Bitterkalter Tod - Ilaria Tuti - E-Book

Bitterkalter Tod E-Book

Ilaria Tuti

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Beschreibung

Ein abgelegenes Tal in Norditalien. Ein Gemälde, das ein schreckliches Geheimnis birgt. Und eine Ermittlerin, der die Zeit durch die Finger rinnt …

Tiefrot leuchtet das Gemälde, das plötzlich in einer kleinen Galerie in Norditalien auftaucht. Das verstörende Kunstwerk sorgt für Entsetzen – denn es wurde mit dem Blut eines Menschen gemalt. Die Recherchen führen Profilerin Teresa und ihr Team in das abgelegene Résiatal, wo sich vor Jahrzehnten ein schreckliches Verbrechen ereignet haben soll. Als auch noch der Fund eines menschlichen Herzens den sonst so ruhigen Ort erschüttert, wird Teresa klar, dass die Vergangenheit noch lange nicht ruht. Während sie sich an die Fersen eines grausamen Mörders heftet, droht sie selbst, die Kontrolle zu verlieren.

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Seitenzahl: 633

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ILARIA TUTI wollte als Kind immer Fotografin werden, studierte dann aber Wirtschaft. Sie liebt die Berge, malt gern und arbeitet unter anderem als Illustratorin für ein kleines italienisches Verlagshaus. Mit Eiskalte Hölle erfüllte sie sich den Traum vom Schreiben. Auch ihr spektakulärer zweiter Thriller Bitterkalter Tod spielt im Nordosten Italiens, dort, wo Ilaria Tuti aufgewachsen ist. Die Autorin lebt im italienischen Friaul.

Außerdem von Ilaria Tuti lieferbar:

Eiskalte Hölle. Thriller.

Ilaria Tuti

BITTERKALTER TOD

THRILLER

Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Ninfa Dormiente bei Longanesi, Milano 2019.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 der Originalausgabe by Ilaria Tuti

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Brigitte Lindecke

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagabbildungen: www.buerosued.de

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29334-5V001

www.penguin-verlag.de

Für Yasmine und Sarah.

Für unsere Vorfahrinnen, für die Frauen von heute und morgen.

Tempus valet, volat, velat

Ich bin alles, was gewesen, was ist und was sein wird, und mein Gewand hat noch kein Sterblicher gelüftet.

Über Isis und Osiris, Plutarch

Das Ende

Teresa denkt oft an den Tod. Aber so hatte sie sich ihren eigenen nicht vorgestellt. Es liegt beinah eine gewisse Ironie darin, dass sie sich nicht erinnern kann, was sie retten könnte.

Ein Brand, der jeden Moment ausbricht, Opfer, die darauf warten, gerettet zu werden, und sie steht einfach nur da.

Ihr Gehirn hat sie im Stich gelassen. Ihre Verwirrung lässt den letzten Akt der Tragödie nahezu grotesk wirken, die flehenden Blicke, Augenpaare, die sie voller Panik ansehen. Doch das Einzige, was sie in diesem Moment tun kann, ist: nichts. Teresa wird mit diesem dümmlichen Gesichtsausdruck sterben, davon ist sie überzeugt. Sie wird untätig sterben, mit hängenden Armen, den Schild gesenkt, nach einem Leben als Kriegerin. Als Kriegerin … Oder vielleicht auch als Polizistin. Eine Frau um die sechzig, eine kranke Frau, die eine Heldin sein will und sich nicht mal mehr an die Namen der Dinge erinnert.

Sie könnte versuchen zu raten. In letzter Zeit scheint ihr nichts anderes übrig zu bleiben, wenn sie überleben will. Raten, welche Straße sie nehmen, in welche Richtung sie schauen, welche Worte sie wählen und wovor sie sich fürchten soll.

Selbst, was ihren eigenen Namen angeht, hat sie Zweifel, genau wie bei dem des Mörders. Er ist hier bei ihr, vielleicht auch in einem anderen Zimmer. Aber er ist im Haus, so viel ist sicher, ähnlich wie Hades, der bereit ist, im Dunkel des Tals Feuer zu legen, denn Teresa hat es gewagt, das Geheimnis zu lüften, das er in seinem Reich nährt. Die Berge haben es beschützt, zwischen den zerklüfteten Felsen versteckt, zusammen mit heiligen Knochen und uralten Kräften.

Teresa weiß es, aber ihr Verstand erinnert sich noch nicht.

Wer von denen, die den Flammen geopfert werden sollen, ist unschuldig? Wer dagegen besitzt so viel Grausamkeit, einem Menschen bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust zu reißen?

Wen soll ich retten?

Und dann ist da er, der sie ansieht wie der Sohn, den sie nie hatte. Noch ist sein Name nur ein instinktives Flüstern auf ihren Lippen, und doch sind sie untrennbar miteinander verbunden. Teresa spürt es an dem Ziehen in ihrem Bauch, die Narbe brennt, roter Schaum, der durch die Adern pulst.

Die Wände scheinen näher zu kommen und beginnen zu knacken, die Stimmen, die sie seit Tagen verfolgen, schwellen an, werden immer lauter: ihre größten Ängste.

Der Name des Mörders. Der Name des Mörders …

Das Inferno steht bevor, doch selbst im Angesicht des Todes kann Teresa an nichts anderes denken als an dieses Rätsel, das sie irgendwo, irgendwann einmal gehört hat.

Ein Schrei. Ein unmenschlicher Schrei, der sie aus ihrer Starre reißt und in die Realität zurückholt.

Dann bricht er plötzlich ab.

»Wir haben es gefunden«, hört sie ihn flüstern, so leise, als ob es nur sie beide hören sollen. Seine Pupillen sind geweitet. »Wir haben das Böse gefunden. Es ist hier. Es hat auf uns gewartet.«

Er leiert die Worte monoton herunter, wie die Perlen eines diabolischen Rosenkranzes. Er hebt den Zeigefinger unter dem Seil, mit dem er gefesselt ist, und deutet in eine Ecke des Zimmers, wo die Dunkelheit im Rhythmus ihrer Angst pulsiert.

»Wir haben es gefunden. Es ist nicht menschlich.«

Wieder schreit er auf, so laut, dass in Teresa etwas zerbricht.

Jetzt erinnert sie sich an seinen Namen. Aber wieder einmal spielt das Schicksal die Karten neu aus, Leben und Tod, Liebe und Hass, so unbarmherzig, wie es nur jemand sein kann, der die Ewigkeit vor sich hat.

Denn jetzt ist der Moment gekommen, in dem sich zeigen wird, wie weit zu gehen sie bereit ist.

Der Moment, in dem sich zeigen wird, ob sie bereit ist, Massimo Marini zu töten, um einen Unschuldigen zu retten. Den Mann zu töten, der sie ansieht wie der Sohn, den sie nie hatte. Den Mann, der zitternd vor ihr steht, als ob das, was vor ihnen im Dunkeln tanzt, ein Dämon ist.

Der Anfang

Der Rötelstift gleitet über das Papier und zeichnet Schnörkel, die sich zu wohlbekannten Kurven formen und kleine Vertiefungen bilden, zu halb geöffneten Lippen werden. Er zieht sanfte Bögen und weiche Linien. Ein fein geschnittenes Profil. Lange dunkle Haare. Das strahlende Weiß des Papiers wird zum Weiß der Haut.

Das Rot fließt, dringt in die Fasern des Papiers ein. Die Finger dringen ein mit einem kraftvollen Druck, einem verzweifelten Ungestüm. Tauchen ein und färben alles rot. Sie wollen die Schönheit einfangen, ehe sie schwindet.

Die Finger zittern, halten inne, streicheln. Die Augen weinen. Die Tränen mischen sich mit dem Rot, verdünnen es, und unerwartete Purpurtöne entstehen.

Das Herz der Welt hat aufgehört zu schlagen. Das Rascheln der Zweige und der Gesang der Vögel sind verstummt. Die blassen Blütenblätter der wilden Anemonen bewegen sich nicht mehr im Wind, die Sterne erscheinen aus Scham nicht mehr am Himmel. Es ist, als ob der Berg sich herabbeugen würde, um das Wunder zu betrachten, das sich im Tal ereignet, in der Biegung des Flusses, in der still das Wasser ruht.

Die Schlafende Nymphe nimmt unter den Händen des Malers Form an.

Geboren im Rot der Leidenschaft und der Liebe.

1

Die Sonnenstrahlen ließen die Gesichtszüge Massimo Marinis deutlich hervortreten und drangen durch die Wimpern, seine kastanienbraunen Augen leuchteten auf. Seine nervösen Schritte hallten durch die Straße, an der zu beiden Seiten versteckte Gärten lagen, geschützt vor neugierigen Blicken. Die oberen Äste der Magnolien ragten über die Mauern, und die herabgefallenen Blütenblätter knirschten unter seinen Sohlen. Fast, als würde er auf etwas Lebendiges treten, ein Teppich aus sterbenden Kreaturen.

Der Frühlingsnachmittag war mild, aber die schwarzen Wolken in der Ferne verhießen nichts Gutes. Die Atmosphäre schien elektrisch aufgeladen, und das machte den Ispettore unruhig.

