Bitburger Blut - Hans-J ürgen Sittig - E-Book

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Hans-J ürgen Sittig

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Beschreibung

Auf dem Mayener Lukasmarkt, dem größten Volksfest im Norden von RheinlandPfalz, werden drei Männer während der Fahrt mit dem Riesenrad erschossen, ein vierter überlebt den Anschlag schwerverletzt. Die brutale Tat gibt den Hauptkommissaren Wärmland und Trobisch viele Rätsel auf - bis sich endlich eine heiße Spur ergibt. Doch der Täter ist auf alles gefasst, und die Polizei muss einen hohen Preis zahlen, um ihn zur Strecke zu bringen . . .

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Hans Jürgen Sittig, 1957 in Mayen geboren, begann als Biologiestudent in Bonn mit dem Fotografieren und Schreiben. Als Fotograf und Reiseschriftsteller belieferte er neunundzwanzig Magazine und Zeitschriften und veröffentlichte zahlreiche Fotokunstkalender und Bildbände, meist über Skandinavien. Mit seinen Eifel-Krimis, dem Bildband »Traumland Eifel« und dem Buch »Die eindrucksvolle Geschichte der Eifel« hat er sich inzwischen einen Namen als vielseitiger Eifelautor gemacht. Wenn er nicht schreibt oder fotografiert, dann spielt der ehemalige Fallschirmjägerhauptmann d.R. und geschiedene Vater zweier Söhne gern Klavier daheim, Theater in Wuppertal und regelmäßig größere Rollen in bislang fünfzehn verschiedenen kleinen Fernsehserien. Hans Jürgen Sittig lebt in Daun in der Vulkaneifel.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Katholische Pfarrkirche Liebfrauen, Bitburg; Foto: Hans Jürgen Sittig Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-629-4 Eifel Krimi Originalausgabe

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Für meine Schwester Ulrike

PROLOG

Die beiden jungen Männer saßen auf einem dicken Querbalken unter dem Dach einer alten Scheune. Es war auch für sie ein ungewöhnlicher Platz – sie befanden sich dort zum ersten Mal in ihrem neunzehnjährigen Leben. Beide waren gleich alt, sogar am selben Tag geboren, zur selben Stunde und nur ein paar Minuten voneinander getrennt. Eineiige Zwillinge, die in einer besonderen Intensität miteinander verbunden waren. Dort oben saßen sie Seite an Seite, einander zugewandt, und hielten sich in den Armen, als wären sie ein Liebespaar.

Sie hatten einander immer geliebt, hatten in sich etwas vom anderen erlebt und gefühlt und waren emotional nie in dem Maße verschieden gewesen, wie andere, »normale« Geschwister es sein konnten. Seit ihrer Geburt standen sie sich nah und fühlten sich wohl mit dem anderen, hatten sich weder als Kleinkinder noch in ihrer Kindergarten- und Schulzeit voneinander getrennt und waren schon sehr früh die besten und vertrautesten Freunde geworden. Da sie gleiche Neigungen und Fähigkeiten besaßen, hatten sie auch ihre Lehre und Ausbildung miteinander absolviert und am selben Tag ihre Abschlusszeugnisse erhalten. Nach der Ausbildung zu Metallbauern hatten sie sogar gemeinsam ihren ersten Job in derselben Firma angetreten und dort an Halterungen für Solaranlagen gearbeitet.

Aber nun wussten sie nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Sie saßen hier, hielten einander umschlungen und weinten, weil ihnen die Welt zu schwer geworden war.

Sie sprachen leise flüsternd, als fürchteten sie, bei einem Geheimnis ertappt zu werden. Es war tatsächlich ein Geheimnis, das sie in diesem Augenblick vereinte, eines, das sie noch niemand anderem offenbaren wollten, sondern nur miteinander zu teilen bereit waren.

Sie unterbrachen ihr Flüstern, und einer der beiden öffnete seinen Gürtel, um die Lasche unter dem Gürtel des Bruders hindurchzuziehen und die Schnalle wieder zu verschließen. Dann löste er seinen Schal zur Hälfte und wand ihn um den Hals seines weinenden Bruders, bevor er die beiden losen Enden mit einem Knoten verband.

Die beiden sahen einander in die Augen, nahmen sich noch einmal in die Arme und drückten sich ganz fest. Weinend flüsterten sie sich das Versprechen zu, sich niemals zu trennen und immer zusammenzubleiben.

Als sie sich Hand in Hand vom Balken abstießen und nach unten fielen, strafften sich die beiden Hanfseile, die sie um den Balken und unter dem Schal um ihre Hälse geknotet hatten. Nach etwa drei Metern stoppten die beiden gleich langen Seilstücke abrupt und unbarmherzig den Sturz. Beiden Männern brach im selben Augenblick das Genick, und so waren sie, wie sie es gewollt hatten, auch im Sterben und im Tod miteinander vereint.

EINS

Hauptkommissar Jan Wärmland legte frustriert die Fernbedienung zur Seite. Das heutige Nachtprogramm stellte nichts in Aussicht, was seiner Zerstreuung in ausreichendem Maß dienlich gewesen wäre. Er zog kurz in Erwägung, noch einmal aufzubrechen, um einen Film auszuleihen, die Videothek hatte noch eine halbe Stunde geöffnet. Doch den Gedanken verwarf er sogleich wieder, denn der Aufwand schien ihm angesichts seines knappen Energievorrats unangemessen hoch zu sein. Es war ein langer Arbeitstag gewesen. Sollte er einfach schlafen gehen? Nein, ein bisschen was wollte er von seinem wohlverdienten Feierabend schon noch haben. Da hatte er die vermeintlich rettende Idee: das Internet. Schon seit Wochen war er nicht mehr auf seiner Internet-Dating-Seite gewesen – wahrscheinlich wartete längst eine beträchtliche Schar von Frauen auf seine dringliche Rückkehr. Schließlich war er ja ein ganz Besonderer unter all den Hunderttausenden, die wie er in den virtuellen Regalen der Partnerbörsen auf Auffindung und Mitnahme hofften.

Der Gedanke an die Inspektion seiner vernachlässigten Dating-Seite gefiel Wärmland und vertrieb die Müdigkeit. Ungeduldig ging er mit seinem Laptop online. Er rügte sich im Stillen für sein langes Fernbleiben und das Ignorieren der Hinweise seines Mailaccounts, der ihm immer wieder mal den Eingang einer Nachricht auf seiner Dating-Seite mitgeteilt hatte. Was, wenn sich unter den Schreiberinnen eine vielversprechende Kandidatin befand, der er nun wochenlang nicht geantwortet hatte? Er konnte kaum erwarten, dass sie vorübergehend ihr normales Leben für eine ungewisse Warteschleife aussetzte, in ein Kloster zog und auf seine Rückkehr ins Internet wartete.

Nun ja, es hatte andererseits auch Gründe für seine jüngste Dating-Abstinenz gegeben: Die letzten Kontaktaufnahmen waren nicht sonderlich erfolgreich verlaufen. Besonders »Baikaltäubchen74« hatte sich als eher schwierige zukünftige Lebensgefährtin erwiesen. Die Entfernung hatte natürlich keinerlei Rolle gespielt bei ihren ersten zarten schriftlichen Annäherungsversuchen. Wärmlands Russisch kam allerdings auf sehr schmalen Füßen daher – mit gerade mal fünf ihm bekannten Wörtern. Dafür war das ausufernde Deutsch des Täubchens mit einer unendlich oft wiederholten Abfolge des Satzes »Ich dich haben will« lebhaft zutagegetreten. Doch selbst diese Überqualifikation war letztlich nicht geeignet gewesen, das potenzielle neue Paar zusammenzubringen. Obwohl sich Täubchens erweiterte Vokabelkenntnis eines Tages völlig unerwartet und vielversprechend in dem Satz »Du mir schicken Flugticket« manifestierte, hatte Wärmland das Unternehmen »Neuanfang in Sibirien« mit einer letzten, sehr emotionalen Botschaft aufgegeben: »Ich dir wünschen Glück!«

Der Abschluss seiner letzten kleinen Irrfahrt durch den Lustgarten des Internet-Datings. Aber nun war anscheinend genügend Zeit vergangen, um erneut dieses gewisse Kribbeln und die unschuldige Neugier zu spüren, die vielen Polizisten eigen war. Die unbändige Lust am »Ermitteln« der Möglichkeiten, die Spannung beim »Verhör« des Schicksals und das süße Aroma einer möglichen »Überführung« der »Schuldigen« und anschließenden »Inhaftierung« in das wiederzuentdeckende eigene Glück.

