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Hamburgs coolstes Ermittlerduo ist zurück! Zwei aufsehenerregende Morde, eine dunkle Geschichte aus der Vergangenheit und ein spektakulärer Showdown auf der zugefrorenen Alster. Im frühen Morgengrauen eines Januartages stößt eine Stand-up-Paddlerin im Alsterkanal mit einer Leiche zusammen. Juha und Lux, die nach der spektakulären Lösung ihres ersten gemeinsamen Falls zur Mordkommission des LKA Hamburg gewechselt sind, übernehmen – doch das Sterben geht weiter. Auf dem Handy des Getöteten müssen sie live mit ansehen, wie dessen Geschäftspartner gefesselt in einer Sauna um sein Leben kämpft. Jede Rettung kommt zu spät. Die Spuren führen zu einem Freundeskreis erfolgreicher junger Menschen, die sich bereits aus Studententagen kennen. Juha ahnt, dass sie unter ihnen den Täter finden, doch die Verbliebenen hüllen sich in Schweigen. Entschlossen graben sich die beiden Ermittler tiefer in den Fall, der für Lux bald überraschend persönlich wird und die tiefe Freundschaft zwischen ihnen auf die Probe stellt. Stück für Stück offenbart sich eine Geschichte, die ihren verhängnisvollen Anfang Jahre zuvor nahm und sich seitdem unaufhaltsam in die Gegenwart frisst.
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Seitenzahl: 535
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nikolas Kuhl • Stefan Sandrock
Juha und Lux vom LKA Hamburg ermitteln
Kriminalroman
Tödlich wie ein feiner Riss im Eis
In einem Kanal treibt der leblose Körper eines jungen Unternehmers. Kurz darauf erstickt sein Partner qualvoll in seiner eigenen Sauna – eine Szene des Grauens, die Juha und Lux vom LKA Hamburg in einer Liveschaltung mitansehen müssen.
Erste Ermittlungen führen zu zwei ungleichen Schwestern; die eine erfolgreiche Ärztin, die andere eine Aussteigerin, die im Wald lebt.
Die Kommissare stoßen auf ein schreckliches Ereignis in der Vergangenheit, das tödlich endete – und dessen Auswirkungen sich wie feine Risse bis in die Gegenwart ziehen.
Hamburgs coolstes Ermittlerduo ist zurück!
Stimmen zu «Das Dickicht»:
«Ein überaus spannendes Debüt.» Hamburger Abendblatt
«Ein genialer Serienauftakt – ein Cold-Case-Krimi der Extraklasse und sprachlich ein echtes Goldstück.» Instagram: matoms_buecherwelt
Nikolas Kuhl (geb. 1986 in Münster) ist neben seiner Autorentätigkeit Kopf der Rockband Giant Crow.
Stefan Sandrock (geb. 1976 in Bilbao) tourte jahrelang mit seiner Punkband durch die Welt. Heute arbeitet er als Journalist und Autor.
Beide studierten an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Sie begegneten sich bei Ausstellungen und Filmscreenings, zelteten bei einem Filmfest zufällig nebeneinander im Wald – und begannen schließlich, gemeinsam Drehbücher zu schreiben und Kurzfilme zu drehen. Irgendwann fragte Sandrock: «Wollen wir nicht einen Krimi schreiben?» Kuhl antwortete: «Auf keinen Fall.» Dies ist der zweite Krimi des Duos.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung semper smile, München
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-01966-9
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Judith
Mit gleichmäßigen Zügen glitt sie auf ihrem Board über den breiten Kanal in die Morgendämmerung und stieß ihren Atem in kleinen Wolken vor sich her. Links und rechts zogen eingeschneite Gärten und unberührte Stege vorüber. Hinter einem einzelnen beleuchteten Fenster sah sie verschlafene Eltern, die mit ihren bereits fidelen Kindern frühstückten. Hier und da leuchtete eine vergessene Weihnachtsdekoration. Doch hinter den meisten Fenstern war es dunkel. Die Stadt schlief noch.
Das Eintauchen ihres Paddels war das einzige Geräusch in der Stille. Sie hatte weniger das Gefühl, sich zu bewegen, als vielmehr den Eindruck, dass die Welt an ihr vorbeigeschoben wurde. Genau das Gefühl, das sie an diesem Morgen brauchte, nachdem sie sich letzte Nacht hin und her gewälzt hatte, ohne Schlaf zu finden. Wie in einem Hamsterrad hatte sie sich gefühlt, ihr Herz war galoppiert, und die Gedanken waren ihr durch den Kopf gerast, nur von der Stelle gekommen war sie nicht. Gejagt und gelähmt zur gleichen Zeit. Sobald sich der Himmel merkbar aufgehellt hatte – wirklich dunkel war der Himmel über Hamburg nie, dafür sorgten die riesigen Scheinwerfer des Hafens –, war sie nur mit Thermounterwäsche bekleidet nach unten in den Fahrradkeller gegangen, der auch als Lagerraum für Kanus und Boards diente. Dort hatte sie ihren Trockenanzug angezogen, sich das Board unter den Arm geklemmt und war die paar Schritte durch den knöchelhohen Schnee zum Kanal gestapft. Es hatte tatsächlich geschneit. Und zum ersten Mal, seit sie in Hamburg lebte, blieb der Schnee auch liegen.
Ihr war klar, dass es trotz Trockenanzug nicht ungefährlich war, bei diesen Temperaturen aufs Wasser zu gehen, vor allem alleine. Aber sie war geübt genug, um nicht mehr vom Board zu fallen, und außerdem würde sie in Ufernähe bleiben. Kein Risiko eingehen war das erste Gebot. Das zweite Gebot war die Form. In aufrechter Haltung, mit leicht gebeugten Knien, stand sie auf dem Board und zog das Paddel durchs Wasser. Es hatte etwas Erhabenes, und sie fühlte sich wie die Angehörige eines indigenen nordischen Volkes, die in stoischer Seelenruhe den Fjord überquerte, um ihre Jagdgründe zu erreichen. Es war windstill, ein paar einzelne Schneeflocken taumelten über das glatte Wasser.
Das hallende Rumpeln eines einzelnen Autos, das über die Brücke raste, die sie gerade unterquerte, riss sie aus ihrem meditativen Zustand. Sofort stürmten die Gedanken von letzter Nacht wieder auf sie ein. Nicht einmal hier auf dem Wasser war sie vor der Agentur-Tretmühle, in der sie seit vier Monaten für einen Hungerlohn schuftete, sicher. Sie atmete tief durch und konzentrierte sich auf das Board unter ihren Füßen und das Paddel in ihrer Hand. Nicht zum ersten Mal dachte sie daran, wie es wäre, einfach auszuwandern, nach Lappland, Alaska oder warum nicht gleich Grönland, den ganzen Mist hier hinter sich lassen. Ja, warum eigentlich nicht gleich …?
Sie stieß mit dem Paddel auf einen vorbeischwimmenden Baumstumpf, den sie übersehen hatte, und verlor das Gleichgewicht. Im letzten Moment fing sie sich, und es gelang ihr, ihren Stand zu stabilisieren. Das war knapp. Sie drehte sich um; das war ein ganz schöner Brocken gewesen. Mit ihrem Paddel hatte sie ihn unter Wasser gedrückt, die helle Färbung zeichnete sich unter der gewellten Oberfläche ab. Erst als der Auftrieb das weißliche Ding mit einer zynischen Gelassenheit wieder nach oben beförderte, sah sie, dass es sich nicht um ein Stück Holz handelte. Sie schrie auf und machte unwillkürlich einen Schritt zurück, während sie den blassen Körper reflexartig mit ihrem Paddel von sich stieß. Diesmal hatte sie keine Chance, das Brett neigte sich, und sie stürzte in das eiskalte Wasser.
Die Kälte umschloss Juha ganz, umgab ihn wie eine zweite Haut. Das Geräusch hallte noch in seinen Ohren nach; ein kurzer, durchdringender Ton, als würde eine gigantische Gitarrensaite reißen, dann war das Eis unter ihm gebrochen. Er schrie, doch statt eines Schreis stoben nur Blasen aus seinem Mund und mit ihnen alle Luft, die er in seinen Lungen hatte. Die Wasseroberfläche war nur einen halben Meter über ihm. Er zappelte, seine Arme und Beine aber waren wie gelähmt, und seine Kleidung, die sich mit jeder Sekunde weiter mit Wasser vollsog, zog ihn nach unten. Das gedämpfte Blubbern aus seiner Kehle erstarb. Das war es dann wohl, dachte Juha und gab den lächerlichen Versuch zu schwimmen auf. Er vernahm ein entferntes Klingeln. Langsam ließ er sich sinken, den Blick dem hellen Licht über sich zugewandt. Wieder ein Klingeln, diesmal lauter. Da tauchte ein großer Schatten in dem hellen Lichtkranz über ihm auf, und nur Augenblicke später griff eine riesige Hand nach ihm und wuchtete ihn mühelos aus dem Wasser, als wäre er eine Stoffpuppe. Juha riss den Mund auf und atmete tief ein, da war er schon wach.
Er starrte blinzelnd an die Decke, auf den Wasserfleck, den Maria und er schon so oft übermalt hatten und der einfach immer wieder zurückkam. Kurz versuchte er sich zu erinnern, ob Maria ihn geweckt hatte, als sie aufgestanden war – sie hatte heute zur ersten Stunde –, da klingelte das Telefon. Er tastete danach, ohne den Blick von der Decke zu nehmen.
«Korhonen?»
«Man kann auf dem Display sehen, wer anruft. Oder sprechen wir uns neuerdings wieder mit Nachnamen an?»