Die Kunstgalerie La Cella erkannte man an einem Messingschild, das auf dem unebenen Putz des Palazzo aus dem 17. Jahrhundert angebracht war. Seine Augen spiegelten sich verzerrt in der glänzenden Oberfläche. Massimo krempelte die Hemdsärmel herunter und zog sich die Jacke über. Dann läutete er, und mit einem Klicken öffnete sich das Portal. Er stieß die metallverzierte Tür auf und betrat das Haus. Die Wärme endete auf der Schwelle, und eine feuchte Dunkelheit hüllte ihn ein.

Der Boden hatte ein schwarz-weißes Schachbrettmuster und eine Treppe aus gemasertem Marmor führte in einem weiten Bogen in die oberen Stockwerke hinauf. Durch die hohen Fenster fiel etwas Licht auf den Leuchter aus Muranoglas, und smaragdgrüne Strahlen durchschnitten das Halbdunkel des Erdgeschosses. Es duftete nach Lilien. Massimo musste an Weihrauch, eine dunkle Kirche, endlose Litaneien und an die strengen Blicke des Vaters denken, die dieser ihm zugeworfen hatte, wenn er, noch ein Kind, unruhig in der Bank herumgerutscht war. Das Blut in seinen Schläfen pulsierte.

Die Vibration des Handys schien in dieser ruhigen, gesetzten Atmosphäre wie aus einer anderen Welt zu kommen. Er zog es aus der Innentasche seiner Jacke. Es bebte in seiner Hand wie ein künstliches, kaltes flaches Herz. Massimo wusste, das am anderen Ende ein echtes Herz war, voller Liebe und Wut, Enttäuschung und Schmerz, die sich wie hungrige Bestien mit gebleckten Zähnen bekämpften. Er entzog sich ihnen, und das machte sie gierig. Die Nummer rief ihn schon seit Wochen an, mehrmals am Tag, und ließ ihm keine Ruhe.

Er ging nicht ran, und Reue und Schuldgefühle hinterließen einen bitteren Geschmack in seinem Mund. Er wartete, bis das Klingeln aufhörte, dann schaltete er das Handy aus. Er ging um die Marmortreppe herum und eilte die Stufen der schmiedeeisernen Wendeltreppe, die ins Untergeschoss führte, hinunter. Von unten drangen Stimmen herauf. Ein schwach beleuchteter Gang, eine fein geriffelte Glastür, dann stand er in der Galerie. La Cella. Endlich. Eine gewölbte Decke aus rohen Backsteinen, ein glänzender Schieferboden. Der größte Teil des Putzes war entfernt worden, um die originale Steinmauer freizulegen. Die ausgestellten Werke wurden angestrahlt, sodass sie im Halbdunkel wie Heiligtümer wirkten. Bronzeskulpturen, Glasvasen und abstrakte Gemälde in knalligen Farben waren die Hauptdarsteller in diesem minimalistischen unterirdischen Bühnenbild.

Der Inspektor folgte dem Stimmengewirr und fand im größten Raum eine Gruppe von Menschen. An den Seiten waren zwei Polizisten in Uniform postiert. Etwas weiter hinten, in Zivil, erkannte er Parisi und De Carli. Ersterer, dunkel und athletisch, sprach in ein Handy. Der zweite, mager und schlaksig wie ein junger Bursche, sah ihm dabei zu und warf hin und wieder eine Bemerkung ein. Das war sein Team, seitdem er um die Versetzung aus der Großstadt in eine Provinzhauptstadt gebeten hatte. Ein Wechsel, von dem er sich erhofft hatte, dass er seinen Frieden wiederfinden, eine Möglichkeit finden würde, neu anzufangen. In Wirklichkeit hatte er viel mehr als das gefunden, aber der Frieden war eine feuerspuckende Chimäre geblieben, an der er sich verbrannte, sobald er sich ihr zu nähern versuchte.

Er ging zu ihnen und sie nickten sich zur Begrüßung zu.

»Worum geht’s?«, fragte er De Carli.

Sein Kollege zog sich die rutschende Jeans hoch.

»Das wissen wir noch nicht. Momentan ist es ein ziemliches Rätsel.«

»Und warum musste ich dann so dringend hierherkommen?«

Parisi legte eine Hand über das Mikro des Telefons und deutete mit dem Kinn in die entgegengesetzte Richtung.

»Weil sie uns braucht. Auch dich.«

Er hielt Ausschau nach der Person, die ihm in den letzten Monaten das Leben zur Hölle gemacht, ihn aber genau dadurch wieder ins Leben zurückgeholt hatte.

Als Erstes sah er ihre Füße, durch die Beine der beiden Beamten hindurch. Sie trug Sneakers mit dicken Sohlen. Er bemerkte, wie sie das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, um sich das Stehen zu erleichtern.

Sie ist müde, dachte er. Auch wenn er noch nicht wusste, warum sie hier waren, war ihm klar, dass sie diesen Ort als Letzte wieder verlassen würde.

Die Beamten traten zur Seite, und endlich sah er sie, zwischen der Bronzeskulptur in Form eines Herzens, das zur Hälfte flüssig war, und einer Installation aus Plexiglasflügeln, die von der Decke hingen. Herz und Seele, genau wie sie.

Und Entschlossenheit, eine Energie, die einen manchmal erdrücken konnte, doch im letzten Moment packte sie einen, hob ihn hoch und nahm ihn mit zum Gipfel.

Natürlich war sie manchmal auch einfach nur eine hinterfotzige Kuh.

Was sie jetzt so erschöpft wirken ließ, waren nicht ihre beinah sechzig Lebensjahre, sondern ein innerer Kampf, den Massimo noch nicht genauer benennen konnte, der jedoch seinen Ausdruck in dem Notizbuch zu finden schien, das sie ständig in ihren Händen hielt und in das sie andauernd wie besessen hineinschrieb.

Er ging zu ihr hinüber. Als sie ihn bemerkte, zog sie die Augenbrauen hoch, drehte sich aber nicht mal zu ihm um. Den Bügel ihrer Lesebrille im Mund, lutschte sie daran herum, als wäre es ein Bonbon.

»Hoffentlich zuckerfrei«, sagte er.

Endlich sah sie ihn an, wandte den Blick aber sofort wieder ab.

»Meinst du wirklich, dass dich das etwas angeht?«

Ihr Tonfall war schroff, doch es schwang Belustigung mit.

»Sie sind Diabetikerin, Commissario. Und eine Dame …«, murmelte er und ignorierte ihr Fluchen. Es war ein Spiel, das er allzu gut kannte und das er so gut wie nie gewann.

Sie ließ von ihrer Brille ab.

»Hast du heute nicht frei, Ispettore?«, fragte sie und richtete diese verdammten Augen auf ihn, die bis in sein Inneres blicken konnten.

Massimo verzog den Mund zu einem Lächeln.

»Und haben Sie nicht längst Feierabend?«

»Du kannst noch so viel Fleiß an den Tag legen, das wird nicht über deine jüngsten Verfehlungen hinwegtäuschen, Marini.«

Massimo tat ihr nicht den Gefallen, darauf zu antworten. Aufmerksam sah er diese Frau an, die schon wieder das Interesse an ihm verloren zu haben schien. Sie reichte ihm nicht mal bis zur Brust, rollte jedoch wie ein Panzer über sein Ego hinweg. Sie war fast doppelt so alt wie er, aber er machte immer lange vor ihr schlapp. Ihre Art wirkte oft schroff und ihr Pagenschnitt war in einem derart künstlichen Rot gefärbt, dass es fast schon peinlich war. Zumindest wäre es das bei jeder anderen gewesen, nicht so bei ihr.

Teresa Battaglia bellte, doch so manch einer schwor darauf, dass er sie schon hatte zubeißen sehen, im wahrsten Sinne des Wortes.

»Also, warum sind wir hier? Warum diese ganze Heimlichtuerei? All diese Geheimnisse«, fragte er und brachte sie wieder auf das Terrain zurück, auf dem sie schneller war als alle anderen: die Jagd auf Mörder.

Teresa Battaglia starrte vor sich hin, als ob dort jemand stünde, sie kniff die Augen zusammen, hinter ihren Augenbrauen schienen sich düstere Gedanken zu sammeln. Als sie antwortete, begriff er, dass sie im Geiste ein Opfer betrachtete, von Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz.

»Singular, nicht Plural, Ispettore. Es gibt nur ein Geheimnis.«

Commissario Battaglia putzte ihre Lesebrille – wie immer, wenn sie nachdachte – und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

»Warum sonst sollten wir wohl hier sein, wenn nicht dazu, um das Geheimnis eines Todes aufzuklären?«

2

»Ein Tod aus der Vergangenheit.«

Das hatte ihr Staatsanwalt Gardini vor nicht mal einer Stunde mitgeteilt, als er sie gebeten hatte, in die Galerie zu kommen. Nur fünf Worte, dazu noch ein paar andere, die Teresa Battaglia nur zu gut kannte: »Ich brauche dich und deine Leute dort.«

Ein Tod aus der Vergangenheit. Teresa war erleichtert: Kein Killer auf freiem Fuß, den sie jagen musste, mit der Zeit als zusätzlichem Gegner. Nur das Echo eines zurückliegenden Geschehens, das, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Staub der Vergangenheit wieder zum Vorschein gekommen war.

Das konnte sie schaffen. Der Fall würde ihr nicht entgleiten, und wenn doch, dann würde niemand darunter leiden, außer ihr Stolz.

Du bist eine dumme Kuh, wenn du glaubst, dass niemand merkt, was mit dir los ist.