Dummerweise hatte Wärmland zwar sein Pseudonym »Sanfter Bulle« nicht vergessen, wohl aber das Passwort. Er konnte sich glücklicherweise daran erinnern, dass er irgendwo in seinem Schreibtisch einen Vermerk platziert hatte. Die Frage war nur, wo.

Während er noch in den Schubladen kramte, fiel ihm das Wort wieder ein, erleichtert tippte er »Handschellen« ins System. Und siehe da: Seine Dating-Seite zeigte immerhin acht eingegangene Nachrichten und sechs Sympathieklicks an. Damit hatte Wärmland dann doch nicht gerechnet. Eine gewisse Beunruhigung bemächtigte sich seiner. Hoffentlich war es nun nicht schon zu spät für sie, die Richtige und Einzige, wenn sie tatsächlich unter diesen acht Schreiberinnen gewesen war. Sie wäre inzwischen längst auf und davon, durchgebrannt mit einem anderen, hätte vorige Woche geheiratet und erwartete das zweite Kind. Konnte das Schicksal so grausam zu ihm sein? Es gab nur eines: systematisch die Nachrichten durchgehen und hoffen.

Wärmland begann mit der ältesten, die ihm von »Allesfürdich« übermittelt worden war. Hinter dem vielversprechenden Pseudonym verbarg sich eine Achtundzwanzigjährige, die sich in ihrem sehr knapp gehaltenen Profil als rassig, ungestüm und unkonventionell vorstellte. Die eingestellten Fotos unterstrichen ihre Worte auf dezent-unmissverständliche Art: Ihre Bekleidung fiel überwiegend durch das Fehlen selbiger auf. Sie hatte Wärmland allerdings auch nur einen einzigen Satz geschrieben: »Lassen wir doch mal das ›sanft‹ weg und konzentrieren uns ganz auf den ›Bullen‹.«

Derartige Nachrichten hatten Wärmland schon zuvor erreicht und in höchstes Entzücken versetzt. Die guten Absichten bezüglich einer lebenslangen, treuen Beziehung waren bei Damen dieses Typs besonders markant und eindeutig herauszuspüren. Trotzdem überlegte Wärmland leicht frustriert, ob es nicht vielleicht doch sinnvoller wäre, den Kontakt zu seinem sibirischen Täubchen wieder aufzunehmen. Dann siegte jedoch seine Neugier auf die weiteren noch nicht gelesenen Nachrichten, die ja durchaus ernsthafter und aussichtsreicher sein konnten. Zur Abwechslung klickte Wärmland jetzt aber erst mal auf den Ordner mit den Sympathieklicks. Zwar hegte er für diese kürzeste Form der Kontaktaufnahme keine große Vorliebe, weil er der Meinung war, dass ein ernsthaft an einer Beziehung interessierter Mensch durchaus in der Lage und willens sein sollte, einem Wunschkandidaten einen ganzen, vollständigen Satz zu schreiben. Aber er musste schließlich auch damit rechnen, dass sich das eine oder andere scheue »Mädel« unter die Suchenden gemischt hatte. Das war nicht völlig auszuschließen.

Im vorliegenden Fall hatte ihm eine »Zarin« einen Klick verpasst, mit dem Symbol für »Dein Profil gefällt mir«. Wärmland erkannte sofort das größere Beziehungspotenzial im Vergleich zu seinem bisher aussichtsreichsten russischen Kontakt mit dem sibirischen »Baikaltäubchen«. So wohnten Zarinnen traditionell im Winter in Moskau und im Sommer in ihrer Sommerresidenz, einem schicken Palais in St.Petersburg. Das war schon rein geografisch ein entscheidender Vorteil gegenüber dem mit siebentausend Kilometern dreimal so weit entfernten Baikalsee, der damit für spontane Besuche mit dem Fahrrad als eher ungeeignet einzustufen war. Außerdem waren Zarinnen nicht nur des Russischen, sondern traditionell auch des Französischen mächtig. Das vergrößerte die Kapazität seines eigenen Wortschatzes für Romanzen in »Putinesien« auf Anhieb um weitere zehn auf insgesamt fünfzehn Wörter.

Im nächsten Augenblick hatte Wärmland jedoch ein Bild vor Augen, das ihn zurückschrecken ließ: Er selbst in seiner schlichten Kommissarsuniform zwischen all den Gardeoffizieren, Adeligen und Würdenträgern. Ihn beschlichen sachte Zweifel. Würde er in einer solchen Welt überhaupt bestehen können? Andererseits war beim letzten Karneval ein Oberkommissar von der Verkehrspolizei als Zar aufgetreten. Das konnte die Lösung sein, falls dieser bereit war, sich für eine längere Zeit von seinen Klamotten zu trennen. Wärmland fühlte sich gleich etwas souveräner und besser und kam nun erst recht auf den Geschmack zur Inaugenscheinnahme der weiteren Kontaktversuche. Er wechselte zurück in die Sparte »Nachrichten«, und da war sie wieder. »Baikaltäubchen74« hatte erneut geschrieben.

»Ich dich sehr vermissen!«, stand da, kurz und prägnant. Ihr Deutsch gewann offenbar weiter an Umfang.

Wärmland überschlug kurz im Kopf, wie viele Jahre es wohl noch brauchen würde für eine ausgewachsene Konversation. Sicher wäre ein erstes erfüllendes Telefonat schon in sechs bis acht Jahren ins Auge zu fassen. Dennoch entschloss er sich, ihre Nachricht nicht zu beantworten. Ein wahrheitsgemäßes »Ich dich nicht« erschien ihm zu hart und unangemessen für einen sanften Bullen.

Er klickte die Nachricht darunter an. Sie kam aus dem hohen Norden. Eine Hamburgerin mit dem Pseudonym »Rehlein« schrieb: »Schade, dass uns so ein weiter Weg voneinander trennt. Da können wir wohl nicht zueinander finden. Aber dein Profil und dein Foto haben mich irgendwie berührt. Ich wünsche dir alles Gute und viel Glück!«

Wärmland musste ihrer Analyse hinsichtlich der Distanz leider zustimmen, denn er war sicher, dass er eine Fernbeziehung auf Dauer nicht ertragen würde. Er fand es auch erstaunlich, dass das »Rehlein« so weit über ihr unmittelbares Lebensumfeld hinaus in die Ferne schaute, um dann festzustellen, dass es wegen der Entfernung nicht ging. Er beantwortete ihre Zuschrift dennoch mit seinen ebenfalls besten Wünschen.

Die nächste Nachricht kam von »The_summer_with_You«. Das klang doch ganz vielversprechend und auch nicht nach Baikalsee oder Balalaika – obwohl Wärmland die russischen Optionen nicht völlig außer Acht lassen wollte. Verwitwete Öl-Oligarchinnen siedelten sich ganz sicher mit Vorliebe nur einen Steinwurf von Mayen entfernt im milden Schwarzmeerklima der Krim an, in der Hoffnung auf die Begegnung mit einem Deutschen in den besten Jahren, der ihnen bei der Verbesserung ihrer Deutschkenntnisse behilflich sein konnte. Das wäre eine durchaus erwägenswerte russische Option, die er nicht von vornherein verwerfen sollte. Schließlich hatte auch Altkanzler Schröder mit russischen Menschen aus dem Energiesektor gute Erfahrungen gemacht.

Wärmland kam nicht mehr dazu, die Botschaft von »The_summer_with_You« zu studieren, da das Telefon klingelte. Es war bereits weit nach Mitternacht. Er hörte keinerlei einleitendes Grußwort, als er den Hörer abnahm, sondern nur ein von einer weiblichen Stimme aufgeregt gesprochenes »Jörg ist weg«.

