie vielleicht auch mitkommen.

„Selbstverständlich.“ Das Lächeln des Professors wurde breiter. „Wir zeigen Ihnen gern unsere Werkstatt und erklären Ihnen die Veränderungen, die wir an unserem Flugzeug vorgenommen haben.“

„Ausgezeichnet! Ich schicke noch heute eine Nachricht in unser Londoner Büro.“

Der Professor reichte ihrem Vater die Hand. „Danke, Mr Grayson. Sie sind sehr großzügig.“

Ihr Vater schüttelte seine Hand. „Ich würde nichts lieber sehen als einen britischen Piloten, der als Erster den Ärmelkanal überquert und diesen Preis gewinnt.“

„Das wäre herrlich.“ Der Professor strahlte. „Sie geben uns also Bescheid, wann wir Sie und Ihren Mann aus London erwarten können?“

„Ich kläre das so bald wie möglich und schicke Ihnen eine Nachricht.“

„Sehr gut. Uns passt es jederzeit“, fügte der Professor hinzu.

Ihr Vater reichte James die Hand. Der junge Pilot schüttelte sie, aber seine Miene blieb vorsichtig. Nun winkte der Professor seine zwei jungen Helfer herbei, die immer noch bei dem Wagen standen.

Bella warf einen Blick auf James und dann auf ihren Vater. Wenn sie jetzt nichts sagte, hätte sie ihre Chance vertan. „Ich würde Ihre Werkstatt auch gern sehen.“

James zog seine Brauen hoch. „Wirklich?“

„Ja, ich interessiere mich sehr für Flugzeuge.“

„Unsinn, Bella!“ Ihr Vater tat ihre Worte mit einer unwirschen Handbewegung ab. „Eine Flugzeugwerkstatt ist nichts für eine junge Dame. Und selbst wenn es so wäre, solltest du dich nicht selbst einladen.“

Bellas Gesicht begann zu glühen. Sie wollte ihren Standpunkt verteidigen, aber ihren Vater vor diesen Männern, die sie kaum kannten, herauszufordern, würde sie nur noch mehr in Verlegenheit bringen.

„Die junge Dame ist herzlich willkommen.“ Der Professor schaute sie an und aus seinen Augen sprach eine echte Freundlichkeit. „Mrs Martha Shelby ist regelmäßiger Gast in unserer Werkstatt.“

Ihr Vater zog missbilligend seine Brauen zusammen und warf Bella einen schnellen Blick zu. „Das besprechen wir später. Jetzt ist es Zeit, zum Haus zurückzukehren.“ Er wandte sich James und dem Professor zu. „Danke, meine Herren. Ich freue mich darauf, Sie bald wiederzusehen. Guten Tag.“ Er nickte Mr Fielding zu und die zwei Männer traten den Rückweg über die Wiese an.

Bella folgte ihrem Vater, aber nach wenigen Schritten wurde sie langsamer und blickte über ihre Schulter zurück. Die zwei Jungen zogen den kaputten Flügel aus der Erde, während James und der Professor das Flugzeug zum Wagen schoben.

James blickte mit einem Nicken und einem schwachen Lächeln in ihre Richtung. Ihr Herz schlug höher und sie erwiderte sein Lächeln.

„Bella, komm!“, rief ihr Vater.

Sie wechselte noch einen weiteren Blick mit James, dann wandte sie sich ab und schlenderte über die Wiese zum Haus zurück. Es mochte zwar nicht damenhaft sein und ihr Vater war vielleicht nicht damit einverstanden, aber sie musste eine Möglichkeit finden, die Werkstatt auf der Green Meadow Farm zu besuchen und James Drake und sein Flugzeug wiederzusehen.

James schob die schwere Holztür auf und marschierte in die Werkstatt. Er nahm seine Kappe ab, zog die Handschuhe aus und warf alles auf die Werkbank, dann schlüpfte er aus seiner Jacke.

Wie hatte er nur vergessen können, dass Charles Grayson der Eigentümer der Daily Mail war – der Mann, der einen Preis für den ersten Piloten ausgesetzt hatte, dem ein Flug über den Ärmelkanal gelang? Und was für einen Preis! Tausend Pfund! Aber es ging nicht nur um das Preisgeld. Das Prestige, das der Gewinn dieses Wettbewerbs bringen würde, könnte ihnen zu einem Auftrag der Regierung verhelfen, Flugzeuge für das britische Militär zu bauen. Aber er würde weder den Preis noch Charles Graysons Gunst gewinnen, wenn er mit seinem Flugzeug noch eine Bruchlandung neben Graysons Haus hinlegte und sich mit seinem Gutsverwalter anlegte.

„Verflixt!“ Wann würde er lernen, sein Temperament zu zügeln und ruhig zu bleiben?

Professor Steed folgte ihm in die Werkstatt, dann zog er seinen Mantel aus und hängte ihn an einen Haken. „Es hat keinen Sinn, dich weiter zu ärgern.“

„Ich verstehe einfach nicht, warum ich Charles Grayson nicht erkannt habe und seinen Namen nicht sofort mit der Daily Mail in Verbindung bringen konnte. Vermutlich hält er mich für einen Idioten. Diese Einschätzung trifft wahrscheinlich auch ins Schwarze.“

„James, das stimmt nicht, und das weißt du ganz genau. Du musst endlich aufhören, dich selbst kleinzumachen, nur weil dir Fehler unterlaufen.“

„Wie soll ich das können, wenn eine Katastrophe auf die andere folgt?“ James öffnete das Türchen des Holzofens und legte einige Holzscheite hinein. Die Hitze der Flammen wärmte seine kalten, steifen Finger und vertrieb seine Enttäuschung ein wenig. „Warum können wir unsere Entwicklungsprobleme einfach nicht lösen und unser Flugzeug nicht in der Luft halten?“

„Dieses Mal ging es nicht um unsere Entwicklung. Der Motor hat versagt.“

James nickte leicht. „Wir müssen herausfinden, warum der Motor versagt hat und wie wir das in Zukunft verhindern können.“ Er schloss die Ofentür und versuchte, seine bedrückten Gefühle abzuschütteln.