Das, was los war, trug einen Namen, und es konnte sie vernichten und aus ihrer Zukunft einen schwarzen Bildschirm machen, aber Teresa war nie vor dem Wort, das in der Krankenakte stand, zurückgewichen, sie hatte ihm keinen Raum gegeben, ihm nicht erlaubt, in ihre Welt einzudringen. Sie bewahrte es dort auf, wo sich ihre furchtbarsten Ängste einnisteten, auf dem Grund ihrer Seele, in einem Notizbuch, das sie nie aus der Hand legte. Ihre Erinnerung, Schwarz auf Weiß.

In diesem an sich schon komplizierten Gesamtbild stellte Massimo Marini ein weiteres Problem dar. Er musterte sie, als würde er etwas ahnen, als könne er ihre Gedanken lesen. Es war anstrengend, ihn auf Distanz zu halten. Inzwischen erschien es ihr sogar ganz normal, dass er ständig in ihrer Nähe war. Sie fürchtete, dass es für sie beide zu einer gefährlichen Gewohnheit werden würde, die Nähe des anderen zu suchen.

Aus einem Zimmer, zu dem der Zutritt verboten war, kam der stellvertretende Staatsanwalt Gardini. Er wirkte aufgeregt, wie immer, wenn Teresa ihn traf. Groß und hager, war er immer etwas zerzaust und mit schief sitzender Krawatte, als wäre er gerade in einen Sturm geraten. Er war ein tüchtiger und unermüdlicher Staatsanwalt. Sein Äußeres schien seine Eile widerzuspiegeln, die Tausende von Dingen, die er zu erledigen hatte und die unzähligen Hindernisse, die sein Leben durcheinanderbrachten.

Er war in Begleitung eines exzentrisch aussehenden, braun gebrannten Mannes. Die dunklen Haare, die an den Schläfen von der Sonne ausgebleicht waren, ließen Teresa darauf schließen, dass die Bräune natürlich war. Vielleicht machte er Sport an der frischen Luft. Seine Kleidung hatte etwas Elegantes, Exklusives, der Schnitt war klassisch, die Farben auffällig. Extrovertiert, aber geschmackvoll.

Teresa hatte eine Vermutung, um wen es sich handelte. Sie schlug das Notizbuch auf und überflog ihre letzten Aufzeichnungen, fand dort aber keine Beschreibung des Mannes. Sie hatte sich richtig erinnert: Sie kannten sich noch nicht.

Sobald er sie sah, ging Gardini auf sie zu und reichte ihr die Hand. Sie waren alte Freunde, doch ihre Arbeit wurde davon nicht berührt.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Commissario. Ich weiß, dass ich Sie mitten im Schichtwechsel erwischt habe«, begrüßte er sie, wobei er sie siezte. »Ich möchte Ihnen Gianmaria Gortan vorstellen, den Besitzer der Galerie. Signor Gortan, das ist Commissario Battaglia. Ich beabsichtige, ihr die Ermittlungen zu übertragen.«

Teresa lächelte kurz, dann stellte sie das Gleichgewicht wieder her, das Gardini in der Eile oft vergaß.

»Das ist Ispettore Marini, meine rechte Hand«, sagte sie.

Alle schüttelten sich die Hand. Die des Kunsthändlers war feucht. Ein kleiner Kontrollverlust, der nicht zu seinem gepflegten Auftreten zu passen schien, stellte sie fest.

»Signor Gortan hat uns verständigt«, sagte Gardini gerade. »Es handelt sich um einen ganz besonderen Fall.«

Man hatte ihr noch nichts erzählt, aber Teresa hatte die letzten Minuten in der Galerie verbracht und die Männer der Spurensicherung beobachtet, die in das Zimmer, das sie bisher noch nicht in Augenschein genommen hatte, hineingegangen und herausgekommen waren. Die Spiegelreflex des Tatortfotografen knipste unentwegt, die hellen Blitze zuckten durch das Halbdunkel. Wenn der Tod schon so lange zurücklag, dann stimmte hier etwas nicht, dachte Teresa. Der technische Aufwand und das Personalaufgebot passten nicht zu dem Bild, das sie sich bei ihrer Ankunft gemacht hatte. Die Toten aus der Vergangenheit waren nur für wenige interessant. Mit dem Blut trocknete auch das Mitgefühl mit dem Opfer und der Familie ein. In diesen Fällen hatte es Justitia nicht eilig, ihr Schwert zu schärfen. Die Waage bewegte sich nicht mehr und die Binde vor ihren Augen wurde gerade so weit gelüftet, dass man sich nach frischeren und interessanteren Fällen umsehen konnte.

»Ist da drin jemand gestorben?«, fragte Marini, der noch weniger wusste als sie.

»Nicht in letzter Zeit.« Gardini seufzte. »Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«

Der Raum war ein Labor. Dort standen Instrumente, die Teresa noch nie gesehen hatte. Das Metall eines digitalen Mikroskops leuchtete im Licht der Blitze auf. Sie erkannte einige Kollegen der Kriminalpolizei, die Proben von den Instrumenten nahmen. Es waren Gardinis Männer.

»Diese Geräte dienen dazu, Sachverständigengutachten anzufertigen«, erklärte der Galerist, »für die Datierung und die Ermittlung des Wertes. Unser hauseigener Experte analysiert die Werke von Kunden, die sie verkaufen wollen. Manchmal wollen sie auch einfach den Verkaufswert eines Erb- oder Kellerfundstücks wissen.«

Teresa griff nach ihrem Notizbuch und schrieb sich Datum, Uhrzeit und Umstände auf. Vor allem die Namen, mit einer kurze Beschreibung des Aussehens und der Funktion der entsprechenden Person. Jemanden nicht wiederzuerkennen war ihr schlimmster Albtraum, ihre größte Angst. Als sie bemerkte, dass Marini nach ihrem Notizbuch schielte, blätterte sie die Seite um, zeichnete ein obszönes Motiv darauf und streckte es ihm hin. Der junge Ispettore wurde feuerrot und wich zurück.

Teresa sah sich rasch um. Alles wirkte ordentlich, fast penibel aufgeräumt. Wie sie es sich gedacht hatte, ragten keine mumifizierten menschlichen Überreste aus einer Mauernische oder einem Versteck im Fußboden.

»Müssen wir das Opfer mit dem Mikroskop suchen?«, flüsterte Marini ihr ins Ohr, der ihr wieder auf Schritt und Tritt folgte.

Sie schob ihn beiseite und sah den stellvertretenden Staatsanwalt fragend an.

»Lassen Sie uns einen Augenblick allein«, sagte Gardini zu den Beamten der Spurensicherung, die in ihrer Arbeit innehielten und den Raum verließen. Im Labor blieben nur noch sie vier zurück, und ein Lichtkegel, den Teresa erst jetzt bemerkte. Gardini winkte sie zu sich heran. Sie machte ein paar Schritte nach vorn. Etwas an seinem Gesichtsausdruck überraschte sie: Es lag eine Art Bangen, ein angesichts der Umstände unverständlicher Genuss in seinen Augen. Sie folgte seinem Blick.

Auf dem Arbeitstisch, auf einer gläsernen Unterlage, lag eine Zeichnung, ohne Rahmen, die Ecken mit Metallgewichten beschwert. Das Porträt einer Frau. Die Zeichnung war schätzungsweise vierzig Zentimeter groß, das Papier wirkte dick, fast wie Krepppapier.

Teresa ging hinüber und beugte sich über das Bild, um es genauer in Augenschein zu nehmen. So blieb sie reglos stehen, konnte den Blick nicht lösen. Sie wusste, dass sie die Augen weit aufgerissen hatte, was nicht am schlechten Licht lag, sondern am Motiv.

Kunst bedarf keiner Erklärung, sagte sie zu sich selbst. Das hatte sie mal von einem ihrer Lehrer am Gymnasium gehört. Vor ihr lag der Beweis. Sie setzte die Lesebrille auf, die an einer Kette vor ihrer Brust baumelte, und beugte sich noch etwas tiefer über das Gesicht.

Das Porträt schien förmlich aus dem Bild herauszutreten, es war von außergewöhnlicher, beinah erschütternder Plastizität. Es war das Gesicht einer jungen Frau, deren einzigartige Anmut sie völlig unvorbereitet traf. Die geschlossenen Augen, die langen Wimpern, die die Wangen berührten, die leicht geöffneten Lippen. Sie hatte etwas unbestimmt Exotisches. Die braunen Haare umrahmten ein schneeweißes Gesicht und fielen in Wellen bis auf die Brust, verloren dann ihre Konturen, die an den Rändern des Blattes gänzlich verschwammen.

Sie war eine anziehende und sinnliche Schönheit, kühl und ungestüm, raffiniert und wild. Rot und schwarz, wie die Leidenschaft.

Teresa zwang sich, den Blick von dem Gesicht zu lösen und die anderen Details zu betrachten.

Am rechten unteren Rand stand ein Datum, mit zitternder Hand geschrieben: 20. April 1945. Die Signatur fehlte.

Mehr als siebzig Jahre, dachte sie, lagen zwischen dem Akt des Zeichnens und ihrem Blick. Fast ein Jahrhundert, aber die Zeit gehörte nicht zu den Koordinaten des Bildes. Es schien außerhalb der Zeit zu stehen, nicht in ihrer Dimension zu existieren, sondern in einer Dimension von Raum und Gefühlen. Die Unsterblichkeit der Kunst.

