Wenn ein neuer Tag anbricht - Carrie Turansky - E-Book

Wenn ein neuer Tag anbricht E-Book

Carrie Turansky

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Beschreibung

England, 1903: In einem beschaulichen Örtchen im Norden des Landes arbeitet Margaret Lounsbury im Hutgeschäft ihrer Großmutter, während sie sich gleichzeitig liebevoll um ihre jüngere Schwester Violet kümmert. Doch der Verlust ihrer Eltern lastet schwer auf ihrem Herzen – und gleichzeitig fragt sich Maggie, ob das Unglück, bei dem ihre Eltern ums Leben kamen, tatsächlich ein Unfall war ... Als der reiche Großindustrielle William Harcourt stirbt, kehrt dessen Sohn Nathaniel, Maggies Freund aus Kindheitstagen, zurück, um das Erbe anzutreten. Doch das Verhältnis zwischen den beiden ist belastet. Kann Maggie ihm vergeben und dadurch auch ihre Beziehung zu Gott wiederherstellen? Ein historischer Roman voller Spannung, Gefühl und Romantik.

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Über die Autorin

Carrie Turansky ist bereits mit diversen Preisen für ihre Romane ausgezeichnet worden. Ihre Freizeit verbringt die fünffache Mutter und sechsfache Großmutter am liebsten mit ihrer Familie – im Museum oder in ihrem Garten. Sie lebt mit ihrem Mann Scott im US-Bundesstaat New Jersey.

Für Judy Conroy,meine Schwester im Herzen.Danke für deine treue Freundschaft, für die vertrauensvollen Gebeteund deine grenzenlose Ermutigung.

Befiehl dem HERRN dein Leben an und vertraue auf ihn, er wird es richtig machen. Dass du ihm treu bist, wird dann unübersehbar sein wie das Licht; dass du recht hast, wird allen aufleuchten wie der helle Tag. Psalm 37,5–6

Prolog

22. August 1899

Die Sonnenstrahlen glitzerten so hell auf der gekräuselten Oberfläche des Tumbledon Lake, dass Margaret ganz geblendet war. Sie kniff die Augen zusammen und rückte die Krempe ihres Strohhuts zurecht, um besser sehen zu können; dann griff sie nach dem Ruder auf ihrer Seite des fünf Meter langen Boots.

„Bist du bereit?“ Ihr Vater, Daniel Lounsbury, tauchte sein Ruder ins Wasser und blickte zu Maggie hinüber. Rings um seine dunkelbraunen Augen breiteten sich Lachfältchen aus, und der rotbraune Bart, der die Hälfte seines gebräunten Gesichts bedeckte, konnte nicht verbergen, dass er lächelte.

„Ja!“ Sie erwiderte sein Lächeln und tauchte ihr Ruder zum ersten Zug ein.

„Die Sonne scheint heute sehr hell und spiegelt sich auf dem Wasser.“ Ihr Vater ließ den Blick zum felsigen Ufer und dem grünen Wald auf der anderen Seite des Sees wandern. Vor fünf Jahren hatten er und sein Team einen Teil des Flusses Debdon Burn gestaut, dieses kleine Tal mit Wasser geflutet und diesen schönen See im nördlichsten Abschnitt des Gutsgeländes geschaffen. Das war nur eine seiner vielen Leistungen als leitender Landschaftsarchitekt für Sir William Harcourt von Morningside Manor.

„Hast du einen bestimmten Platz für unser Picknick geplant?“ Maggies Mutter, Abigail Lounsbury, saß hinten im Boot mit ihrer jüngeren Schwester, Violet, auf dem Schoß.

„Ich habe eine schöne kleine Lichtung gefunden, die von Birken gesäumt ist“, verriet Vater und sah Maggies ältere Schwester an, die ganz vorne im Boot saß. „Der perfekte Ort, um deinen Geburtstag zu feiern, Olivia. Dort sieht es aus wie in einem Märchenwald!“

Olivias Augen leuchteten. „Ich kann es kaum erwarten, diesen Platz zu sehen.“

Maggies Herz schlug höher, und sie zog das Ruder im Takt zu den kräftigen Zügen ihres Vaters durchs Wasser. Sie spürte den warmen Sonnenschein auf den Schultern und war von ihrer Familie umgeben; einen glücklicheren Tag konnte sie sich kaum vorstellen.

Ein leichter Wind kam auf und wehte Maggie eine Strähne ihrer dunkelbraunen Haare über die Wange.

„Es sieht aus, als würde Regen aufziehen.“ Mutter blickte mit leichtem Stirnrunzeln nach Westen und verstärkte den Griff um Violet.

Tatsächlich brauten sich dunkle Wolken über den Bäumen am Ufer zusammen, obwohl der übrige Himmel wolkenlos blau war.

Vater hob den Blick und betrachtete die Wolken einige Sekunden lang. „Ich denke, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.“ Sein zuversichtlicher Tonfall beruhigte Maggie sofort. Es gab niemanden, der mehr über die Natur und somit auch über das Wetter wusste als ihr Vater. Wenn er nicht damit rechnete, dass ihr Nachmittagspicknick durch einen Sturm bedroht war, bestand kein Grund zur Sorge.

Vom anderen Ufer erhob sich ein weißer Fischreiher und flog anmutig auf sie zu. Violet zappelte und kreischte begeistert. Sie sah aus, als würde sie am liebsten über die Bootswand klettern, aber Mutter hielt sie gut fest.

Vater schmunzelte. „Violet möchte offenbar schwimmen gehen.“

Olivia drehte sich zu ihnen herum. „Es gibt auch nicht viel, was Violet nicht möchte, abgesehen von gekochten Karotten und einem Mittagsschlaf.“

Maggie lächelte, denn das stimmte voll und ganz. Violet hatte bereits wenige Monate nach ihrem ersten Geburtstag angefangen, sich gegen einen Mittagsschlaf zu wehren, und bei Karotten hatte sie schon immer das Gesicht verzogen.

„Heute wird nicht geschwommen“, erklärte Mutter in einem ernsten Tonfall, aber Maggie konnte die Belustigung in ihren Augen sehen.

Sie konzentrierte sich wieder auf das Rudern und musste ihr Tempo beschleunigen, um wieder den Takt ihres Vaters zu treffen. Als sie sich ungefähr in der Mitte des Sees befanden, hörte Maggie ein seltsames saugendes Geräusch und blickte nach unten. Unter ihren Füßen sammelte sich Wasser. Sie atmete scharf ein. „Vater, schau!“

Er folgte ihrem Blick und riss die Augen weit auf. Schnell zog er sein Ruder aus dem Wasser und betrachtete den Rumpf des Bootes.

„Was ist, Daniel?“ Mutter richtete sich steif auf.

„Wir haben anscheinend ein Leck.“ Seine Stimme blieb ruhig, aber seine Kiefermuskeln waren sichtlich angespannt.

„Was?!“ Olivia warf einen ängstlichen Blick zu Maggie.

Mutter schlang die Arme noch fester um Violet. „Wie schlimm ist es?“

„Keine Ahnung.“ Vater untersuchte den Boden des Bootes, dann nahm er eilig das triefende Ruder und tauchte es ins Wasser. „Maggie, wir müssen zum Ufer zurückrudern!“

Maggies Hand zitterte, als sie nach ihrem Ruder griff.

Olivia stand auf und das Boot schaukelte heftig. „Sind wir nicht näher am anderen Ufer?“

„Olivia, setz dich!“ Vaters scharfer Ton erschreckte sie alle. Sie setzte sich schnell wieder und Vater begann zu rudern.

Während Maggie sich anstrengte, mit dem Tempo ihres Vaters mitzuhalten, hämmerte ihr der Puls in den Ohren. Auch wenn sie sich ganz viel Mühe gaben und so schnell wie möglich ruderten, war sie nicht sicher, ob sie es zum Ufer schaffen würden, bevor das Boot mit Wasser vollgelaufen war.

Was, wenn nicht?

Sie war eine gute Schwimmerin. Vater hatte sie schwimmen gelehrt, als sie erst sieben gewesen war. Aber Mutter und Olivia hatten es nie lernen wollen, und Violet war noch zu jung.

Maggie biss die Zähne zusammen und zog mit aller Kraft das Ruder durchs Wasser, sodass ihre Arme brannten. Doch je schneller sie ruderten, umso mehr Wasser schien ins Boot zu drücken. Es spritzte bereits um ihre Knöchel und den Saum ihres Kleides.

„Daniel, es ist zu weit! Das schaffen wir nie!“ Mutters panische Stimme jagte ein Zittern durch Maggies Körper.

„Zieh, Maggie!“, keuchte Vater und tauchte sein Ruder tief ein.

Mit fest umklammertem Ruder warf Maggie einen kurzen Blick zum Ufer. Panik stieg in ihrer Kehle hoch und raubte ihr den Atem. Sie hatten erst die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Mutter hatte recht. Wasser schwappte an Maggies Bein hoch und tränkte ihren Rock. Nicht mehr lang, dann würde es über den Rand fließen und das Boot würde untergehen.

„Vater!“ Olivia rutschte so weit es ging nach vorn, aber sie konnte dem immer höher steigenden Wasser, das ihre Beine umspülte, nicht mehr ausweichen. Violet klammerte sich um Mutters Hals und brach in ängstliches Weinen aus.