Wärmlands Schwester Ulli klang wirklich sehr aufgeregt und besorgt, doch überrascht war Wärmland nicht. Er hatte sie gewarnt, hatte sie immer wieder vor ihrem gemeinsamen großen Bruder gewarnt. Der war vor einem Jahr aus heiterem Himmel aus der Versenkung aufgetaucht und bei Ulli untergekrochen. Zwar hatte er sich eine Zeit lang zurückgehalten und war unauffällig geblieben. Aber Wärmland hatte dieser Ruhe nicht getraut. Er war davon ausgegangen, dass das nur eine vorübergehende Pause vor neuen Komplikationen war. Und jetzt war es wohl so weit.

»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, hörte er Ulli verzweifelt sagen. »Er hat sich immer an alles gehalten, was wir besprochen haben. Wenn er mal fortgeblieben ist, hat er es mir vorher angekündigt, und ich habe mir keine Sorgen machen müssen. Aber er ist nicht ein Mal einfach so weggeblieben ohne irgendeine Nachricht oder ein Lebenszeichen. Da ist sicher was passiert. Hilf mir bitte, Jan, er ist unser Bruder. Willst du mir helfen?«

Wärmland seufzte resigniert. Es war ganz klar, dass er ohne die Intervention seiner Schwester nicht aktiv werden würde. Zwischen ihm und seinem großen Bruder klaffte ein zu großer Spalt. Wärmland hatte Jörg nie verzeihen können, dass der ihm einst seine erste Freundin und große Liebe ausgespannt hatte. Sein Bruder war damals einundzwanzig gewesen, Wärmland und sein Mädchen gerade mal sechzehn.

Am Anfang hatte Wärmland einen regelrechten Hass auf seinen Bruder gehegt. Später war daraus Abscheu geworden, eine tiefe Abneigung gegen das, was den Charakter seines Bruders ausmachte. Jörg hatte es nie geschafft, sein Leben auf die Reihe zu kriegen. Er hatte sich immer schon als unzuverlässig erwiesen, sowohl in privaten Angelegenheiten wie auch in seinen Jobs. Unzählige Frauengeschichten und Beziehungen von sehr kurzer Dauer, zwielichtige Freundschaften und Alkoholprobleme hatten ihn für die Familie unzugänglich gemacht. Besonders ihre Mutter hatte sehr darunter gelitten. »Der kommt ganz nach Onkel Berthold« hatte es immer geheißen. Man hatte vergeblich versucht, sich mit dieser Erklärung darüber hinwegzutrösten, dass Jörg auf allen Ebenen versagt hatte.

Vor sechs Jahren war Jörg dann einfach verschwunden. Niemand hatte gewusst, wo er sich aufhielt oder was aus ihm geworden war. Wie hätten sie auch ahnen können, dass er sich nach Schweden ins Land ihrer Vorfahren abgesetzt hatte? Wärmland fing schließlich an zu glauben, sein Bruder sei tot. Bis der eines Abends nach Jahren der Funkstille vollkommen überraschend bei ihm auftauchte. Die alte Wunde war sofort wieder aufgebrochen, das hatte Wärmland nicht verhindern können. Dennoch gewährte er ihm widerwillig Asyl. Nach ein paar Tagen hatte Jörg es dann aber zu weit getrieben mit seinem verwahrlosten Trinkergebaren, und Wärmland hatte ihn rausgeworfen. Anstatt wieder zu verschwinden, wie es Wärmlands Vorschlag gewesen war, hatte Jörg sich bei Ulli in Köln einquartiert. Die hatte ihrem großen Bruder noch nie einen Wunsch abschlagen können. Eine Zeit lang lief alles gut, doch nun war es wohl doch wieder zu irgendeiner Art Rückfall gekommen, ganz wie Wärmland es vorausgesehen hatte.

Er hörte, dass seine Schwester zitterte und weinte. Er konnte nicht anders, er musste etwas tun.

»Ich kümmere mich darum«, sagte er sanft und bestimmt zugleich, weil er Ulli weiteren Kummer ersparen wollte. Sie war sieben Jahre jünger als er und hatte immer sehr an ihm gehangen. Aber Jörg war als der ganz große Bruder stets ihr besonderer Liebling gewesen. Wahrscheinlich war er der mitfühlenden Ulli gerade wegen seiner Schwächen so ans Herz gewachsen.

Wärmland konnte gut mit Rang zwei leben, denn auch der hatte ihm immer sehr viel Zuneigung und Liebe seitens seiner Schwester eingebracht. Er erinnerte sich zudem vage daran, dass es tatsächlich mal eine gute Zeit zwischen allen drei Geschwistern gegeben hatte, doch dann war Jörg vom gemeinsamen Weg abgekommen.

Jetzt ging es aber zunächst einmal darum, Ulli zu beruhigen und ihre Ängste zu mildern. »Ich ruf dich an, sobald ich etwas erfahren habe«, versprach er.

Sie dankte Wärmland und legte auf. Der wusste, was er zu tun hatte. Er rief das Polizeipräsidium am Walter-Pauli-Ring in Köln-Kalk an, gab seine Dienstnummer durch und ließ sich mit dem Diensthabenden der Nachtschicht verbinden. Wärmland meldete seinen Bruder nicht als vermisst, sondern fragte den Kollegen nach einem bestimmten polizeirelevanten Ereignis innerhalb der Stadt Köln. Der Hauptkommissar am anderen Ende der Leitung brauchte eine halbe Minute, bis er es gefunden hatte.

»Hier haben wir etwas, von der Polizeiinspektion Mitte: stark alkoholisierter Randalierer in der Altstadtkneipe »Früh am Dom« in Gewahrsam genommen und zur Ausnüchterung in Verwahrung behalten. Ärztlich festgestellter Alkoholgehalt drei Komma eins. Keine Papiere, Person noch nicht identifiziert.«

»Wie sieht der Mann aus?«, wollte Wärmland wissen. Kurzes Schweigen, dann schilderte der Polizist, was er auf dem Foto vor sich sah.

»Danke, das genügt«, sagte Wärmland in einer Mischung aus Zorn und Betroffenheit. Die galt allerdings nicht der beschriebenen Person, sondern seiner Schwester. Denn Ulli würde sehr leiden, wenn sie die genaueren Umstände von Jörgs erneutem Totalausfall erfuhr.

»Kennen Sie den Mann?«, wollte der Kölner Kollege von Wärmland wissen.

»Oh ja, und ob ich den kenne«, gab Wärmland unumwunden zu. »Es handelt sich um das Prachtstück unserer Familie, meinen älteren Bruder Jörg.«

»Mein Beileid, Herr Kollege. Ich hoffe, das war nur ein Ausrutscher und nicht der Beginn eines Dauer-Abonnements für unsere Räumlichkeiten.«

»Das wird die Zukunft zeigen. Viel Anlass zu Optimismus habe ich leider nicht«, erwiderte Wärmland.

»Wollen Sie ihn abholen und bei sich zu Hause aufpäppeln?«, fragte der Kollege.

»Ganz sicher nicht«, gab Wärmland zurück. »Er soll die Vorzüge seiner frisch begonnenen Randaliererkarriere in ihrer Gesamtheit genießen können. Sonst hat er ja nicht so viel davon. Morgen früh wird unsere Schwester kommen, Ulrike Wärmland, und ihn mitnehmen. Sie hat versucht, ihn unter ihre kleinen Fittiche zu nehmen, was er aber anscheinend nicht so richtig zu schätzen weiß.«

»Na dann, viel Glück«, sagte der Beamte bei der Verabschiedung, und Wärmland nahm ihm den leichten Unterton von Sorge durchaus ab.

Jetzt kam der schwierigere Teil, denn Wärmland wusste schon, wie seine Schwester auf die schlechten Nachrichten reagieren würde. Trotzdem blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr die unangenehme Wahrheit zu sagen. So wusste sie zumindest, dass ihrem großen Bruder nichts Schlimmeres widerfahren war.

