Eiskalte Hölle - Ilaria Tuti - E-Book
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Eiskalte Hölle E-Book

Ilaria Tuti

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Beschreibung

Ein einsames Dorf in den Bergen. Ein grausamer Leichenfund im verschneiten Wald. Und eine Ermittlerin, die sich bald selbst nicht mehr trauen kann ...

Norditalien: Im Wald nahe eines kleinen Bergdorfs wird die Leiche eines Mannes gefunden. Sein Gesicht ist völlig entstellt, um ihn herum sind Tierfallen aufgebaut. Ein Ritualmord? Die Profilerin Teresa übernimmt zusammen mit ihrem neuen Kollegen Massimo die Ermittlungen. Doch der Ort scheint ein düsteres Geheimnis zu bergen, das die beiden tief in die Vergangenheit bis hin zu einem mysteriösen Waisenhaus führt. Und während der Mörder sein nächstes Opfer ins Visier nimmt, wird der Fall für Teresa immer mehr zum persönlichen Albtraum. Sie hat das Gefühl, niemandem mehr trauen zu können – vielleicht nicht einmal mehr sich selbst ...

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Seitenzahl: 409

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ILARIA TUTI wollte als Kind immer Fotografin werden, studierte dann aber Wirtschaft. Sie liebt die Berge, malt gern und arbeitet unter anderem auch als Illustratorin für ein kleines italienisches Verlagshaus. Mit Eiskalte Hölle erfüllt sie sich den Traum vom Schreiben. Ihr spektakuläres Thrillerdebüt spielt im Nordosten Italiens, dort, wo Ilaria Tuti aufgewachsen ist. Die Autorin lebt im italienischen Friaul.

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Ilaria Tuti

EISKALTE HÖLLE

THRILLER

Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler

Die italienische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Fiori sopra l’inferno bei Longanesi, Mailand.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2018 by Ilaria Tuti

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Penguin Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: bürosüd

Umschlagmotiv: Mauritius Images/Masterfile RM/Siephoto und bürosüd

Redaktion: Sigrun Zühlke

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23704-2V001

www.penguin-verlag.de

Für Jasmine

Dann, Schönheit, sag’ dem Wurm, der dich zerfleischt mit Küssen,

Wie treu ich sie gewahrt

Die Göttlichkeit des Wesens, das zersetzt, zerrissen

Von meiner Liebe ward.

Charles Baudelaire

Unsere Welt, wir

stehen auf dem Dach der Hölle,

betrachten Blumen.

Kobayashi Issa

1

Österreich, 1978

Eine Legende lastete auf diesem Ort. Eine dieser Geschichten, die man genauso wenig loswurde wie einen Geruch. Im Spätherbst, bevor der Regen sich in Schnee verwandelte, stieß der Bergsee unheilvolle Seufzer aus, so hieß es.

Wie Dampf erhoben sie sich aus dem Wasser, stiegen mit dem Morgentau zu den Gipfeln hinauf, wenn der hohe blaue Himmel sich in dem dunklen Gewässer spiegelte wie das Paradies in der Hölle. Dann konnte man lange Seufzer hören und ein Wimmern vom östlichen Ufer.

Die Schule. So nannte man das im späten neunzehnten Jahrhundert errichtete Gebäude unten im Dorf. Einst war sie ein kaiserliches Jagdschlösschen gewesen, später ein Erholungsheim für tuberkulosekranke Kinder und schließlich ein Waisenhaus mit angeschlossener Schule.

Heute herrschte Stille in den Gängen. Seit die staatlichen Zuwendungen immer knapper geworden waren und es kaum noch private Spenden gab, waren die Räume verwaist, und die Zeichen des Niedergangs mehrten sich. Putz blätterte von den bröckelnden Mauern, die bemalten Stuckdecken verblichen.

Und dann im November dieses Heulen, das aus dem Nebel aufstieg bis zu den Fenstern der oberen Stockwerke und zum Dach, wo der Raureif glänzte.

Legenden allerdings waren etwas für Kinder und melancholische Alte, Menschen mit weichem Herzen. Also nichts für Agnes Braun. Sie lebte schon viel zu lange in der Schule, um sich von den alten Geschichten beeindrucken zu lassen. Sie kannte das Knarzen jedes Balkens, jedes Ächzen der alten Rohre in den Wänden.