Vaters Blick raste von einem Familienmitglied zum nächsten. „Wir müssen schwimmen. Maggie, du nimmst Violet. Ich helfe deiner Mutter und Olivia.“

Maggie erstarrte vor Angst. Sie blinzelte und versuchte, die Entfernung zum Ufer abzuschätzen. Es war bestimmt noch fast einen Kilometer weit weg. Wenn sich Violet beruhigte, könnte Maggie mit ihr vielleicht dort hinschwimmen, aber wie sollte Vater Mutter und Olivia gleichzeitig retten können?

Vater zog Violet aus Mutters Armen.

„Nein, Daniel!“ Mutter streckte die Hände nach ihrer jüngsten Tochter aus. Ihr Gesicht war blass geworden, und in ihren Augen glänzten Tränen.

„Beruhige dich, Abigail. Maggie wird sich um Violet kümmern.“

Mit zitternden Händen nahm Maggie ihre strampelnde Schwester und hielt sie fest.

„Wir zählen auf dich, Maggie.“ Liebe und heftige Entschlossenheit sprachen aus Vaters Augen. „Beschütze deine Schwester. Dreh dich nicht um, egal, was passiert.“

Maggie schluckte schwer. „Ja, Vater.“ Sie blinzelte mit brennenden Augen und wollte sagen, dass sie ihn liebte und ihr Bestes geben würde, aber dafür fehlte die Zeit.

„Schwimm jetzt los!“ Er half ihr über den Bootsrand ins kalte Wasser.

Maggie drehte sich auf den Rücken, bewegte die Beine, um sich über Wasser zu halten, und zog Violet auf ihre Brust. Sie schob die Arme unter Violets Arme und stieß sich von der Bootsseite ab.

Der Schock des kalten Wassers und das Gewicht ihrer Kleidung wollten sie nach unten ziehen, aber sie kämpfte dagegen an, hielt Violet fest und bewegte die Beine mit ihrer ganzen Kraft.

Oh Gott, hab Erbarmen mit uns! Rette meine Familie!

Tränen und Seewasser schossen ihr in die Augen und versperrten ihr den Blick auf ihre Familie und das Boot. Das Wasser umspülte plätschernd ihre Ohren, aber es konnte die angsterfüllten Schreie ihrer Mutter, die Rufe ihres Vaters und die herzzerreißenden Hilfeschreie ihrer Schwester nicht aussperren. Doch sie schwamm weiter. Das Versprechen, das sie Vater gegeben hatte, gab ihr dazu die nötige Kraft.

Anfangs wimmerte Violet und warf den Kopf hin und her, doch dann legte sie sich auf Maggies Brust zurück und schien von dem kalten Wasser und der erschütternden Situation wie gelähmt.

Maggie horchte angespannt in der Hoffnung, Vaters zuversichtliche Rufe oder seine Schwimmzüge hinter sich im Wasser zu hören. Aber alles, was sie wahrnehmen konnte, war ihr eigener schwerer Atem und das Plätschern des Wassers, während sie sich näher ans Ufer kämpfte.

Schließlich berührten ihre Füße schlammigen Boden und sie schleppte sich und Violet aus dem Wasser. Ihre Beine zitterten, das Wasser triefte von ihrer Kleidung und wollte sie zusammensacken lassen. Aber sie hielt sich mühsam auf den Beinen. Sie drehte sich um, wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und suchte den See ab.

Nichts durchbrach die sich kräuselnde Wasseroberfläche. Kein Boot. Keine Menschenseele. Vor Grauen wie gelähmt blinzelte sie und starrte auf den stillen See.

Wo waren sie? Wie konnten sie alle einfach verschwunden sein?

Violet weinte und klammerte sich durch Maggies triefenden Rock an ihr Bein. Ein Windstoß jagte Maggie einen kalten Schauer über den Rücken, und sie klapperte heftig mit den Zähnen.

Dunkle Wolken zogen über den Himmel, verdeckten die Sonne und warfen einen grauen Schatten über die Landschaft. Dicke Regentropfen fielen auf die Erde. Und dann öffnete der Himmel seine Schleusen und der Regen prasselte heftig auf ihren Kopf und ihre Schultern. Dennoch stand Maggie da und starrte regungslos auf das Wasser.

Ihr Vater hatte sich geirrt. Ein Sturm war aufgezogen. Ein Sturm, den sich niemand schrecklicher hätte vorstellen können.

Immer wieder suchte Maggie den See ab und lauschte, um irgendetwas von den Menschen zu hören, die sie liebte. Aber alles, was sie hörte, war das Prasseln des Regens und der Ruf des Fischreihers, der über den See zum östlichen Ufer flog.

Schließlich sank sie auf die schlammige Erde und zog Violet in ihre Arme, während Regenwasser und Tränen über ihr Gesicht liefen.

Kapitel 1

Vier Jahre späterApril 1903

Maggie drehte den hölzernen Hutkopf und begutachtete den breitkrempigen gelben Strohhut. Rote Seidenrosen und dazwischen kleine blaue Kornblumen zierten die Krone. Er sah perfekt aus. Sie konnte sich vorstellen, diesen Hut zu einer Gartenparty oder einem Nachmittagstee in London zu tragen.

Mit einem leisen Seufzen lehnte sie sich auf ihrem Hocker zurück. Natürlich würde sie in naher Zukunft nicht nach London fahren, um derartige Veranstaltungen zu besuchen oder diesen hübschen Hut zu tragen.

„Mir gefällt die Farbkombination, und auch die Auswahl der Blumen ist sehr schön. Aber um Mrs Huntington zufriedenzustellen, wirst du noch mehrere Straußenfedern anbringen müssen.“ Großmutter Hayes blickte hinter der langen Glasvitrine auf der anderen Seite des Hutladens zu Maggie herüber. Sie trug eine Brille mit silbernem Rand auf halber Höhe der Nase, und auf ihren Wangen bildeten sich Grübchen, als sie Maggie ein vielsagendes Lächeln zuwarf.

Maggie schürzte die Lippen und schaute den Hut wieder an. „Wahrscheinlich hast du recht.“ Ihr persönlich gefielen bunte Hutgarnituren mit Unmengen an Federn und Schleifen nicht, aber offenbar wollten die meisten Frauen etwas in der Art – besonders die Frauen, die planten, die Saison in London zu verbringen.

Also holte Maggie zwei gelbe Straußenfedern aus der Schachtel im Regal und nahm dann Nadel und Faden zur Hand. Schon seit fast fünfundzwanzig Jahren betrieb Großmutter den Hutladen – seit sie Witwe war und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen musste. Sie wusste, was ihre Kundinnen wünschten, und sie hatte Maggie gelehrt, die elegantesten Hüte in ganz Northumberland herzustellen.

In den letzten Jahren waren Großmutters Hände von Arthritis steif geworden, daher übernahm Maggie jetzt den größten Teil der filigranen Arbeit. Großmutter stellte aber immer noch einige Hüte selbst her und leitete das Geschäft. Außerdem unterstützte sie Maggie mit Designvorschlägen.

Maggie lächelte und die Zuneigung zu ihrer Großmutter erwärmte ihr Herz. Was hätten Violet und sie ohne Großmutter Hayes getan? Als kein anderer Verwandter dazu bereit gewesen war, hatte sie die beiden bei sich aufgenommen.

„Können wir heute Milchbrötchen zum Tee haben?“ Maggies sechsjährige Schwester saß neben Großmutter auf einem Hocker hinter der Verkaufstheke. Sie stützte das Kinn auf die Hände und gab ihrem Wunsch mit einem flehenden Hundeblick Nachdruck.

Maggie kniff die Lippen zusammen und blickte auf den Hut hinab, an dem sie gerade arbeitete. Violet war ein liebes Mädchen, aber sie hatte einen schier unersättlichen Appetit auf Süßes.

Ihre kleine Schwester faltete die Hände unter ihrem Kinn. „Bitte, Maggie. Ich liebe Milchbrötchen, und wir haben so lange keine mehr gehabt.“ Violet lächelte und klimperte mit ihren langen, dunklen Wimpern.

Erst letzte Woche hatten sie in Mrs Fenwicks Teeladen Milchbrötchen gekauft. Aber für eine Sechsjährige war eine Woche vermutlich eine lange Zeit. Maggie schluckte ein Stöhnen hinunter. Sie schlug ihrer Schwester nur ungern eine Bitte aus, aber wenn sie ihre Schillinge für Teegebäck ausgaben, mussten sie es an anderen Stellen einsparen.

Als Maggie keine Antwort gab, leuchteten Violets Augen auf. „Du kannst ungestört weiterarbeiten. Ich kann die Milchbrötchen holen. Ich bin alt genug.“

Der Teeladen befand sich gleich auf der anderen Straßenseite. Violet freute sich, wenn Maggie ihr Münzen anvertraute und ihr erlaubte, die Brötchen zu kaufen und sie in einer Papiertüte nach Hause zu bringen.

„Bitte, Maggie!“ Violets flehende Stimme ging Maggie zu Herzen.

Sie musste so oft Nein sagen. Vielleicht könnte sie einen Weg finden, das Geld doch ein wenig zu strecken. „Also gut. Ich denke, wir können heute Brötchen kaufen. Bring mir die Spardose.“

Mit einem Strahlen, als hätte sie bei einem Wettrennen den ersten Preis gewonnen, sprang Violet von ihrem Hocker und verschwand hinter dem Vorhang, der den Laden von ihrem kleinen Wohnzimmer und der Küche im hinteren Bereich trennte. Die einzigen weiteren Räume im Haus waren ein Schlafzimmer im Obergeschoss, das Maggie sich mit Violet teilte, und ein winziges Schlafzimmer hinter der Küche für Großmutter.