«Hallo, Lux. Nein, ich hab nur eben …» Juha rieb sich die Augen.
«Hast du noch geschlafen?»
«Wie spät ist es?»
«Kurz vor sieben.»
«Dann hab ich natürlich noch geschlafen. Ach Shit, mein Vater muss bestimmt pinkeln.»
«Habt ihr immer noch nichts für ihn?»
«Nee. Was gibt’s denn?» Juha stand auf und merkte, dass die Schwere, die er während seines Traumes verspürt hatte, beim Aufwachen immer noch an ihm hing.
«Eine Leiche im Osterbekkanal. Eine Paddlerin hat sie gefunden, ich bin schon auf dem Weg, Höhe Barmbeker.»
«Ach, schön, das ist ja bei mir um die Ecke.»
«Ja, wirklich schön. Männliche Wasserleiche bei Schnee und Minusgraden, dazu noch in aller Herrgottsfrühe; was will man mehr?», sagte Lux mit kaum hörbarem Sarkasmus.
«Alles klar, ich kümmere mich kurz um meinen Vater und mach mich auf den Weg, bis gleich.»
«Liebe Grüße.»
«Richte ich aus.»
Juha legte auf und zog sich seine Hose an. Sein Vater Wally, der eigentlich sein Ziehvater war, ein äußerlich gezeichneter, jedoch vom Punk jung gehaltener Musiker, wohnte seit einem Schlaganfall vorübergehend bei ihnen. Nur bis sie ein geeignetes Apartment oder eine betreute WG oder so etwas gefunden hätten, so hatte es geheißen. Doch nun hauste Wally schon seit fast drei Monaten im Gästezimmer.
«Zum Glück hat das Haus einen Fahrstuhl», hatte Juha gesagt, und Maria hatte geantwortet: «Ja. Was für ein Glück.»
«Guten Morgen, Vadder. Musst du mal?»
«Hab ich schon.»
«Hä? Du hast nicht wirklich …?»
«Nein, ich hab die Flasche benutzt, die kannst du mal ausleeren. Ich mag das nicht, wenn das da so rumsteht.»
«Aber ist doch irgendwie Punk, so ’ne Urinflasche neben dem Aschenbecher, oder?»
«Früher haben wir in leere Bierflaschen gepinkelt, wenn wir zu faul waren, zum Klo zu gehen. Also, vor deiner Zeit, meine ich.»
«Vermutlich auch vor Mamas Zeit», sagte Juha, trug die halb volle Plastikflasche ins Badezimmer und kippte den Inhalt ins Klo. Als er zurückkam, hatte sich Wally eine Zigarette angezündet.
«Vadder, bitte, du sollst hier echt nicht rauchen, Maria flippt aus.»
«Sie ist aber nicht da. Und wenn ich morgens eine rauche und dann lüfte, riecht man es abends nicht mehr.»
«Laut Aschenbecher ist es aber schon die dritte.»
«Bist du jetzt bei der Polizei, oder was?»
«Mach keine Witze über dein Gehirn, das ist nicht lustig», sagte Juha, während er Wally eine Jogginghose anzog.
«Ihr solltet mal in Erwägung ziehen zu verreisen, Maria und du. Ich habe das Gefühl, ihr müsst mal raus. Da sind so Spannungen in der Luft, wenn du mich fragst.»
«Ja, das wär nicht schlecht», schnaubte Juha und versuchte sich an einem Grinsen. «Aber falls dein gefälltes Gehirn es tatsächlich vergessen hat, ich bin Polizist und muss hart arbeiten.» Seit er und Lux ins LKA 41 für Todesermittlung versetzt worden waren, war die Situation zu Hause tatsächlich etwas angespannt, und ein Urlaub täte Maria und ihm sicher gut. «Außerdem, was fangen wir dann mit dir an, Vadder?»
«Mach dir um mich keine Gedanken, ich komm schon irgendwie klar.»
«Okay, Vadder, ich setze dich noch um, und in zwanzig Minuten kommt Frau Malong und macht den Rest.» Frau Malong war die Pflegerin vom ambulanten Dienst, die jeden Tag für ein paar Stunden vorbeikam. Sie hatte schnell eine Schwäche für Wally entwickelt und ließ ihm sogar die Zigaretten durchgehen.
Juha kniete sich mit einem Bein auf das Bett, legte einen Arm unter Wallys Kniekehlen, den anderen um seine Schultern und setzte ihn in einer runden Bewegung auf die Bettkante. Den Dreh hatte er mittlerweile ganz gut raus.
«Es könnte später werden heute. Ich hab einen neuen Fall. Wenn ich es nicht zum Abendessen schaffe …»
«… bestell ich mir was. Leiche?»
«Oder Pizza?» Juha hob feixend die Augenbrauen. «Ja, Wasserleiche.» Er positionierte den Rollstuhl längs neben dem Bett, zog die Bremse an.
«Lecker!»
«Total. Liebe Grüße von Lux übrigens.»
«Danke, zurück.»
Juha griff unter Wallys Arme und zählte bis drei. Wally stemmte sich mit dem gesunden Bein hoch, Vierteldrehung, dann saß er im Rollstuhl.
«Alles klar, Vadder?»
«Alles klar, Sohn.»
Tatsächlich lag der Fundort der Leiche am Osterbekkanal nur fünfzehn Minuten zu Fuß von ihrer Wohnung entfernt. Juha brauchte länger, denn über Nacht hatte es seit Langem einmal wieder richtig geschneit, und viele Fußwege waren noch nicht geräumt. So selten es in Hamburg schneite, noch seltener blieb der Schnee liegen. Juha genoss den Weg und beeilte sich nicht. Was für ein wunderbarer Winter, dachte er.
Lux zog nun schon zum dritten Mal, seit er Juha angerufen hatte, sein Handy hervor. Währenddessen versuchte er, seine linke Hand tief vergraben in der Tasche seines Kamelhaarmantels an einem Franzbrötchen zu wärmen. Er mochte eigentlich keine Franzbrötchen, und warm war es inzwischen auch nicht mehr. Aber da er heute noch nichts gegessen hatte und es bei dem Bäcker, vor dem er den Dienstwagen abgestellt hatte, keine vegetarisch belegten Brötchen mehr gab und er den Laden nicht mit leeren Händen hatte verlassen wollen, war das süße Gebäck die beste Alternative gewesen. Jetzt steckte es allerdings nutzlos in der Manteltasche. Lux hatte keinen Hunger. Auch wenn er es sich ungern eingestand, er war nervös. Zwar waren ihm, seit er und Juha nach der spektakulären Lösung des Boysen-Falls vor einigen Monaten ins LKA 41 gewechselt waren, bereits ein paar Tote begegnet, hauptsächlich Unfälle, Selbsttötungen und ein Totschlag, der bereits am selben Tag, noch vor Dienstschluss, aufgeklärt war. Aber diese Leiche war etwas anderes, das hatte Lux gleich im Gefühl gehabt, und er hoffte, dass dieses Gefühl nicht nur seinem Wunsch entsprang, endlich seine erste Mordermittlung zu leiten. Er schaute auf das Display. Fünfundzwanzig Minuten waren seit dem Anruf vergangen. Juha war sicher schon in der Nähe. Lux schaute hoch zur Brücke, wo er ihn erwartete, und ließ dann seinen Blick über das verschneite Areal am Kanal gleiten.
Menschen in weißen Overalls, die ihnen aufgrund der Wetterlage zu Tarnanzügen gereichten, bearbeiteten den Uferbereich um die Fundstelle, und ein Pavillon mit blickdichten Wänden war aufgebaut worden. In der Nähe der Brücke hatten die Taucher Stellung bezogen und sogar einen kleinen Tisch aufgestellt, auf dem dampfende Tassen standen, die wegen der professionellen Hektik jedoch bislang ignoriert worden waren.
Lux hatte es sich glorreicher vorgestellt, als Erster am Tatort zu sein. Zugegeben, er hatte bisher alles richtig gemacht. Hatte die Kollegen von der Spurensuche koordiniert, Johanna geholfen, den Pavillon aufzubauen, in dem sie gerade den Leichnam untersuchte, und dann kurz mit den Tauchern abgesprochen, in welchem Bereich des Kanals als Erstes nach Hinweisen getaucht werden sollte. Aber seitdem er untätig etwas abseits stand, hatte sich langsam der Zweifel angeschlichen, zumal ihm nicht entgangen war, dass die Kollegen sich müde zunickten und hinter vorgehaltener Hand «Suizid» raunten. Nun wurde das Tischchen mit dem Kaffee doch besucht, und eine Gemächlichkeit machte sich breit, die der zunehmenden Überzeugung geschuldet war, dass man es hier mit einem Selbstmord zu tun hatte. Der Knall, den ein Anwohner gehört haben wollte, wurde einem Resteböller von Silvester oder einer Fehlzündung zugeschrieben. Jetzt konnte er wirklich langsam Unterstützung gebrauchen. Wo blieb Juha nur? Und warum war die Sorge um seinen Kollegen so ungleich kleiner als die, das hier alleine durchziehen zu müssen? Er wollte gerade sein Handy wieder aus der Tasche ziehen, da sah er Juha, der auf der Brücke ans Geländer trat. Lux fiel ein Stein vom Herzen. Er winkte ihm zu und dann der jungen Polizistin, die er gebeten hatte, Juha oben auf der Brücke abzufangen und ihm den etwas umständlichen Weg zu zeigen, der durch das anliegende Haus zum Kanalufer führte.