Der Professor legte James eine Hand auf die Schulter. „Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen. Überleg doch nur, wie weit wir in den letzten paar Monaten gekommen sind.“

Er versuchte, sich auf die Erfolge, die sie bereits erreicht hatten, zu konzentrieren, aber es waren immer noch so viele Hindernisse zu überwinden, bevor sie die Überquerung des Ärmelkanals wagen konnten.

„Dein Start lief heute tadellos und du warst fast fünfzehn Minuten in der Luft.“

Das stimmte, aber er dachte weniger an seinen letzten Flug als an seine peinliche Begegnung mit Charles Grayson und seiner Tochter Isabella. Ihr Bild tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Er hatte sie schon einmal gesehen – da war er sich ganz sicher. Wer konnte eine solche Frau mit ihren faszinierenden blauen Augen und ihrem atemberaubenden Lächeln vergessen? Der große Strohhut, den sie heute getragen hatte, hatte einen Schatten auf ihr Gesicht geworfen, aber er hatte ihren cremigen Teint und ihre Perlohrringe, die einen reizvollen Kontrast zu ihrem kastanienbraunen Haar gebildet hatten, nicht verbergen können.

Sie war schön, aber für jemanden wie ihn definitiv unerreichbar – den unehelichen Sohn einer jungen Frau, die auf ungeklärte, tragische Weise ums Leben gekommen war. Er versuchte, diese Gedanken zu verdrängen. Er kannte zwar weder die vollständige Geschichte um den Tod seiner Mutter noch die Identität seines Vaters, aber das bedeutete nicht, dass er nichts aus sich machen und seine beschämende Vergangenheit nicht hinter sich lassen konnte.

Professor Steed hielt die Hände nahe an den Holzofen, um sich aufzuwärmen. „Merke dir, James, jeder große Wissenschaftler und Erfinder muss viele Versuche durchführen, bis er endlich erfolgreich ist. Jeder Versuch sollte nicht als Versagen gesehen werden, sondern als Gelegenheit, etwas Neues zu lernen. Wir müssen weitermachen, bis wir die Lösungen, die wir suchen, finden.“

James nickte, aber es fiel ihm schwer, die innere Stimme, die ihm sagte, er wäre unwürdig und würde nie etwas Nennenswertes erreichen, zum Schweigen zu bringen. „Bei Mr Grayson habe ich jedenfalls keinen guten Eindruck hinterlassen.“

Der Professor nahm eine Tasse aus dem Regal. „Darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Das Gespräch endete gut.“ Die dunkelbraunen Augen des Professors strahlten Zuversicht aus, während er die Tasse mit heißem Wasser aus dem dampfenden Kessel füllte. „Wenn er unsere Flugzeuge sieht und wir ihm erklären, was wir schon alles herausgefunden haben und wie wir die Flugzeuge entsprechend verändern konnten, ist er bestimmt beeindruckt.“

James atmete tief aus. Wahrscheinlich hatte der Professor recht. Die Begegnung hatte positiv geendet. „Kann uns dieser Mann aus London tatsächlich helfen, eine Lösung zu finden, damit der Motor nicht wieder in der Luft versagt?“

„Ich hoffe es, aber am wichtigsten ist, dass wir unsere Beziehung zu Mr Grayson vertiefen. Er ist ein Mann mit großem Einfluss.“

James nickte und betrachtete dann den umgebauten Milchschuppen. Was würde ein reicher, mächtiger Mann wie Mr Charles Grayson von ihrer bescheidenen Werkstatt halten? Der größte Teil des langen Gebäudes war mit sauber gestapelten Bauteilen, Flugzeugteilen und Werkzeugen gefüllt. An der Wand rechts von ihm war eine Werkbank angebracht. Zwei Betten, ein runder Tisch mit vier Stühlen und eine kleine Küchenecke belegten links von ihm das Ende des Schuppens. Die Wand hinter der Küche war mit Regalen gesäumt, die mit eingemachten Lebensmitteln, Töpfen, Pfannen und Geschirr gefüllt waren, obwohl Martha Shelby darauf bestand, die meisten Mahlzeiten für sie zu kochen.

Der Professor besaß zwar ein Haus in London, in dem James aufgewachsen war, aber seit ihrer Rückkehr aus Frankreich im letzten September wohnten sie hier in dieser Werkstatt. Wilbur Wrights Vorführung seines Wright Flyers hatte sie inspiriert, ihre Experimente und Probeflüge ernsthaft weiterzuführen. Als zwei Monate später ein Preis für die Überquerung des Ärmelkanals ausgesetzt worden war, hatte sie das noch stärker motiviert, und sie hatten beschlossen, in den kalten Wintermonaten auf Green Meadow zu bleiben und weiterzuarbeiten. Wilbur Wright lehnte eine Überquerung des Ärmelkanals zwar ab, aber sie hatten gehört, dass es andere Piloten gab, die sich darauf vorbereiteten, einen solchen Flug zu wagen, um den Preis zu gewinnen. Wenn James ihnen zuvorkommen wollte, durften sie sich keine Pause gönnen.

James betrachtete das unfertige zweite Flugzeug neben sich und eine neue Entschlossenheit erfüllte ihn. Die Zeit war gekommen, dass Menschen von der Erde abhoben und mit ihren Maschinen den Himmel eroberten. Und er war entschlossen, in die Reihen jener kühnen Flugzeugpioniere aufzusteigen, die Lösungen entwickelten, um motorisierte Flüge für jeden, der fliegen wollte, sicher und zugänglich zu machen. Das atemberaubende Gefühl bei seinem ersten Flug würde er nie vergessen. Die kühle Luft hatte sein Gesicht umweht und die Vibration des Motors hatte sich auf seinen ganzen Körper übertragen. Er hatte sich so lebendig gefühlt wie nie zuvor.

Die Schuppentür wurde aufgeschoben, und Martha Shelby trat mit einem großen Tablett, auf dem sie zwei mit Stoffservietten abgedeckte Teller stehen hatte, in den Schuppen.

„Wie war der Flug?“ Auf ihre rosigen Wangen trat ein warmes Lächeln, während ihre blauen Augen von James zum Professor wanderten. Sie trug über ihrem schlichten blauen Kleid eine rot gestreifte Schürze und ihr silbernes Haar wurde von einem blauen Kopftuch bedeckt.