Die Glocke über der Eingangstür klingelte. Maggie blickte auf und sah, dass Mrs Eugenia Huntington und ihre achtzehnjährige Tochter, Elyse, eintraten. Beide Frauen trugen modische Kleider sowie große, kunstvoll garnierte Hüte.

Großmutter stand auf. „Guten Tag, Mrs Huntington, Miss Elyse.“

Mrs Huntington erwiderte die Begrüßung, Elyse nickte Großmutter und Maggie höflich zu. Sie bereitete sich auf ihre erste Saison in London vor. Maggie hatte von einer Freundin gehört, Mrs Huntington habe so viele Abendkleider und Tageskleider für Elyse bestellt, dass sie mehrere Truhen füllten. Dazu kamen natürlich noch die vielen Hüte, Handschuhe, Schirme und Schuhe.

Maggies Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Wenn ihre Eltern noch leben würden, würde sie auch die fast fünfhundert Kilometer lange Reise in den Süden nach London antreten, um an der Saison teilzunehmen. Womöglich hätte sie inzwischen sogar schon einen Heiratsantrag bekommen. Ihr verstorbener Vater war ein hochgeschätzter Landschaftsarchitekt und mit vielen angesehenen Familien in London und im ganzen Land bekannt gewesen.

Aber der Tod ihrer Eltern und ihrer Schwester hatte alles verändert.

Ihre Zukunft lag in Großmutters Laden, in dem sie ihre Tage damit verbrachte, Hüte zu entwerfen, die sie selbst nie tragen würde, um für den Lebensunterhalt ihrer Großmutter und ihrer Schwester zu sorgen.

Großmutter trat hinter der Theke hervor. „Maggie arbeitet noch an einem der Hüte für Miss Elyse, aber die anderen, die Sie bestellt haben, sind alle schon fertig, glaube ich.“

„Ja, zwei sind fertig.“ Maggie streckte sich, um einen breitkrempigen lavendelfarbigen Hut aus dem Regal zu holen, und legte ihn auf die Glasplatte. Dann nahm sie einen cremefarbenen Hut, der mit rosa Rosen geschmückt war, und legte ihn daneben.

„Oh, diese Hüte sind wunderschön.“ Elyse strahlte und trat zu den beiden Hüten.

Mrs Huntington folgte ihrer Tochter. Als sie die Hüte betrachtete, runzelte sie jedoch die Stirn. „Sie sind beide viel zu schlicht.“ Sie deutete mit dem Kopf zu dem lavendelfarbigen Hut. „Der hier braucht mehr Blumen und Schleifen, vielleicht auch noch Spitzen und Tüll.“

„Aber, Mutter, ich denke …“, begann Elyse und schaute auf.

„Deine Hüte müssen einmalig sein und Aufmerksamkeit erregen, damit du aus der Menge herausstichst“, unterbrach die ältere Frau ihre Tochter und brachte sie zum Schweigen.

Maggie biss die Zähne zusammen und hatte Mühe, sich eine Bemerkung zu verkneifen. Noch mehr Garnitur würde definitiv Aufmerksamkeit erregen, aber der Hut würde dann übertrieben und protzig wirken. Vielleicht könnte sie Mrs Huntington überzeugen, ihre Meinung zu ändern, wenn sie sah, wie hübsch der Hut auf Elyses Kopf aussah. „Wollen Sie ihn nicht zur Anprobe aufsetzen?“

Mrs Huntingtons Stirnrunzeln blieb unverändert, aber sie nickte leicht. Elyse nahm ihren Hut ab und Maggie setzte der jungen Frau den lavendelfarbigen Hut auf. Dann drehten sich alle vier Frauen zu dem Spiegel, der auf der Theke stand, und betrachteten das Spiegelbild.

Großmutter veränderte den Winkel des Hutes und rückte ihn ein wenig weiter zur Seite. „Die Farbe betont wunderbar ihre blauen Augen und schmeichelt ihrem Teint.“

Mrs Huntington musterte den Hut. „Er braucht definitiv mehr Blumen und Schleifen. Und vielleicht eine hängende Ranke an der Seite. Er soll aus jedem Winkel beeindruckend aussehen.“

Maggie verdrehte hinter Mrs Huntingtons Rücken die Augen. Es war kaum Platz, um noch mehr Blumen anzubringen, und eine hängende Ranke sähe einfach lächerlich aus. Es lag ihr auf der Zunge, das laut zu sagen, doch Großmutter warf ihr einen warnenden Blick zu.

Sie verkniff sich ein Seufzen. Wie oft hatte Großmutter ihr erklärt, dass sie auf die Wünsche ihrer Kundinnen eingehen und eine Möglichkeit suchen musste, sie zufriedenzustellen?

Sie bückte sich und holte den Korb mit Seidenrosen unter der Theke hervor. „Vielleicht könnten wir an der Seite noch einige Blumen anbringen.“ Sie wählte drei kleinere Rosen und steckte sie zu den anderen Rosen, die bereits den Hut bedeckten.

Mrs Huntington musterte den Hut mit hochgezogenen Augenbrauen. „Das ist schon besser. Und jetzt die Schleifen.“

Maggie nahm eine Rolle mit einem grünen Samtband. „Diese Farbe würde einen guten Kontrast zu den Blumen bilden.“ Sie schlang einige Schleifen um die Rosen und trat zurück.

„Das passt sehr gut.“ Großmutter kam näher und steckte die Schleifen hinten fest.

Schließlich seufzte Mrs Huntington. „Wir haben keine Zeit, um den Hut neu zu gestalten. Morgen früh brechen wir nach London auf. Er muss leider so genügen.“

Eine tiefe Röte stieg Maggie ins Gesicht. An dem Hut war nichts falsch! Er war genauso schön wie jeder andere Hut, den sie in den Geschäften in London finden würde. Maggie und Großmutter hatten mehrere Magazine abonniert, um sicherzustellen, dass ihre Hüte der neuesten Mode entsprachen.

Großmutter trat zwischen Mrs Huntington und Maggie. „Lassen Sie uns den anderen probieren.“ Schwungvoll setzte sie Elyse den cremefarbenen Hut auf, während Maggie mit verschränkten Armen zurücktrat.

Elyse drehte den Kopf von links nach rechts und betrachtete sich im Spiegel. „Mir gefällt, wie die Krempe an der Seite hochgestellt ist und die Blumen darunter angebracht sind.“

Mrs Huntington stellte sich links neben sie und musterte den Hut aus dieser Perspektive. „Mit ein wenig mehr Tüll und Federn würde er vielleicht voller wirken.“

Großmutter zog die Augenbrauen hoch und warf Maggie einen auffordernden Blick zu.

Maggie biss die Zähne zusammen und nahm den Korb mit den Netzstoffen aus dem Regal hinter der Theke. Sie war zwar anderer Meinung als Mrs Huntington, aber sie konnte ihre Vorschläge auch nicht einfach ignorieren.

Großmutter nahm einen cremefarbenen Netzstoff aus dem Korb und wand ein Stück zwischen die Blüten. „Wir könnten es über der Krone verteilen und noch ein paar zusätzliche Federn anbringen, um ihm ein wenig mehr Höhe zu verleihen.“

Mrs Huntington nickte. „Das wäre besser.“

Während des gesamten Gesprächs hatte Violet geduldig gewartet, aber jetzt zupfte sie an Maggies Ärmel und hielt die Spardose hoch.

„Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.“ Maggie wandte sich von den Frauen ab, nahm den Deckel von der Dose und holte zwei Münzen heraus. Dann beugte sie sich nach unten und flüsterte ihrer kleinen Schwester ins Ohr: „Sei vorsichtig, wenn du über die Straße gehst, und warte im Laden brav, bis du an der Reihe bist.“

Violet nickte eifrig. „Das mache ich.“ Dann eilte sie zur Tür hinaus.

Maggie blickte ihr durchs Schaufenster nach. Ihre Schwester blieb stehen, schaute nach links und rechts, lief dann über die Straße und verschwand in Mrs Fenwicks Teeladen. Maggie drehte sich wieder zu ihren Kundinnen um.

„Der dritte Hut ist auch fast fertig.“ Großmutter hielt den gelben Strohhut mit den roten Rosen und den kleinen blauen Kornblumen hoch.

„Oh, der ist aber hübsch.“ Die Augen der jungen Frau leuchteten, als sie den Hut musterte.

Mit einem erfreuten Lächeln richtete sich Maggie auf. Wenigstens Elyse Huntington hatte Geschmack.

Ihre Mutter rümpfte allerdings die Nase. „Nein, so etwas kann Elyse unmöglich tragen. Für die Londoner Saison ist er viel zu wenig elegant.“

Maggie atmete scharf ein. Sie war zwar in letzter Zeit nicht in London gewesen, aber sie hatte in den dort erscheinenden Zeitschriften Fotos und Werbeanzeigen für Hüte gesehen, die diesem sehr ähnlich waren.

Großmutter schob ihre Brille höher auf die Nase und ließ den Blick zwischen Mrs Huntington und deren Tochter hin- und herwandern. „Miss Elyse wird sicher Gartenpartys oder Bootsveranstaltungen besuchen, und dieser Hut wäre gewiss ideal für …“

Die ältere Frau schüttelte den Kopf und schob den Hut zur Seite. „Er sieht aus wie ein Hut, den eine Verkäuferin oder eine Lehrerin trägt.“

Jetzt konnte Maggie nicht mehr an sich halten. „An diesem Hut ist nichts –“

Draußen auf der Straße hupte ein Automobil.