Die Unsicherheit war auf einmal wie weggeblasen, sobald Juha aus dem Haus kam. Lux zeigte ihm mit einer kurzen Geste, welchen Weg er nehmen sollte, damit er nicht auf eine Fläche trat, die bisher noch nicht untersucht worden war. Auch wenn er sich nicht viel Hoffnung machte, dass sie unter der frischen Schneedecke wirklich etwas fanden, das ihnen als Hinweis dienlich wäre.
Als Juha neben ihm stand, fröstelte Lux bei dessen bloßem Anblick. «Wie kannst du bei den Temperaturen im Sakko rumrennen?»
Er selbst hingegen war absurd dick eingepackt. Liebevoll spöttisch blickte Juha an ihm auf und ab. «Ich trage doch einen Schal. Siehst du?» Er zupfte an dem schmalen Stück rotem Stoff, das locker um seinen Nacken baumelte.
«Das Ding sieht aus, als hättest du es einer Achtjährigen geklaut.»
«Erwischt. Den hat Marias Nichte bei uns vergessen.» Juha überblickte den Ort des Geschehens. «Na, schieß mal los.»
«Männliche Leiche, wurde heute Morgen gegen sechs Uhr hier im Kanal gefunden; wir haben ihn schon rausgeholt.»
«Ist jemand von der Rechtsmedizin da?»
«Johanna ist im Pavillon und schaut ihn sich an.» Lux zeigte in die Richtung. Juha grinste ihn vielsagend an. Er hatte Lux schon ein paarmal damit aufgezogen, dass er angeblich immer Johanna anforderte, wenn er derjenige war, der die Rechtsmedizin hinzuzog. Lux hatte keine Lust, darauf einzugehen, und setzte sich einfach in Bewegung. «Letzte Nacht gegen null Uhr dreißig ging ein Anruf in der Zentrale ein, bei dem jemand angab, einen Schuss gehört zu haben.» Er sah sich um, zeigte auf das nächste Haus stromabwärts. «Der Anrufer müsste dort wohnen.»
Juha folgte seinem Blick. «Haben die Kollegen das überprüft?»
«Eine Streife ist vorbeigefahren, ihnen ist aber nichts weiter aufgefallen.»
«Das kann was auch immer gewesen sein. Solche Anrufe haben wir ja täglich.»
«Aber meistens finden wir dann am nächsten Morgen keine Leiche.»
Juha nickte.
Als sie den Pavillon betraten, warf er Johanna ein fröhliches «Guten Morgen, Johanna, wie geht’s?» zu und verstummte abrupt, als sein Blick auf die Leiche fiel. Lux konnte es ihm nachfühlen. Es gab wahrlich angenehmere Anblicke als den einer Wasserleiche.
«Geht so», antwortete Johanna und schob sich eine rote Haarsträhne unter die OP-Haube. «Ich habe mir heute früh drei Rollmöpse in die Brotdose gelegt. Die kann ich jetzt wegwerfen.»
Es war weniger der Geruch der Leiche, das kalte Wasser hatte sie offenbar frisch gehalten, sondern eher Farbe und Konsistenz, die tatsächlich ein wenig an die Innenseite eines Heringsfilets erinnerten. Johanna hatte den Toten bereits entkleidet und untersuchte ihn auf Hämatome und andere Spuren. Lux schätzte, dass der Mann etwa Anfang dreißig war, gut gebaut, aber nicht der Typ Muskelprotz. Er hatte eher die Statur eines angesagten Fußballers, der mindestens genauso auf sein Sixpack wie auf seine Technik bedacht war und nebenbei einen Vertrag mit einer großen Modemarke hatte. Dem aktuellen Werbeideal entsprechend, war nicht nur das Gesicht, sondern auch die Brust makellos glatt rasiert, und der letzte Friseurbesuch konnte nicht länger als ein paar Tage her sein.
Juha betrachtete die eingetüteten Kleider des Toten: Hemd, Hose, Unterwäsche. «Keine Schuhe?»
«Keine Schuhe. Keine Mütze. Keine Jacke. Entweder war er noch kälteresistenter als du», Johanna ließ den Blick demonstrativ am luftig gekleideten Juha auf und ab gleiten, «oder er ist vom Sofa direkt in den Kanal gerollt.»
Lux musste schmunzeln und war gleichzeitig etwas erschrocken. Der morbide Humor der Pathologen: Markenzeichen, Berufskrankheit, Notwendigkeit. Jemand, der einen Großteil seiner Zeit in der Gesellschaft Toter verbrachte, hatte dieses Ventil offenbar nötig, man konnte es ihr nicht verübeln.
«Kannst du uns sonst schon was sagen?»
«Der Tote hat keine äußeren Verletzungen bis auf ein paar Hämatome auf dem Rücken. Nichts, was auf äußere Gewalteinwirkung schließen lässt.»
«Keine Schusswunde?», sagte Lux mehr zu sich selbst.
«Wie kommst du auf Schusswunde?»
«Jemand hat heute Nacht einen Knall gemeldet», klärte er Johanna auf.
Sie nickte. «Wenn auf ihn geschossen wurde, hat der Schütze jedenfalls nicht getroffen.»
«Also ertrunken oder erfroren?», fragte Juha.
«Beides. Aber was nun genau die Todesursache war, kann ich noch nicht sagen. Außer eben: Sturz ins Wasser um den Gefrierpunkt. Da passiert im Körper vieles gleichzeitig. Die Thermorezeptoren in der Haut sorgen dafür, dass das Opfer unfreiwillig tief einatmet. Tachykardie, Tachypnoe, Hyperventilieren. Kennt man ja, wenn man in einen kalten See steigt. Das Herz schlägt schneller, und man japst nach Luft. Die Reaktionen sind desto stärker, je kälter das Wasser und je größer die Hautfläche ist, die unmittelbar mit dem Wasser in Berührung kommt.»
Juha steckte die Hände in die Taschen und beugte sich über den Körper: «Ich bin als Kind mal im Eis eingebrochen.» Lux schaute Juha erschrocken an, der schürzte nur die Lippen. «Mein Großvater hat mich rechtzeitig herausgezogen.»
«Shit», murmelte Lux leise, während Johanna fortfuhr. «Die Kälte war möglicherweise dafür verantwortlich, dass er nach nur wenigen Sekunden das Bewusstsein verloren hat und anschließend ertrunken ist. Aber vielleicht hat auch schon der Aufprall gereicht.»
«Der Aufprall?»
Johanna beugte sich vor. «Lucas, hilf mal kurz.»
Lux zog sich schnell Handschuhe über und half dann, den Leichnam auf die Seite zu drehen.
«Die erwähnten Hämatome – schon mal ’nen Rückenklatscher vom Zehner gemacht?»
«Autsch. Gott sei Dank nicht», sagte Juha, als er sich die großflächigen Flecken auf dem Rücken des Mannes ansah.
«Das hier waren locker zehn Meter, schätze ich. Und bei diesen Temperaturen ist die Oberflächenspannung des Wassers ziemlich hoch. Kann reichen.» Sie ließ die Leiche wieder sinken und machte ein paar Schritte aus dem Pavillon heraus, deutete mit dem Kinn nach oben auf die gegenüberliegende Seite des Kanals, wo es kein Ufer gab, sondern die Häuser direkt an das Wasser grenzten. «Wenn ihr mich fragt: so grob die Höhe der oberen Balkone da.»
Lux und Juha traten neben sie und folgten ihrem Blick.
«Klingt einleuchtend und würde auch dazu passen, dass er keine Schuhe trug, wenn er quasi … direkt von zu Hause kam.» Lux vollzog mit seinem Blick den Weg eines fallenden Körpers vom Balkon bis in den Kanal nach und ließ ihn dann auf dem Wasser ruhen. «Kannst du sagen, seit wann er tot ist?»
«Noch nicht, und das wird auch echt schwierig bei der Wassertemperatur.»
«Geraten?»
«Ich denke, mit ‹ein paar Stunden› liegen wir nicht ganz falsch.»
«Null Uhr dreißig könnte also hinkommen», hakte Lux nach.
«Da wurde der Knall gemeldet? Könnte passen», bestätigte Johanna auf Lux’ Nicken hin.
«Okay. Danke, Johanna. Wir klopfen dann mal an ein paar Türen», sagte Juha, nickte Lux zu und wandte sich zum Gehen. Auch Johanna machte sich auf den Weg zurück zum Pavillon.
Lux fror, und er schob seine Hände tief in die Manteltaschen. «Ach, Johanna.» Er war mit ein paar Schritten bei ihr, zog das Franzbrötchen aus der Tasche und reichte es ihr. «Als Ersatz für die Rollmöpse.»
Johanna nahm die Tüte, schaute kurz hinein und lächelte ihn dann an. «Sicher? Du bist echt ein Schatz, weißt du das?»
Juha grinste wieder vielsagend, als Lux zu ihm aufschloss. «Lass das bitte», sagte Lux.
Juha und Lux bogen in die Straße ein, die parallel zum Kanal verlief. Nach einigen Metern blieben sie vor einem Hauseingang stehen.
«Müsste es sein, oder?», sagte Lux.
«Glaub auch.» Juha drückte eine der Klingeln ganz oben, auf der Wichmann stand. «Um die Uhrzeit, da sind die meisten Leute ja noch zu Hause, oder?»
Doch es regte sich nichts. Juha versuchte eine weitere Klingel. Fast unmittelbar erklang die Stimme einer Frau aus der Gegensprechanlage. «Hallo?»