„Ausgezeichnet!“ Der Professor schaute sie an. „Aber leider hatte James eine unsanfte Landung, als der Motor abstarb.“

„Oh, nein! Der Motor ist schon wieder abgestorben?“ Sie schaute James schnell an. „Bist du verletzt?“

„Nein, mir geht es gut.“

„Wo bist du denn gelandet?“

„Auf der Wiese gegenüber vom Gutshaus.“

Sie zog die Brauen hoch und stellte das Tablett auf den Tisch. „Das hat sicher für Aufsehen gesorgt.“

James nickte resigniert. „Das kannst du laut sagen.“

„Keine Sorge.“ Professor Steed trat zu Martha. „Wir haben Mr Grayson, den neuen Eigentümer von Broadlands, seine Tochter und seinen Verwalter kennengelernt.“

Sie verzog das Gesicht. „Mr Fielding?“

Der Professor nickte. „Ja. Er war nicht sehr freundlich, aber Mr Grayson und seine Tochter scheinen vom Fliegen begeistert zu sein.“

„Ist das Flugzeug in Ordnung? Ich habe gesehen, dass ihr es mit dem Wagen zurückgebracht habt.“

„Es hat einige kleinere Schäden abbekommen.“

Sie hob den Blick und schaute den Professor mit strahlenden Augen an. „Ich bin überzeugt, dass ihr diese Schäden beheben könnt.“

Der Professor starrte sie einen Moment lang an und räusperte sich. „Ja … nun, dazu kommen wir gleich … aber vorher … Ich glaube, ich rieche hier etwas Köstliches.“

Martha senkte den Blick auf das Tablett. „Das ist nur Steak-und-Nieren-Pastete mit Roggenbrot.“

Der Professor hob den Zeigefinger. „Bei einem Essen, das du zubereitet hast, würde ich niemals nur sagen.“

Marthas Wangen röteten sich leicht. Sie nahm die Teller vom Tablett und stellte sie auf den Tisch. James trat zum Tisch und setzte sich. Von den Tellern stieg ein verlockender Geruch auf, bei dem ihm das Wasser im Mund zusammenlief.

„Das sieht köstlich aus.“

Der Professor zog seinen Stuhl heraus, blieb aber stehen. „Danke, Martha. Das ist an einem kalten Tag wie heute genau das Richtige.“

James schaute Martha an. „Nimm dir doch auch einen Teller und setz dich zu uns.“

Sie trat zurück. „Nein, im Haus wartet viel Arbeit auf mich. Guten Appetit euch beiden.“

„Wir würden uns aber über deine Gesellschaft sehr freuen“, schob der Professor nach.

Sie lachte leise. „Da bin ich mir nicht so sicher. Nach spätestens zwei Bissen seid ihr beide in ein technisches Gespräch vertieft und überlegt, welche Veränderungen ihr an eurem Flugzeug vornehmen wollt.“

Der Professor erwiderte ihr Lächeln. „Vermutlich hast du recht, aber trotzdem würden wir gern mit dir zusammen essen.“

Sie schaute ihn einen Moment fragend an, dann zog ein Lächeln über ihr Gesicht. „Heute Abend gibt es gebratenes Hähnchen. Kommt doch um neunzehn Uhr ins Haus.“

Die Augen des Professors weiteten sich, dann senkte er den Blick und strich verlegen mit der Hand über den Ärmel seiner Jacke. „Ich wollte mich nicht selbst zum Essen einladen.“

James bemühte sich, nicht zu lächeln, konnte es sich aber nicht ganz verkneifen. Marthas Zuneigung zum Professor wuchs offenbar immer mehr, aber dieser schien davon nichts zu merken, zumindest tat er so.

„Es ist sehr freundlich von dir, uns einzuladen, Martha“, schob James nach. „Wir kommen gern zum Abendessen, nicht wahr, Professor?“

Der ältere Mann blinzelte einige Male, dann nickte er. „Aber ja, natürlich. Das klingt herrlich.“

Marthas Augen leuchteten auf. „Dann um neunzehn Uhr?“

„Ja, wir werden da sein.“

„Gut. Dann bis später.“ Sie wandte sich ab und verschwand mit ihrem Tablett wieder aus dem Schuppen.

James blickte ihr grinsend nach. Nachdem sie die Tür zugeschoben hatte, schaute er den Professor über den Tisch hinweg an. „Ich glaube, Martha mag dich sehr.“

„Pah! Unsinn. Wir kennen uns seit unserer Kindheit.“

„Ein Grund mehr, besondere Gefühle für einen alten Freund zu haben.“

Der Professor setzte sich James gegenüber an den Tisch und bedachte ihn mit einem strengen Blick. „Zeit für das Tischgebet.“

James verzog die Mundwinkel und senkte den Kopf, als der Professor die Hände faltete und zu beten begann: „Lieber himmlischer Vater, wir danken dir für diese Mahlzeit und für die Hände, die sie zubereitet haben. Danke, dass du James heute beschützt hast. Wir bitten dich, über uns zu wachen, während wir unsere Experimente und Probeflüge fortsetzen. Du weißt, wie viel Zeit und Arbeit wir investieren und wie gern wir unser Ziel erreichen würden. Wir bitten um deine Gnade und Gunst in den Augen derer, die uns zu einem erfolgreichen Flug über den Ärmelkanal verhelfen wollen. Wir danken dir für alles, was du schon für uns getan hast, und für alles, was du noch tun wirst. In Jesu Namen. Amen.“

Das aufrichtige Gebet des Professors rührte James auf eine Weise an, die er nicht erwartet hatte. Er atmete langsam und tief ein und wieder aus. Der Professor hatte recht, James hätte sich verletzen oder gar sterben können, und sein Flugzeug hätte zudem völlig zerstört werden können, aber er war sicher gelandet, und das Flugzeug hatte nur kleinere Schäden davongetragen, die in wenigen Tagen repariert werden konnten. Mr Grayson hätte wütend reagieren und darauf bestehen können, dass sie Green Meadow verließen. Stattdessen wollte er ihre Werkstatt besuchen und einen Mann mitbringen, der ihnen helfen könnte, ihre Motorenprobleme zu lösen.