Dann durchschnitt der durchdringende Schrei eines Kindes die Luft.

Maggies Herz stockte, und entsetzt fuhr sie zur Tür herum.

Nathaniel Harcourt spähte durch das mit Ruß bedeckte Fenster, während der Zug langsamer wurde und sich dem Dorfbahnhof näherte.

„Heatherton! Der nächste Halt ist Heatherton!“ Der Schaffner schritt durch den Gang.

Die Bremsen quietschten, Dampf stieg zischend auf, und der Zug blieb ruckelnd stehen. Nate stand von seinem Sitzplatz auf, nahm seinen Hut und die kleine Ledertasche aus dem Gepäckfach über dem Sitz und begab sich in Richtung Tür. Die vierstündige Fahrt aus London hatte ihm reichlich Zeit gegeben, sich über den nächsten Schritt auf seinem Weg Gedanken zu machen. Aber die Anspannung wegen seiner Rückkehr nach Morningside blieb.

Er stieg aus dem Zug und ließ den Blick über den Bahnsteig wandern. Männer, Frauen und Kinder in Reisekleidung verließen hinter ihm den Zug, während andere darauf warteten, einsteigen zu können und in den Norden nach Schottland zu fahren. Einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken umzukehren, aber der Brief seiner Stiefmutter war unmissverständlich gewesen: Sein Vater war ernsthaft krank und daher sollte er keine Zeit verlieren.

Der Zug zischte erneut und eine Dampfwolke hüllte ihn ein. Er verstärkte den Griff um seine Tasche und blickte über den Bahnsteig.

„Brauchen Sie Hilfe bei Ihrem Gepäck, Sir?“ Ein Träger kam auf ihn zu.

„Gern, danke.“ Nate folgte dem Mann zu einem Wagen und nahm dort seine Truhe entgegen.

„Könnten Sie die Truhe hier am Bahnhof aufbewahren, bis ich jemanden schicke, der sie abholt?“

„Ja, Sir.“ Der Mann band eine Karte an den Ledergriff, riss den unteren Teil der Karte ab und reichte Nate den Abschnitt.

Er dankte dem Mann und drückte ihm einige Münzen in die Hand. Dann marschierte er los, um ein Pferd zu finden, mit dem er die letzten sechs Kilometer seiner Heimreise nach Morningside zurücklegen wollte.

Heim. Sein Brustkorb schnürte sich zusammen, und er konzentrierte sich auf die Menschen, die an ihm vorbeigingen, während er versuchte, seine widersprüchlichen Gedanken zu zügeln.

Vier Jahre waren vergangen, seit er sein Elternhaus verlassen und die riesige Eisenbrücke überquert hatte, unter der sich eine tiefe Schlucht mit weitläufigen Gartenanlagen und der Bach befanden. Dann war er in Heatherton in den Zug gestiegen, um in den Süden zu fahren und sich bei der Marine zu verpflichten.

Er war fest entschlossen gewesen, alle Bindungen zu seiner Familie und zu seiner schmerzlichen Vergangenheit abzubrechen. Und heute würde er denselben Weg in die andere Richtung zurücklegen, um das Versprechen zu halten, das er Gott gegeben hatte, und sich um Versöhnung bemühen.

Hatte er noch genügend Zeit? Oder war es schon zu spät?

War es noch möglich, die Beziehung zu seinem Vater zu erneuern, oder machte ihm die unerwartete Krankheit seines Vaters diese Gelegenheit zunichte? Und was war mit seiner Stiefmutter und seiner Halbschwester, Clara? Konnte er die Kluft, die immer für eine so große Distanz zu ihnen gesorgt hatte, überbrücken?

Es gab nur eine einzige Möglichkeit, das herauszufinden: Er musste diesen letzten Teil seiner Reise antreten und sich seiner Familie stellen.

Er ließ den Blick durch die Dorfstraße schweifen und seine Anspannung verflog ein wenig. Heatherton sah noch fast genauso aus wie an dem Tag, an dem er fortgegangen war. Kleine Geschäfte säumten beide Straßenseiten, und am Ende der Straße sah er das Schild des Gasthauses zum Roten Löwen. Direkt dahinter hatte Mr Hastings einen Stall, und mit etwas Glück würde Nate dort ein Pferd finden, das er mieten konnte.

Er ging an dem kleinen Dorfkrankenhaus vorbei und warf einen Blick auf das Tor, das in den Vorgarten führte. Kümmerte sich Dr. Albert Hadley immer noch um die medizinischen Bedürfnisse der Menschen im Dorf und in der umliegenden Gegend? Die ruhige, fürsorgliche Art und die Kompetenz des Arztes hatten Nate immer sehr beeindruckt. Dann kam er an der Kirche Sankt Peter mit ihrem hohen Turm vorbei, an dem ruhigen Kirchgarten und dem ordentlich gepflegten Friedhof.

Hinter ihm ertönte das Dröhnen eines Motors. Schnell hielt er seinen Hut fest und sprang zur Seite, als ein Automobil an ihm vorbeiraste.

Der Fahrer hatte ein breites Grinsen im Gesicht und winkte ihm fröhlich zu.

So ein Idiot! Er sollte langsamer fahren und aufpassen, wohin er fährt, bevor er sich oder einen anderen umbringt! Als Nate seinen Blick wieder auf die Straße richtete, stockte ihm der Atem.

Ein kleines Mädchen, das nicht älter als sechs oder sieben sein konnte, trat mit einer kleinen Tüte in der Hand auf die Straße.

Ein Adrenalinstoß schoss durch seine Adern. „Pass auf!“

Das Mädchen riss die Augen weit auf, lief aber weiter. Direkt vor das Fahrzeug. Der Fahrer drückte auf die Hupe, trat auf die Bremse und versuchte noch auszuweichen.

Nate rannte auf das Mädchen zu, aber das Automobil konnte nicht mehr schnell genug bremsen und erfasste das Kind. Ein herzzerreißender Schrei erfüllte die Luft. Sie wurde zur Seite geschleudert und landete ein paar Meter neben dem Fahrzeug mitten auf der Straße.

Noch bevor der Fahrer aus dem Wagen stieg, kniete sich Nate neben das Mädchen. Sie krümmte sich auf dem Boden und weinte. Er schickte ein schnelles Gebet zum Himmel und sah sie prüfend an. Sie war bei Bewusstsein und er sah kein Blut. Das waren gute Zeichen. Beruhigend legte er die Hand auf ihre Schulter. „Alles wird gut.“

Die Kleine kniff die Augen zu und hielt sich schluchzend das Bein.

Die Dorfbewohner kamen aus den umliegenden Geschäften gerannt und versammelten sich um sie herum.

„Was ist passiert?“

„Ist das nicht Mrs Hayes’ Enkelin?“

„Jemand muss den Arzt holen.“

„Lassen Sie mich durch!“ Eine junge Frau drängte sich an den anderen vorbei. „Violet!“ Mit dem Rücken zu Nate kniete sie sich neben das Kind auf den Boden und beugte sich über die Kleine.

„Mein Bein!“ Tränen liefen ihr übers Gesicht.

„Was ist passiert?“ Die junge Frau blickte zu den umstehenden Leuten hinauf.

Der Fahrer des Wagens trat vor und hielt nervös seine Tweedmütze in beiden Händen. „Es tut mir leid, Miss. Ich habe versucht zu bremsen. Aber ich habe sie erst gesehen, als es zu spät war.“

„Wie konnten Sie so rücksichtslos fahren?“ Sie wandte sich von ihm ab und richtete ihren funkelnden Blick in Richtung Nate. „Wir müssen meine Schwester …“ Sie blinzelte und starrte ihn an.

Erst jetzt sah Nate der jungen Frau direkt ins Gesicht, und die Überraschung verschlug ihm fast die Sprache. „Maggie?“

Sie wandte den Blick ab. „Wir müssen sie von der Straße bringen.“ Sie ignorierte ihn und schaute die anderen Dorfbewohner an.

„Ich helfe euch.“ Nate streckte die Arme nach dem kleinen Mädchen aus.

Abwehrend hob Maggie die Hand, aber da von den Umstehenden keiner vortrat, hob er Violet vorsichtig hoch. Als er sie berührte, schrie sie laut auf.

„Was ist, Liebes?“ Maggie beugte sich wieder nahe über sie und aus ihrem Gesicht sprach ein ähnlich tiefer Schmerz wie aus den Augen ihrer Schwester.

„Mein Bein tut weh.“ Eine neue Tränenflut ergoss sich über das gerötete Gesicht des kleinen Mädchens.

Nate nahm sich zusammen und wandte den Blick ab. Während seiner Marinezeit hatte er viele verwundete Männer gesehen und im südafrikanischen Burenkrieg Hunderte Gefangene transportiert, aber seine Freundin aus Kindertagen und ihre kleine Schwester in dieser schmerzhaften Situation zu sehen, berührte ihn auf eine andere Art.

„Treten Sie zur Seite.“ Dr. Hadley trat durch die Menschenmenge auf sie zu. „Was ist hier passiert?“

„Violet wurde von diesem Mann in seinem Automobil angefahren.“ Maggie deutete auf den Fahrer und der Mann senkte schuldbewusst den Kopf.