«Guten Morgen, entschuldigen Sie die Störung. Mein Name ist Juha Korhonen, LKA Hamburg. Kann ich mit meinem Kollegen kurz raufkommen?» Ohne ein weiteres Wort wurde der Türsummer betätigt. Das Haus war ein Neubau, kaum älter als fünf Jahre, und in dieser Lage dürfte die Miete ein hübsches Sümmchen betragen. Sie stiegen in den Fahrstuhl und einigten sich mit einem Blick darauf, direkt in den vierten Stock zu fahren, in der Annahme, dass sie dort geklingelt hatten.
Die Frau – Juha schätzte sie, wie den Toten, auf Anfang dreißig – begrüßte sie in Jogginghose und Tanktop. Sie hatte geweint. «Hab mich schon gefragt, wann Sie kommen.» Als sie Juhas Blick bemerkte, deutete sie hinter sich: «Na ja, ist ja nicht zu übersehen. Mein Balkon geht zum Kanal raus. Wie der von Rick.»
«Rick?», fragte Juha.
«Patrick Wichmann. Mein Nachbar. Der ist es doch, den sie aus dem Wasser gezogen haben, oder?»
Juha und Lux warfen sich einen Blick zu.
«Wieso glauben Sie denn, dass es Ihr Nachbar Patrick Wichmann ist?»
Die Frau drehte sich in ihrer Wohnungstür um und ging hinein, während sie sich die langen dunklen Haare zu einem losen Dutt zusammensteckte. Juha und Lux deuteten das als Aufforderung und folgten ihr.
«Scheiße, ich hab’s gewusst. Ich wollte nicht zu genau hinschauen, aber die dunklen Haare und so. Größe. Körper. Passte alles.» Sie sah die Polizisten mit plötzlich aufkommender Verzweiflung an. Ihre Lippen spannten sich um die Haarklammern, die sie sich beim Duttmachen in den Mund gesteckt hatte. «Es ist Rick, oder?»
«Wie gesagt, wir wissen es noch nicht.»
«Ja, Scheiße, es ist Rick», rief sie wie aus Trotz und pfefferte die Haarklammern auf den Boden. Sie rang nach Luft, und Lux ging schnell in die zum Wohnzimmer offene Küche, nahm ein Glas und füllte es mit Leitungswasser.
«Hier, trinken Sie mal einen Schluck.»
Die Frau nahm das Glas und trank. «Au, Schlucken tut weh, wenn man geheult hat.» Nun lachte sie ein bisschen, doch die erneut fließenden Tränen verrieten, dass es kein befreiendes Lachen war.
«Sind Sie mit Patrick Wichmann befreundet?», fragte Juha, der ebenfalls ans Fenster getreten war.
Dieses Mal klang ihr ersticktes Auflachen fast ein bisschen verbittert. «Ach, befreundet kann man nicht sagen. Aber wir wohnen beide allein und haben uns schon mal ausgeholfen. Er hat sich meine Bohrmaschine geliehen und solches Zeug.» Sie trank wieder einen großen Schluck, und ihre Hand zitterte leicht.
«Ich verstehe», sagte Juha leise. «Tut mir leid.»
Lux hatte bereits die große Schiebetür zum Balkon geöffnet und war an die Brüstung getreten. Juha sah, wie er sich hinüberlehnte, um auf den Balkon von Patrick Wichmann schauen zu können. Ohne dass in seinem Gesicht auch nur die Spur einer Andeutung zu bemerken war, klopfte er sich den Schnee von den Schuhen und kam wieder herein. «Balkontür ist zu, aber auf der Brüstung sind Abdrücke im Schnee.»
Juha nickte kaum merklich. «Frau …», er hatte sich den Namen auf dem Klingelschild nicht gemerkt.
«Anne Lohmeyer.»
«Frau Lohmeyer. Haben Sie in der vergangenen Nacht irgendetwas Auffälliges mitbekommen?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Jemand hat gegen halb eins einen lauten Knall beim Notruf gemeldet; das haben Sie nicht gehört?»
«Ich schlafe mit Ohropax und außerdem ziemlich tief, wenn ich einmal weg bin.»
Juha nickte wenig zufrieden.
«War es denn kein Selbstmord?», fragte Anne Lohmeyer.
«Wieso denken Sie das?»
«Na, was denn sonst?»
«Haben Sie denn Anzeichen dafür bemerkt, dass es Ihrem Nachbarn, Ihrem Freund nicht gut ging in letzter Zeit? Hat er etwas gesagt?»
«Sie meinen Selbstmordgedanken oder so?»
«Sie haben es angesprochen.» Juha suchte ihren Blick, doch Anne Lohmeyer starrte aus dem Fenster und begann, an ihrer Unterlippe herumzuknibbeln, riss einen Fetzen trockener Haut ab. Juha tat das Zusehen fast weh. Als sie seinen Blick bemerkte, ließ sie ihre Hand fallen. «Ich dachte nur, wenn einer im Winter vom Balkon springt … Da fällt man ja nicht mal so aus Versehen runter.»
«Aber er hat nie irgendeine Andeutung gemacht, von Problemen erzählt? Keine Anzeichen von Depression?»
Sie schüttelte den Kopf. «Nein, nie. Bei Rick lief es immer total super. Geld, Feiern, Freunde.»
«Trotzdem dachten Sie gleich an Suizid.»
«Hab ich doch erklärt», verteidigte sie sich trotzig. Juha akzeptierte es vorerst. «Kennen Sie Freunde oder Kollegen von Herrn Wichmann? Hat er vielleicht eine Partnerin oder Familie, die Sie mal getroffen haben oder die er erwähnt hat?» Bei dem Wort «Partnerin» zuckten ihre Lider, nur ganz leicht, aber Juha bemerkte es.
«Rick hatte nicht oft Besuch, er war meistens unterwegs.»
Juha hatte das Gefühl, da war noch mehr, über das Anne Lohmeyer aber nicht reden wollte. Lux ging stumm an ihnen vorbei und verschwand aus der Wohnungstür. Wenige Sekunden später hörte Juha die Klingel nebenan. «Die Wände sind hellhöriger, als man denken sollte. Herr Wichmann hatte nicht oft Besuch, sagten Sie eben? Mal was gehört?» Wieder dieses leichte Lidzucken. Im Treppenhaus klopfte Lux nun laut an Wichmanns Tür. Juha entschied sich seinerseits, mit der Tür ins Haus zu fallen. «Aber Sie waren schon mehr als nur Nachbarn, oder?»
«Das geht Sie ja wohl gar nichts an.»
Doch, tat es. Juha beschloss, das Thema zu einem späteren Zeitpunkt zu vertiefen. In diesem Moment war Anne Lohmeyers Reaktion ihm Antwort genug.
Lux kam zurück. «Macht immer noch keiner auf.»
«Haben Sie vielleicht einen Schlüssel?», fragte Juha Anne Lohmeyer. Die schüttelte den Kopf und begann wieder, an ihrer Unterlippe zu zupfen, die sich schon rötlich färbte.
Juha dreht sich zu Lux um. «Okay, was machen wir?»
Lux ächzte lang und ging wieder auf den Balkon. Juha folgte ihm. Die Terrassen waren etwa bis zur Hälfte als Loggia in das Haus eingelassen, die andere Hälfte, weitere gut zwei Meter, schwebten über dem Kanal, zwischen ihnen je eine Lücke von ungefähr anderthalb Metern. Lux legte seine Hände auf die Brüstung und schaute nach unten. «Halleluja.»
«Willst du da echt rüberspringen?»
«Hilft nichts, oder?», stöhnte Lux.
«Ich würde es ja tun, aber ich will nicht», sagte Juha mit einem Lächeln.
Lux zog seinen Mantel und den dicken Pullover, den er darunter trug, aus, bis er nur noch im körperbetonten Thermohemd dastand.
«Und wenn die Balkontür zu ist?»
«Dann muss ich eben wieder zurückspringen. Also, bis gleich.»
«Siehst aus wie ein Ninja in deinem Skitop, du schaffst das», sagte Juha und war dabei wahrscheinlich nervöser als Lux. Der wischte den Schnee von der Brüstung, stellte einen Fuß auf die zwanzig Zentimeter breite Betonmauer und drückte sich hoch. Einen Moment stand er dort, nur leicht wankend. Juha wusste, es war kein Problem für Lux, anderthalb Meter aus dem Stand zu überspringen. Doch wer schon mal direkt über einem Abgrund gestanden hatte, wusste, dass diese Distanz in zehn Metern Höhe ein völlig anderes Hindernis darstellten.
Dann sprang Lux, und Juhas Herz sackte wie ein Stein in seine Magengrube. Lux flog keine halbe Sekunde durch die Luft, bevor er beide Füße sanft auf der gegenüberliegenden Brüstung aufsetzte, in einer flüssigen Bewegung hinüberglitt und auf Wichmanns Terrasse landete. «Siehst du, kein Problem», sagte Juha, als sein Herz wieder in Position war.
«Jetzt ist mir warm», keuchte Lux. Er ging zur Balkontür und drückte dagegen. Sie schwang auf, und er drehte sich dezent triumphierend zu Juha um. «Ich mach die Tür auf. Und zieh dir schon mal die Tüten über die Schuhe.»
«Ja, bitte?», sagte Lux, als er Juha die Tür zu Patrick Wichmanns Wohnung öffnete.