Es sah so aus, als sei das Gebet des Professors bereits erhört worden. Vielleicht wurde es Zeit, dass sich James auf die Gnade konzentrierte, die er bereits empfangen hatte, statt auf seine gegenwärtigen Probleme oder den Makel seiner Vergangenheit zu schauen.

2

Bella folgte ihrem Vater und Mr Fielding zum Haus zurück und stieg die Terrassenstufen hinauf, aber ihre Gedanken kreisten nach wie vor um James Drake und seinen faszinierenden Flugapparat. Es musste sehr aufregend sein, die Anziehungskraft der Erde zu überwinden und wie ein Vogel am Himmel zu schweben. Er brauchte offensichtlich viel Mut und Können, um ein Flugzeug zu entwerfen und damit über den Ärmelkanal bis nach Frankreich fliegen zu wollen. Einen Mann mit einem solchen Traum konnte sie nur bewundern.

Sie betraten das Haus durch den Salon und gingen durch den Südflur, bis sie den Hauptflur erreichten.

Mr Fielding verlangsamte seine Schritte und wandte sich ihrem Vater zu. „Sollen wir die Hausführung nun fortsetzen, Sir?“

Ihr Vater zog eine goldene Uhr aus seiner Westentasche und warf einen Blick darauf. „Heute nicht mehr, Mr Fielding. Ich muss den Vierzehn-Uhr-Zug nach London erwischen und will noch etwas essen, bevor ich fahre.“

„Wie Sie wünschen, Sir. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie irgendwelche Fragen oder Anliegen haben. Ich hoffe, Sie fühlen sich auf Broadlands bald ganz zu Hause.“

Ihr Vater antwortete geistesabwesend: „Ganz bestimmt.“

„Wenn Sie sonst nichts mehr brauchen, Sir, widme ich mich wieder meinen Pflichten.“

„Machen Sie das. Wenn ich aus der Stadt zurück bin, sprechen wir weiter.“

„Sehr gerne, Sir.“ Mr Fielding nickte ihrem Vater zu und ging zur Haustür.

Bellas Vater ließ seinen Blick durch den Hauptflur wandern und schaute sie dann fragend an: „Wo ist eigentlich deine Mutter?“ Sein erwartungsvolles Stirnrunzeln verriet ihr, dass sie das wissen sollte.

Pierson, der Butler, trat aus dem Schatten zu ihnen. „Ich glaube, Mrs Grayson ist mit Mrs Latimer im Morgenzimmer, Sir.“

Ihr Vater zog die Brauen hoch und war offensichtlich überrascht, dass der Butler unbemerkt hinter ihnen gestanden hatte. „Gut“, meinte er und marschierte auf dem Hauptflur los.

„Entschuldigen Sie, Sir. Das Morgenzimmer ist in dieser Richtung.“ Pierson deutete nach rechts.

Ihr Vater machte schnaubend kehrt und folgte dem Butler. Bella ging hinter den beiden Männern her, ließ sich aber Zeit, um die Schönheit dieses Hauses auf sich wirken zu lassen. Über ihr strömte von einer hohen Gewölbedecke mit Fenstern im oberen Stockwerk weiches Licht in den Hauptflur. Zwei weiße Marmorskulpturen, eine auf jeder Seite des riesigen Kamins, erregten ihre Aufmerksamkeit. Eine Figur stellte eine sitzende junge Frau mit einem Hund auf ihrem Schoß dar, die andere einen jungen Mann, der ein Buch las. Sie wollte sich die beiden Skulpturen in den kommenden Tagen unbedingt ein wenig genauer ansehen.

Ein großes Gemälde, das drei Frauen in fließenden weißen Kleidern darstellte, hing über dem Treppenabsatz. Zwei hatten dunkelbraunes Haar und dunkle Augen, aber die dritte, die offenbar die jüngste war, hatte gewelltes, goldblondes Haar und helle, goldbraune Augen. Alle drei waren bemerkenswert schön. Sie sahen wie Schwestern oder vielleicht Cousinen aus. Waren sie Verwandte von Sir Richard? Aber warum hatte er dann das Gemälde nicht mitgenommen, als er Broadlands verkauft hatte und nach London gezogen war?

Ihr Blick wanderte die kunstvoll geschnitzte Treppe hinauf zu den drei großen Wandteppichen und dann weiter zu einer Empore. Alles war so beeindruckend, ein palastähnliches Gutshaus mit einer alten Familiengeschichte … aber es war nicht die Geschichte ihrer Familie. Diese vielen schönen Möbel hatten Sir Richard gehört. Ihr Vater hatte sie zusammen mit dem Haus gekauft, um andere zu beeindrucken und den Anschein zu erwecken, er hätte Broadlands von seiner angesehenen Familie geerbt, aber so war es nicht.

Mit einem Seufzen schüttelte Bella den Kopf. In der Gesellschaft aufzusteigen, war nicht leicht, und sie war nicht sicher, ob ihr Vater durch den Besitz dieses schönen Hauses dieses Ziel erreichen würde.

Pierson öffnete die Tür zum Morgenzimmer und Bella und ihr Vater traten ein. Ihre Mutter und Sylvia saßen vor dem Kamin, und ihre neue Haushälterin, Mrs Latimer, saß den beiden gegenüber.

Mutter blickte auf. „Oh, Charles, ich bin ja so froh, dass du kommst. Mrs Latimer will über die Einstellung von mehr Personal sprechen. Sie sagt, wir brauchen mindestens drei Diener und vier weitere Hausmädchen, einen Laufburschen und zwei zusätzliche Küchenmädchen.“

Ihr Vater runzelte ungeduldig die Stirn. „Stell so viele Bedienstete ein, wie du brauchst, Madelyn.“

„Aber, Charles, ich fühle mich nicht wohl dabei, solche Entscheidungen allein zu treffen. Ich habe noch nie ein Haus in dieser Größe geführt.“

„Das kann doch nicht so schwer sein.“ Sein ungeduldiger Blick wanderte zu der Haushälterin. „Ich hätte gern so bald wie möglich das Mittagessen. Ich muss pünktlich aufbrechen, um den Vierzehn-Uhr-Zug nach London zu erwischen.“

„Ja, Sir.“ Die Haushälterin stand auf und eilte aus dem Zimmer.