Ulli fing sofort an zu schluchzen und zu jammern. Es gehe dem armen Jörg jetzt sicher ganz furchtbar schlecht, und sie müssten ihn doch sofort dort herausholen. Außerdem gebe es sicher einen guten Grund für sein Fehlverhalten. Bestimmt sei er provoziert worden und habe sich nur zur Wehr gesetzt.

Wärmland machte ihr unmissverständlich klar, dass die Nacht in der Ausnüchterungszelle nicht zur Diskussion stand. Es gehörte schon in ihrer Jugend zum Verhaltensspektrum ihres Bruders, als Randalierer und aggressiver Trinker aufzufallen. Das habe man damals vor ihr verbergen können. Jetzt aber sei es wichtig und richtig, dass er die Konsequenzen seines aktuellen Handelns zu spüren bekomme.

Ulli sah schließlich ein, dass es besser war, den Übeltäter erst am nächsten Morgen abzuholen. Immer noch schluchzend verabschiedete sie sich, und Wärmland atmete tief durch. Diese Art von Lebensbeeinflussung seitens seines Bruders konnte er brauchen wie Hufräude.

Jörg hatte sich nur eine Weile im Zaum halten können und war als Mittfünfziger nun wieder in das Muster seiner Jungmann-Karriere zurückgefallen. Wärmland hasste die Vorstellung, in Zukunft ständig mit derartigen Vorfällen behelligt zu werden. Er konnte den Kollegen ja nicht einmal vorschlagen, Jörg beim nächsten Mal einzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen. Also musste er damit rechnen, dass solche Ereignisse von nun an ein wiederkehrender Bestandteil seines Lebens sein würden. Genau die Art von Abwechslung, die er liebte. Aber eine Lösung des Problems war nicht erkennbar. Sein Bruder würde jede Art von Therapie ausschlagen, das wusste er. Also würde sich nichts ändern.

Wärmland setzte sich wieder an den Computer, doch sein spontaner Anflug von Entdeckerfreude hatte inzwischen einen merklichen Dämpfer erlitten. Vielleicht sollte er die russischen Milliardärswitwen noch warten lassen. Aber konnte er sich das Warten und Aufschieben wirklich leisten? Seine Exfrau Ursula und er waren jetzt seit drei Jahren geschieden. Seither konnte er auf eine ziemlich erfolgreiche Karriere als Single zurückblicken, wenn man ein konsequent sexfreies Privatleben denn als erfolgreich bezeichnen wollte. Schließlich gab es auch Singles, die hin und wieder mal eine kleine Affäre einschoben, nichts Ernstes zwar, aber sie blieben in Übung. Wenn es mit ihm hingegen so weiterging, lief er Gefahr, von seinen Kollegen einen Ratgeber zu Weihnachten geschenkt zu bekommen: »Wie man(n) nach mehr als tausend Tagen Pause lernt, allein zu kuscheln.«

Also doch dranbleiben, und zwar jetzt gleich. Mit der Rückkehr zu »The_summer_with_You«. Sie war fünf Jahre jünger als er, einen Meter achtundsechzig groß und hatte grünbraune Augen unter brünettem Haar. Aus einem leicht ovalen Gesicht mit einer zart angedeuteten Stupsnase sprang ihm ein freches Lächeln entgegen. Als Beruf hatte sie »leitende Angestellte« angegeben. Das war ja alles so weit okay, nur das Wort »Düsseldorf« als Heimatstadt ließ Wärmland ein wenig zögern. Nicht wegen der Stadt Düsseldorf an sich, also im Sinne der Reaktion eines Kölners auf das nette Dorf an der Düssel, sondern wegen der Entfernung. Es lagen an die hundertfünfzig Kilometer zwischen ihr und ihm. Und als rheinland-pfälzischer Polizeibeamter war an einen dienstlichen Wechsel nach Nordrhein-Westfalen nicht zu denken. Ob sie ihrerseits einen guten Job in der rechtsrheinischen Metropole aufgeben würde, um in die beschauliche Eifelprovinz zu ziehen? Das erschien ihm eher fragwürdig. Andererseits hatte sie ihn angeschrieben, und noch dazu begann ihr Text mit »Dein freundliches, liebes Lächeln hat mich sofort angesprochen«.

Das war doch mal eine nette Startansage und obendrein völlig frei von diesem fordernden sibirischen Unterton, der ihn sonst verfolgte. Er las weiter.

»Ich teile deine Ansichten über das Leben, bin wie du nur an einer ernsthaften Beziehung interessiert und reise auch am liebsten in den europäischen Süden, nach Spanien, Frankreich oder Italien. Wenn dir mein Profil gefällt, sollten wir uns nicht lange mit Schreiben aufhalten, sondern bald mal telefonieren und uns auf einen Kaffee treffen.«

Die junge Dame neigte offenbar zu einer klar strukturierten Vorgehensweise, was sicher auch mit ihrem Beruf zu tun hatte.

Plötzlich glaubte Wärmland, eine Stimme zu hören, die zu ihm sagte: »Ich dich kennänlernän wollän!« Er zuckte kurz zusammen und verwarf diese Einbildung als absurd. »The_summer_with_You« hatte als Düsseldorferin gewiss keinen mittelsibirischen Akzent, wenn sie Deutsch sprach.

* * *

Am nächsten Morgen wurde Wärmland noch vor seinem Wecker wach. Doch er bedauerte diesen Umstand nicht einmal, denn seine Gedanken fanden gleich ein erfreuliches Thema. Er dachte an die Mail, die er am Abend zuvor auf den Weg gebracht hatte, und empfand so etwas wie eine positive innere Unruhe. Er sprang aus dem Bett, startete wie üblich seinen Radiosender SWR1 und machte sich fertig für den Tag.

Noch bevor er seine Wohnung verließ, um zum Dienst zu fahren, setzte er sich mit einem Becher Kaffee und einem Brot mit Heidelbeermarmelade an seinen Rechner und ging online. Tatsächlich wurde er auf den Eingang einer neuen Mail auf seiner Dating-Seite aufmerksam gemacht. Er klickte auf die neue Nachricht, die »The_summer_with_You« ihm vor weniger als einer halben Stunde geschickt hatte, und las ungeduldig den nicht sehr langen Text: »Lieber Jan, ich hatte zwischenzeitlich noch einen anderen Kontakt, wir haben uns gestern Abend getroffen. Und dann sind wir einfach zusammengeblieben. C’est la vie! Sei bitte nicht böse. Du findest auch noch die Richtige, ganz sicher! Ciao und mach’s gut, deine Michelle.«

Auch eine solche Erfahrung machte Wärmland nicht zum ersten Mal. Sie hatte wie die vorherigen einen herben Beigeschmack. Das war etwas, was er an dieser Form des Kennenlernens hasste. Alles war so völlig unverbindlich und ohne Verlass. Aber er wollte sich seinem Ärger und Missmut nicht ausliefern, schließlich kannte er ja die Tücken des Systems. Und wenn einem in drei Jahren Singledasein im realen Leben niemand begegnet war, überwogen die Vorteile, die das Internet-Dating bereithielt. Er schaltete den Computer aus und fuhr zur Arbeit.

Heute konnte Wärmland zumindest dienstlich einen Fall abschließen und zu den Akten legen. Innerhalb von zwei Wochen waren zwei Bauern aus demselben Dorf zu Tode gekommen. Der erste hatte seinen Traktor mit eingelegtem Gang an einem Hang stehen lassen. Der Traktor war auch stehen geblieben. Als der Bauer dann aber über einen der beiden Vorderreifen wieder aufsitzen wollte, war er abgerutscht und gestürzt. Der Traktor hatte sich in Bewegung gesetzt und den Mann teilweise überfahren. Er hatte nur noch wenige Tage gelebt. Kurioserweise war es eine Woche später am Rand desselben Dorfes zu einem weiteren Unfall dieser Art gekommen: Ein Bauer, der sich auf der Beerdigung seines verunfallten Kollegen noch dahin gehend geäußert hatte, dass es ja wohl unmöglich sei, vom eigenen Traktor überfahren zu werden, war aus ungeklärter Ursache bei Arbeiten am Waldrand ebenfalls von seinem Traktor überrollt und sofort getötet worden. In den beiden Fällen hatte Wärmlands Team vom Kommissariat 1, das bei Todesfällen, Bränden und Vermissten zuständig war, ein Fremdverschulden ausschließen können.