„Bringen Sie das Mädchen ins Krankenhaus.“ Der Arzt hob den Blick und schaute Nate an. Überrascht zog er die Augenbrauen hoch. „Nathaniel Harcourt?“

„Ja, Sir.“

„Mir war nicht bewusst, dass Sie zurück sind.“

„Ich bin soeben mit dem Zug aus London eingetroffen. Ich war noch nicht auf Morningside.“

Der Arzt nickte. „Dafür ist noch genügend Zeit. Zuerst müssen wir diese junge Dame versorgen.“ Er marschierte los und bahnte sich einen Weg durch die Menge. „Machen Sie bitte Platz.“

Mit Violet auf den Armen folgte Nate dem Mann. Maggie ging neben ihm her, ihr Blick war auf den Rücken des Arztes fixiert und ihre Haltung war steif. Es war verständlich, dass sie wegen Violets Verletzung aufgewühlt war, aber warum reagierte sie ihm gegenüber so seltsam? Er war für den Unfall nicht verantwortlich. Nachdenklich blickte er zu ihr. „Ich wusste nicht, dass du wieder nach Heatherton gezogen bist.“

Mit großen Augen sah sie ihn an. „Wir wohnen seit vier Jahren hier.“

Erstaunen durchfuhr ihn. Wie konnte das sein? Er hatte sie nach dem Bootsunfall gesucht, aber sie war unauffindbar gewesen. „Man hat mir gesagt, du wärst zu Verwandten nach Schottland gezogen.“

„Deine Eltern hatten Violet und mich zu meiner Großtante Beatrice nach Edinburgh geschickt, aber die wollte sich nicht um uns kümmern. Nach wenigen Wochen wurden wir nach Heatherton zurückgeschickt, Großmutter Hayes hat uns aufgenommen und seitdem wohnen wir hier.“

Maggie war also tatsächlich in Schottland gewesen. Aber Nates Stiefmutter hatte ihm erzählt, die Mädchen wären in Glasgow, nicht in Edinburgh. Und unter der Adresse, die er erhalten hatte, war eine Metzgerei gewesen, wo ihm erklärt wurde, dass dort niemand etwas von einer Margaret Lounsbury gehört hatte.

Nach dieser erfolglosen Fahrt nach Schottland war Nathaniel nach Morningside zurückgekehrt und hatte seinen Vater und seine Stiefmutter zur Rede gestellt und wissen wollen, was aus Maggie und Violet geworden war. Aber beide hatten behauptet, nichts Weiteres zu wissen.

„Ihr wohnt jetzt also hier bei eurer Großmutter?“ Diese Tatsache gefiel ihm, aber die Freude verflog schnell, als er ihre kühle, abweisende Miene sah. Warum wirkte sie so distanziert? Es war fast so, als machte sie ihn für den Unfall und die Schmerzen verantwortlich.

Dr. Hadley hielt die Seitentür zum Krankenhaus auf und ließ sie eintreten. Nates Augen brauchten einen Moment, um sich vom hellen Sonnenlicht auf der Straße auf die dunkle Arztpraxis umzustellen.

„Bringen Sie sie hier herein.“ Der Arzt ging ins Nebenzimmer und deutete zum Untersuchungstisch.

Nate legte Violet vorsichtig auf den Tisch und trat dann zurück. Maggie nahm schnell seinen Platz ein und ergriff die Hand ihrer Schwester. Die Tränen des kleinen Mädchens kamen jetzt nicht mehr so heftig und sie blickte sich mit neugieriger Miene im Raum um. Ihre Augen waren blau, viel heller als Maggies blaugraue Augen. Aber an der Form von Violets Nase und Mund konnte er die Familienähnlichkeit erkennen.

Dr. Hadley wandte sich noch mal an ihn. „Danke, Nathaniel. Sie waren eine große Hilfe.“

Nate warf Maggie einen fragenden Blick zu und sie sah ihn an.

Einen kurzen Moment meinte er, Unsicherheit in ihren Augen zu sehen. Oder war es eine stille Bitte, dass er bleiben sollte? Sie verbarg ihre Gefühle gut und wandte den Blick schnell wieder ab.

„Ich warte nebenan“, sagte er. „Ich wüsste gern, was mit Violets Bein ist, bevor ich gehe.“

„Wie Sie wollen.“ Der Arzt wandte sich jetzt seiner Patientin zu.

Maggies Blick wurde weicher, aber sie richtete ihre Konzentration auf ihre Schwester.

Im angrenzenden Büro trat Nate ans Fenster, lehnte sich an den Sims und blickte auf die Straße hinaus. Ein paar Kinder liefen vorbei, und ein Wagen, der von einem großen braunen Pferd gezogen wurde, rollte auf die Dorfmitte zu.

Wie lang würde es dauern, bis der Arzt die Untersuchung abgeschlossen hatte und etwas über die Schwere von Violets Verletzungen sagen konnte? Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach vier. Es blieben noch einige Stunden Tageslicht, er hatte also noch reichlich Zeit, um ein Pferd aufzutreiben und nach Morningside zu gelangen.

Aber selbst wenn es länger dauern sollte, würde er so lange bleiben, bis er wusste, dass Violet wohlauf war. Außerdem war das Warten auf die Auskunft des Arztes eine gute Gelegenheit, Maggie zu zeigen, dass sie immer noch mit seiner Hilfe und Freundschaft rechnen konnte – auch wenn sie sich vier Jahre nicht gesehen hatten.

Kapitel 2

Maggie strich sanft eine hellbraune Haarsträhne aus Violets Stirn. Seit einer halben Stunde stand sie neben der Untersuchungsliege, um ihrer Schwester beizustehen, während Dr. Hadley Violets Bein richtete und einen Gips anlegte. „Bleib brav hier liegen, Violet. Ich bin gleich wieder da.“

Ihre kleine Schwester riss die Augen weit auf. „Wohin gehst du?“

„Ich muss kurz zum Laden. Großmutter macht sich bestimmt schon Sorgen und will wissen, wie es dir geht.“ Aufgrund ihrer Arthritis fiel es Großmutter schwer, größere Strecken zu gehen, aber wenn Maggie nicht bald nach Hause käme, um sie zu beruhigen, würde sie womöglich versuchen, zum Krankenhaus zu gelangen. „Ich hole ein paar Sachen. Dann komme ich so schnell wie möglich zurück und bleibe bei dir.“

Der Arzt wischte sich die Hände an einem Handtuch ab. „Wir kümmern uns um Violet. Lassen Sie sich Zeit.“

„Danke, Dr. Hadley. Ich dürfte nicht länger als eine Viertelstunde brauchen.“

Maggie warf einen Blick auf Violets Gips, der von ihrem Knie bis zu ihrem Fuß reichte, und ihre Kehle schnürte sich zusammen. Sie hätte heute beinahe ihre kleine Schwester auch noch verloren. Diese Vorstellung war schier unerträglich. Sie schluckte schwer und versuchte, die beängstigenden Gedanken abzuwehren. Um Violets willen sollte sie sich beherrschen.

Entschlossen atmete sie tief ein. Violet würde wieder ganz gesund werden. Ihr linkes Bein war gebrochen, und sie hatte einige Schürfwunden und Prellungen, aber ihre Verletzungen waren nicht lebensbedrohlich. Trotzdem wollte Dr. Hadley sie über Nacht im Krankenhaus behalten, damit der Gips ganz aushärten konnte und um sicherzugehen, dass es keine weiteren Komplikationen gab. Maggie würde bei ihr bleiben.

„Machen Sie sich keine Sorgen.“ Der Arzt tätschelte ihren Arm. „Alles wird gut werden. Wir lassen Violet nicht aus den Augen, bis Sie zurück sind.“

Maggie dankte ihm erneut und trat zur Tür. In dem Moment, als sie diese aufziehen wollte, kam ihr die Tür schwungvoll entgegen, und sie stieß mit Nates hartem Brustkorb zusammen. Erschrocken wich sie zurück.

„Entschuldigung.“ Er stützte sie schnell und seine Berührung ließ sie seltsam erschaudern. „Wie geht es Violet?“, fragte er sichtlich besorgt.

Von dem Zusammenprall und ihren merkwürdigen Gefühlen verwirrt, machte Maggie einen Schritt zurück. Nate war von ihrem zwölften bis zu ihrem siebzehnten Lebensjahr ihr Freund gewesen, doch als sie ihn am nötigsten gebraucht hätte, hatte er sie im Stich gelassen. Sie stählte ihr Herz und wandte sich zum Gehen. „Sie wird wieder gesund werden.“

„Maggie, warte bitte!“ Er versperrte ihr den Weg und blickte sie direkt an. Seine dunkelbraunen Augen wanderten über ihr Gesicht, und aus ihnen sprach etwas, was wie aufrichtiges Mitgefühl aussah, aber sie traute weder ihm noch diesem eindringlichen Blick. „Das mit Violet tut mir sehr leid. Ich habe das Fahrzeug auf sie zurasen gesehen. Dann habe ich gerufen und versucht, sie zu warnen, aber es war zu spät.“

Ihr Magen zog sich zusammen. „Ja, zu spät.“ Der Anflug von Bitterkeit in ihrer Stimme störte sie nicht im Geringsten.