Ihr Vater wandte sich wieder zur Tür. „Ich muss noch einige Akten einpacken, bevor ich zum Bahnhof fahre. Pierson soll mich holen, wenn das Essen fertig ist. Ich bin in der Bibliothek.“

„Aber Charles, was ist mit dem Personal?“ Mutters Stimme wurde lauter und zittriger. „Wie viele Leute sollen wir einstellen?“

„Pierson und Mrs Latimer können dich dabei sicher beraten.“ Er verließ den Raum, ohne auf eine Antwort ihrer Mutter zu warten.

Bellas Mutter legte eine zittrige Hand an ihre Stirn. „Oh, meine Güte, ich fürchte, ich bekomme schon wieder Kopfschmerzen.“

Sylvia legte eine Hand auf den Arm ihrer Mutter. „Vielleicht solltest du nach oben gehen und dich hinlegen.“

„Ja, das ist wahrscheinlich das Beste.“

Sylvia warf Bella einen besorgten Blick zu und wandte sich dann wieder an ihre Mutter. „Hast du deine Medikamente dabei?“

Mutter hatte oft starke Kopfschmerzen, bei denen sie mehrere Tage am Stück unter Schwäche und Übelkeit litt. Wenn sie gleich am Anfang einer Kopfschmerzattacke ihre Medikamente einnahm, fiel sie oft nicht so heftig aus.

„Ja, sie sind in einem Koffer, aber ich weiß nicht in welchem.“

„Keine Sorge. Ich finde sie schon.“

„Danke, Sylvia.“ Ihre Mutter erhob sich vom Sofa und sah blass und ein wenig benommen aus.

Die Sorge um ihre Mutter setzte Bella schnell in Bewegung. Sie durchquerte den Raum und drückte die Dienstbotenglocke. „Ich bitte Mrs Latimer, ein Tuch und eine Schüssel mit kaltem Wasser nach oben bringen zu lassen. Kühle Umschläge lindern deine Kopfschmerzen hoffentlich.“

Sylvia warf Bella einen dankbaren Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf ihre Mutter. „Ich komme mit dir.“

Ihre Mutter nickte leicht, doch dann verzog sie schmerzhaft das Gesicht und legte wieder eine Hand an ihre Stirn. „Der heutige Tag war so anstrengend. Zuerst die Zugfahrt aus London hierher und dieses riesige Haus mit den vielen neuen Eindrücken, dann krachte ein Flugapparat auf die Erde und jetzt noch diese schweren Entscheidungen, wie viel Personal wir einstellen sollen.“

Bella hingegen hatte die Fahrt nach Kent und die Ankunft in ihrem neuen Zuhause genossen. Die unerwartete Begegnung mit James Drake und Professor Steed war aufregend gewesen – für sie der Höhepunkt des Tages – , aber sie und ihre Mutter waren sehr verschieden.

Die Haushälterin betrat wieder das Zimmer und zog die Brauen hoch, als sie sah, dass Sylvia ihre Mutter aus dem Zimmer führte.

„Es tut mir leid, Mrs Latimer. Ich fühle mich nicht gut. Ich gehe nach oben, um mich auszuruhen.“

„Selbstverständlich, Madam. Wir können die Personalfragen auch später klären.“

Ihre Mutter verlangsamte ihre Schritte und warf einen Blick über ihre Schulter zurück. „Bella, würdest du das für mich übernehmen?“

Bella atmete hörbar ein. „Ich soll entscheiden, wie viele Bedienstete wir einstellen?“

„Ja, du bist so vernünftig und gut organisiert. Du verstehst Mrs Latimers Liste bestimmt.“ Sie verzog schmerzhaft das Gesicht und stützte sich auf Sylvia. „Solange mein Kopf so pocht, kann ich mich einfach nicht darum kümmern.“

Bella durchquerte den Raum und trat zu ihrer Mutter, die bereits an der Tür stand. Sie senkte die Stimme und meinte: „Das kann doch sicher warten, bis du dich besser fühlst.“

Ihre Mutter schloss die Augen. „Bitte, Bella. Tu einfach, worum ich dich bitte. Ich möchte deinen Vater nicht aufregen und Mrs Latimer nicht unnötige Arbeit machen. Entscheide, wie du es für richtig hältst. Ich bin mit allem einverstanden.“

Bella schluckte. „Also gut.“

Ihre Mutter stützte sich wieder auf Sylvia und sie verließen den Raum. Bella wandte sich Mrs Latimer zu. „Könnte ein Hausmädchen meiner Mutter einen Krug mit kühlem Wasser und ein Tuch bringen?“

„Ja, Miss. Ich schicke Bessie zu ihr.“

„Danke. Wenn Sie wieder zurück sind, können wir die Personalfragen besprechen.“

„Sehr gerne, Miss.“ Die Haushälterin nickte Bella zu und eilte wieder aus dem Raum.

Mit einem Seufzen blickte Bella der Haushälterin nach. Sie waren nach Kent gezogen und wohnten jetzt in einem großen Landhaus, aber an ihrer Rollenverteilung hatte sich offensichtlich nichts geändert. Der Fokus ihres Vaters war immer noch die Daily Mail. Er fuhr nach wie vor in sein Büro in der Fleet Street und nahm sich wenig Zeit für sich oder seine Familie. Ihre Mutter hatte weiterhin ihre gesundheitlichen Probleme und mal gute und mal schlechte Tage. Die mitfühlende Sylvia kümmerte sich nach wie vor um ihre Mutter und leistete ihr Gesellschaft; möglicherweise würde sie sogar ihre Hoffnungen auf diese Saison zurückstellen müssen, falls sich Mutters Gesundheit nicht besserte.

Und von Bella wurde erwartet, zeitweise die Rolle ihrer Mutter als Hausherrin zu übernehmen. Es war ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass in ihrer Familie und beim Personal alles glattlief, bis ihre Mutter diese Aufgabe wieder selbst übernehmen konnte.