Agnes ging in die Küche im Untergeschoss, die zwischen Vorratsräumen und Waschküche lag, und holte einen Servierwagen. Sie manövrierte ihn an den großen Bottichen vorbei, aus denen bald Dampf und der Geruch von Sauberkeit aufsteigen würden, zu dem uralten Lastenaufzug. Sie war allein in dieser Stunde zwischen Nacht und Tag. Lediglich der Schatten einer vorbeihuschenden Ratte leistete ihr bisweilen Gesellschaft und die Umrisse der Kadaver, die im ehemaligen Kühlhaus abhingen.

Sie zwängte sich mit ihrem Wagen in den Aufzug und fuhr in den ersten Stock hinauf. Seit einiger Zeit bereitete ihr diese Aufgabe Unbehagen, ein nicht näher zu bezeichnendes Unwohlsein, wie eine latente Krankheit, die nicht wirklich ausbrechen wollte.

Quietschend setzte sich das betagte Gefährt in Bewegung, laut protestierten die Ketten und Seile, zitternd bewegte sich der Käfig nach oben, um nach wenigen Metern mit einem Ruck stehen zu bleiben. Agnes öffnete die Gittertür und trat in den Flur hinaus, einen langen, blau gestrichenen Schlauch mit großen Sprossenfenstern, der wie alles hier dringend nach einer Renovierung verlangte.

Ein Fensterflügel schlug klappernd.

Agnes ging hin, um ihn zu schließen. Das Glas war kalt und beschlagen. Sie wischte eine Art Bullauge frei und beobachtete, wie die Sonne über dem Dorf und dem Tal aufging. Der kleine Ort lag ein ganzes Stück unterhalb der Schule und des Sees, dessen glatte Oberfläche sich rosa zu färben begann. Die Dächer der Häuser sahen aus wie kleine schieferfarbene Quadrate.

Zwar war der Himmel klar, doch Agnes wusste aus Erfahrung, dass die Sonne die Felsen hier oben auf siebzehnhundert Metern Höhe heute nicht erwärmen würde. Nicht umsonst hatte sie schon beim Aufstehen gespürt, dass ein Migräneanfall sich anbahnte.

Der Nebel zog bereits auf und würde bald alles verschlucken: das Licht, die Geräusche, selbst die Gerüche dieses nach Elend stinkenden Ortes. Aber während er über das gefrorene Gras herankroch, erweckte er das Wimmern zum Leben.

Der Atem der Toten, dachte Agnes.

Es war der Wind, der Buran, der aus Nordosten blies, der ihn herantrug. Er kam von weit her, aus fernen Steppen, hatte Tausende Kilometer zurückgelegt, bevor er von dem engen Tal eingesogen wurde, gegen die Flussufer blies, in den Wald fegte, um dann pfeifend wieder aufzutauchen und schließlich an den Felsen zu zerschellen.

Unsinn, rief sie sich zur Ordnung, es war nur Wind.

Die Standuhr am Eingang schlug sechs. Es war spät geworden, dennoch blieb Agnes unbeweglich stehen. Sie wusste, dass sie trödelte, und sie wusste auch, warum.

Alles nur Einbildung, sagte sie sich noch einmal.

Sie atmete tief durch, packte den Griff des Wagens fester und schob ihn energisch auf die Tür am Ende des Flures zu.

Das Nest.

Ihr Magen verkrampfte sich bei diesem unvermuteten Gedanken. Es war tatsächlich ein Nest, in den vergangenen Wochen war es dazu geworden. Auf geheimnisvolle Weise arbeitete es darin. Wie bei einem Insekt, das sich auf seine Verpuppung vorbereitete. Agnes wusste es genau, auch wenn sie sich nicht erklären konnte, was wirklich in diesem Saal geschah. Sie hatte mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit dem Direktor – er würde sie für verrückt halten.

Sie steckte die Hand in die Tasche ihrer Schwesterntracht. Ihre Finger tasteten nach dem rauen Stoff der Haube, zogen sie heraus und stülpten sie über Kopf und Gesicht. Der dünne Stoff bedeckte sogar die Augen und verhüllte sie vor den Blicken der Welt, so verlangte es die Vorschrift.

Sie trat ein.