«Moin.» Juha trat ein und reichte Lux Pullover und Mantel, die er sogleich wieder anzog. Die Wohnung von Patrick Wichmann war genauso geschnitten wie die nebenan, ließ aber auf noch weitaus größeren Wohlstand schließen. Wo bei Anne Lohmeyer das auch nicht gerade günstige Sofa aus dem Möbelhaus stand, fanden sie hier die Designercouch im fünfstelligen Bereich vor. Juha kannte sich etwas aus, da er und Maria nach einer neuen Couch suchten und sich bei ihren Internetrecherchen immer wieder fragten, wer denn bitte zwölftausend Euro für ein Sofa ausgab. Nun hatte er die Antwort. An der Wand hingen Kunstdrucke, die weniger von Geschmack als vielmehr von dem Wunsch nach Mondänität zeugten. Neben dem Plattenregal hing eine Akustikgitarre an der Wand, bei deren Anblick Juha eine kleine Welle der Wehmut durchflutete, weil sie ihn an Wally erinnerte, der zu Hause im Bett lag. An Gitarrespielen war momentan nicht zu denken. Das Instrument an der Wand wirkte eigenartig deplatziert. Juha brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, woran es lag; die Gitarre brachte die ansonsten so stimmig aufgeteilte Wandfläche durcheinander. Als wäre sie kein Teil des Einrichtungsplans und erst im Nachhinein neben das maßangefertigte Regal gehängt worden. Ein unleserliches Autogramm war mit Edding darauf gekritzelt. Vielleicht ein Erinnerungsstück, ein Überbleibsel einer vergangenen Leidenschaft, eines jüngeren Wichmann?
«Was macht der wohl beruflich?», fragte Juha sich selbst und Lux.
«Coin-Rockers», sagte Anne Lohmeyer hinter ihrem Rücken. Sie war Juha gefolgt und stand jetzt mit verschränkten Armen und hochgezogenen Schultern in der Wohnungstür.
«Wie bitte?»
«Coin-Rockers. Noch nie gehört? Die kennt man doch, spätestens seit dieser Spendenaktion. Hansecoin? Nein?»
Juha schaute zu Lux, der auch nur die Schultern hob. Anne Lohmeyer machte ein paar Schritte in die Wohnung. «Eine Plattform für Kryptohandel. Hätte man eigentlich mitbekommen müssen, wenn man die letzten Jahre nicht unter einem Stein geschlafen hat.»
«Danke, aber bleiben Sie bitte draußen, okay?»
«Wieso?»
«Weil die Wohnung so lange ein Tatort ist, bis wir eines Besseren belehrt werden. Ist doch klar, schauen Sie kein Fernsehen?»
«Er hat sich vom Balkon gestürzt; ist ja wohl offensichtlich.»
Juha schaute zu Lux, der an der geöffneten Balkontür stand und nach draußen blickte. Er bemerkte Juhas Blick und drehte sich zu ihm um. Unauffällig, aber bestimmt zeigte er hinter sich auf die Wohnungstür und sagte leise: «Sie soll zurück in ihre Wohnung gehen.»
«Was?» Juha brauchte einen Moment, um zu schalten. Dann drehten sich Juha und Lux gleichzeitig zu Anne Lohmeyer um und sagten: «Bitte gehen Sie zurück in Ihre Wohnung.»
Die Frau, von der Synchronität der Polizisten gleichermaßen amüsiert wie irritiert, hob abwehrend die Hände, machte auf dem Absatz kehrt und war kurz darauf wieder verschwunden.
Juha trat zu Lux an die Tür.
«Der Schnee. Was siehst du?», fragte Lux.
Juha runzelte die Stirn. «Bin ich Fräulein Smilla? Was soll ich sehen?»
«Na, dass es keine Spuren gibt. Der Schnee bildet vielmehr einen Graben.»
Jetzt verstand Juha, worauf Lux hinauswollte. «Da hat jemand aufgeräumt, meinst du?»
«Wichmann geht über den Balkon zur Brüstung, springt. Dann würden wir seine Spuren sehen. Also?»
«Jemand geht hinterher, um zu sehen, was weiter passiert. Dann fällt ihm auf, dass er ebenfalls Spuren hinterlassen hat, und verwischt sie, zusammen mit Wichmanns.»
«Oder er schubst Wichmann hinterrücks. Oder schleift ihn zur Brüstung?»
«Dann müsste Wichmann betäubt gewesen sein. Er wirkte körperlich recht wehrhaft, und nach Kampf sieht das hier wiederum nicht aus.»
Lux überlegte, ging dann in die Mitte des Raums und sah sich um, betrachtete die Wände. Juha war sich nicht sicher, wonach er suchte. «Was ist mit diesem Knall?»
Nun betrachtete auch Juha die Wände, auf der Suche nach einem Einschussloch. «Als du eben hier geklingelt hast, habe ich es in Lohmeyers Wohnung ziemlich deutlich durch die Wand gehört. Falls hier drin wirklich ein Schuss abgefeuert wurde, muss man direkt nebenan schon besonders tief schlafen, um davon nicht wach zu werden, Ohropax hin oder her.»
Lux steckte die Hände in die Manteltaschen und verlieh dem folgenden Satz den Charakter eines abschließenden Plädoyers.
«Ich hab jedenfalls so ein Gefühl.»
Juha zückte sein Handy. «Also, wenn du schon so ein Gefühl hast, wird es höchste Zeit, die KTU herzubestellen.»
«Wie hieß diese Firma?», fragte Juha durch den schmalen Spalt ins Innere des Polizeitransporters, wo Lux seine Hände an einem Becher mit heißem Kaffee wärmte und die Vorzüge der Standheizung genoss. Das wärmende Adrenalin von seinem Stunt hatte nicht allzu lange gehalten, da half auch kein Kamelhaarmantel. «Coin irgendwas.» Lux zog sein Telefon aus der Manteltasche, gab die Begriffe Coin und Patrick Wichmann bei Google ein und wurde sofort fündig. «Coin-Rockers. Was für ein blöder Name.» Er gab Coin-Rockers in die Bildersuche ein und scrollte durch die Schnellansicht. Er fand ein Bild von zwei Männern, die eine Frau flankierten und stolz in die Kamera grinsten. Die Bildunterschrift bestätigte, dass es sich bei einem der Männer um Patrick Wichmann handelte. «Hey, du Warmblüter, macht es dir was aus, mal zu mir vor die Standheizung zu kommen?»
Juha seufzte vernehmbar, umrundete aber das Auto und setzte sich neben Lux auf den Fahrersitz.
«Schau mal, das ist Wichmann. Rechts, der große Typ, der nicht ganz so sportlich aussieht, ist Carsten Schilling, sein Partner, und das in der Mitte anscheinend Helle Schilling, dessen Frau.»
Juha schaute mit auf das kleine Handydisplay, während Lux einen Artikel über das Unternehmen überflog. «Die scheinen ordentlich Schotter zu machen. Bieten die Klassiker: Bitcoin, Ethereum und so weiter, haben aber vor einem halben Jahr auch eine eigene Währung gelauncht, Hansecoin, die wohltätigen Zwecken in Hamburg zugutekommen soll.»
Juha brummte wissend. «Alles klar, Bitcoin. Davon hab ich vor zehn Jahren oder so mal ein paar gekauft. Wusste gar nicht, dass es das noch gibt.»
Lux starrte ihn an. «Was heißt ‹ein paar›?»
«Keine Ahnung. Hundert oder so? Die kosten ja nur ein paar Cent pro Stück, und ich fand das damals irgendwie witzig.»
Lux starrte Juha fassungslos an, rutschte dann noch näher an ihn heran. Juha rückte seinerseits wieder ein bisschen von seinem Partner ab.
«Du meinst …» Lux begann zu stottern. «Du hast hundert …?»
Juha grinste ihn an. Lux brauchte einen Moment, dann sackten seine Gesichtszüge in sich zusammen. «Okay, du verarschst mich.»
Juha lupfte die Augenbrauen. «Bedauerlicherweise, ja.»
Lux sackte auf der Sitzbank zusammen. «Alter, mein Puls.»
Juha konnte sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen, wurde dann aber wieder ernst. «Ich denke, dass der Partner ... Wie heißt der? Schilling? Dass der momentan unsere beste Option ist. Die Nachbarin, diese Anne Lohmeyer, soll sich erst mal beruhigen.»
«Ein bisschen eigenartig war es doch, dass sie darauf bestanden hat, es handele sich ganz klar um Selbstmord, oder? Außerdem glaube ich, die hatten was miteinander.»
«Denke ich auch. Wir befragen sie später noch mal und erhöhen ein bisschen den Druck. Aber warten wir erst mal ab, was die SpuSi sagt.»
Juha öffnete die Tür und stieg wieder aus. Anscheinend war ihm nun doch zu warm geworden in dem Transporter. Lux öffnete die Website von Coin-Rockers und wählte die einzige Nummer im Impressum.
«Moin, du bist beim Support von Coin-Rockers gelandet, wie kann ich dir helfen?», erklang die agile Stimme eines jungen Mannes.
«Lucas Adisa, LKA Hamburg. Den Carsten Schilling müsste ich mal sprechen.»
«Wie ist denn deine Kunden-ID?»
«Hier ist Kriminalhauptkommissar Lucas Adisa vom Landeskriminalamt Hamburg. Polizei. Ich bin kein Kunde, ich möchte bitte Carsten Schilling sprechen.»
Am anderen Ende wurde es still.
«Hallo?»
«Wir sind nur ein Callcenter. Wir sitzen in Greifswald.» Von der anfänglichen Lebhaftigkeit war nichts mehr zu hören.
«Dann verbinden Sie mich bitte mit dem Büro der Firma Coin-Rockers in Hamburg. Ich möchte direkt mit jemandem dort sprechen.»
«Es ist noch recht früh, ich bin nicht sicher, ob dort schon jemand arbeitet. Außerdem darf ich das gar nicht.»
«Sie arbeiten doch auch schon, und ich arbeite auch schon. Und doch, das müssen Sie sogar.»
Wieder kurzes Schweigen. «Moment, bitte.»