Nach Dienstschluss machte sich Wärmland noch zu einem kleinen Stadtbummel auf. Er ging zu Fuß zum Bioladen in der Koblenzer Straße, um dort sein Lieblingsroggenbrot zu kaufen. Das war kaum mehr als ein halber Kilometer, dafür brauchte er kein Fahrzeug. Er beschloss, den Lukasmarkt auf dem Marktplatz zu umgehen, und machte einen Bogen um das unmittelbare Stadtzentrum. Auf dem Rückweg ging er dann noch kurz bei Reuffel in der Brückenstraße vorbei und hielt nach einem neuen Eifelkrimi Ausschau. Frau Keuser überraschte ihn tatsächlich mit einer interessanten Neuerscheinung, dem Debüt eines Autors aus der Vulkaneifel. Mit dem Brot und dem neuen Taschenbuch unter dem Arm spazierte Wärmland schließlich zufrieden auf der Marktstraße in Richtung Marktplatz. Als er den nach links abgehenden Entenpfuhl passierte, geschah es: Er sah sie!

Wärmland blieb wie angewurzelt stehen, er hatte das Gefühl, dass ein Stromschlag durch seinen Körper fuhr. Unbeweglich starrte er in ihre Richtung. Sie stand vor einem Bekleidungsgeschäft mit Damenmode und musterte die Auslagen. Es trennten sie vielleicht zehn bis fünfzehn Meter voneinander.

Er wandte sich ab, während es in seinem Kopf fieberhaft zu arbeiten begann. Wie kann das sein?, fragte er sich, sie lebt doch jetzt in den USA. Es muss sich um eine Verwechslung handeln. Diese Frau dort kann unmöglich … Er schaute noch einmal zu ihr hinüber und hatte keinerlei Zweifel mehr, dass sie es war. Aber was sollte er jetzt tun, was wäre das Richtige? In seinem Schädel hämmerte es. Es war noch nicht ganz zwei Jahre her, dass er sich unglücklich in diese Frau verliebt hatte. Es hatte keine Chance für sie gegeben, denn sie war die Ehefrau eines Mordopfers in einem seiner Fälle gewesen, und nach dem Tod ihres Mannes und der Klärung des Falls hatte sie Deutschland sofort verlassen. Doch jetzt stand sie da vorne vor der Auslage des Geschäfts, als wäre sie nie weg gewesen. Wärmland fühlte sich hilflos und überfordert. Etwas Derartiges hatte er noch nie zuvor erlebt. Niemals hätte er erwartet, ihr noch einmal zu begegnen. Schon gar nicht hier, in der Stadt, der sie doch den Rücken gekehrt hatte, um den Schatten ihrer traurigen Vergangenheit zu entkommen.

Er war hin- und hergerissen zwischen dem Impuls, sich abzuwenden und selbst das Weite zu suchen, und der Alternative, zu ihr zu gehen und sie anzusprechen.

Das Schicksal nahm ihm die Entscheidung ab: In der Scheibe des Geschäfts, vor dem er stand, spiegelte sich neben ihm eine kleine Frauengestalt. »Guten Tag, Herr Wärmland«, hörte er sie sagen.

Sein Herz schlug so laut, dass er glaubte, man würde es unweigerlich in der ganzen Straße hören. Er wandte sich langsam um. Da stand sie, ganz nah und direkt vor ihm, ein kaum erkennbares, verhaltenes Lächeln auf dem Gesicht. Ich werde das wohl nicht überleben, dachte Wärmland, bevor er eigene Worte fand.

»Guten Tag, Frau Traveloe«, brachte er heiser hervor, obwohl er gerade eben noch keinerlei Halsprobleme gehabt hatte. »Wie geht es Ihnen?« Seine Augen hingen an den ihren, als müsste er sie festhalten und vor irgendeiner unsichtbaren Gefahr schützen.

»Ich friere ein wenig«, antwortete sie schlicht, »aber das ist nicht weiter erstaunlich. Das ist immer so ab Herbst, und es spielt fast keine Rolle, wie dick ich mich anziehe.«

Wärmland versuchte, den Klang und die Intensität ihrer Stimme zu deuten, um ihre Haltung ihm gegenüber herauszulesen. Aber da war nichts Auffälliges, was ihm Auskunft hätte geben können. Jetzt lächelte sie ganz kurz und schaute ihm direkt in die Augen.

Ihre Antwort war eher nicht mit dem Informationsgehalt ausgestattet gewesen, auf den es Wärmland ankam. Er hatte auf eine Aussage gehofft, die eine tiefer reichende Wahrnehmung ihres Befindens erkennen ließ. Schließlich waren sie über dramatische Umstände miteinander verbunden.

»Ich bin wirklich überrascht, Sie hier in unserer kleinen Stadt zu sehen«, fuhr Wärmland fort. »Ich hatte angenommen, Sie hätten alle Brücken hinter sich abgebrochen. Und noch überraschter bin ich darüber, dass Sie mich angesprochen haben. Ich hatte Sie schon erkannt, und, um ehrlich zu sein, ich wusste überhaupt nicht, wie ich reagieren sollte.«

Sie nickte und musterte ihn mit sehr ernstem Blick. »Ich habe noch etwas Zeit. Wenn Sie mögen, können wir uns eine kleine Weile in ein Café setzen. Dann muss ich vielleicht nicht erfrieren, und wir könnten uns noch etwas unterhalten.«

In der Bäckerei Hofer fanden sie einen Fensterplatz. Nachdem sich Frau Traveloe einen Cappuccino und Wärmland einen Kakao bestellt hatte, blieb es zunächst eine Minute still, bevor sie den Faden wieder aufnahm.

»Im Grunde genommen war das Kapitel Deutschland für mich tatsächlich schon abgeschlossen. Aber nun ist in Köln-Rodenkirchen eine ganz liebe Großtante von mir mit vierundneunzig Jahren verstorben. Seit dem frühen Tod meiner Mutter war sie so etwas wie meine mütterliche Vertraute. Ich wollte sie unbedingt auf ihrem letzten Weg begleiten.«

»Das tut mir leid. Dieser Verlust schmerzt Sie sicher sehr.«

Sie lächelte wieder verhalten. »Das ist wahr, aber ich kann mich damit trösten, dass sie ein sehr erfülltes Leben hatte und nicht mit dem Tod haderte, als ihre Zeit gekommen war. Das ist nicht jedem gegeben, der das Ende seines Lebens unmittelbar vor sich sieht. Ich war bei ihr, als es so weit war. Ich hatte es rechtzeitig erfahren und konnte während ihrer letzten zwei Tage bei ihr sein. Das war ein großes Glück für uns beide.«

Wärmland musste unwillkürlich an all die Opfer von Gewalttaten denken, die mit ihrem Leben nicht friedlich abschließen konnten. Die Welt und das Leben waren doch wirklich erschreckend ungerecht.

»Sie mussten also nach Köln«, sagte er langsam. »Aber nun sind Sie hier in Mayen, etwa hundert Kilometer von Köln entfernt – etwa wegen der unvergleichlich schicken Mode, die es nur in unserer Stadt gibt?«

Sie schaute ihm wieder direkt in die Augen. »Ich habe tatsächlich sehr gezögert vor diesem Schritt. Vermutlich waren es sentimentale Anwandlungen, die mich hergeführt haben. Und ich will ganz ehrlich sein: Ich hatte nicht vor, mich bei Ihnen zu melden.«

Wärmland senkte den Blick, um nicht zu zeigen, dass er mit seinen Gefühlen kämpfte.