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Was hast du? Warum bist du sauer auf mich?“

Seine Fragen verblüfften sie. „Hast du gedacht, ich würde vergessen, wie du und deine Familie uns nach dem Tod meiner Eltern und meiner Schwester behandelt habt?“

Er runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Wirklich nicht? Und du erwartest, dass ich das glaube?“ Sie trat ein paar Schritte von ihm weg und versuchte, ihre aufgewühlten Gefühle zu beruhigen. Dann drehte sie sich um und sah ihn wieder an. „Du warst für meinen Vater wie ein Sohn! Du bist bei uns ein und aus gegangen und warst bei uns fast wie zu Hause, als wärst du ein Mitglied unserer Familie gewesen. Wie konntest du dich dann so verhalten, als würden wir dir überhaupt nichts bedeuten?“

Er blinzelte verwirrt und schüttelte leicht den Kopf. „Es tut mir leid, Maggie, aber ich habe ehrlich keine Ahnung, wovon du redest und warum du mir böse bist.“

Sein Unverständnis feuerte den Schmerz in ihrer Brust erst an und veranlasste sie zu einem hitzigen Tonfall. „Wo warst du, Nate? Warum bist du verschwunden, als wir dich am nötigsten brauchten?“ Sie öffnete den Mund, um mehr zu sagen, aber ihre Kehle schien wie ausgetrocknet und machte es unmöglich. Sie ging an ihm vorbei und eilte zur Tür hinaus, während sie die aufkommenden Tränen wegblinzelte.

Sie hatte versucht, den Schmerz und die Enttäuschung loszulassen, aber beides zerrte immer noch an ihrem Herzen. Sie hatte Nate vertraut, sie hatte sich auf ihn verlassen und geglaubt, dass er sich trotz des Widerstands seines Vaters und seiner Stiefmutter für sie einsetzen würde.

Aber das hatte er nicht getan.

„Maggie!“

Sie ignorierte seinen Ruf und marschierte die Straße hinab, fest entschlossen, sich nicht umzudrehen.

Wieso behauptete er, er wüsste nicht, warum sie sauer war? Das konnte nicht sein. Er war in jenem Sommer auf Morningside gewesen. Er musste von den Entscheidungen seiner Eltern nach dem Bootsunfall gewusst haben.

Die schmerzhaften Erinnerungen strömten auf sie ein und mit ihnen die vielen Gedanken und Vermutungen, warum er nie nach ihr gefragt hatte, als sie in Not gewesen waren. Schon immer hatte er sich nach der Anerkennung seines Vaters gesehnt; und als der Zeitpunkt gekommen war, sich zwischen Maggie und seiner Familie zu entscheiden, hatte er sie aus seinem Herzen verbannt und sich den Wünschen seiner Eltern gebeugt. Schließlich war er von der Beerdigung ferngeblieben, und dann hatte er Maggies Briefe ignoriert, während sie und Violet zu ihrer Großtante nach Schottland abgeschoben worden waren – zu einer Verwandten, die nichts mit ihnen zu tun haben wollte.

Sie atmete zitternd ein. Doch etwas war merkwürdig an der Geschichte, ein Gedanke zehrte an ihrem Herzen: Nate schien von ihren Anschuldigungen wirklich erstaunt zu sein, und sie hatte ihn nie als unehrlich erlebt. Wäre es möglich, dass sie die Situation falsch eingeschätzt hatte? Bestand die Möglichkeit, dass er vielleicht tatsächlich keine Ahnung gehabt hatte, wie sie von seiner Familie behandelt worden waren? Mit einem Stirnrunzeln drehte sie sich um und blickte zurück, aber Nate war fort.

Doch selbst wenn es eine Erklärung gab – warum hatte er nicht wenigstens ihre Briefe beantwortet oder versucht herauszufinden, wo sie und Violet waren und ob es ihnen gut ging? Wenn er wirklich ein guter Freund gewesen wäre, dann hätte er das getan.

Aber stattdessen hatte er sie in den dunkelsten Stunden ihres Lebens alleingelassen und nie versucht, ihr gebrochenes Herz zu trösten.

Nate ritt über die Eisenbrücke, die zu Morningside Manor führte, während die Sonne hinter dem Haus und den bewaldeten Höhen unterging.

Sein Blick richtete sich auf die tiefe Schlucht und die zerklüfteten Felswände unter der Brücke. Die Pflanzen und Bäume waren viel üppiger und größer geworden, seit er weggegangen war. Niemand würde ahnen, dass dieses Land noch vor zehn Jahren ein karges, verlassenes Moor gewesen war. Aber mit guter Planung und viel Arbeit hatten Maggies Vater und seine Mitarbeiter das weitläufige Gelände von Morningside in eine bemerkenswerte Landschaft verwandelt: Sie hatten wunderschöne Gärten angelegt, Lichtungen mit zwei großen Seen sowie mehrere Schotterstraßen und unzählige Steinwege, die sich durch das Land schlängelten, entstehen lassen.

Saftige Farne, bodendeckendes Heidekraut und rosa und lila Rhododendronsträucher bedeckten jetzt die Hänge. Vögel zwitscherten und flatterten zwischen den großen Nadelbäumen hin und her, und vom felsigen Bachbett in der Tiefe stieg das Rauschen des fließenden Wassers auf.

Während er diese ganzen Eindrücke auf sich wirken ließ, breitete sich eine angenehme Wärme in seiner Brust aus. Er hatte an der Erschaffung dieser Schönheit mitgewirkt. Mehrere Jahre hatte er seine Sommerferien damit verbracht, an Daniel Lounsburys Seite zu arbeiten, der die Landschaftsprojekte geleitet hatte. In dieser Zeit war Nates Bewunderung für Daniel gewachsen, und ihre Freundschaft hatte sich vertieft. Der ältere Mann hatte Nate oft eingeladen, seine Familie bei ihren Wanderungen, Angelausflügen und Picknicks zu begleiten. Nate hatte diese Zeit genossen und sie alle sehr ins Herz geschlossen. Besonders Maggie.

Doch dann dachte er wieder an ihre heutige Begegnung im Dorf, und seine angenehmen Erinnerungen lösten sich auf wie der Morgennebel über dem See. Offenbar hatten vier Jahre nicht gereicht, um den Schmerz in ihrem Herzen zu lindern, der durch den Unfall und den Verlust ihrer Eltern und ihrer Schwester entstanden war.

Er biss die Zähne zusammen, während ihn viele Fragen bestürmten.

Warum hatten sein Vater und seine Stiefmutter ihn nicht nach Hause geholt, als sie von dem Bootsunfall erfahren hatten? Fast eine ganze Woche war vergangen gewesen, als sie ihm von der schrecklichen Tragödie berichtet hatten. Danach war er auf schnellstem Weg nach Hause gekommen. Doch die Beerdigung und die Gelegenheit, Maggie zu trösten, hatte er verpasst. Das musste der Grund sein, warum Maggie ihm immer noch böse war. Sie hatte ja keine Ahnung, warum er nicht da gewesen war.

Die gefühllose Reaktion seiner Eltern auf den Unfall hatte seiner Beziehung zu ihnen einen herben Schlag versetzt. Und so hatte er gleich am nächsten Tag Morningside wieder verlassen und war nach Schottland gefahren, um Maggie zu suchen. Aber dort war er in einer Sackgasse gelandet. Schließlich war er nach Hause zurückgekehrt mit dem festen Entschluss, nicht zu bleiben, sondern seinem Vater mitzuteilen, dass er eine Offiziersstelle bei der Marine antreten würde. Dann hatte er einige Sachen gepackt und war schnellstmöglich abgereist.

Rückblickend wünschte er, er hätte sich die Zeit genommen, sich abzureagieren und eine Möglichkeit zu suchen, im Einvernehmen mit seinen Eltern wegzugehen. Aber er konnte die Vergangenheit nicht ändern. Ihm blieb nichts anderes übrig, als aus der Gegenwart das Beste zu machen.

Er trieb sein Pferd den Weg hinauf und hob den Blick, um das beeindruckende Gutshaus seiner Familie zu betrachten. Es war drei Stockwerke hoch, aus sandfarbenem Stein gebaut und sah aus, als klebe es an den Felswänden. Die Architektur des Hauses war mit den vielen Flügeln und Räumen, die im Laufe der Jahre angebaut worden waren, ein wenig verwirrend. Der hohe Turm auf der linken Seite und mehrere obere Teile an der Vorderseite waren im Tudorstil von dunklen Balken mit weißem Hintergrund durchzogen.

Zügig ritt er unter dem Bogen des Haupteingangs durch und weiter zum Stall, wo er das Pferd einem jungen Stallknecht übergab. Dann ging er auf das Haus zu. Als er in die kühle, schwach beleuchtete Eingangshalle trat, sah er zu seiner Überraschung Jackson, den Butler, mit schlurfenden Schritten auf sich zukommen. Er hätte erwartet, dass der alte Mann längst im Ruhestand war.

Jackson blinzelte. „Master Harcourt? Sind Sie das?“

„Ja, Jackson, es freut mich, Sie zu sehen.“

„Entschuldigung, Sir. Soll ich Sie mit Leutnant Harcourt ansprechen?“

„Nein, bitte sagen Sie einfach Nathaniel zu mir.“

„Oh nein, Sir. Ich kann Sie unmöglich beim Vornamen ansprechen.“

„Dann nennen Sie mich Mr Harcourt.“

„Gerne, Sir.“

Nate blickte zur Galerie hinauf. „Ist mein Vater oben?“

„Ja, Sir. Er ist in seinem Schlafzimmer. Mrs Harcourt ist bei ihm, und Miss Clara auch.“

„Danke.“ Nate ging an Jackson vorbei und stieg die mit Teppich überzogenen Stufen hinauf.

Das Haus wirkte unverändert, aber was war mit seiner Familie? Er hatte in den letzten vier Jahren nur sehr wenig Kontakt zu ihnen gehabt. Von seinem Vater hatte er nur wenige Briefe bekommen. Seine Stiefmutter hatte ihm nie geschrieben. Bis auf den Brief, den er gestern bei seiner Rückkehr nach London erhalten hatte. Darin hatte sie ihn aufgefordert, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.