Es war still. Der gusseiserne Ofen verbreitete nach wie vor angenehme Wärme, folglich mussten noch einige der Scheite glimmen, die sie gestern Abend aufgelegt hatte. Die Betten waren in vier Zehnerreihen aufgestellt. Keines trug einen Namen, auf den Schildern standen lediglich Nummern.

Man hörte weder Weinen noch Rufen. Agnes wusste, was sie erwartete: ausdruckslose erloschene Augen, sie brauchte gar nicht erst hinzuschauen.

Bei einem Bett allerdings war das anders.

Jetzt, da sie sich an die Stille gewöhnt hatte, konnte sie es hören. Ganz hinten regte sich etwas. Sie wappnete sich. Vielleicht wurde sie tatsächlich verrückt.

Schritt für Schritt näherte sie sich dem Bett mit der Nummer neununddreißig.

Dieses Wesen hier war voller Leben, seine Augen waren hellwach und aufmerksam und folgten jeder ihrer Bewegungen, suchten ihren Blick hinter dem Schleier. Agnes erkannte, dass Nummer neununddreißig sich ihrer Anwesenheit sehr wohl bewusst war, wenngleich es nicht so sein sollte.

Vorsichtig sah sie sich um, ob jemand sie beobachtete, dann streckte sie einen Finger aus. Nummer neununddreißig schnappte zu, und ihre Zähne gruben sich tief in ihr Fleisch. In den Augen lag ein Ausdruck von Besessenheit. Als Agnes den Finger fluchend zurückzog, kam ein kurzes Stöhnen über die Lippen des Wesens.

Da zeigte sich sein wahres Wesen, dachte Agnes. Ein Fleischfresser.

Doch das, was dann geschah, machte ihr klar, dass sie ihre Beobachtungen nicht mehr für sich behalten durfte.

Auch in den Betten rund um Nummer neununddreißig war es nicht mehr still. Agnes hörte sich beschleunigende Atemzüge, als folgten die Bewohner des Saales einem gemeinsamen Ruf. Das Nest begann zu brodeln.

Aber vielleicht bildete sie sich das alles bloß ein.

2

Heute

Der Rabe lag am Wegesrand, die violett schimmernden Federn zerzaust, der Schnabel weit geöffnet. Das Blut unter seinem aufgeblähten Bauch war trocken, obwohl der Nachmittag feucht und kalt war.

Wie lange mochte das arme Tier hier bereits liegen, ein totes Auge zum Himmel gerichtet, aus dem es bald schneien würde?

Mathias ging neben dem Vogel in die Knie und betrachtete ihn eingehend. Unwillkürlich fragte er sich, ob die Flöhe den Körper verlassen hatten, sobald das Herz aufgehört hatte zu schlagen. Das hatte er mal in einem Gespräch mit einem Jäger gehört, und seitdem ließ es ihn nicht mehr los. So etwas interessierte ihn. Er fand die Überlegung absonderlich und faszinierend zugleich.

Vorsichtig tippte er den Raben mit der Fingerspitze an. Der Vogel war alt, das sah man an dem nackten weißen Schnabel. Die Beine waren steif, die kräftigen Krallen ragten ins Nichts.

Rasch wischte er den Handschuh an der Hose ab. Wenn sein Papa das gesehen hätte, hätte er auf der Stelle eine Ohrfeige dafür bekommen. Schon häufig hatte er ihn dabei erwischt, wie er sich die Kadaver kleiner Tiere interessiert anschaute, die er im Garten oder in dem Kiefernwäldchen hinter dem Haus entdeckte, und ihn dafür gescholten und dabei ein Wort benutzt, das Mathias nicht kannte, das sich aber schrecklich anhörte. Er hatte es im Wörterbuch nachgeschlagen. Er wusste nicht mehr genau, wie es geheißen hatte, aber es hatte etwas mit Wahnsinn zu tun gehabt.

Wenn er groß war, wollte Mathias Tierarzt werden, und er nutzte jede Gelegenheit, um etwas zu lernen. Genau zu beobachten, hatte der Großvater ihm einmal gesagt, mache den größten Teil von dem aus, was er brauche, der Rest sei ausprobieren, immer wieder ausprobieren.

Der Junge stand auf, die Augen nach wie vor auf den kleinen Kadaver gerichtet. Er hätte ihn gerne begraben, aber so war es richtiger: Die Natur bestand in fressen und gefressen werden, sie hungerte nach diesen Resten. Nichts wurde verschwendet.