Marini, der hinter ihr stand, verschlug es fast den Atem. Auch er war dem Zauber erlegen, den die Zeichnung auf die Umstehenden ausübte.

»Wer ist das?«, hörte sie ihn fragen. Da sie diese Frage selbst gerade hatte stellen wollen, warf sie ihm die Naivität, die darin lag, nicht vor. Marini empfand das Gleiche wie Teresa. Die Frau auf dem Bild wirkte wie ein Mensch aus Fleisch und Blut.

»Die Schlafende Nymphe«, antwortete der Galerist, der das Bild ebenfalls betrachtete. »Es galt als verschollen, doch dann hat man es unter alten Papieren auf einem Dachboden gefunden. So erzählt es jedenfalls der Neffe des Malers. Die Signatur fehlt, deshalb hat er es hergebracht, um die Echtheit überprüfen zu lassen. Eine reine Formalität, denn die Zeichnung stammt ganz ohne Zweifel von seinem Großonkel, Alessio Andrian.«

Der Name sagte Teresa nichts, und sie verstand auch nicht, warum Gardini sie um Hilfe gebeten hatte. Was gab es hier zu ermitteln?

»Denken Sie, es ist eine Fälschung?«, fragte sie.

Gardini lächelte unwillkürlich, doch es war kein Lächeln der Belustigung. Teresa wusste das. Es war vielmehr die Anspannung, die seine Muskeln zucken ließ.

»Ich fürchte, die Sache ist komplexer, Commissario. Die Untersuchung hat etwas Unvorhergesehenes und vor allem Beunruhigendes ans Licht gebracht. Signor Gortan kann das besser erklären als ich.«

Teresa richtete sich auf, ihr ganzer Körper ächzte.

»Und was?«

»Der Gutachter war dabei, das Papier und die Farbe zu analysieren, um das Blatt zu datieren«, begann der Galerist zu erklären, »um zu bestätigen, dass das angegebene Datum stimmt und man die Zeichnung auch der Epoche zuordnen kann. Das Werk wurde mit einem schwarzen Steinstift und mit einem Rötelstift angefertigt, das ist das Rote, ein eisenhaltiges Material, deshalb die intensive rote Farbe.«

»Ja, das weiß ich.«

»Bis vor ein paar Jahrzehnten wurde reiner Rötel verwendet, heute werden synthetisches oder natürliches Wachs untergemischt. Und je nachdem, ob man dieses Wachs nachweist, kann man in etwa bestimmen, wie alt das Werk ist. Das Problem ist, dass der Gutachter etwas anderes gefunden hat. Und da er nicht wusste, was es war, hat er einige Proben zur weiteren Analyse in ein Speziallabor geschickt.«

»Und das Resultat war?«

Es war Gardini, der antwortete, und er sah ihr dabei direkt in die Augen. Der Halogenscheinwerfer ließ sein Gesicht noch hagerer erscheinen und verlieh ihm etwas Dramatisches.

»Blut, Commissario.«

Teresa brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, worauf er hinauswollte. Sie hatte ihn immer für einen eher pragmatischen Typen gehalten, aber gerade ging wohl die Fantasie mit ihm durch. Sie schaute zu Marini. Auch er schien verwirrt.

Dann sah sie wieder den stellvertretenden Staatsanwalt an und zwang sich, angemessene Worte zu finden, wenngleich sie wusste, dass sie doch wieder direkt werden würde, wie es ihre Art war.

»Dottor Gardini«, begann sie, »es gibt Tausende von Gründen, aus denen Blut auf diese Zeichnung gelangt sein könnte. Vielleicht hat sich der Künstler geschnitten und das Blut ist auf das Papier getropft, vielleicht hatte er oder jemand anderes Nasenbluten. Meist ist die einfachste Erklärung die, die der Realität am nächsten kommt.«

Gardini schwieg, doch sein Blick sagte mehr als tausend Worte. Teresa nahm die Brille ab.

»Sie glauben, es ist jemand für diese Zeichnung gestorben?«, fragte sie. Sie konnte ihre Ungläubigkeit nicht verhehlen.

Gardini zuckte nicht mit der Wimper.

»Ich glaube es nicht, ich weiß es.«

Teresa sah auf die Zeichnung, das blasse Gesicht, das auszuatmen schien. Ein letztes Mal. Der Schlaf der Nymphe war vielleicht der ewige Schlaf.

»Warum?«, fragte sie und wusste bereits, dass Gardinis Antwort jeden Einwand zwecklos machen würde. Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er nie etwas leichtfertig behauptete, wenn er sich nicht sicher war.

Gardini lehnte sich gegen den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wir sprechen hier nicht von ein paar Spritzern Blut«, sagte er.

Teresa spürte, wie ihr Gesicht zu kribbeln begann, wie immer bei schlechten Nachrichten.

»Wie viel?«

Er griff nach der Akte auf dem Tisch und reichte sie ihr. Er wartete einen Moment, bis sie darin geblättert hatte.

»Die Schlafende Nymphe ist mit Blut gezeichnet, Commissario. Die Analyse hat ergeben, dass sich auf dem Papier menschliches Herzgewebe befindet.«

Allmählich verstand Teresa, aber es war Gardini, der ihre Gedanken aussprach: »Alessio Andrian hat dieses Bild gemalt, indem er seine Finger in jemandes Herz getaucht hat.«

Herzgewebe. Menschliches Herzgewebe. Hände, die in einen Brustkorb greifen, Finger, die in ein Herz tauchen. Das Bild, das vor Teresas innerem Auge erschien, war das eines Verrückten.

»Signor Gortan«, sie wandte sich an den Galeristen, »es ist gesichert, dass Alessio Andrian dieses Bild gemalt hat?«

»Ich selbst habe eine zweite Untersuchung vorgenommen. Es ist ohne jeden Zweifel ein Original.«

»Woraus schließen Sie das?«

Gortan verzog die Lippen zu einem Lächeln, das er für all jene Unwissenden parat hielt, die von seiner noblen Kunst keine Ahnung hatten. Eine Unwissenheit, die inakzeptabel war, und die er nur aus reiner Freundlichkeit verzieh. Der Mann, den sie vor sich hatte, dachte Teresa, hielt sich für den Hohepriester eines geheimnisvollen elitären Kultes, und so benahm er sich auch. Es war ein Irrtum gewesen, ihn für einen Kunsthändler zu halten.

»Woraus ich schließe, wer der Urheber dieses Werkes ist?«, wiederholte Gortan. »Aus allem. Aus jedem einzelnen Detail. Aus dem Papier, der Farbe, der Handschrift, mit der das Datum notiert worden ist. Aber vor allem aus dem Strich, dem Druck, mit dem der Stift aufgesetzt worden ist, der Winkel.« Er wedelte mit einer eleganten Geste durch die Luft, und eine Wolke raffinierten Parfüms erfüllte den Raum. »Die geschmackvolle Komposition, das, was ich ›die Handschrift des Künstlers‹ nennen möchte. Das ist seine Signatur, sie ist unverwechselbar. Diese Zeichnung ist die Schlafende Nymphe von Alessio Andrian.«

Er hatte offensichtlich keinerlei Zweifel. Seine geröteten Wangen zeugten von einem aufrichtigen Enthusiasmus.

»Ich muss zugeben, dass ich bis heute weder von dem Künstler noch von der Schlafenden Nymphe jemals gehört habe«, sagte Teresa.

Der Galerist verzog sein perfekt rasiertes Gesicht, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde, sodass man meinen konnte, sich getäuscht zu haben.

»Das wundert mich nicht. Andrian ist kein Künstler für die Masse, sondern nur für einen exklusiven und, nehmen Sie es mir nicht übel, ausgewählten Kreis. Wer das seltene Glück hatte, seine Werke betrachten zu dürfen, musste einfach seine außergewöhnliche künstlerische Meisterschaft bewundern.«

Teresa wurde neugierig. Von wem redete er da? Wer war dieser Alessio Andrian?

»Warum sprechen Sie von ›Glück‹?«

Gortans Gesicht strahlte, Teresa konnte förmlich spüren, wie sehr er darauf brannte, seine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen.

»Andrian hat 1945 aufgehört zu malen, Commissario. Mit nur dreiundzwanzig Jahren. Seine Werke sind nummeriert, von eins bis zehn. Und es heißt, die Schlafende Nymphe sei sein letztes gewesen, die Nummer elf.«

Teresa bemerkte, dass er von der Frau auf dem Bild sprach, als hätte es sie wirklich gegeben.

»Hat er nach einem Modell gezeichnet?«, fragte sie.

Gortan schüttelte den Kopf.

»Das weiß niemand.«

»Vielleicht hat er wegen der Ereignisse, die mit der Fertigstellung dieser Zeichnung zu tun haben, aufgehört zu malen«, gab Gardini zu bedenken.

»Das werden hoffentlich Sie mir sagen können, nicht wahr?«, antwortete der Galerist.

Teresa schlug ihr Notizbuch auf.

»Wie viel ist es wert?«, wollte sie wissen.

»Vor der Entdeckung des Blutes dreihundert- bis dreihundertfünfzigtausend Euro. Jetzt, wer weiß? Vielleicht das Doppelte.«

»Wollen Sie damit sagen, dass ein derart makabres Detail den Preis in die Höhe treibt?«, fragte Marini.