»Als ich Sie dann aber so dastehen sah, war mir das ein Wink des Schicksals. Ich glaube nicht an derartige Zufälle. Also war mir klar, dass ich Sie ansprechen musste, Sie ansprechen wollte.«

Wärmland schaute hoch. »Ich weiß nicht, ob ich den Mut aufgebracht hätte«, gab er offen zu.

»Das kann ich verstehen«, erwiderte sie leise. Wärmland glaubte, angesichts der unerwarteten Begegnung auch bei ihr eine gewisse Irritation zu spüren. Etwas in ihrer Stimme berührte sein Herz auf eine Weise, wie er sie schon lange nicht mehr empfunden hatte. Seine Gedanken purzelten durcheinander und fanden keine Klarheit. Seine Zuneigung zu dieser Frau war nicht verloren gegangen. Aber was bedeutete das nun?

Ein Klopfen an der bis zum Boden reichenden Fensterscheibe der Bäckerei riss ihn aus seinem Gedankenchaos. Draußen stand ein groß gewachsener Mann mit schwarzem vollem Haar und grauen Schläfen, teuer gekleidet. Wärmland musste augenblicklich an Gregory Peck denken, auch wenn das Gesicht dieses Mannes eine etwas dezentere Schönheit hatte als die des amerikanischen Filmstars. Der Mann lächelte und winkte ihnen zu. Nein, nicht ihnen, er winkte Frau Traveloe zu. Eine Bleiplatte legte sich auf Wärmlands Brust.

Frau Traveloe erwiderte das Winken und gab dem Mann ein Zeichen, hereinzukommen.

»Das ist George, mein Partner«, sagte sie an Wärmland gewandt. »Ich habe wohl die Zeit vergessen. Wir waren draußen am Brunnen verabredet. Er hat sich meinen alten Wohnsitz Schloss Bürresheim angesehen. Dorthin wollte ich ihn lieber nicht begleiten. Jetzt fahren wir weiter nach Heidelberg. Sie kennen das ja, Amerikaner haben so ihre Vorstellungen von Deutschland und werfen gern noch einen Blick auf das ein oder andere historische Gemäuer.«

George kam an ihren Tisch und begrüßte die neben ihm noch zierlicher wirkende Frau Traveloe, von der er ein strahlendes Lächeln erhielt. Sie stellte ihn und Wärmland einander vor. George sprach überraschenderweise ein recht gutes Deutsch, was er mit seiner Zeit als Jura-Austauschstudent in Berlin erklärte.

Die eben noch wahrgenommene Ahnung einer Verbindung zwischen ihm und Frau Traveloe schien Wärmland nun wie weggeblasen. Er hatte vielmehr den Eindruck, als habe es das eben geführte Gespräch nie gegeben. Die Atmosphäre am Tisch hatte sich gänzlich verändert, und Wärmland kam sich in diesem Moment so überflüssig vor wie selten in seinem Leben.

Das Paar verabschiedete sich, und Frau Traveloe vergrößerte Wärmlands Irritation noch, indem sie seine Hand einige Sekunden zu lange hielt. Eine stille Botschaft, dass es auch für sie nicht nur eine beliebige, unwichtige Begegnung gewesen war? Das konnte Wärmland in diesem Augenblick nicht ergründen. Aber es wäre ihm auch kein wirklicher Trost mehr.

Er sah dem sich entfernenden Paar nach und kam sich vor wie ein Schüler, der gerade von seiner Verabredung für den Abiball sitzen gelassen worden war. Er ärgerte sich maßlos über seine irregeleitete Wahrnehmung, die ihn gedanklich einen Weg hatte einschlagen lassen, der ihm jetzt, bei näherer Betrachtung, völlig absurd erschien. Diese Frau war für einen kurzen Moment in ihre alte Heimat zurückgekehrt, und sie waren sich unerwartet begegnet. Ein Zufall. Und er hatte vollkommen falsche Rückschlüsse daraus gezogen.

Wärmland wollte auf andere Gedanken kommen und sich ablenken, also lieh er sich einen heiteren Film aus, eine französische Komödie. Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er wirklich sehr oft herzhaft lachen müssen. Das gelang ihm nun allerdings bei Weitem nicht mehr, denn er war noch immer zu sehr gefangen in seinen Gedanken an dieses schmerzhafte Erlebnis. Trotzdem schlief Wärmland am Ende des Films, in dem ein französischer Postbeamter durch Betrug seine Versetzung an die Côte d’Azur beschleunigen wollte, auf seinem Sofa ein.

Leider verschaffte ihm auch der sich später einstellende Traum keine wirkliche Freude: Auf der Fahrt in den französischen Süden wurde er zwischen Lyon und Avignon von französischen Kollegen angehalten. Die Beamten entdeckten in seinem Kofferraum größere Mengen Kokain und Falschgeld, was die Verwirklichung seiner Reisepläne nachhaltig in Frage stellte. Als man ihn schließlich für den Abtransport zur Dienststelle in den französischen Dienstwagen befördern wollte, wurde Wärmland wach. Er fluchte und wünschte sich, er wäre dieser Frau nicht mehr begegnet.

* * *

Wärmland freute sich immer auf die Wochenenden mit seinem Sohn, und nach den Rückschlägen der beiden vergangenen Tage war seine Vorfreude auf die gemeinsame Zeit diesmal besonders groß. Er bedauerte nur, dass es nicht wie so oft schon am Freitagabend geklappt hatte mit dem Wiedersehen. Dann wäre ihm auch die Begegnung mit Frau Traveloe erspart geblieben – obwohl Wärmland sich eingestehen musste, dass sein Herz und sein Verstand immer noch darum rangen, welche Version tatsächlich die bessere gewesen wäre.

Wärmland fuhr nach Koblenz, am großen Kreisverkehr vor dem Polizeipräsidium in Richtung City und weiter geradeaus, bis er den Zentralplatz mit dem futuristischen »Forum Mittelrhein« rechts neben sich hatte. Dann bog er links in die Casinostraße ein. Stefan stand vor dem großen, alten Steintor, das den Zugang zum Schulhof des Görres-Gymnasiums markierte. Sein Basketballverein trainierte während der Renovierung der vereinseigenen Halle hier in der Schulsporthalle. Vor sehr vielen Jahren war Wärmland selbst einmal Schüler dieses altsprachlich humanistischen Gymnasiums gewesen. Er konnte sich allerdings nicht erinnern, dass sein Vater ihn damals auch hier abgeholt hätte. Aber er und seine Familie hatten in den siebziger Jahren ja auch noch gemeinsam in der Koblenzer Südstadt gelebt, lange vor der Trennung und Scheidung seiner Eltern.

Wärmland stoppte den Landrover, und Stefan sprang in den Wagen. Er begrüßte ihn mit einem »Hi, Papa« und umarmte Wärmland.

»Na, mein Großer, wie war’s beim Basketball?«, wollte Wärmland wissen. »Welches Rotkäppchen hat die meisten Körbchen gemacht?«

»Wenn du damit meinst, dass vermutlich ich es war, weil ich bei uns der einzige Basketballer mit rötlichen Haaren bin, hast du recht. Ich habe die meisten Körbe gemacht – jedenfalls in meinem Team«, entgegnete Stefan in nur mäßig erfreutem Tonfall.

»Soll das heißen, einer aus dem gegnerischen Team hat noch mehr gemacht? Habt ihr etwa verloren?«

»Ja, wir haben verloren. Weil die ein Monsterbaby in der Mannschaft haben. Völlig unnatürlich so was, vierzehn Jahre alt und einen Meter siebenundneunzig groß. Der ist doch bei den X-Men weggelaufen«, empörte sich Stefan. »Steht in der Zone rum wie ein verirrter Leuchtturm, wird permanent angespielt und legt einen nach dem anderen rein. So was gehört verboten.«

Wärmland konnte Stefans Unmut nachempfinden, aber er musste trotzdem schmunzeln.