Negative Gefühle regten sich in ihr, aber sie weigerte sich, ihnen Raum zu geben. Diese Situation war nicht die Schuld ihrer Mutter. Sie hatte es sich nicht ausgesucht, kränklich zu sein und Bella ihre Aufgaben zu überlassen. Dass Bella die Rolle ihrer Mutter übernehmen musste, hatte auch positive Seiten: Es war eine gute Vorbereitung für die Zeit, in der sie selbst einem Haushalt vorstehen würde. Egal, ob sie irgendwann heiratete oder nicht, die Leitung eines Hauses, vielleicht sogar dieses großen Hauses auf Broadlands, wäre definitiv Teil ihrer Zukunft. Trotzdem fiel es ihr schwer, die Enttäuschung, die sich in ihr regte, zum Schweigen zu bringen. Wann wäre sie frei, um ihre eigenen Zukunftsträume zu verfolgen?

Seit Jahren schrieb sie viel und träumte davon, Journalistin zu werden, genauso wie ihr Vater am Anfang seiner Karriere als Journalist gearbeitet hatte. Für sie gab es nichts Aufregenderes, als von den neuesten Ereignissen zu berichten und Artikel zu schreiben, um die Öffentlichkeit über die wichtigen Tagesthemen zu informieren und sie zum Handeln zu motivieren. Neue Erfindungen und Informationen veränderten die Welt, und sie sehnte sich danach, zu den Reportern zu gehören, die darüber schrieben, genauso wie früher ihr Vater.

Aber ihr Vater befürwortete diese Träume nicht. Bei seinen Zeitungen arbeiteten zwar einige Frauen und er hatte sogar eine Frauenkolumne, aber seine Tochter sollte ein anderes Leben führen. Ihre Mutter stimmte ihm darin zu und machte Bella klar, dass sie praktisch denken, sich auf die Ehe vorbereiten und die jungen Männer, die Interesse an ihr zeigten, ermutigen sollte.

Aber Bellas Herz zog sie in eine andere Richtung. Nur weil sie eine Frau war, bedeutete das nicht, dass ihr allein ein einziger Weg offenstand. Natürlich hoffte sie, eines Tages zu heiraten und eine Familie zu haben, aber konnte sie nicht trotzdem auch für eine der Zeitungen ihres Vaters schreiben? Vielleicht wollte sie ein anderes Leben führen als das, was ihre Eltern und die Gesellschaft für sie vorgesehen hatten?

Mrs Latimer kehrte zurück. „Ich habe Bessie in Mrs Graysons Zimmer geschickt.“

„Danke.“ Bella verdrängte die Gedanken um ihre Zukunft und konzentrierte sich auf die Haushälterin.

Mrs Latimer nahm ein kleines Notizbuch und einen Bleistift aus ihrer Rocktasche und schaute Bella erwartungsvoll an. „Wollen wir jetzt über die Personalfragen sprechen?“

Bella nickte resigniert. „Ja, bitte setzen Sie sich.“

Die Haushälterin nahm Platz.

Als Mrs Latimer ihren Notizblock aufschlug und anfing, ihre Liste vorzulesen, wuchs Bellas Resignation. Sie zwang sich, sich zu konzentrieren und zuzuhören, aber sie war mit dem Herzen ganz woanders.

Nach dem Abendessen balancierte James einen Stapel Geschirr in den Händen und schob die Tür zu Marthas Küche auf. „Entschuldige, aber ich habe vergessen, die Sachen früher zurückzubringen.“

Martha wandte sich jedoch von ihm ab und wischte sich mit einer Hand über ihre Wange.

James folgte ihr durch die Küche. Er fand es sonderbar, dass sie ihn nicht wie gewohnt lächelnd begrüßte. „Martha, ist alles in Ordnung?“

Sie blieb mit dem Rücken zu ihm stehen. „Ja, alles ist gut.“

Sie klang nicht, als ginge es ihr gut, aber er hatte keine Ahnung, was los sein könnte. Der Professor und er hatten Martha erst vor zehn Minuten nach einem köstlichen Abendessen und einem, wie er fand, angenehmen Gespräch verlassen. Hatte er sie mit etwas, das er gesagt oder getan hatte, verletzt? Er hoffte, dass das nicht der Fall war, aber er hatte fast seine gesamte Kindheit und Jugend mit dem Professor verbracht und nur sehr wenig Zeit mit seiner Mutter. Aus diesem Grund schien er Frauen nicht richtig verstehen zu können.

Aber er hatte Martha in den letzten Monaten ins Herz geschlossen. Seit ihrer freundlichen Einladung, dass sie nach Green Meadow kommen könnten, um ihre Flugzeuge zu testen und zu bauen, nahm sie einen ganz besonderen Platz in seinem Herzen ein. Und da sie so freundlich war, wollte er ihr nun gerne helfen.

Er stellte das Geschirr auf die Arbeitsplatte und meinte: „Ich hoffe, ich habe nichts gesagt oder getan, das dich verletzt hat.“

Sie nahm das Geschirrtuch vom Tisch und begann, einen Brottopf abzutrocknen. „Nein, du hast nichts getan. Ich bin nur eine dumme alte Frau, das ist alles.“

Die Traurigkeit in ihrer Stimme berührte ihn. „Sag das nicht.“

„Es stimmt aber. Ich bin immer noch genauso dumm wie damals, als ich achtzehn war.“

Er schaute sie fragend an und versuchte, aus ihren Worten schlau zu werden. „Tut mir leid, Martha, aber ich verstehe dich nicht.“

„Damit sind wir schon zu zweit.“ Sie blickte mit feuchten, glänzenden Augen und geröteten Wangen zu ihm hinauf.

Sie war den Tränen nahe. So hatte er sie noch nie zuvor gesehen. „Sag mir, was los ist.“

Sie kniff ihre Lippen zusammen und senkte einige Momente den Blick. Schließlich stellte sie den Topf auf die Arbeitsplatte, legte das Geschirrtuch weg und drehte sich wieder zu ihm um. „Wenn du den Rest der Geschichte kennen würdest, könntest du mich vielleicht besser verstehen.“ Sie setzte sich an den Tisch und bedeutete ihm, ebenfalls Platz zu nehmen. „Thaddeus und ich wohnten früher nur wenige Kilometer auseinander – er im Dorf und ich hier auf dieser Farm.“

James nickte langsam. Der Professor hatte erwähnt, dass er Martha seit seiner Kindheit kannte, aber James hatte nie mehr gehört.