Gortan sah ihn mit einem gewissen Mitleid an, das Teresa ärgerte.

»Nein, Ispettore. Ich wollte sagen, dass der Wert eines Bildes wie diesem, wie übrigens jeden anderen Kunstwerks auch, mit seiner Geschichte zu tun hat. Mit den menschlichen Wechselfällen, die es begleiten. Und die Geschichte Alessio Andrians ist einzigartig, sie lässt niemanden gleichgültig. Dieses letzte Mosaiksteinchen bildet da keine Ausnahme.«

Teresa hörte auf zu schreiben.

»Welche Geschichte?«

»Andrians Neffe arbeitet im Ausland, aber er kommt heute Abend zurück. Wir werden ihn morgen Vormittag zu einem informellen Gespräch treffen. Es gibt keinen Geeigneteren als ihn, um uns Andrians Geschichte zu erzählen«, schaltete sich Gardini ein.

»Unter den gegebenen Umständen möchte ich sie auch gerne hören«, insistierte Teresa.

»Andrian war ein Partisan«, sagte Gortan rasch. »Er malte in seinem Versteck in den Bergen, zwischen den Aktionen gegen die Deutschen. Nach Kriegsende haben seine Kameraden ihn nicht mehr gefunden, sie hielten ihn für tot.«

»Aber?«, hakte Teresa nach.

»Er ist irgendwie in Bovec gelandet, damals italienisches Gebiet, wo man Slowenisch sprach. Eine Familie ließ die Partisanen der Garibaldi-Gruppe wissen, dass sie einen von ihnen im Wald hinter ihrem Haus gefunden hatten. Er war so schwer von den Tito-Milizen misshandelt worden, dass sie ihn anfangs für tot hielten. Das war Andrian. Ungefähr zwei Wochen nach seinem Verschwinden. Niemand weiß, was er in der Zeit dazwischen gemacht hat.«

»Hat man ihn nicht gefragt?«

»Andrian war nie mehr in der Lage, davon zu erzählen.«

»Weil er gestorben ist?«

»Nein, weil er den Verstand verloren hatte. Er malte nicht mehr. Und er sprach nicht mehr. Nie wieder.«

Gortan schwieg, doch seine Worte hallten in Teresa nach.

»Er hat das Geheimnis mit ins Grab genommen«, meinte Marini.

»Nicht wirklich.« Gardini suchte Teresas Blick. »Er ist noch am Leben, aber seit siebzig Jahren vegetiert er nur noch vor sich hin.«

Er hielt inne, als ob er ihnen Zeit geben wollte.

»Er ist nicht krank, das war er nie. Er läuft nicht mehr. Er spricht nicht mehr. Aus freiem Willen. Seit siebzig Jahren. Was auch immer geschehen ist, nachdem er die Schlafende Nymphe gezeichnet hat, er hat sich entschieden, als Toter zu leben. Ein lebender Toter.«

3

Der Junge versteckte sich im Wald, er atmete schwer. Jenseits des Waldrands konnte er noch die Wiese sehen, die Margeriten und den Löwenzahn. Hin und wieder wanderte ein Schatten über die Wiese und dämpfte die Farben, aber die Schäfchenwolken lösten sich rasch auf.

Er wandte sich um und ging in das tiefe duftende Grün hinein. Die Rufe hinter ihm wurden leiser leiser.

Der Wald nahm ihn schweigend in sich auf, und in der Stille verlangsamte er seinen Schritt. Es war, als ob er eine Kirche betreten würde, das kühle Halbdunkel, die schwindelerregende Höhe der gewölbten Decke, der Duft nach Baumharz, stechend wie der der Kerzen. Er hatte das seltsame Gefühl, einer höheren Macht gegenüberzustehen, die alles sehen konnte.

Er zitterte, das T-Shirt unter seiner Jacke war nass von Schweiß.

Immer tiefer drang er in die Höhle aus Wurzeln und Laub vor, hier konnte er sich verstecken. Er kauerte sich hin, legte sein Kinn auf die Knie und machte sich auf eine lange Wartezeit gefasst. Von Zeit zu Zeit hörte er seinen Namen. Wollte sein Instinkt ihn auch dazu bringen, zu antworten und seinem grausamen Scherz ein Ende zu bereiten, war da doch etwas anderes, das ihn zurückhielt. Eine wütende Liebe.

Die Stimmen seiner Eltern wechselten sich in ihrem verängstigten Singsang ab. Manchmal, wie ein Zwischenspiel, erhob sich die Stimme der Fremden über allen anderen. Dann spitzte er die Ohren und versuchte herauszuhören, ob die Stimme gleichgültig klang, wie so oft in letzter Zeit, oder ob seine plötzliche Abwesenheit sie aufgerüttelt hatte und sie sich wieder um ihn sorgte, so wie früher.

Die Fremde war seine Schwester. Zwischen ihnen war etwas zerbrochen, als sie größer geworden war und sich verändert hatte. Sie war es, gegen die sich seine Wut richtete. Er wollte, dass sie Angst hatte, ihn zu verlieren. Sie sollte ihn wieder so lieb haben wie früher. Deshalb hatte er beschlossen zu verschwinden. Und das hatte er getan, klammheimlich, beleidigt, hatte mit einem Stock in die Luft geschlagen und die Blütenblätter waren zu Boden gefallen, zusammen mit seinen Tränen.

Er zog sich noch tiefer in sein Versteck zurück. Zornig riss er einen Farn aus und zerrupfte ihn, zog die Nase hoch. Erst jetzt bemerkte er, dass er wieder weinte.

Da ließ ihn ein Rascheln über ihm zusammenfahren. Rasch wischte er sich die Tränen aus den Augen. Über ihm, in der smaragdgrünen Kuppel, hatte sich etwas bewegt. Dann wurde es wieder still.

Ihm fiel wieder ein, was er erst heute Morgen seiner Schwester auf dem Spaziergang erzählt hatte, und ihm entfuhr ein Wimmern.

Die Vipern bekamen ihre Jungen nicht in den Bäumen, das war eine Lüge, die er erfunden hatte, um ihr Angst zu machen.

Er saß ganz still.

Aber wusste er das ganz genau? Vipern gebären ihre Jungen auf den Ästen und lassen sie dann auf die Erde fallen.

Mit einem Schrei sprang er auf, ihm war, als wäre ihm gerade etwas in den Kragen seiner Jacke gefallen. In seiner Panik zog er sie aus und rannte davon.

Er wollte nach Hause, sich in Sicherheit bringen. Sein verletzter Stolz, die verratene Liebe interessierten ihn nicht mehr. Er wollte zurück, zu den Küssen seiner Mutter, dem Lachen seines Vaters. Auch die Fremde erschien ihm nicht mehr so feindselig und unerträglich.

Die Dornen und die jungen Triebe griffen nach ihm, stellten sich ihm in den Weg, schlangen sich um seine Arme und Beine. Der Wald wollte ihn in seiner dunklen Feuchte gefangen nehmen. Er konnte seinen Atem spüren.

Er suchte nach dem hellen Licht der Wiese, doch ringsum war nichts als Dunkelheit. Die Bäume schienen mächtiger und verwachsener, und das Unterholz wurde immer dichter.

Er begriff, dass er sich verlaufen hatte. Die Kälte hüllte ihn ein. Jetzt wurde ihm auch bewusst, dass er nur noch sein T-Shirt anhatte. Seine Arme waren zerkratzt von den Dornen. Auch sein Gesicht brannte, als wäre er zu lange in der heißen Sonne gewesen.

»Mamma«, rief er leise, als ob er das Wesen, das ihn umgab, nicht aufwecken wollte.

Der Wald antwortete mit einem leisen Murmeln, das er bis zu diesem Augenblick noch nicht gehört hatte. Um ihn herum bewegte sich alles. Der Junge konnte es nicht sehen, aber er spürte es.

Der Wald atmete, pulsierte wie ein einziges, mächtiges, finsteres Herz. Es war ein Dröhnen und Pochen, das aus der Erde kam, und sein eigenes Herz reagierte, indem es schneller schlug. Er riss die Augen auf, die Natur hallte mit einem geheimnisvollen Echo, das bis in seine Seele drang.

Er ballte die Fäuste, und er spürte einen brennenden Schmerz. Er hob die Hand, in der Handfläche war ein tiefer Schnitt. Wie hypnotisiert betrachtete er das Blut, das herabtropfte und in der schwarzen Erde versickerte.

Ein Schmetterling in den Farben des Arnikastraußes, den seine Mutter an diesem Morgen gepflückt hatte, setzte sich auf die Wunde. Er bewegte langsam die Flügel.

Als der Junge versuchte, ihn zu berühren, flatterte er auf, tanzte aber weiter um ihn herum. Der Junge folgte ihm, in der Hoffnung, er würde ihn zum Licht führen.

Die Bäume lichteten sich, und die Sonne strahlte gleißend hell durch das Unterholz. Er musste an die Bilder in dem Märchenbuch denken, an die Geschichte von Hänsel und Gretel und der Hexe, die sie fressen wollte.

Das Insekt ließ sich auf kleinen Holzstückchen nieder, die längst keine Rinde mehr hatten. Tautropfen glänzten auf den feinen Fäden eines Spinnennetzes.