Es erklang ein Technosong, als Lux in der Warteschleife landete. Lux verdrehte die Augen. Als eingefleischter Jazz-Fan kannte er den Song nur, weil ein Freund ihn mal zu einem HSV-Spiel mitgeschleift hatte, wo das Lied nach jedem HSV-Tor lief. Was an dem Tag, zur Freude seines Freundes, sehr oft vorgekommen war. Doch statt «Yeah, always Hamburg» lautete der Text nun «Yeah, Coin-Rockers», was überhaupt nicht auf den Takt passte und Lux’ musikalischen Feinsinn empfindlich störte. Von wegen «Rockers». Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Musik abbrach und ein Freizeichen ertönte.
«Coin-Rockers, hier ist Silke Schön.»
«Lucas Adisa, LKA Hamburg. Ich möchte bitte Carsten Schilling sprechen. Es ist wichtig.»
«Oh, okay? Der Chef ist noch nicht im Büro.» Es klackerte in der Leitung, als der Hörer offenbar zu Seite gehalten wurde. «Ey, weißt du, wann Carsten heute reinkommen wollte?», konnte Lux gerade noch verstehen. Eine Antwort ließ sich nicht vernehmen, aber sie schien nicht positiv auszufallen.
«Nein, ich kann nicht sagen, ob er heute überhaupt noch kommt. Wahrscheinlich ist er zu Hause.»
«Adresse?»
«Ich habe nur die von der Wohnung. Die Schillings haben noch ein Haus auf dem Land.»
Lux notierte sich Schillings Adresse, bevor er fortfuhr. «Sehen Sie meine Telefonnummer auf Ihrem Display?»
«Ja», kam es kurzatmig von der anderen Seite.
«Gut. Wenn Herr Schilling noch kommt, sagen Sie ihm, dass er mich so schnell wie möglich anrufen soll. Okay?»
«Okay.»
Lux bedankte sich und legte auf. Ihn flog das schlechte Gewissen an, weil er der freundlichen Mitarbeiterin verschwiegen hatte, dass einer ihrer beiden Chefs nicht mehr unter den Lebenden weilte, was aber aus ermittlungstechnischen Gründen unumgänglich war. In Kürze würden sie bei dem Laden ohnehin das Licht anmachen, und ein gewisser Überraschungseffekt konnte dabei nicht schaden – falls sie Wichmanns Tod bis dahin unter Verschluss halten konnten.
Lux zuckte zusammen, als es hinter ihm polterte. Ein Kollege hatte eine Ladung Pylonen in den Kofferraum des Transporters geworfen. Einen Augenblick später klopfte es höflich an die Scheibe, und Lux musste seinen Sitzplatz an der Standheizung räumen. Widerstrebend gesellte er sich zu Juha auf die Brücke.
Die Straße war wieder frei. Das sprach dafür, dass sich die Untersuchungen nun weitestgehend auf Wichmanns Wohnung verlagert hatten. Unten am Kanal wurde der Leichensack zugemacht und damit begonnen, den Pavillon abzubauen.
«War ja klar, dass bei den Spinnern mal was danebengeht.» Ein kleiner, älterer Herr war hinter ihnen an das Brückengeländer getreten und betrachtete die Szenerie. Er trug einen viel zu großen Mantel, seine linke Hand ruhte auf einem Hackenporsche, er konnte kaum über das Geländer schauen.
«Was meinen Sie damit?», fragte Juha.
Als der ältere Herr das Interesse der Polizisten sah, grinste er die beiden an und entblößte dabei eine mächtige Zahnlücke: «Hab recht, oder? Sind wieder vom Dach gehüpft, oder?»
«Sie meinen, von da oben ist mal jemand in den Kanal gesprungen?»
«Mal? Andauernd! Allerdings nicht im Winter. Brauchten wohl den nächsten Kick.» Der Alte schnalzte nachdenklich mit der Zunge. «Ständig laute Musik bei offener Balkontür. Am Wochenende haben die hier das ganze Viertel beschallt. Schlafen konnte man da nicht. Mein Schlafzimmer geht direkt zum Kanal raus.» Er wies auf das Haus gegenüber, durch dessen Keller sie vorhin zum Kanal gelangt waren. «Zum Glück braucht man in meinem Alter nicht mehr so viel Schlaf. Da macht es ‹Platsch!›, dann wird gejohlt und die Musik noch lauter gedreht.»
Juha ließ sich Name und Adresse des Herrn geben. «Das hätte Frau Lohmeyer ja auch mal erwähnen können», knurrte er Lux zu, als der Alte mit seinem Einkaufstrolley weiterzuckelte.
Ein Pfiff ertönte, Juha und Lux reckten die Köpfe. Denis Ates, Leiter der Spurensicherung, winkte ihnen zu, sie sollten zu ihm raufkommen.
Denis empfing sie vor der Wohnung des Verstorbenen. Das Team würde noch eine ganze Weile beschäftigt sein, aber Juha hatte die Hoffnung, dass es bereits erste Ergebnisse zu vermelden gab.
Denis zog sich in sicherer Entfernung zum möglichen Tatort die Kapuze vom Kopf und die Gummihandschuhe aus. Er strich sich mit der Hand über die kurz geschorenen Haare; eine Frisur, die er offensichtlich nicht ganz aus freien Stücken trug. Seine frühzeitige Glatzenbildung machte er aber mit einer angenehmen Portion Selbstbewusstsein wett. «Nach reiflicher Untersuchung des Tatorts bin ich mir sicher: Ein Kamel ist der Täter gewesen.» Er unterstrich seinen Witz, indem er Lux’ Mantel mit hochgezogenen Augenbrauen begutachtete. «Immerhin habt ihr Handschuhe getragen, bevor ihr meinen Tatort verunreinigt habt.»
«Wir hatten auch Tüten an den Füßen», bemerkte Lux.
«Dann will ich nichts gesagt haben, das nenne ich Weitsicht.»
Juha wechselte schnell das Thema. «Also ist es ein Tatort.»
Denis atmete tief durch, entschied sich dann, Juha thematisch zu folgen. «Der erste Eindruck deutet immer noch auf einen Suizid hin. Keine Einbruchsspuren, nichts, was auf den ersten Blick darauf hinweist, dass er Gesellschaft hatte. Allerdings gibt es keinen Abschiedsbrief, zumindest keinen analogen. Der Laptop ist über die üblichen Systeme hinaus mit Passwort geschützt. Henni sitzt gerade dran und meint, dass er ihn bald entsperrt hat. Viele Abschiedsbriefe finden wir heutzutage auf dem Desktop. So oder so bedeutet das Fehlen eines Abschiedsbriefes natürlich nicht, dass es kein Suizid war. Sein Handy …», er beugte sich über eine Kiste und zog einen Beutel heraus, in dem sich ein Smartphone befand, «… hat einen Fingerabdrucksensor.» Er hielt es ihnen hin. «Schaut mal bei dem Toten vorbei, das geht schneller, als wenn Henni sich dransetzt.»
Juha nahm den Beutel. «Was sagst du zu den Spuren im Schnee?»
«Auf dem Balkon? Nichts. Will sagen, da sind keine brauchbaren. Er war offenbar nicht besonders entschlossen. Es ist ein einziger Trampelpfad.»
Juha suchte Lux’ Blick, um ein «Habe ich doch gesagt» loszuwerden. Doch Lux blieb auf Denis konzentriert. «Wir denken, dass seine Spuren im Nachhinein verwischt wurden. Also nicht nur seine, sondern auch die einer weiteren Person.»
Denis nickte. «Ihr habt Zweifel an der Suizidtheorie, wie? Ich schau’s mir noch mal an.»
Er wollte bereits los, als Juha ihn zurückhielt. «Eine Sache noch. Ihr habt nicht zufällig eine Kugel oder eine Patronenhülse gefunden?»
Denis’ Augenbrauen zogen sich zusammen. «Doch, Juha, gut, dass du fragst. Die Hülse lag direkt neben der Pistole, die wir gefunden haben. Das hätte ich beinahe vergessen.»
Juha schaute etwas verschämt in die Ferne. «Ich mein ja nur; heute Nacht ging die Meldung über einen lauten Knall ein.»
«Ich schwöre hoch und heilig: Falls wir eine Kugel finden oder etwas anderes, das darauf hindeutet, dass da drin geschossen wurde, dann enthalte ich euch diese Tatsache nicht vor.» Denis ging kopfschüttelnd zurück zur Wohnung, zog die Handschuhe an und die Kapuze über den Kopf.
Juha und Lux schauten ihm nach.
«Na toll. Was jetzt?», fragte Juha.
«Wir entsperren sein Handy. Mal sehen, wen er so angerufen hat.»
Sie kamen gerade noch rechtzeitig, bevor der Leichentransport zum Institut für Rechtsmedizin abfuhr. Sie winkten, der Wagen hielt an, und die Scheibe wurde heruntergefahren. Der hagere Fahrer war genervt, hatte es offenbar eilig. «Ist noch was?»
«Sorry, wir müssten noch einmal zu dem Toten.»
«Boah, Leute.» Er zeigte mit dem Daumen hinter sich. «Ist aber nicht sehr gesprächig.»
«Scherzkeks», flüsterte Lux, als er den Wagen umrundete. Sie öffneten die Hecktür und stiegen ein. Juha zog den Reißverschluss auf und schaute weg. «Schönheit vor Alter.»
Lux nahm die Hand des Toten und drückte den Zeigefinger gegen den Sensor. Das Handy verweigerte vibrierend den Zugang. Er versuchte es noch einmal, dann mit der anderen Hand. «Es klappt nicht.»
«Linkshänder?»