Nate klopfte an die Schlafzimmertür seines Vaters und eine Frauenstimme forderte ihn auf einzutreten. Er öffnete die Tür und ging hinein. Die Vorhänge waren zugezogen, und der Geruch von Bienenwachs und Kampfer hing in der Luft. Das einzige Licht in dem schwach beleuchteten Zimmer kam von einer Lampe auf dem Nachttisch und einer weiteren auf dem Kaminsims.

Sein Vater lag in der Mitte des Betts und hatte die Augen geschlossen, sein blasses, faltiges Gesicht war erschreckend grau. Einige dünne, weiße Haare standen über seiner Stirn ab.

Nate schluckte schwer. Sein Vater sah viel schlimmer aus, als er erwartet hatte. Sein Blick wanderte zu seiner Stiefmutter, Helen Harcourt. Sie saß auf der anderen Seite des Zimmers auf einem Stuhl mit gerader Rückenlehne und trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid, als wäre sie bereits in Trauer. Seine Halbschwester, Clara, saß neben ihr und hatte ein Buch auf dem Schoß liegen. Sie war inzwischen siebzehn und mit ihrem langen blonden Haar eine attraktive junge Frau geworden. Beide blickten auf, als er näher kam.

Die schmalen Augenbrauen seiner Stiefmutter zogen sich nach oben. „Nathaniel, ich habe dich kaum wiedererkannt.“

Er nickte den beiden zu. „Hallo, Helen. Clara.“ Er stellte sich ans Bett seines Vaters und schaute ihn besorgt an. „Wie geht es ihm?“

Helen stand auf und trat an die andere Bettseite heran. „Dr. Hadley war heute Morgen hier.“

Er blickte fragend auf, doch sie schüttelte nur leicht den Kopf. Offenbar wollte sie nicht mehr sagen. Ihre Reaktion sowie die Resignation in ihren graugrünen Augen verrieten ihm jedoch die Diagnose.

Nate nickte und bemühte sich, diese Nachricht zu verarbeiten. Er beugte sich über die regungslose Gestalt seines Vaters und nahm seine Hand. „Vater, kannst du mich hören?“

Die Augen des alten Mannes gingen langsam auf und er blickte zu Nate hinauf. „Bist du das, mein Sohn?“ Seine Stimme war nicht mehr als ein raues Flüstern.

„Ja, Sir.“ Nate verstärkte den Griff um die Hand seines Vaters.

„Ich bin froh, dass du gekommen bist.“ Sein Vater erwiderte seinen Händedruck.

„Ich wäre früher hier gewesen, aber ich habe Helens Brief erst gestern bekommen, als ich in London ankam.“

Vaters wässriger Blick wanderte zu Helen. „Ich will mit Nathaniel sprechen. Allein.“

Ihre Haltung wurde steif und sie bedachte Nate mit einem kühlen Blick. „Wie du willst. Komm, Clara.“

Seine Halbschwester klappte ihr Buch zu und erhob sich langsam von ihrem Stuhl. Sie schaute Nate direkt an, als sie an ihm vorbeiging. Aus ihren Augen sprach eine tiefe Traurigkeit. Er blickte den beiden nach, bis sie zur Tür hinaus waren. Dann wandte er sich wieder seinem Vater zu.

„Geht es dir gut, mein Junge?“

„Ja, Vater. Mir geht es gut.“

„Das kann ich von mir leider nicht behaupten.“ Er setzte zu einem Schmunzeln an, aber es verwandelte sich in einen trockenen, schweren Husten.

Nate legte seinem Vater die Hand auf die Schulter und wartete, bis sich sein Husten gelegt hatte. „Mit ein wenig Zeit und guter Pflege wirst du dich bestimmt bald wieder besser fühlen.“

„Nein, Dr. Hadley ist ein guter Arzt, aber er macht mir keine große Hoffnung auf Genesung.“

„Es gibt bestimmt eine Behandlung, die deinen Zustand verbessern kann.“

„Wir haben alles versucht, aber ich werde nur immer schwächer, und jetzt …“

Nate wollte ihm widersprechen, aber sein Vater hob die Hand. „Es gibt einige Dinge, die ich dir sagen muss, und ich werde ruhiger schlafen, wenn ich sie gesagt habe. Setz dich, Nate.“ Er sprach langsam und deutete mit dem Kopf zu einem Stuhl, der neben dem Bett stand.

„Ich höre mir gern an, was du zu sagen hast, aber bitte lass mich zuerst etwas sagen.“ Nate zog den Stuhl näher heran und setzte sich.

„Wie du wünschst.“

„Meine Zeit in Südafrika und meine Erlebnisse im Krieg haben einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen.“

Erinnerungen wurden lebendig … an die Kriegsgefangenenlager, in denen die Frauen und Kinder der Buren – der holländischen Bauern, die gegen die Briten gekämpft hatten – gefangen gehalten wurden. Er hatte nie zuvor so viel Elend und Leid gesehen. Es hatte ihn beschämt und den verzweifelten Wunsch in ihm geweckt, an der Situation etwas zu ändern. Aber bevor er dazu eine Gelegenheit bekommen hatte, war er selbst schwer krank geworden und dem Tod nur knapp entkommen.

Wie konnte er wiedergeben, dass die Fürsorge von dem Missionsarzt Alfred Thruston sein Leben gerettet und auch verändert hatte und welche Versprechen er während seiner Genesungszeit gegeben hatte?

Das Leben war zu kurz und Familienbeziehungen waren zu wichtig, um zuzulassen, dass die Vergangenheit die Chance auf Heilung und Versöhnung zunichtemachte. Diese Erfahrungen hatten ihn zu dem Entschluss geführt, nach Hause zurückzukehren, noch bevor er Helens Brief bekommen hatte.

Er schluckte und konzentrierte sich erneut auf seinen Vater. „Mir tut es leid, wie ich von hier weggegangen bin und dass dadurch eine so große Distanz zwischen uns entstanden ist. Ich war zu impulsiv.“

Die tiefen Falten um den Mund seines Vaters schienen weicher zu werden. „Das trage ich dir nicht nach. Ich war auch einmal jung und wollte es mit der ganzen Welt aufnehmen und das Unrecht bekämpfen. Aber sieh mich jetzt an.“ Sein müder Blick wanderte einen Moment zum Kamin, dann kehrte er zu Nate zurück. „Ich muss mich bei dir entschuldigen, mein Sohn. Mein Verhalten dir und vielen anderen gegenüber war nicht immer … ehrenhaft.“

Nate schüttelte den Kopf. „Es ist nicht nötig …“

„Doch, es ist nötig. Wenn das Leben dem Ende zugeht, sieht man manches klarer. Rückblickend weiß ich heute, dass ich viel zu viel Zeit in meine Experimente und Erfindungen investiert habe und viel zu wenig Zeit in meine Familie, besonders in dich.“

Nates Kehle schnürte sich zusammen und er nahm erneut die Hand seines Vaters.

„Ich habe vieles getan, was ich bereue“, sagte sein Vater leise.

„Jeder bereut Dinge, die er getan hat, aber es ist nie zu spät, sie in Ordnung zu bringen.“

„Für mich ist es zu spät. Aber für dich nicht.“

Fragend sah Nate seinen Vater an und war nicht sicher, was er damit meinte.

„Bald wird das alles hier dir gehören.“ Sein Blick wanderte durchs Zimmer, aber Nate wusste, dass er von mehr als nur von diesem Haus sprach. „Das ist ein Segen, aber auch eine große Verantwortung. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr getan habe, um dich auf das vorzubereiten, was auf dich zukommt.“

„Mach dir um mich keine Sorgen. Konzentriere dich einfach darauf, dich auszuruhen und wieder zu Kräften zu kommen.“

Sein Vater verstärkte den Griff um Nates Hand und schaute ihn durchdringend an. „Hör mir zu, Nathaniel. Ich weiß, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Aber ich habe keine Angst. Ich habe meinen Frieden mit Gott geschlossen.“

Nates Herzschlag beschleunigte sich und er sah seinem Vater forschend ins Gesicht. Hatte er ein geistliches Erlebnis gehabt, ähnlich wie Nate in Südafrika? Nichts könnte Nate mehr Frieden schenken als das Wissen, dass er und sein Vater eines Tages im Himmel wieder zusammen sein würden.

„Du musst einige wichtige Dinge für mich erledigen“, sprach sein Vater weiter.

„Natürlich. Alles, was du brauchst.“

Sein Vater nickte und atmete flach. „Du musst mir versprechen, dass du deine Stiefmutter versorgst, wenn ich nicht mehr da bin. Ich weiß, dass sie schwierig sein kann und dass ihr euch nie nahegestanden habt, aber ich will sicher sein, dass sie und Clara alles haben, was sie brauchen.“

„Ja, natürlich. Ich werde mich um sie kümmern.“

„Gut.“ Er schwieg einen Moment, um Kraft zu sammeln. „In New York gibt es eine Frau, Natalie Fredrick, die jedes Quartal eine Geldsumme bekommt. Mein Anwalt, Miles Randolph, erledigt diese Zahlungen. Du musst dafür sorgen, dass sie weitergezahlt werden, bis sie schreibt, dass es nicht mehr nötig ist.“

Nate runzelte die Stirn. „Wer ist Natalie Fredrick?“

Sein Vater wandte den Blick ab. „Eine Frau, der ich meine Unterstützung zugesagt habe, und dieses Versprechen muss gehalten werden.“

Die Erklärung seines Vaters warf noch mehr Fragen auf, aber Nate wollte ihn nicht bedrängen. „Natürlich. Ich werde dafür sorgen, dass sie das Geld weiter bekommt.“

„Und schließlich musst du mir versprechen, die Dinge mit Daniel Lounsburys Töchtern in Ordnung zu bringen.“

Nates Puls begann sofort zu rasen. „Wie meinst du das?“

„Ich schäme mich und gestehe es nur sehr ungern, aber ich habe ihrem Vater zum Zeitpunkt seines Todes eine große Geldsumme geschuldet.“

„Wie viel Geld?“

Er nannte die Summe und schaute seinen Sohn schuldbewusst an.