Der Junge kniete sich hin und wollte das Holz aufheben, zog dann aber die Hand zurück. Das waren keine Zweige, das waren Knochen. Knochen, die aus der Erde ragten. Eine skelettierte Hand wuchs zwischen Moos und Blüten aus dem Boden.

Der Junge schrie auf und rannte davon, noch immer das Bild des Schmetterlings vor Augen, der sich verzweifelt aus dem Spinnennetz zu befreien versuchte, das zwischen dem gespannt war, was einst Finger gewesen waren.

Während er darüber nachdachte, dass er für immer in diesem Wald würde bleiben müssen, gefangen wie der Schmetterling in seinem Netz, hörte er eine Stimme, die nach ihm rief. Er hob den Kopf. Auf einem Hang, der in hellerem Licht lag, begann sich eine vertraute Gestalt abzuzeichnen.

Verzweifelt rief er zurück. Seine Schwester kam zu ihm geeilt, die Haare zerzaust und die Jeans voller Erde. Sie hatte geweint. Sie sank vor ihn auf die Knie und nahm ihn fest ihn den Arm, so wie sie es lange nicht getan hatte, so wie früher. Der Junge schluchzte und öffnete den Mund, um sich von der Angst zu befreien, brachte aber keinen Ton heraus. Er wandte sich in die Richtung, aus der er gekommen war: Doch der Wald sah überall gleich aus, er schien sich wieder geschlossen zu haben.

Er würde die Geisterhand niemals wiederfinden. Er presste die Lippen aufeinander. Niemand würde ihm glauben. Er ließ zu, dass seine Schwester den Arm um ihn legte und zum Licht führte. Eine letzte Träne rann über seine Wange. Für den Schmetterling.

Wenn er gewusst hätte, dass er beobachtet wurde, hätte er um sich geweint, um den stillen Tod, dem er gerade entronnen war.

Denn der Tikô Wariö hatte kein Mitleid, nicht mal für die Unschuldigen. Er war der Wächter.

4

Massimo fuhr nicht gleich nach Hause zurück, er hatte Lust zu laufen, sich vom Leben im Zentrum betäuben zu lassen. Das passierte ihm selten. Die Stadt hatte die Lichter angeknipst, das Stimmengewirr aus den Lokalen lud dazu ein, in Ruhe ein Glas Bier zu trinken. Unter den Arkaden der Piazza delle Erbe wimmelte es von Menschen, zu denen er bis vor Kurzem auch gehört hatte. Leute um die Dreißig wie er. Er sah sie scherzen, flirten, mit einem halb geleerten Glas in der einen Hand, in der anderen eine Zigarette oder die Hand einer Frau. Lichtjahre von ihm entfernt.

Er ging ziellos umher, sein Blick fiel auf glänzende Schaufensterscheiben, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Er suchte nach seinem Spiegelbild. Er hatte sich verändert, und das gefiel ihm nicht. Das war nicht er. Er ging und wäre am liebsten gerannt. Er schwieg und hätte am liebsten geschrien. Er wollte hier sein und gleichzeitig weit weg. Seine Flucht führte ihn immer wieder an den Ausgangspunkt zurück.

Feigling, dachte er, aber diesen Makel hatte er sich schon längst verziehen. Es war nicht sein schlimmster.

Er nahm das Handy aus der Tasche und schaltete es wieder an. Mit einem Gefühl der Leere im Magen wartete er auf die Meldungen, die in rascher Folge auf seinem Display erschienen.

Sie hatte wieder angerufen. Elena hinterließ nie Nachrichten, sie wollte ihre Verachtung nicht in wenige Worte packen, sondern sie ihm in die Ohren stopfen, bis ihm der Kopf platzte. Sie wollte ihm mit ihren Worten das Herz ohrfeigen.

Er bemühte sich gar nicht erst, glücklich zu wirken, und tauchte in die Stille der Nebenstraßen ein. Als er um eine Straßenecke bog, wäre er fast mit einem knutschenden Pärchen zusammengestoßen, das unter einer Laterne stand. Sie lachte, er umarmte sie noch fester.

Massimo fühlte Bitterkeit in sich aufsteigen und wandte den Blick ab. Auch Elena und er waren so gewesen, in einer Zeit, an die er sich nicht einmal mehr erinnern konnte, auch wenn die Logik ihm sagte, dass kaum mehr als ein Jahr seit damals vergangen war und nicht etwa ein Jahrzehnt. Sie waren genauso gewesen, hatten kaum die Finger voneinander lassen können.

Dann hatte er sie verlassen, ohne jede Erklärung, weil er sich sonst auch selbst eine hätte geben müssen, dabei wollte er nichts als Ruhe. Er hatte sie verlassen, nachdem sie von Liebe gesprochen hatte. Er hatte sie nicht wiedergesehen und auch nicht gesprochen. Bis vor einigen Wochen: Ein paar Stunden lang hatte er sie wieder geliebt, und wieder verlassen.

Es war keine gute Idee gewesen, in den Ferien nach Hause zu fahren.

Massimo spürte, wie Wut in ihm aufstieg, Wut auf sich selbst. Auf das, was er empfand. Und das, was er nicht empfand. Weil er anders war, als er es sich wünschte. Ohne es gemerkt zu haben, stand er auf einmal vor seinem Haus. Die Fenster im dritten Stock waren dunkel. Er nahm nicht den Aufzug, sondern ging die Treppen nach oben. An diesem Abend hatte er nicht mal einen Fall, an dem er hätte arbeiten können, um sich abzulenken. Zu hoffen, dass er den Fall der Schlafenden Nymphe nach siebzig Jahren lösen konnte, war in seinen Augen doch etwas zu optimistisch.

Er stieg die letzte Treppe hoch und blieb auf der vorletzten Stufe stehen. Eine Frau wartete auf ihn. Sie saß auf einem Trolley, den Rücken gegen die Tür gelehnt, die Augen geschlossen. Sie wirkte erschöpft, aber auch angespannt, bereit zum Kampf. Sie wirkte magerer, als er sie in Erinnerung hatte, dabei waren seit ihrem letzten Treffen nur ein paar Wochen vergangen. Aber diese kurze Zeit schien ihr alles abverlangt zu haben, als ob jeder Atemzug an ihr nagen würde.

Nein, mit der Zeit hatte das nichts zu tun.

»Elena?«, sagte er.

Seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen, aber sie riss sofort die Augen auf. Ohne ein Wort sahen sie einander an. Die Verlegenheit erdrückte sie förmlich. Dann erhob Elena sich mit einem Seufzen, das alles Mögliche bedeuten konnte, Müdigkeit oder Wut, Erleichterung oder Bedauern.

Massimo schluckte. Nichts, was er hätte sagen können, hätte ihn retten können.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich …«

Elena kam näher. Massimo erwartete eine Ohrfeige, aber sie legte ihr Gesicht in die Grube zwischen seinem Hals und dem Schlüsselbein. Die Gefühle durchzuckten ihn wie ein Peitschenhieb. Massimo machte Anstalten, etwas zu sagen, doch sie legte ihm die Finger auf die Lippen. Sie waren kalt und zitterten.

»Ich weiß auch nicht, wie ich es dir sagen soll, also werde ich gleich zur Sache kommen. Ich erwarte ein Kind«, sagte sie leise.

5

20. April 1945. Was an diesem Tag geschah, ist seit siebzig Jahren ein Rätsel.

To-do: Zeitungen aus der damaligen Zeit überprüfen.

Morgen, 8.30 Uhr: Treffen in der Staatsanwaltschaft mit Raffaello Andrian, dem Großneffen des Malers.

Mädchen mit Hund steht an der Ecke zwischen der Galerie und der Piazza. Blaue Haare. Komisches Gefühl. Habe ich sie schon mal gesehen?

Marini: hat ein Geheimnis, das ihn auffrisst.

Teresa klappte das Notizbuch zu und lehnte den Kopf gegen das Fenster des Büros, das sie mit Marini teilte. Sie hatte den jungen Inspektor zu Fuß in der Dunkelheit verschwinden sehen.

Er läuft vor irgendetwas weg, sagte sie zu sich selbst. Er hatte sich in seinem neuen Leben eingerichtet, aber etwas aus der Vergangenheit verfolgte ihn. In den letzten Wochen hatte er sich sogar körperlich verändert: Er hatte abgenommen, war nervös und hektisch. Unruhig wie das Tier, das in ihm hauste. Hin und wieder konnte Teresa es sehen. Es nahm das Leuchten aus seinem Blick und lag direkt vor seiner Seele. Sie und Marini hatten etwas gemeinsam: Sie beide hüteten ein Geheimnis.

Sie nahm den Bügel ihrer Brille in den Mund und starrte hinaus in die Nacht, die von den Straßenlaternen und den Scheinwerfern der Autos erhellt wurde. Sie konnte ihren Blick nicht von der Dunkelheit lösen.

Das Armband an ihrem Handgelenk klimperte, als sie sich über die Wange strich. Es war ein einfacher Silberring, in den sie nur wenige Worte hatte gravieren lassen.

Dein Name ist Teresa Battaglia.

Danach folgte die Nummer ihres Hausarztes. Nicht die eines Ehemannes, eines Kindes oder eines Verwandten: Diese Nachricht war nur für sie, die es gewohnt war, sich selbst zu retten.

Sie ließ die Rollos herunter und es war, als müsste sie die Trägheit abschütteln, die ihren Körper und ihre Gedanken ergriffen hatte.