Die Kirchenglocken schlugen halb drei. Er musste sich beeilen, die anderen würden bestimmt schon am Geheimversteck auf ihn warten.

Er folgte dem mit Eis überzogenen Pfad. Travenì war an diesem Morgen unter einer Schicht aus Schnee erwacht. Nicht viel und viel zu schnell wieder geschmolzen, aber es ließ auf den Beginn der Skisaison hoffen.

Als er am Denkmal für die Gefallenen der Napoleonischen Kriege vorbeikam, das zwischen niedrigen Pinien und Fichten auftauchte, sah er zu dem Bronzegrenadier hoch, der mit finsterer Miene den Horizont abzusuchen schien, die langen Bartenden nach oben gezwirbelt.

An seinem Bajonett wehte ein blauer Schal. Einer aus ihrer Gruppe musste schon da sein, wahrscheinlich Diego.

Mathias ging schneller.

Heute Morgen hatte ihnen die Lehrerin die Bedeutung des Wortes Leader erklärt. Er war fasziniert gewesen. Ihm gefiel sein Klang, es hörte sich irgendwie endgültig an – aber vor allem gefiel ihm der Gedanke, dass er auch ein Anführer war.

Ein Leader beschütze seine Gefährten, hatte die Lehrerin gesagt, und genauso fühlte er sich. Er hatte in seiner Gruppe nicht nur deshalb das Sagen, weil er mit seinen zehn Jahren der Älteste war, sondern weil alle wussten, dass sie sich auf ihn verlassen konnten.

Deshalb hätte am Denkmal eigentlich sein Schal hängen müssen, er hätte als Erster dort sein sollen, um ihnen zu zeigen, wo sie langgehen sollten. Das nämlich war die Aufgabe eines Anführers. Bloß war er zu spät gekommen wegen des toten Raben. Mathias seufzte. Vielleicht hatte sein Vater ja doch recht.

Das Denkmal war von steilen Felsen umgeben, die ein Flussbett säumten, und ganz tief unten konnte man das Wasser zwischen den dunklen Steinen gurgeln hören.

Ein schmaler, steiler Pfad führte in Serpentinen nach unten. Leichtfüßig sprang Mathias hinunter, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Die Steine rollten unter seinen Turnschuhen, immer wieder musste er die Hand zu dem einfachen Holzgeländer ausstrecken, um nicht auszurutschen. Als er unten ankam, war er völlig außer Atem, seine Knie zitterten, und sein Gesicht glühte.

Der Gebirgsfluss hatte sich über Jahrtausende in die Schlucht gegraben, die Menschen hatten daran entlang einen Weg in den Berg gehauen, Treppenstufen aus Eisen und Holz errichtet, um die Schlucht passierbar zu machen, selbst wenn der Fluss viel Wasser führte. Unter den Gittern der Stufen schäumte das grünliche Wasser, die Gischt roch nach Eis. Selbst im Sommer reichten das Licht und die Wärme der Sonne nicht bis auf den Grund.

Mathias sah sich um. Niemand außer ihm war hier, und er hörte nichts außer seinem Atem und seinem Herzschlag. Zu dieser Jahreszeit verirrte sich kein Tourist hierher, die fuhren lieber Ski auf den sonnigen Hängen.

Er beschleunigte seinen Schritt, ohne genau zu wissen, warum.

Hoch oben über ihm, zwischen den Baumwipfeln, war die alte Eisenbahnbrücke zu sehen, über die seit Langem keine Züge mehr fuhren. Sein Ururgroßvater hatte beim Bau mitgearbeitet, vor fast hundertfünfzig Jahren. Da war er noch nicht mal auf der Welt gewesen.

Als er nach oben schaute, rutschte er auf einer vereisten Stelle aus, fiel aufs Knie und schrie überrascht auf. Im selben Augenblick hörte er ein Geräusch aus dem Wald. Einen leisen Schrei. Er hielt den Atem an und schaute sich um.

»Der Wald ist kein Ort für Kinder.« Die mahnenden Worte seiner Mutter schossen ihm durch den Kopf.

Er rappelte sich auf, ohne auf die schmutzigen Jeans und die brennenden Hände zu achten, die er sich trotz der Wollhandschuhe aufgeschrammt hatte.