„Er war ein guter Freund meines älteren Bruders Harry, und ich war mit seiner Schwester Anna befreundet.“

Als sie Anna erwähnte, wurde James hellhörig. Anna war die Frau, die ihn nach dem Tod seiner Mutter, als er vier Monate alt gewesen war, zu sich genommen und aufgezogen hatte, bis er sechs geworden war. Dann war auch Anna gestorben und der Professor hatte diese Aufgabe übernommen.

Obwohl James nur wenige Jahre in Annas Obhut gewesen war, würde er ihre herzlichen Umarmungen und ihre liebevollen Worte nie vergessen. Sie war die einzige Mutter, die er je gekannt hatte, und er war ihr für das, was sie für ihn getan hatte, immer dankbar.

Martha stieß ein leises Seufzen aus. „Wir gingen miteinander zur Schule und ich habe Thaddeus stets sehr bewundert. Er war so klug und erfinderisch. Das hob ihn von allen anderen Jungen deutlich ab. Ich wusste, dass er es eines Tages weit bringen würde.“

James nickte zustimmend. Thaddeus Steed war ein intelligenter, bescheidener Mann, der als Physiker, Erfinder und Universitätsprofessor eine beeindruckende Karriere gemacht hatte. Er wurde vor mehreren Jahren zum Sekretär der Britischen Wissenschaftsvereinigung ernannt und war für seine ersten Flugversuche mit dem Spellman Award ausgezeichnet worden, einem begehrten Forschungsstipendium. Nach der Bruchlandung einer Reihe von Modellgleitfliegern hatte ihm die Vereinigung ihre Unterstützung jedoch wieder entzogen und er war an die Universität zurückgekehrt, aber die Idee von motorisierter Luftfahrt hatte ihn nie losgelassen.

„Thaddeus und ich haben mit Harry und Anna Ausflüge gemacht – Picknicks, Vögel beobachtet, Blumen gepflückt. Wir standen uns ziemlich nahe.“ Marthas Miene wurde weicher und ihr Blick wanderte in die Ferne. „Als er an die Universität ging, dachte ich, er würde mich bitten, auf ihn zu warten, aber das tat er nicht. Seine Eltern zogen nach London. Er blieb mit Harry in Kontakt, aber mir hat er kein einziges Mal geschrieben. Ich habe ihn über vierzig Jahre nicht gesehen.“

James blinzelte. „Das ist eine lange Zeit.“

„Ja, in dieser Zeit ging jeder von uns seinen Weg.“ Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Er konzentrierte sich auf seinen Lehrauftrag und seine Experimente und ich blieb hier auf der Farm. Ein Jahr nachdem Thaddeus weggegangen war, kam Albert auf die Farm und arbeitete für meinen Vater. Einige Monate später machte er mir einen Heiratsantrag, aber ich wartete noch ein Jahr, bevor ich ihn annahm. Wahrscheinlich habe ich irgendwie gehofft, dass Thaddeus doch noch zurückkäme.“

James war überrascht. Er hatte gedacht, Marthas Interesse am Professor hätte sich erst in den Jahren entwickelt, seitdem sie Witwe war und die beiden wieder Kontakt zueinander aufgenommen hatten. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass der Professor ihr schon jahrelang sehr viel bedeutet hatte.

„Anna meinte, ich hätte Thaddeus meine Gefühle gestehen sollen, bevor er zur Universität ging, aber ich war jung und hatte Angst. Vielleicht war ich aber auch zu stolz. Jedenfalls beschloss ich schließlich, Alberts Heiratsantrag anzunehmen. Wir waren vierundvierzig Jahre verheiratet. Er war ein guter Mann, ein wunderbarer Ehemann und Vater … aber ich habe Thaddeus in all den Jahren nicht vergessen.“

James betrachtete Martha und war von den Gefühlen und dem Bedauern, das aus ihren Augen sprach, berührt.

„Als Albert starb, kam Thaddeus mit meinem Bruder Harry zur Beerdigung. Ich war überrascht, ihn zu sehen, und noch überraschter, als ich hörte, dass er nie geheiratet hat.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist traurig, dass er nie eine Frau gefunden hat, die ihn liebt und sich um ihn kümmert. Aber er meinte, dass er dich und seine Arbeit hat und dass ihm das genügt.“

James lehnte sich zurück und dachte über Marthas Worte nach. Der Professor schien zufrieden zu sein, aber bereute er, dass er nie geheiratet hatte? Er steckte all seine Energie in seine Studenten, seine Experimente und in James. Aber fühlte er sich nicht doch manchmal einsam und wünschte sich eine Ehefrau und Gefährtin, die sein Leben mit ihm teilte, besonders jetzt, da er älter wurde?

Martha verlagerte ihr Gewicht. „Als er meine Einladung, nach Kent zurückzukommen und auf Green Meadow an seinen Flugzeugen zu arbeiten, annahm, dachte ich, wir könnten unsere Beziehung erneuern. Aber er ist nach wie vor nur auf seine Arbeit konzentriert. Er will dich über den Ärmelkanal fliegen sehen. Für mich hat er keine Zeit und keinen Gedanken übrig.“

Sie tat ihre Worte mit einem verlegenen Schmunzeln ab. „Ich habe dir ja gesagt, dass ich eine dumme alte Frau bin.“ Sie schüttelte seufzend den Kopf. „Ich sollte das, was vor Jahrzehnten war, einfach vergessen.“

James schaute Martha über den Tisch hinweg an. „Vielleicht geht es weniger um das, was vor Jahren war, sondern darum, dass diese Hoffnungen neu aufgekeimt sind und die Zukunft offen ist.“

Sie schaute ihm in die Augen. „Du bist zwar nicht sein leiblicher Sohn, aber du bist ihm in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich.“

James beugte sich über den Tisch und legte eine Hand auf ihre. „Du bist eine freundliche und mitfühlende Frau, Martha. Der Professor ist zwar ein kluger Wissenschaftler, aber ich fürchte, von Herzensangelegenheiten hat er keine Ahnung.“

Martha legte ihren Kopf schief und schien ihm gerade antworten zu wollen, als die Hintertür aufging und der Professor eintrat. „Ah, James, hier bist du.“ Sein Blick wanderte zu Martha und dann zu James zurück. „Ich habe mich schon gefragt, wo du abgeblieben bist.“

Martha warf James schnell einen warnenden Blick zu, dann stand sie auf und drehte sich zu Professor Steed um. „James hat nur einer alten Frau zugehört, die ihm unwichtige Sachen erzählt hat.“

Der Professor verzog die Mundwinkel. „Ich kann gut verstehen, dass er deine Gesellschaft mehr genießt als meine.“

„An deiner Gesellschaft ist doch gar nichts auszusetzen.“ Martha schob ihren Stuhl unter den Tisch. „Jetzt solltet ihr beide lieber in die Werkstatt gehen. Ich muss Miss Tibby füttern und mein Strickzeug wartet auf mich.“

Als Marthas Katze mit dem gestreiften Tigerfell ihren Namen hörte, verließ sie ihren Platz auf dem Küchenofen und tapste zu Martha, um sich an ihre Beine zu schmiegen. Martha hob daraufhin Miss Tibby hoch und streichelte das pelzige Tier in ihren Armen.