Bis auf einen Monitor und eine Tastatur war ihr Schreibtisch leer. Er hatte sich in den vergangenen Monaten mit ihr verändert, sich einem Leben angepasst, das methodischer, reflektierter und sogar disziplinierter war.

Sie setzte sich und legte das Notizbuch auf den Tisch. Sie fischte einen Schlüssel unter der Tastatur hervor und öffnete die Schreibtischtür. Dann zog sie eine Schublade heraus und betrachtete den Inhalt.

Es war, als würde sie Schmetterlinge in die Freiheit entlassen. Die bunten Flügel waren Dutzende von durchnummerierten Post-its, die raschelten, wenn sie darüber strich, und die ihr Informationen lieferten.

Die gelben Post-its drehten sich um die Arbeit: was sie dort tat, wie man den Computer ein- und ausschaltete, wie man das Telefon bediente und ein Taxi rief, wie der Mann hieß, mit dem sie das Büro teilte … Bei den grünen ging es um private Dinge und um die Regeln, die sie wegen ihres Diabetes zu befolgen hatte. Die Nummer eins begann mit einer beunruhigenden Nachricht: Schau auf dein Armband, stand dort.

Sie sagte ihr, wer sie war. Das war ihr letzter Ausweg. Sie hatte zum Glück noch nie ausprobieren müssen, ob es funktionierte.

Diese Indizien leiteten sie durch einen Alltag, der von einem Moment zum anderen fremd und unverständlich werden konnte.

Die restlichen Lichter auf ihrem Stockwerk erloschen, die Stimmen der Kollegen, die die Treppe hinuntergingen, verloren sich, ein immer leiser werdendes Murmeln, wie in ihren Träumen.

Das alles würde ihr fehlen.

Sie atmete tief durch und zwang sich, sich auf den Fall Alessio Andrian und das mit Blut gemalte Bild zu konzentrieren. Morgen würde sie den Großneffen des Malers treffen und vielleicht etwas mehr darüber erfahren, weshalb die Schlafende Nymphe bis zu ihr gelangt war.

Ein weiterer Fall wartete darauf, gelöst zu werden, weitere Lügen darauf, erzählt werden. Ihre gesundheitliche Situation vor allen zu verschweigen bedeutete, alle zu belügen. Ihr Team, das an ihre Unfehlbarkeit glaubte. Den Questore und Gardini, die ihr immer noch hochkomplexe Fälle anvertrauten. Die Opfer. Die Angehörigen der Opfer.

Sie musste dieser Farce ein Ende setzen, bevor es zu spät war. Die Krankheit, die Tag für Tag ihre Erinnerungen auffraß, würde sie bald von allem trennen, was sie liebte. Teresa hatte sich schon vor Wochen entschlossen, endlich zu handeln, aber immer wieder hielt sie etwas zurück. Auch heute hatte sie vor der Tür des Questore gestanden, und er hatte sie geöffnet, als hätte er gewusst, dass sie davorstand.

»Ich habe einen neuen Fall für dich«, hatte er gesagt.

Und dann war, mit ihrem finsteren Geheimnis, die Schlafende Nymphe aufgetaucht und hatte das Unabänderliche aufgeschoben. Einziges Indiz eines Mordes, von dem man nicht einmal wusste, wo er verübt worden war. Über das Wann konnte man Vermutungen anstellen, wahrscheinlich am 20. April 1945. Ein paar Tage vor Kriegsende.

Alles, was Teresa hatte, war eine ebenso makabre wie außergewöhnliche Zeichnung, anonymes Blut, das sie nirgendwo hinführen würde, und ein alter Mann, der nicht mehr zurechnungsfähig war, der im Widerstand gekämpft und während des Krieges vielleicht jemanden umgebracht hatte. Vielleicht war das Opfer ein Feind gewesen, den Andrian – vielleicht schon dem Wahn verfallen – auf bestialische Weise getötet hatte.

Er hat die Hände ins Herz getaucht und mit dem Blut das junge Mädchen gemalt, erinnerte sie sich. Blut ist ein mächtiges Symbol. Es ist das Leben, das durch uns fließt, uns heilt und verwandelt.

Trotz der Gewalt, die in diesem Akt lag, konnte Teresa in all dem keine Mordlust, keine Raserei entdecken. Vielmehr sah sie darin eine Art Begierde. Eine bis ins Äußerste, bis in den Wahnsinn gesteigerte Leidenschaft.

Sie wusste, warum Gardini ihr die Ermittlungen übertragen hatte: Er vertraute ihrem Instinkt.

»Du hast eine Wahlverwandtschaft mit den Toten«, hatte er ihr einmal gesagt.

Die Toten hatten einiges über ihre letzten Momente zu berichten, aber diesmal hatte Teresa keine glasigen Augen, in denen sie nach dem Schatten des Mörders hätte suchen können. Sie hatte keine Hände, die versucht hatten, ihn wegzuschieben, letzten Widerstand zu leisten, ihm Spuren zu entreißen. Die Nymphe aus Blut schlief einen Schlaf, aus dem sie niemand mehr erwecken würde. Und ihr Geheimnis ruhte mit ihr.

Teresa schlug das Notizbuch auf und blätterte es in ihrem allabendlichen Ritual durch. Es war wichtig, den eigenen Geist zu kontrollieren, um zu verstehen, was und wann sie etwas vergessen hatte.

Sie fand das noch ungelöste Rätsel. Sie hatte noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Rätsel zu lösen half, wenn man verwirrt war. Sie hatte gelernt, dass sie sich damit der Welt wieder annähern konnte, wenn sie merkte, dass sich etwas in ihr verfinsterte. Aus der Notwendigkeit war eine angenehme Gewohnheit geworden.

Polizisten sollen in ein Haus eindringen, um einen mutmaßlichen Täter festzunehmen. Die einzige Information, die sie über ihn haben, ist sein Name: Adamo.

Als sie dort ankommen, finden sie vier Personen vor, die klar als Mechaniker, Feuerwehrmann, Arzt und Installateur zu erkennen sind und die Karten spielen. Ohne zu zögern verhaften sie den Installateur. Warum?

Das Notizbuch rutschte ihr aus der Hand und fiel raschelnd zu Boden. Sie langte mit der Hand unter den Stuhl, um es wieder aufzuheben, und zog sich an der Tischkante wieder hoch. Das Buch war auf einer Seite aufgeschlagen, die sie vor ein paar Tagen beschrieben hatte. Die Notiz, in ihrer schmalen Handschrift geschrieben, ließ sie erstarren.

Mädchen mit blauen Haaren, hässlicher Hund, an der Bushaltestelle vor der Questura. Ich habe das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben, aber sie ist sofort verschwunden. Sie wirkte aufgeregt.

Teresa erinnerte sich weder an die Situation noch daran, sie schriftlich festgehalten zu haben. Aber das war nicht das, was sie beunruhigte. Da war schon wieder das Mädchen mit den blauen Haaren. Sie hatte sie innerhalb kurzer Zeit mindestens dreimal getroffen, und zwar an drei verschiedenen Orten.

Sie schaute zum Fenster, ins Dunkel jenseits des Rollos.

Zufall, sagte sie sich. Oder jemand verfolgte sie.

6

Im Wald wurde es still, die Familie war endlich gegangen und hatte den allzu neugierigen Jungen mitgenommen. Ein unruhiges Geschöpf, das Herz voller Wut, hatte etwas gesehen, was es nicht hätte sehen sollen. Aber zu seiner großen Überraschung hatte der Junge nichts gesagt, das kleine Schreckensszenario, das er gefunden hatte, für sich behalten.

Er hatte lange gewartet. Die Fremden waren bis Sonnenuntergang geblieben, viel zu nah an dem Geheimnis, das verborgen bleiben musste, zu unvorsichtig, um Angst zu haben. Sie hatten nicht bemerkt, dass jemand sie beobachtete.

Die Sonne war hinter dem violetten Kreis der Berggipfel untergangen, und die Dämmerung hatte der Dunkelheit Platz gemacht. Die Venus, als Morgenstern Luzifer, als Abendstern Hesperus genannt, leuchtete im Westen. In dieser Zeit des Jahres erschien sie im kobaltblauen Delta zwischen zwei Bergkämmen.

In diesem sanften Licht lagen die Dörfer im Tal in tiefem Schlaf. Der Kirchturm mit den Lärchenschindeln und der Windrose anstelle des Kreuzes ragte über die Dächer, darüber nur die lanzenförmigen Silhouetten der Bäume.

Jenseits der Wiesen, jenseits des Waldrands, raschelten die Schritte leise im Unterholz, begleitet vom Rufen der Käuzchen. Sie kannten den Weg zwischen dem weißen Ginster und den gelben Wildlilien, den unwissende Augen nicht gefunden hätten. Den Hügel hinab wurden die Schritte zu kleinen Hüpfern, bis sie das Grab erreichten.

Die Nacht duftete und hüllte den Tod sanft ein. Die nunmehr freigelegten Knochen hoben sich leuchtend weiß von der dunklen Erde ab. Die jetzt geschlossenen Blumenkronen schmückten die sterblichen Überreste, die das Tal wieder freigegeben hatte. Der manchmal unwetterartige Frühlingsregen hatte den Boden aufgeweicht und das Geheimnis gelüftet, das der Wald in sich barg.

»Skrit kej«, murmelte sanft eine Stimme.

Ein Geheimnis hüten.