»Wenn es nach mir ginge, müsste der bei Erwachsenen mitspielen«, schimpfte Stefan weiter. »Oder in der Mutantenklasse oder bei den Außerirdischen, aber nicht bei uns.«

»Du hast natürlich vollkommen recht«, pflichtete Wärmland ihm bei. »Beim Boxen gibt es schließlich auch verschiedene Klassen. Damit die Schwergewichte nicht auf die halb so schweren Fliegengewichte losgelassen werden.«

»Und das Schlimmste ist«, tönte Stefan, »dass der Typ ja noch wächst. Der wird wahrscheinlich aus purer Bosheit zwei Meter zwanzig groß, selbst wenn man ihm ab sofort die Nahrung entzieht.«

Aus diesem Schreckensbild entsprang eine lebhafte Erörterung des erforderlichen Regelwerks zur angemessenen Aufteilung in einzelne Basketballklassen, durch die eine gerechtere Spielsituation herbeigeführt werden würde. Wärmlands Schlussappell an Stefan mündete in der aufmunternden Aufforderung, die Neufassung der Spielregeln dereinst als Rechtsanwalt vor dem Europäischen Gerichtshof durchzuboxen. Stefan stimmte grundsätzlich zu, wies seinen Vater allerdings einschränkend darauf hin, dass er sich von einem basketballspielenden Mutanten keinen Beruf aufzwingen lasse.

»Apropos wachsen: Hast du Hunger, willst du was einwerfen?«, fragte Wärmland. Dafür erhielt er von Stefan einen missbilligenden Blick.

»Papa, wie sprichst du denn über den unvergleichlichen Genuss des Essens gegenüber einem Sohn, der sich anschickt, durch die exquisiten Kochkünste seiner Mutter zum Gourmet zu werden. Also wirklich!«

»Sorry«, antwortete Wärmland kleinlaut, »aber ich wusste nicht, dass sich seit unserem letzten Treffen vor vierzehn Tagen so viel geändert hat. Da warst du, glaube ich, auf der Gourmetskala noch bei Pommes mit Mayo. Doch es freut mich natürlich, wenn du zu derart großen Entwicklungssprüngen fähig bist. Vielleicht klappt das ja auch in anderen Disziplinen. Welcher Gourmettempel würde deinen Ansprüchen denn heute genügen?«

»Ich denke da zum Beispiel an das ›Rhodos‹ bei dir in Mayen. Da sind wir schon mal gewesen.«

Wärmland nickte. »Der Grieche in der Nähe vom Ostbahnhof.«

»Genau den meine ich«, bekannte Stefan zufrieden. »Der hat das beste Gyros, das ich kenne.«

Wärmland schaute zu Stefan. »Für einen kurzen Augenblick hab ich schon gedacht, die Gourmetnummer wäre echt. Ausgedacht von deiner Mutter, die dich unter der Woche nur noch mit edlen Häppchen aus dem Feinkostladen füttert, um mir das Leben an unseren gemeinsamen Wochenenden schwer zu machen.«

»So schlecht darfst du von Mama nicht denken, Papa. Sie mag dich irgendwie, auch wenn sie dich nicht gut leiden kann.«

Wärmland nahm das kommentarlos hin.

Sie verließen die Stadt und fuhren auf der A48 tiefer in die Eifel hinein. Hinter der sich zu ihrer Rechten sanft nach Norden senkenden Pellenz reckten sich markant die südlichen Vulkane der Hocheifel aus der Ebene. Wärmland liebte diesen Ausblick, der ihm den Weg von Koblenz nach Mayen mit immer neuen Farb- und Lichtspielen verschönte.

»Ganz schön bunt geworden, die Eifel«, bemerkte Stefan. »Vor zwei Wochen hatte es ja gerade mal angefangen. Aber jetzt ist es voll da, das bunte Herbstlaub.«

Sein Sohn hatte recht. Bevor sie die auf einem Höhenzug verlaufende Autobahn an der Ausfahrt Mayen verließen, sahen sie hinter der Stadt den tiefen Einschnitt des Flüsschens Nette. An seinen Hängen leuchteten die Farben des Waldes, der immer weiter nach oben kletterte und in die Wälder an Hochsimmer und Hochstein überging. Jedes Stück Laubwald schien mit dem nächsten um das schönste Herbstkleid zu wetteifern.

Sosehr Wärmland auch das frische Grün des Eifelfrühlings und die Wärme des satten Sommers liebte: Die Herbstzeit war unvergleichlich und wie ein Rausch.

»Papa, hast du eingeplant, heute oder morgen in die Berge hinter Mayen zu fahren und ein bisschen im Wald zu laufen?«, wollte Stefan wissen. »Ich hab den Camcorder dabei, den mir Onkel Walter geschenkt hat. Mit dem würde ich gern mal ein paar Naturaufnahmen machen. Du wirst staunen, wie hochauflösend das Bild ist und wie toll die Farben rüberkommen.«

»Na klar hab ich das«, erwiderte Wärmland. »Du glaubst doch nicht, dass ich unser bewährtes Konzept neuerdings in Frage stelle? Bei Scheißwetter massives Abhängen in meiner Bude mit dem Studium der besten Filme aller Zeiten, bei einigermaßen risikofreiem Outdoorwetter ohne Gefährdungspotenzial für ältere Väter dagegen krasse Streifzüge durch die wildromantische Eifel. Was sonst? Wir sollten diese Möglichkeiten weiter nutzen, wo wir sie schon so zum Greifen nah vor der Tür haben.«

Stefan nickte. »Da bin ich ja beruhigt. Ich dachte halt nur, so nach zwei Wochen, da bist du ja auch älter geworden. Hätte ja sein können, dass du inzwischen …« Er sprach es nicht aus, sondern grinste nur noch frech.

»Du vorlauter Bengel. Ich werde denen im Rhodos sagen, dass du ein Gyros Spezial mit viel scharfer Soße brauchst – und zwar ordentlich scharf«, erwiderte Wärmland und grinste ebenfalls.

Nachdem sie gegessen hatten, machten sie noch halt an einem Supermarkt und kauften ein, was sie für die kommenden dreißig Stunden zu benötigen glaubten. Dann ging es zur Wohnung. Sie verstauten alles im Kühlschrank oder im Vorratsraum und setzten sich an den Küchentisch, um das weitere Vorgehen zu besprechen.

»Ist heute vielleicht schon ein bisschen spät geworden für größere Ausflüge«, sagte Wärmland bedauernd, »aber such dir aus, wozu du Lust hast. Ich mach mit, auch wenn du die Hohe Acht mit einer Taschenlampe besteigen willst. Lieber wäre mir zwar etwas ohne Lampe. Aber halt dich nicht zurück.«

Da war sie wieder, Wärmlands »butterweiche Art«, alles anzubieten und zugleich eine kleine Einschränkung einzubauen. Stefan kannte das schon. »Findet hier nicht gerade der Lukasmarkt statt?«, wollte er wissen. »Da gibt es doch diese kinderfreundlichen Gewehre und hochwertigen Preise aus Plastik und Plüsch, die jedes Sammlerherz höherschlagen lassen. Das wäre doch was für uns, meinst du nicht, Papa? Ich könnte Mama einen großen Plüschbären schießen. Damit sie mal wieder jemanden zum Kuscheln hat.«

»Also Stefan, du bist wirklich frech, dich so zu Mamas Männerabstinenz zu äußern. Offiziell muss ich das missbilligen: Schäm dich. Inoffiziell könnte das aber wirklich die Lösung sein. Wir müssen nur darauf achten, dass wir auf jeden Fall ein Bärenmännchen schießen, damit auch während meiner Abwesenheit noch ein wenig männliche Autorität um dich ist.«

»Da bin ich aber froh, dass mein Vater ein Hauptkommissar ist, der die Geschlechter von Riesenplüschbären unterscheiden kann. Die hatten wir nämlich noch nicht im Biounterricht.«

Wärmland lachte. »Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du meine Fähigkeiten richtig zu würdigen weißt. Also, los geht’s. Schaffst du den kleinen Fußmarsch in die City?«

»Kein Problem, und wenn’s Probleme gibt: Dein Rollator hält mich auch noch aus.«

»Frecher Bengel, du.« Wärmland verpasste seinem Sohn mit der Faust einen leichten Knuff gegen den linken Oberarm. »Bestimmt hat dich deine Mutter angestiftet, mich mit bösen Bemerkungen über das Alter zu piesacken. Dabei bin ich eineinhalb Jahre jünger als sie.«

Nach zehn Minuten erreichten sie das Zentrum und überquerten die Ringstraße, sodass sie das Jahrmarktgelände an der Seite links unterhalb der Genovevaburg betraten. Es war zwar recht frisch an diesem Samstagnachmittag, aber es blieb trocken. Viele Besucher drängten sich zwischen den Ständen, und Wärmland kam es vor, als sei er in eine andere Welt gereist: Gerüche mit eher süßlichen Aromen von Zuckerwatte, Waffeln, Crêpes und Popcorn wechselten sich ab mit herzhaften Düften von Würsten, Gulasch, Hähnchen, Haxen, Burgern und Pommes frites. Lange konnten er und Stefan nicht widerstehen. An einem Süßigkeitenstand erwarben sie eine große Tüte gezuckerte Colafläschchen, die mochten beide besonders gern. Doch der ersten kurzen Begeisterung für die süßen Dinger folgte bald der Appetit auf etwas richtig Herzhaftes.