„Du hast Hunger, nicht wahr, Liebes?“ Die Katze schnurrte und rieb den Kopf an Marthas Wange.

James’ Brustkorb zog sich zusammen, als er die Zärtlichkeit zwischen der alten Dame und ihrer Katze verfolgte. Martha war eine gute Frau. Sie verdiente es, glücklich zu sein und jemand anderen zu haben, der sie tröstete, als nur ihre Katze. „Gute Nacht, Martha.“

Der Professor wünschte ihr ebenfalls eine gute Nacht, doch sie nickte nur und schaute ihn dabei nicht an.

James trat auf die hintere Veranda hinaus und war von seinem Gespräch mit Martha noch ziemlich aufgewühlt. Sollte er dem Professor erzählen, was sie gesagt hatte?

Der Professor folgte ihm aus dem Haus und schloss die Tür. Mit einem Stirnrunzeln warf er einen Blick hinter sich und meinte: „Martha scheint heute in einer sonderbaren Stimmung zu sein.“

James stieg die Stufen hinab und rang mit sich, was er antworten sollte. Er hatte bereits Andeutungen gemacht, dass Martha Gefühle für den Professor hegte, aber er hatte jedes Mal mit einem finsteren Blick reagiert und das Thema gewechselt.

Würde sich der Professor so unbehaglich fühlen, dass er Green Meadow verließ, falls James dieses Thema erneut ansprach? Es wäre schwer oder sogar unmöglich, einen ähnlichen Ort zu finden, der mit einer geräumigen Werkstatt und der Nähe zur Küste und zu den offenen Feldern so gut für ihre Zwecke geeignet war. Martha ließ sie kostenlos bei sich wohnen, und sie hatten kein Geld, um sich eine andere Unterkunft zu mieten.

Er schüttelte den Kopf. Das konnte er nicht riskieren. Er würde das Gespräch mit Martha vorerst für sich behalten. Das war für alle das Beste. Trotzdem regten sich Schuldgefühle in seinem Herzen.

Bella ließ ihren Blick über das Frühstücksbüfett im Esszimmer wandern. Bei den vielen Köstlichkeiten knurrte ihr der Magen.

Pierson trat vor und hob den Deckel von einer der silbernen Servierplatten. „Möchten Sie Würstchen, Miss?“

„Ja, gerne.“ Der Dampf der Würste stieg Bella in die Nase. Sie nahm sich eine dicke Wurst und ein gekochtes Ei.

Sylvia nahm sich einen Teller und trat neben sie ans Büfett. „Das sieht definitiv viel leckerer aus als das Frühstück, das Mrs Hastings in London serviert.“

„Oh ja.“ Bella lächelte ihre Schwester an, lud sich einen Löffel gebackene Bohnen auf den Teller und fügte eine gegrillte Tomate, einige Pilze und eine Scheibe Toastbrot hinzu. Sie durchquerte das Esszimmer und trat zu ihrem Vater an den Tisch. „Guten Morgen, Vater.“

Er senkte die neueste Ausgabe der Daily Mail um wenige Zentimeter. „Morgen, Bella. Sylvia.“

„Steht heute etwas Interessantes in der Zeitung?“ Bella setzte sich rechts neben ihren Vater und breitete ihre Serviette auf ihrem Schoß aus.

„Die Suffragetten machen sich mit ihren Protesten lächerlich.“ Ihr Vater schüttelte die Zeitung aus und blickte sie über den oberen Rand hinweg finster an. „Und die Liberalen versuchen, mit unsinnigen Argumenten ihre Außenpolitik zu verteidigen. Damit können sie einem wirklich den Appetit aufs Frühstück verderben. Warum begreifen sie nicht, dass Deutschland Europa beherrschen will?“

Sylvia warf Bella einen schnellen Blick zu, während sie links von ihrem Vater Platz nahm. Beim Thema Deutschland war er immer ziemlich geladen. Sylvia ignorierte meistens seine Bemerkungen und sagte nichts dazu, aber Bella konnte es sich nicht verkneifen, ihn aus der Reserve zu locken.

„Wahrscheinlich denken die Liberalen, dass Deutschland England nie angreifen würde, weil der deutsche Kaiser Königin Victorias Enkel ist.“

„Ha! Ich glaube nicht, dass seine Liebe zu seiner Großmutter so groß ist wie sein Wunsch, seine Nachbarn zu erobern und seinen Herrschaftsbereich auf dem Kontinent auszuweiten.“ Ihr Vater kniff die Augen zusammen. „Merk dir meine Worte: Wenn der Kaiser seine Nachbarn erobert hat, wird er Großbritannien angreifen wollen.“

Bella blieb ein Stück Brot im Hals stecken. Sie nahm ihre Teetasse und trank einen Schluck. Ihr gefiel die Vorstellung nicht, dass die Spannungen zwischen Deutschland und seinen Nachbarländern tatsächlich zum Krieg führen könnten. Aber wahrscheinlich hatte ihr Vater recht. Deutschlands militärische und wirtschaftliche Stärke, begleitet von der Entschlossenheit des Kaisers, seinen Machtbereich auszudehnen, brachte England in eine gefährliche Position. Es spielte keine Rolle, dass der Kaiser mit der früheren britischen Monarchin verwandt war oder dass die meisten nicht wahrhaben wollten, dass er die Heimat seiner Großmutter angreifen würde.