Es war nicht mehr weit. Nur noch um die Felsnase herum – auf einer Seite Moos, auf der anderen das strudelnde Wasser –, und dann durch den kurzen Tunnel. Mathias rannte die paar Meter durch die Dunkelheit des Felsgewölbes und redete sich ein, dass ihn die Eile trieb und nicht die Angst. Auf der anderen Seite angekommen, hielt er an. Ein Sonnenstrahl drang durch das Grün und ließ das Unterholz golden aufleuchten. Der Wasserfall, der den Fluss speiste, stürzte sich über ihm vom Berg herab, und Tausende Tropfen sprühten durch die Luft. Im Sommer leuchteten sie in allen Regenbogenfarben, wenn ein Sonnenstrahl darauf fiel.

Unten an dem kleinen Kiesstrand saßen seine Freunde frierend auf den Felsbrocken und warteten. Lucia, Diego und Oliver. Ihr Anblick genügte, um alle Ängste zu verscheuchen. Er lächelte. Niemand war hinter ihm her. Keiner war ihm gefolgt.

Noch einmal schaute er sich herausfordernd zu der dunklen Mündung um. Er hatte gewonnen, er war wirklich ein Leader, dachte er triumphierend. Doch dann erlosch sein Lächeln.

Plötzlich war er sicher.

Da war jemand, versteckt in der Dunkelheit, und er beobachtete ihn.

3

Der mit Raureif überzogene Körper lag im Gras. Die blasse Haut bildete einen harten Kontrast zu dem schwarzen Kopf- und Schamhaar. Im Hintergrund das dumpfe Grün der Bergwelt. In den Schatten am Rande der Wälder hielten sich hartnäckig schmutzige Schneefelder. Über Nacht hatte es ein wenig geschneit, Eiskristalle hingen an den Wimpern der Leiche.

Der Mann lag auf dem Rücken, die Arme am Körper, eine Hand ruhte auf einem Mooskissen. Keine Hinweise auf einen Kampf, zwischen den Fingern streckten ein paar Winterblumen ihre blassen, durchscheinenden Blütenblätter in die Luft.

Das Ganze wirkte wie ein sorgsam arrangiertes Stillleben in den Farben erkalteten Blutes, blauer Adern und starrer Glieder. Der Frost hatte alles konserviert. Es roch nicht nach Verwesung, in der Luft hing nur der Geruch nach feuchter Erde und faulenden Blättern.

Jemand hatte ihn sorgfältig so hergerichtet.

Rund um den Fundort waren einfache Fallen aus Schnüren und Knoten aufgestellt.

»Um die Tiere von dem Toten fernzuhalten. Der Täter wollte, dass wir die Leiche unversehrt vorfinden«, sagte eine raue Stimme.

Die Lippen bewegten sich vor dem Mikrofon des Handys, man konnte Atemwölkchen sehen. Die Spurensicherung war vor Ort, weiße Overalls, blitzende Fotoapparate, Scheinwerfer, die die Szenerie beleuchteten.

»Eindeutig ist er keiner schweren körperlichen Arbeit nachgegangen, die Hände sind glatt, der Ehering hat keine Kratzer, die Nägel sind gepflegt.«

Der Ehering an der linken Hand glänzte sogar im bleichen Dezemberlicht.

Während der Rest des Körpers unversehrt war, wies das Gesicht Spuren eines heftigen Angriffs auf. Ebenso der Hals, an dem Blutgefäße geplatzt waren und wo sich tiefblaue Striemen gebildet hatten. Kurz vor seinem Tod musste er sich sorgfältig rasiert haben. Der leichte Bartschatten rührte daher, dass sich die Haut post mortem zurückgezogen hatte.

»Für die Verletzungen gibt es zu wenig Blut. Wahrscheinlich befindet es sich auf der Kleidung, die man ihm ausgezogen hat.«

Rund um den Leichnam, auf dem Boden in Eis und Matsch, fanden sich reichlich Fußabdrücke. Das wirkte nachlässig und stand im Widerspruch zu der Sorgfalt, mit der das Stillleben drapiert worden zu sein schien.

Immerhin wussten die Ermittler inzwischen, dass die Abdrücke Schuhgröße fünfundvierzig entsprachen, was auf einen stattlichen Täter hinwies.