Von diesem Geständnis verblüfft, konnte Nate seinen Vater nur anstarren.

„Ich weiß. Das war falsch, aber damals hatten wir einen finanziellen Engpass. Wir hatten drei neue Lagerhäuser gebaut, und Daniel Lounsbury war einverstanden gewesen, auf sein Gehalt zu warten. Er sagte, er habe genug für den Lebensunterhalt seiner Familie. Dann passierte der Unfall und …“

„Du hast das Geld behalten?“

„Ich wollte es auszahlen, aber ich habe es so lange vor mir hergeschoben, dass es irgendwann nur noch eine unangenehme Erinnerung war.“

„Und jetzt?“

„Jetzt möchte ich, dass du die Sache in Ordnung bringst. Gib seinen Töchtern das Geld.“ Er sah Nate an. „Sorgst du dafür, dass sie bekommen, was ich ihnen schulde?“

„Ja. Das erledige ich umgehend.“

Vater legte sich zurück und schloss die Augen. „Danke. Jetzt kann ich in Frieden ruhen.“ Seine harten Falten um die Augen und den Mund wurden weicher, und sein Atem kam weniger mühsam.

Wenn sein Vater ein gewisses Maß an Frieden darin fand, dass Nate diese Aufgaben übernahm, erledigte er das gern.

Aber was würde Maggie sagen, wenn er ihr von dem Geld erzählte? Vielleicht würde diese gute Nachricht die Kluft zwischen ihnen überbrücken und ihrer Freundschaft eine neue Chance geben.

Eine feste Entschlossenheit erfasste ihn. Er würde dafür sorgen, dass die Schulden beglichen und die Wünsche seines Vaters erfüllt wurden. Das war das Mindeste, was er für ihn tun konnte. Und für Maggie.

Kapitel 3

Bring sie hier herein.“ Maggie schob die Eingangstür zum Hutladen auf und die Glocke über der Tür klingelte.

Joseph Neatherton, ihr Nachbar und ein guter Freund, trug Violet ins Haus. Obwohl er ein Jahr älter war als Maggie, betrachtete sie ihn oft eher wie einen jüngeren Bruder. Mit der zerzausten blonden Haarsträhne, die ihm in die Stirn und die hellblauen Augen fiel, entsprach er heute diesem Bild perfekt. Er brauchte dringend einen Haarschnitt und neue Kleidung.

Joseph schaute Maggie an. „Wo soll ich sie hinsetzen?“

„In unserem Wohnzimmer.“ Sie deutete zum hinteren Teil des Ladens.

Großmutter zog den Vorhang zurück und kam ihnen entgegen. „Oh, da ist ja unsere Kleine! Danke, Joseph. Wir sind dir für deine Hilfe sehr dankbar.“

„Ich helfe Ihnen gern, so gut ich kann.“ Sein Blick richtete sich allerdings mehr auf Maggie als auf ihre Großmutter. Dann trug er Violet durch den Laden und zog den Kopf ein, als er unter dem tiefen Türrahmen durchging. Maggie bezweifelte zwar, dass er sich den Kopf gestoßen hätte, aber er wäre sehr nah dran gewesen.

Joseph setzte ihre kleine Schwester auf den Stuhl vor dem Kamin. „Jetzt hast du es geschafft, Violet.“

Großmutter schob einen kleinen Fußschemel heran und half Violet, das Gipsbein draufzulegen. „Passt es so?“

„Ein bisschen tut es noch weh, aber so ist es gut.“ Violet seufzte leise und lehnte sich zurück.

Joseph grinste. „Du siehst aus, als wärst du froh, wieder zu Hause zu sein.“

Violet nickte. „Dr. Hadley ist nett, aber im Krankenhaus hat es mir nicht gefallen.“

„Es war gut, dass Maggie bei dir bleiben durfte.“ Josephs Blick wanderte erneut zu Maggie.

Sie schaute weg und tat, als bemerke sie es nicht. Joseph war freundlich und hilfsbereit, aber sie wollte ihn nicht ermutigen, da sie in ihm nicht mehr als einen brüderlichen Freund sah.

„Ich muss jetzt gehen.“ Joseph straffte die Schultern. „Mein Vater fährt nach Newcastle und ich bin heute für die Werkstatt verantwortlich.“

Großmutter tätschelte seinen Arm. „Du bist ein guter Mann, Joseph. Dein Vater ist zu Recht stolz auf dich. Eines Tages wirst du einer jungen Frau ein sehr guter Ehemann sein.“ Sie zog ihre silbernen Augenbrauen hoch und nickte Maggie vielsagend zu.

Maggies Gesicht begann zu glühen. Musste Großmutter ihre Hoffnungen so deutlich zum Ausdruck bringen?

Joseph schmunzelte unsicher und rieb sich das Kinn. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs Hayes.“

Maggie nahm ein Kissen und legte es unter Violets Bein, ohne Joseph anzusehen, und tat so, als hätte sie die Andeutungen ihrer Großmutter nicht gehört.

„Ich muss jetzt gehen. In der Werkstatt wartet Arbeit. Diese Woche ist viel los.“ Er wischte sich die Hände an seiner verknitterten Hose ab.

Maggie beugte sich zu Violet hinab. „Willst du Joseph nicht etwas sagen, bevor er geht?“

Violet schaute Maggie fragend an, dann hob sie den Kopf und lächelte den jungen Mann an. „Danke, Joseph.“

„Das habe ich gern gemacht, Violet.“ Er ging auf der anderen Seite des Stuhls in die Hocke. „Aber tu mir bitte einen Gefallen und halte dich von Automobilen fern, ja?“

„Wird gemacht. Versprochen!“

„Das höre ich gern.“ Dann warf er Maggie einen erwartungsvollen Blick zu und seine Hoffnung war nicht zu übersehen.

Sie wandte den Blick ab. Warum konnte sich Joseph nicht damit zufriedengeben, ihr Freund zu sein, und machte immer wieder Andeutungen, als wollte er sie umwerben?

Die Glocke über der Eingangstür klingelte und Maggie atmete erleichtert auf. „Ich muss nachsehen, wer das ist. Entschuldigt mich bitte.“ Sie eilte durchs Zimmer, schob den Vorhang beiseite und erstarrte.

Nate Harcourt stand neben der Eingangstür. Er hielt seinen Hut in der Hand, und seine breiten Schultern füllten seinen Mantel perfekt aus. „Guten Morgen, Maggie.“

Sie schluckte und nickte dann. „Guten Morgen …“ Sie wusste gar nicht, wie sie ihn ansprechen sollte. Nate erschien ihr zu formlos, aber Mr Harcourt hielt sie auch nicht für angebracht.

Warum hörte ihr Herz nicht auf, so aufgeregt zu pochen?

„Ich bin gekommen, um mich nach Violet zu erkundigen. Wie geht es ihr heute?“

Die unübersehbare Freundlichkeit in seinen Augen und die Wärme in seinem Blick drohten eine Schicht von Maggies Ablehnung wegzuschmelzen. Sie ließ den Vorhang hinter sich fallen und trat einen Schritt vor, wandte jedoch den Blick zur Seite. „Sie ist zu Hause und es geht ihr den Umständen entsprechend gut.“

Er nickte. „Es freut mich, dass sie nicht länger im Krankenhaus bleiben muss. Eine Nacht war für ein so junges Mädchen bestimmt schon schwer genug.“

In dem Moment kam Joseph aus dem Wohnzimmer und baute sich neben Maggie auf. Er runzelte leicht die Stirn und warf ihr einen fragenden Blick zu.

„Das ist Mr Nathaniel Harcourt von Morningside Manor.“ Sie blickte zwischen den beiden hin und her. „Und das ist unser Nachbar, Joseph Neatherton. Er hat uns geholfen, Violet aus dem Krankenhaus heimzubringen.“

Die Männer nickten einander zu, behielten aber beide ernste, musternde Blicke bei. Maggie konnte die Anspannung in der Luft fühlen, als sich beide in stummer Herausforderung ansahen.

Nate reichte Joseph die Hand. „Es freut mich, Sie kennenzulernen.“

Joseph zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, dann ergriff er Nates Hand. „Ebenfalls.“

„Sie sind also Maggies Nachbar?“

„Ja. Unserer Familie gehört Neathertons Schuhmacherei.“ Er deutete mit dem Kopf nach rechts zu seinem Laden.

„Ah, verstehe.“ Nates Blick wanderte zwischen Maggie und Joseph hin und her.

Joseph schob das Kinn vor. „Viele sagen, wir machen die besten Stiefel und Schuhe in ganz Northumberland.“

„Dann muss ich Sie unbedingt bald aufsuchen. Ich brauche dringend ein neues Paar Stiefel.“

Josephs Blick wanderte zu Nates Füßen hinab und kehrte dann wieder zu seinem Gesicht zurück. „Sie waren eine ganze Weile fort, nicht wahr?“

„Ja, ich war die letzten Jahre mit der Marine in Südafrika.“