Der Wächter Tikô Wariö war in die Wälder des Tals zurückgekehrt, wie in den Geschichten, die sich die Alten am Feuer leise erzählt hatten. »Der, der Wache hält« hatte kein Gesicht und auch keinen Körper. Der Legende nach inkarnierte sich der große Hüter des Waldes, der grausame Wächter, in denjenigen, die seine Hilfe brauchten: Ein erwachsener Mann, ein Kind, eine Frau oder ein Greis.

Und jetzt hatte ihn jemand gerufen.

»Tikô Wariö. Tikô Brono. Te k skriwa kej«, sang die Stimme. Geduldige Hände begannen zu graben, um andere Hände wieder mit Dunkelheit und Stille zuzudecken.

7

Teresa betrachtete die Welt, ohne Teil von ihr zu sein. Sie betrachtete sie wie durch ein Fenster, alles erschien ihr wie in einem neuen Licht.

Auch die Angst, die sie verspürte, war neu: Sie hatte sich die ganze Nacht gefragt, ob der Eindruck, dass sie verfolgt wurde, in Wirklichkeit eine Folge der Krankheit war, die sie in eine Person verwandelte, die sie selbst nicht kannte.

Phobien, Paranoia, Manien: War das alles, was von ihrer Zukunft blieb, bevor der Alzheimer endgültig jedes Gefühl und jede Erinnerung auslöschen würde?

Sie hatte darauf keine Antwort gefunden, und die Angst schien sich inzwischen in ihrem Körper eingenistet zu haben, sie drückte in ihr und verzerrte ihre Selbstwahrnehmung.

Die Büros der Staatsanwaltschaft waren noch menschenleer, die Flure des Gerichts gerade erst gereinigt worden. Das gleichmäßige Ticken einer Uhr durchbrach die Stille.

Teresa starrte auf den Kreuzgang, der vom Viereck des Palazzos aus dem späten 19. Jahrhundert umschlossen wurde. Marini war zu spät, sein Telefon ausgeschaltet. Irgendetwas sagte ihr, dass er nicht kommen würde. Sie entwickelte allmählich, was ihn betraf, einen sechsten Sinn, einen Beschützerinstinkt, der vielleicht einem konkreteren Gefühl vorausging. Sie wusste, dass es nicht gut war, auf diese Weise an ihn zu denken. Es war nicht gut, sich gerade jetzt an jemanden zu binden, sie musste sich darauf vorbereiten, Abschied zu nehmen und zu verschwinden.

Sie schloss einen Moment die Augen, wie um die Gedanken und Gefühle auszulöschen. Als sie sie, einige Atemzüge später, wieder öffnete, hatte sich ihre Verwirrung verflüchtigt, und sie war wieder Commissario.

Sie würde gleich den Großneffen von Alessio Andrian treffen, vielleicht den einzigen Menschen, der ihr helfen konnte, das alte Geheimnis zu lüften, das dieses Bild in sich barg.

Am Vortag hatte der stellvertretende Staatsanwalt das Ganze als informelles Gespräch bezeichnet, aber Teresa wusste, dass sie den jungen Raffaello Andrian einem echten Verhör unterziehen würden. Denn auch wenn er aus freien Stücken kam, kannte er als Einziger die Tatsachen.

Raffaello hatte das mit Blut gemalte Bild gefunden. Vielleicht wusste er auch etwas über den Ursprung des makabren Bildes, vielleicht hatte er auf das Gutachten von Gortan gesetzt, um es für möglichst viel Geld zu verkaufen. Es konnte auch durchaus sein, dass er sich so schnell wie möglich der Indizien für einen Mord entledigen wollte, der siebzig Jahre zurücklag. Womöglich hatte er nicht damit gerechnet, dass Gortans Prüfung so gründlich ausfallen würde.

Doch das waren nur die Überlegungen eines Gehirns, das gewohnt war, eher die Schatten zu sehen als das Licht, das war Teresa bewusst. Sie hatte Raffaello Andrian noch nicht kennengelernt, aber bereits begonnen, sich ein Bild von ihm zu machen – sein mögliches psychologisches Profil, Verhaltensdetails –, die später dazu beitragen sollten, allem einen Sinn zu geben. Am meisten interessierten sie die unwägbaren Besonderheiten, denn sie wusste, dass ein Verbrechen, ganz gleich welcher Art, zuallererst im Kopf verübt wurde, Schritt für Schritt, bewusst oder unbewusst.

Jemand grüßte sie, und sie drehte sich überrascht um. Der Staatsanwalt war eingetroffen.

»Guten Morgen, Dottor Gardini«, sagte sie und versuchte auf eine Weise zu lächeln, die jegliche Unsicherheit überstrahlte. Sie hielt nach dem Questore Ausschau. »Bist du allein?«

Der Staatsanwalt nickte.

»Paolo und ich haben telefoniert, es geht ihm nicht gut. Wir müssen ohne ihn auskommen.«

Teresa dachte an die Mail, die sie am Vorabend an Ambrosini geschickt hatte. Wenige Zeilen, in denen sie um ein »Gespräch« gebeten hatte. Sie war sich fast sicher, dass sie ihm alles erzählen konnte, aber das Leben schien ihr noch ein wenig Aufschub zu gewähren.

Sie gingen in Gardinis Büro. Dort würde das Gespräch mit Raffaello Andrian stattfinden.

»Machst du dir Sorgen wegen des Falls?«, fragte Gardini.

»Natürlich. Wir wissen beide, dass wir ihn nicht lösen werden.«

Gardini blieb stehen. Er hatte einen Stapel Akten unter dem Arm. »Meinst du, wir verschwenden unsere Zeit?«

Teresa entschloss sich, ehrlich zu sein. »Ich glaube, dass der Fall außerhalb unseres Einflussbereichs liegt. Es sind mehr als siebzig Jahre vergangen. Das sind Dekaden, und dieses Wort benutze ich ganz bewusst, denn diese Ermittlung hat etwas Episches. Wahrscheinlich sind alle Zeugen tot. Und wir wissen nicht einmal, wo das Ganze passiert ist …«

Das Gebäude füllte sich langsam mit Leben, und Gardini bemühte sich, leise zu sprechen.

»Richter Crispi hat nicht vor, den Fall zu den Akten zu legen, das sage ich dir jetzt ganz offiziell. Er fürchtet, die Presse könnte Wind davon bekommen. Und wenn das passiert, was sehr wahrscheinlich ist, dann verlangt die Öffentlichkeit Antworten. Und bevor er auch nur daran denkt, eine Verjährung in Betracht zu ziehen, will er wissen, was passiert ist.«

»Daran habe ich keinen Zweifel.«

Der Gesichtsausdruck des Staatsanwalts entspannte sich.

»Lass uns einen Schritt nach dem anderen machen, okay? Vielleicht führt es uns ja irgendwo hin. Vielleicht hat uns Andrians Neffe etwas Interessantes zu erzählen.«

Teresa zog ihr Notizbuch aus der Tasche.

»Und der Maler?«, fragte sie.

»Den können wir vergessen, er ist nicht vernehmungsfähig. Er ist nicht bei Verstand, das habe ich dir doch schon gesagt. Ich möchte, dass du dich heute um den Neffen kümmerst. Stell ihm alle Fragen, die dir notwendig erscheinen.«

Vor dem Büro saß ein etwas verloren wirkender junger Mann auf einem Stuhl. Als der Staatsanwalt seinen Namen rief, sprang er auf.

Gardini stellte die Anwesenden einander vor, und dabei lächelte er beruhigend, seine Stimme war sanft.

Raffaello Andrian passte so gar nicht zu dem Bild, das Teresa sich von ihm gemacht hatte.

Er kam ihr eher vor wie ein junger Student und nicht wie ein erwachsener Mann. Obwohl er siebenundzwanzig war, wirkte er kaum älter als zwanzig. Die blauen Augen hatte er verschreckt aufgerissen, die dunkelbraunen Locken fielen ihm wirr in die Stirn und verliehen ihm etwas von einem Cherubim, der nichts mit dem selbstsicheren, auf seine Karriere bedachten Verwandten zu tun hatte, den Teresa erwartet hatte.

Sie gingen ins Büro. Gardini nahm hinter einem Schreibtisch Platz, der eher wie eine Ablagefläche für alte Akten aussah als nach einem Arbeitsplatz, Teresa setzte sich neben den jungen Mann. Sie wusste, dass sie ihn einschüchterte, und das spielte ihr in die Karten. Sie hatte sofort bemerkt, dass sie Macht über ihn hatte: Das erkannte sie an den ängstlichen Blicken, die Raffaello ihr zuwarf, um dann sofort wieder zu Gardini hinüberzusehen, der Trost und Wohlwollen ausstrahlte. Dabei war sie gar nicht so furchteinflößend. Sie lächelte ihn an und setzte die Lesebrille auf, um sich Notizen zu machen.

»Wie ich bereits am Telefon gesagt habe, ist das hier kein Verhör, Signor Andrian«, begann Gardini. »Es gibt in diesem Fall keine Verdächtigen, und es wird auch gegen niemanden ermittelt. Wir möchten nur wissen, ob Sie Informationen für uns haben, die uns helfen können, die Ereignisse zu rekonstruieren.«

»Gerne, soweit es mir möglich ist …« Auch seine Stimme verriet, dass er unter Selbstzweifeln litt.