«Schon probiert.» Lux ächzte. «Okay, dann einen nach dem anderen.» Er probierte alle Finger durch, doch jedes Mal schüttelte sich das Handy nur trotzig und blieb gesperrt.
«Zu aufgeweicht?», mutmaßte Juha.
«Meiner funktioniert auch, nachdem ich zwei Stunden in der Badewanne gelegen habe. Dementsprechend fällt mir eigentlich nur eine Erklärung ein: Das ist nicht Wichmanns Handy.»
Juha musste grinsen. «Das wäre ja sehr komfortabel, wenn der Täter sein Handy für uns dagelassen hätte. Wir bringen es Henni zurück, dann klingeln wir noch mal bei der Lohmeyer.»
Anne Lohmeyer hatte Jogginghose und Tanktop gegen Jeans und Norwegerpullover ausgetauscht. Lippenstift überdeckte die wunde Unterlippe. Die flüchtig aufgetragene Wimperntusche verlief aber bereits wieder unter ihren Augen.
«Entschuldigen Sie, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir hier darauf warten, dass die Wohnung von der Spurensicherung freigegeben wird? Der Kollege friert sehr leicht.» Juha deutete mit dem Daumen auf Lux.
Anne Lohmeyer nickte nur und ging voran ins Wohnzimmer, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie setzte sich im Schneidersitz aufs Sofa, griff nach einer Decke und begrub ihre Füße darin. Erst dann schaute sie zu den beiden Kommissaren auf. «Setzen Sie sich doch», sagte sie mit einer unbestimmten Geste.
«Kann ich mir vielleicht ein Glas Wasser nehmen?», frage Juha und zeigte Richtung Küche.
Sie nickte. «Im Kühlschrank gibt es mit Sprudel.» Juha warf Lux, der sich auf einen Sessel setzte, einen fragenden Blick zu, der schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf Anna Lohmeyer.
In der Küche griff sich Juha ein Glas und ließ Leitungswasser hineinlaufen. «Sie haben uns gar nicht erzählt, dass Herr Wichmann schon öfter von seinem Balkon in den Kanal gesprungen ist; oder zumindest diverse Partygäste.» Er nahm einen großen Schluck und betrachtete Anne Lohmeyers Rücken. Sie regte sich nicht.
«Ja, stimmt, hab ich nicht dran gedacht.»
«Sondern zuerst an Selbstmord? Obwohl Sie wussten, dass Vom-Balkon-Springen ein Sport von Herrn Wichmann war?»
«Ich war da nie bei, wenn er das gemacht hat.»
«Wie meinen Sie das?»
«Was gibt es da nicht zu verstehen? Ich war nie bei diesen tollen Partys.»
«Sie waren nicht eingeladen?»
Juha füllte das Glas noch mal auf und setzte sich dann auf den Sessel neben Lux.
«Doch. Aber ich bin nur ein einziges Mal hingegangen. Und wissen Sie, was seine einzige Interaktion mit mir war?» Sie machte eine Pause und nickte heftig, um ihre Empörung zu unterstreichen. «Er hat mir zugezwinkert. Zugezwinkert! So.» Sie machte es nach, und es wirkte tatsächlich einigermaßen despektierlich. «Rick war echt cool, aber nur, wenn man mit ihm alleine war.»
«Was heißt ‹cool›? Aufmerksam, verständnisvoll?», fragte Juha.
Anne Lohmeyer schnaufte kurz auf. «Wieso wollen Sie mich provozieren? Haben Sie nichts Besseres zu tun?»
Juha schwieg einfach und schaute sie weiter an.
«Wenn man ein paarmal zusammen auf dem Balkon gesessen und Wein getrunken hat, dann führt das eine zum anderen.»
«Sie hatten also eine Beziehung.»
Anne Lohmeyer lachte bitter auf. «So würde ich es nun wirklich nicht bezeichnen.»
«Gab es noch andere Sexualpartner?»
Ein leicht verächtlicher Blick machte sich auf Anne Lohmeyers Gesicht breit. «Ich bin nicht naiv, okay?»
«Warum denken Sie, dass ich Sie für naiv halte?»
«So ein Typ wie er, glauben Sie, ich würde mir da was einbilden?»
«Erklären Sie es mir.»
«Ich sag mal so: Ich war so was wie sein Plan B, wenn er gerade keine andere hatte. ‹Friends with benefits›, so hat er es ausgedrückt. Aber eigentlich war ich eine Art chronischer Lückenbüßer.»
«Ich verstehe», sagte Juha und war sich einen Moment unsicher, ob er weiter nachbohren sollte, tat es dann. «Das klingt in meinen Ohren unbefriedigend. Wenn mich jemand immer dann anruft, wenn er sonst niemanden findet, um einen schönen Abend zu verbringen.»
Sie starrte ihn an, als sei er zu weit gegangen. Auf eine Weise war er das ja auch, aber sein Beruf ließ ihn diese Grenze des Anstands und der Höflichkeit ignorieren. «Sie verdächtigen mich.»
«Es ist mein Job, keine Möglichkeit außer Acht zu lassen. Damit stößt man leider auch immer wieder Menschen vor den Kopf, die es möglicherweise nicht verdient haben.»
«Ich wusste, worauf ich mich einlasse, wenn ich mich mit Patrick Wichmann traf, und ich habe es genossen. Aber ich habe mir nie eingebildet, dass da was Ernstes draus werden könnte.»
Juha nickte, im selben Augenblick klingelte es an der Tür, und kurz darauf folgte ein wenig dezentes Klopfen. Lux glitt von seinem Sessel und war mit wenigen Schritten an der Tür. Es erstaunte Juha immer wieder, wie schnell er Distanzen hinter sich bringen konnte. Vor der Tür stand Denis.
«Kommt mal schnell», sagte er nur und ging wieder zurück in die Nachbarwohnung, ohne auf die beiden Polizisten zu warten.
Hendrik van Dahlen, kurz Henni genannt, saß über einen Laptop gebeugt auf einem der Barhocker, die an der Küchenzeile in Wichmanns Wohnung standen. Das Handy mit unbekanntem Besitzer war über USB-Kabel mit dem Gerät verbunden. Hennis Haare standen in alle Himmelsrichtungen von seinem Kopf ab, und er hatte sich vermutlich seit Jahren nicht rasiert. Aber jemandem, der seine Arbeit mit ebenjenem Körperteil vollbrachte, das von dieser grotesken Haarpracht bedeckt war, verzieh man jeden Look. Er nickte ihnen nur zu, bevor er direkt zur Sache kam. «Kurz vorweg, das Handy gehört anscheinend einem Carsten Schilling.»
«Dem Partner von Wichmann», sagte Juha, an Lux und Denis gewandt. Lux nickte. «Dann haben wir ja jetzt schon mal einen Hauptverdächtigen.»
«Aber es gibt noch mehr.» Henni drehte den Polizisten den Monitor zu, auf dem das Display des Handys gespiegelt war, und biss sich erwartungsvoll auf das Zeigefingergelenk. «Das ist echt finster», nuschelte er betroffen und schaute selbst wieder auf den Bildschirm. Ein Video, allem Anschein nach von einer Überwachungskamera, war darauf zu sehen. Es zeigte ein Schlafzimmer: Bett, Kleiderschrank und einen kleinen Sekretär mit Stuhl. Eine Tür führte zum Badezimmer, wo Licht brannte. Juha erkannte eine weitere Tür, offenbar aus Glas, doch der Raum dahinter war zu dunkel, als dass man hindurchsehen konnte. Mehrere Lichtquellen spiegelten sich darin. «Okay, was sehen wir hier?»
Henni wand sich. «Moment, jetzt sieht man es gerade nicht. Erst wenn er sich bewegt.» Er raufte sich die Haare.
«Henni, was meinst du?»
«Jetzt!», rief Henni, und auf einmal nahm Juha etwas in der Glastür wahr. Einen Schemen, der sich nur durch die Bewegung aus dem grobkörnigen Hintergrundrauschen des Videos herauskristallisierte, indem die Pixel zwischen den vielen reflektierenden Lichtern zu wabern begannen. «Eine Spiegelung vielleicht? Henni, kannst du heranzoomen?»
Henni klickte mit der Maus. «Kann ich, aber die Kompression ist stark, die Artefakte werden auch größer.» Der Ausschnitt zeigte jetzt nur die Glastür, doch wie angekündigt wurde das Bild sogar noch undeutlicher.
«Keine Spiegelung», sagte Lux. «Ich glaube, da ist ein Mensch hinter der Glastür.» Alle kniffen die Augen zusammen und lehnten sich nach vorne.
«Aber wer?» Als hätte die Person Lux gehört, drehte sie ihnen plötzlich das Gesicht zu und öffnete die Augen, die wie leuchtende Katzenaugen durch den digitalen Bildbrei stachen. Die Anwesenden zuckten zusammen. «Verdammt.»
«Wer ist das?», flüsterte Juha.
«Unmöglich zu sagen, man sieht kaum etwas vom Gesicht, und es ist zu dunkel. Das Bild rauscht wie Sau. Aber ich denke, es ist ein Mann.»
Der Schemen hob schwerfällig die Hand und streckte sie in Richtung Kamera aus, schien aber am anderen Arm von irgendetwas zurückgehalten zu werden. Er lehnte sich in Richtung Tür, erreichte sie nicht. «Der ist gefesselt», vermutete Juha.
«Was?», fragte Lux.
«Na da, die linke Hand ist frei, aber mit der rechten Hand ist er wahrscheinlich an etwas gefesselt.» Juha beugte sich noch ein Stück vor. «Ich glaube, er sagt irgendwas.»