Stefan lenkte Wärmlands Aufmerksamkeit auf einen Stand, der sogenannte Bio-Burger im Angebot hatte, die angeblich nur aus Zutaten aus der Region hergestellt wurden. Wärmland argumentierte zwar, dass dies nicht die einzigen Produkte aus der Region seien, schloss sich dann aber Stefans Bestellung an. Gerade wurde ein Stehtisch frei, und so konnten die beiden in Ruhe ihrer Mahlzeit zusprechen, die durch ein alkoholfreies Radler für Wärmland und eine Cola für Stefan abgerundet wurde. Während des Essens beobachteten sie fasziniert das quirlige Treiben. Sie bedauerten einen schmächtigen Vater mit zwei überaus fetten, nörgelnden Söhnen, lachten heimlich über einen zu fein angezogenen Mann mit einem Kleinkind auf dem Arm, das seine Eiswaffel auf das Revers des väterlichen Jacketts entleerte, und freuten sich am Anblick einer jungen, hübschen Frau in einem mittelalterlichen Kostüm, die sich auf hohen Stelzen geschickt durch die Menge zu bewegen verstand.

Nach dem Essen zogen die beiden weiter, bis sie einen Stand erreichten, an dem man Dosen werfen konnte. Das Ergebnis war nicht besonders beeindruckend, und es gab auch keine Plüschbären als Gewinn. Die sahen sie erst auf einem der großen Lotteriewagen. Er war mit der typischen Unzahl unnötiger Geschenkartikel bestückt, darunter ein riesiger rosafarbener Plüschbär. Wärmland und Stefan kamen überein, dass sie es mit einem Einsatz von fünf Euro versuchen wollten, nicht mehr. Stefan suchte die Lose aus. Als Gewinn konnten sie dann eine quietschende Badeente mitnehmen – das war ja zumindest schon mal ein Anfang.

Sie steuerten schließlich einen Schießstand an, und dort blieben sie eine Weile. Die Preise waren dabei nicht das Entscheidende, sondern die Herausforderung, einen präzisen Schuss zu platzieren, obwohl die dafür bereitstehenden Krachlatten alles andere als zielgenaue Präzisionsgewehre waren. Da es auch hier keine Riesenplüschbären zu erringen gab, suchten sie sich als Preis kleinere Stofftiere aus, die Stefans Mutter, sollte sie nicht selbst damit kuscheln wollen, im Rahmen ihrer ehrenamtlichen Arbeit für arme Kinder in der Dritten Welt an diese weitergeben konnte.

Wärmland wechselte mit Stefan noch zu einem weiteren Schießstand, und sie versuchten sich auch an anderen Buden mit Geschicklichkeitsspielen. Als die Sonne hinter den westlichen Eifelbergen zu versinken begann, bot Wärmland seinem Sohn eine abschließende Fahrt mit dem Riesenrad an. Er wusste natürlich, dass Stefan wie er selbst unter einem gewissen Maß an Höhenangst litt, aber das Riesenrad stand so erhaben und unübersehbar da, dass er den Vorschlag einfach machen musste. Anders als im Vorjahr willigte Stefan diesmal ein.

»Du hast dir wirklich ein hübsches Geburtsstädtchen ausgesucht«, sagte Stefan, als beide die ungewohnte Perspektive auf sich wirken ließen. Aus über vierzig Metern Höhe blickten sie auf die Doppeltürme von Wärmlands Taufkirche Herz Jesu, die imposante Genovevaburg und den schiefen und verdrehten Turm von St.Clemens hinunter. Auch in Richtung Norden ging der Blick, wo sich die bunten Herbstwälder durch das Nettetal bis zur Stadtgrenze hinzogen, überragt vom breiten und mächtigen Vulkankegel des Mayener Hausbergs Hochsimmer.

Wärmland genoss den Augenblick und die Gegenwart seines Sohnes. Beides legte sich wie ein wärmender Schal um seine Seele. Er war dankbar für das gute Verhältnis zu seinem Sohn. Viel zu oft hatte er in seinem Umfeld miterlebt, wie sehr die Pubertät Irritationen, Störungen und Zerwürfnisse mit sich bringen und Kinder und Eltern voneinander trennen konnte. Wärmland war sich zwar bewusst, dass Stefan gerade erst mit seiner Pubertät begonnen hatte, aber er rechnete sich zumindest eine Chance auf eine mildere Version ohne die ganz krassen Auseinandersetzungen aus.

Als Vater und Sohn schließlich wieder unbeschadet am Boden waren, machten sie noch einen Abstecher zu Wärmlands Stammvideothek, wo sie sich die üblichen zwei Filme für den von ihnen angestrebten gemütlichen Kinoabend vor dem Fernseher ausliehen.

In Wärmlands Wohnung machten sie es sich dann auf der Couch bequem, jeder ausgestattet mit seinem Lieblingsdessert. Aber Stefan schien irgendwie nicht so richtig bei der Sache zu sein. Noch bevor sie den Film starteten, fragte Wärmland, was los sei. Stefan, der mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen war, schaltete sofort auf Normalpräsenz und schob seine »Abwesenheit« auf seine Müdigkeit und Gedanken an die in der kommenden Woche anstehende Mathearbeit. Und das, so wisse Wärmland doch, sei ja immerhin ein Problemfach für ihn.

»Okay, das erklärt jede Art von Minidepression«, räumte Wärmland ein. »Die hatte ich in deinem Alter auch. Dieses überbordende mathematische Verständnis hast du wohl leider von uns beiden geerbt, denn deine Mutter war da auch keine Leuchte. Aber versuch jetzt mal abzuschalten, dafür ist das kurze Wochenende mit deinem Vater nämlich ausdrücklich gedacht. Oder willst du noch lernen?«

Stefan verneinte energisch.

»Na, dann lass uns doch einfach mal gucken, wie Gerard Butler das Weiße Haus rettet, ohne Angst vor nichts und niemandem. Und schon gar nicht vor Mathe. Vielleicht können wir uns da noch was für unser eigenes Leben abgucken. Falls dich deine Mutter mal als Geisel nimmt und du dich aus dem dritten Stock abseilen musst.«

»Das passt wohl eher in deine Welt, Papa, du bist bei der Kripo«, wiegelte Stefan ab. »Aber, wie Mama immer sagt: Eines sollte ich auf keinen Fall tun. Meinen Vater ernst nehmen.«

»So etwas sagt deine Mutter? Na, dann wundert es mich nicht, dass all meine Erziehungsversuche an dir abprallen. Ich bin enttäuscht, dass du dich so leicht manipulieren lässt.«

Stefan winkte ab. »Lass uns lieber aufhören damit, Papa, ja? Am Ende weiß ich sonst gar nicht mehr, was ernst ist und was nicht. Ich bin ein junger Mensch in der Entwicklung, da soll sich nichts Negatives in mein Unterbewusstsein legen.«