«Nein. Der sagt nichts.» Lux war jetzt dicht neben ihm. «Der schreit.»
«Haben wir keinen Ton?»
Henni schüttelte den Kopf.
Die Gestalt sackte abrupt in sich zusammen, und die eben noch hell leuchtenden Augen verschwanden wieder.
«Was ist das für ein Raum?», fragte Lux und deutete auf die Glastür. Ohne die menschliche Figur im Bild, nahm Juha eine Art Raster von horizontal verlaufenden Streben wahr, das ihm am Anfang nicht aufgefallen war. Was war das? Es erinnerte ihn an … was? Mit einem Schlag wurde ihm kalt, und er spürte plötzlich Übelkeit in sich aufsteigen. Ihm war jetzt völlig klar, was sie da beobachteten, welcher Überlebenskampf sich gerade direkt vor ihren Augen zutrug. Er öffnete den Mund, aber gab nur ein Hauchen von sich.
«Juha?» Lux schien das Hauchen gehört zu haben. Er fasste Juha an der Schulter, der sich ihm, befreit von seiner Lähmung, noch immer etwas langsam, zuwandte.
«Diese Glastür. Das ist eine Sauna.» Juha presste die Worte flüsternd hervor. Lux’ Augen weiteten sich bei der grausamen Vorstellung, die Juha jetzt aussprach. «Ein Mensch ist in einer aufgeheizten Sauna, und er kommt da nicht raus. Ich kann mir das nicht angucken.» Er atmete tief durch und drehte sich dann vollständig vom Bildschirm weg, machte ein paar Schritte in Richtung Balkon. Ärger kochte in ihm auf. «Warum hat man solche Filme auf dem Handy?»
«Leute …», sagte Henni. Als Juha sich zu ihm umdrehte, sah er, dass Henni noch blasser geworden war. «Ich dachte, ich hätte das gesagt.»
«Was gesagt?», fragte Juha.
«Das ist kein Film. Das ist die Überwachungskamera der Smart-Home-App. Das da muss Carsten Schillings Wohnung sein», er zeigte auf den Monitor. «Und was wir sehen, passiert jetzt gerade, in diesem Augenblick.»
Sie rannten. Nahmen lieber die Treppe als den Fahrstuhl nach unten, Juha hatte das Handy am Ohr. Bereits als sie völlig außer Atem am Auto angekommen waren, hatte er sämtliche Streifenwagen in der Nähe, die Feuerwehr und einen RTW zu Schillings Wohnung beordert. «Vollgas mit Außenwerbung. Wer von uns als Erster vor Ort ist, geht sofort rein, Gefahr im Verzug. Und ich meine Lebensgefahr.» Er hechelte, musste sich beherrschen, deutlich zu sprechen, stieg ins Auto, Lux startete den Motor. «Auf Selbstschutz achten, wir wissen nicht, ob noch jemand anderes da ist. Sanis und Feuerwehr müssen warten, bis wir gesichert haben.»
Lux startete Martinshorn und Blaulicht und gab Gas. Er bog auf die Hauptstraße ab und flog über die leere Fahrbahn. «Hauptverdächtiger war vielleicht etwas vorschnell. Was, wenn es Schilling selbst ist, der da in der Sauna sitzt?»
«Mir egal, wer es ist; wir holen ihn da raus.»
Mit höchstmöglicher Geschwindigkeit donnerten sie durch den glücklicherweise lichten Verkehr, rasten, von der Alster kommend, an Kunsthalle und Bahnhof vorbei in die Hafen-City, wo sich Schillings Wohnung befand.
Nur wenige Minuten später bogen sie in die Straßenschlucht des Kaiserkais ein, am Ende der Straße verdunkelte die Elbphilharmonie den Himmel.
«Da vorne um die Ecke muss es sein.»
Sie trafen gleichzeitig mit einem Feuerwehrwagen vor dem modernen Mehrfamilienhaus ein, zwei Sanitäter schulterten gerade ihre Notfallrucksäcke. Juha sprang aus dem Wagen und signalisierte den Feuerwehrleuten, dass die Tür aufgebrochen werden müsse, indem er eine imaginäre Türramme in Richtung Hauseingang schwang. Hinter ihnen bremste ein Streifenwagen, und zwei Polizistinnen stiegen aus. An der Haustür drückte Juha alle Klingeln. Mit gesenktem Blick stand er da, sein Kopf wippte nervös auf und ab, und seine Lippen bewegten sich stumm, während er die verstreichenden Sekunden zählte. Als der Summer ertönte, stieß er die Tür auf. Den Fahrstuhl ließen sie links liegen und rannten die Treppe hinauf in den dritten Stock. Die ältere Dame, die den Summer betätigt hatte, schloss ihre Wohnungstür kommentarlos, als sie merkte, was Sache war.
«Rechte Wohnung. Aufmachen!», rief Juha und machte Platz. Er, Lux und die beiden Streifenpolizistinnen zogen ihre Dienstwaffen. In dem kurzen Moment der Stille vernahm Juha dumpfe Musik aus der Wohnung.
Der kräftigste der Feuerwehrleute musste dreimal mit der Ramme ausholen, bis die moderne Wohnungstür mit einem Krachen aus den Angeln brach. Brachiale Gitarrenmusik brandete auf.
«Hier ist die Polizei!» Lux und Juha stürmten zuerst in die Wohnung und verteilten sich auf die ersten beiden Räume, die beiden Polizistinnen dicht hinter ihnen. «Sicher!», schrie Juha aus der Küche.
«Sicher!», rief Lux aus der gegenüberliegenden Tür.
«Sicher!», kam es aus einem weiteren Raum.
Juha marschierte auf das Zimmer am Ende des langen Flures zu. Er stieß die halb angelehnte Tür auf, die Musik wurde lauter. Juha versicherte sich, dass der Raum keine Bedrohung barg, und ließ die Waffe dann sinken. Er erkannte das Schlafzimmer aus dem Video wieder. Dahinter lag das Badezimmer mit der Sauna. «Sanitäter hierher!», brüllte er über die laute Musik hinweg und steckte seine Waffe in das Brustholster. Er stürmte ins Bad und riss die Tür zur Sauna auf. Hitze schlug ihm entgegen. Er griff dem Mann unter die Arme und wollte ihn herausziehen, sah aber seine Vermutung bestätigt, dass er mit der einen Hand durch einen Kabelbinder an die Saunabank gefesselt war. «Seitenschneider!», schrie Juha. Jemand reichte ihm einen. Die Musik dröhnte in seinen Ohren. Er raffte Schilling die Kleidung über das Handgelenk, deren er sich nur so weit hatte entledigen können, bis der Kabelbinder ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Juha schnitt die Fessel durch und ließ sich mitsamt dem klitschnassen Carsten Schilling rücklings aus der Tür fallen. In dem Moment stellte jemand die Musik ab, und es wurde merkwürdig still. Juha hörte sich selbst keuchen und sein Blut in den Ohren rauschen. Die Sanitäter zogen Schilling von ihm runter. Für einen kurzen Moment konnte er in seine geöffneten Augen sehen und wusste im selben Moment, dass sie zu spät gekommen waren. Juha blieb einfach liegen, machte die Augen zu. Hinter sich hörte er das dumpfe Pumpen einer Herzdruckmassage. Langsam synchronisierte sich sein Atem mit dem Rhythmus, und gemeinsam wurden sie zu einer neuen, beruhigenden Musik, die ihn in eine tiefe Entspannung sinken ließ. Als er seine Lider wieder öffnete, blickte er in ein kleines, schwarzes Auge und meinte, die Gesichter von Denis und Henni dahinter wahrzunehmen. Fragende, schweigende Gesichter. Was sollte Juha ihnen sagen? Er blickte sie nur an, starrte in die kleine Überwachungskamera in der Zimmerdecke.
«Sie haben die Reanimationsversuche bis ins Krankenhaus fortgesetzt, dort wurde er eben für tot erklärt. Tut mir leid.» Lux lehnte die Balkontür hinter sich an. Ein weiteres Team der KTU traf gerade ein.
«Wie viel zu spät waren wir? Vielleicht fünf Minuten?» Juha blickte vom Balkon auf die Elbphilharmonie, hinter der sich langsam die Wintersonne senkte. Ein leichter Wind tupfte die feuchten Stellen, die Schillings Körper auf seinem Hemd hinterlassen hatten, kalt gegen seine Brust.
«Wir hätten nicht schneller sein können», versuchte es Lux.
«Doch. Wenn ich heute Morgen nicht noch einen Scherz mit meinem Vater gerissen hätte, das Auto zum Tatort genommen hätte oder mir nicht so viel Zeit gelassen hätte, weil ich dachte, so eine Leiche, die läuft dir ja nicht weg. Wenn wir früher die KTU gerufen, das Handy früher gefunden und sofort begriffen hätten, womit wir es zu tun haben. Dann wären wir vielleicht fünf Minuten früher hier gewesen. Fünf Minuten, Lux.»
«Oder sechs. Oder acht. Oder nur zwei. Wir wissen es nicht und können es nicht korrigieren.»
Juha steckte seinen Kopf durch die Balkontür und rief: «Raucht hier irgendjemand?» Ein junger Mann im Schutzanzug hielt ihm eine Schachtel hin. Juha nahm eine Zigarette und ließ sie sich anstecken, zog dann wieder den Kopf aus der Tür und schob sie zu.
Lux trat zu ihm ans Geländer. «Ich habe versucht, die Frau zu erreichen, Helle Schilling. Nachbarn sagen, sie ist wahrscheinlich in ihrem Landhaus. Die Adresse haben wir jetzt auch.»