Auch das Opfer war groß gewesen. Und muskulös. Weder an Armen, Handgelenken noch an den Fußknöcheln waren Spuren von Fesseln zu sehen. Der Mann musste mit schier unmenschlicher Kraft überwältigt worden sein.

Er muss den Mörder gekannt haben, sonst hätte er sich besser verteidigt. Was er wohl gedacht hat, als er begriff, dass er sterben würde?

Aus der erstarrten Miene des Opfers, seinen geschlossenen Lippen und Augen ließen sich keine Antworten ablesen.

Auffällig war, dass der Tote offen neben einer Art Kanal abgelegt worden war, den der Gebirgsfluss sich hier gegraben hatte. Während der Saison verlief hier einer der Hauptwanderwege für Touristen. Wanderer hatten die Leiche vor wenigen Stunden gefunden. Was weder Zufall noch Unachtsamkeit entsprang: Der Mörder hatte den Toten nicht verstecken wollen.

»Ich sehe keine Anzeichen für ein Sexualverbrechen, und doch hat er ihn ausgezogen.«

Der Leiter des örtlichen Polizeireviers hatte ihn als einen Familienvater identifiziert, der vor zwei Tagen verschwunden war, nachdem er seinen Sohn in die Schule gebracht hatte. Sein Auto stand etwa hundert Meter entfernt von der Leiche auf einem Hang versteckt unter Bäumen. Es war zweifelsfrei dorthin geschoben worden, wie Reifen- und Fußspuren bewiesen.

»Der Mörder war eindeutig zu Fuß unterwegs, die Abdrücke seiner Schuhe führen in den Wald.«

Commissario Battaglia drückte die Pausentaste und schaute in den Himmel. Über ihren Köpfen krächzten ein paar Raben. Wahrscheinlich würde es bald wieder schneien, und die Spuren würden zum Teufel sein.

Die Zeit drängte. Sie mussten schneller und effektiver arbeiten.

Mit knirschenden Kniegelenken richtete Battaglia sich auf. Machte sich etwa das Alter bemerkbar? Oder das überschüssige Gewicht, das sich im Laufe der Zeit angesammelt hatte? Jedenfalls fiel es immer schwerer, auf den Knien herumzurutschen und nach Spuren zu suchen.

»Beeilt euch mit der Beweisaufnahme!«

Die Männer von der Spurensicherung nickten. Weiße schweigende Schatten, die sich mit Details beschäftigten, die nur dem geschulten Auge erklärlich waren. Sie machten Fotos, entnahmen Proben, klassifizierten die Beweise und tüteten sie ein. Nichts durfte verunreinigt werden, sonst ließ sich keine DNA mehr abgleichen. Alles musste in einwandfreiem Zustand im Labor der Rechtsmedizin abgegeben werden, in der weit entfernten Stadt, wo die detaillierte Auswertung stattfand.

Die Ankunft der Polizei hatte naturgemäß ein paar Schaulustige angelockt, Touristen wie Einheimische, die sich bei dem Verkehrsschild versammelt hatten, auf dem zu lesen stand, dass es bis Travenì noch vier Kilometer waren. Die Einheimischen waren leicht zu erkennen, sie trugen weder Skianzüge, noch wiesen sie die typische Skipistenbräune auf. Ihre Kleidung war bäuerlich, ihre Haut gegerbt und gerötet von Wind und Wetter.

»Wir haben seine Anziehsachen gefunden«, ertönte eine Stimme aus dem Wald.

Eine Vogelscheuche, das war der erste Gedanke von Commissario Battaglia, aber vermutlich war es eher eine Art Fetisch, wie er in Naturreligionen vorkam.

Zwischen den Brombeeren unweit des Tatorts hob die Puppe sich wie ein Fremdkörper ab. Sie bestand aus Zweigen und Schnüren, etwas Laub und viel blutgetränkter Kleidung.

Der Kopf war aus dem mit Blättern und Gras ausgestopften Unterhemd des Opfers geformt worden, zwei rote Beeren bildeten die Augen. Jacke, Hemd und Hose hingen über einem Gestell aus Stangen und Ästen. Das Hemd war steif geworden, als das Blut getrocknet war. Die ursprüngliche Farbe des Stoffs war nicht mehr zu erkennen. Die Uhr hing falsch herum, mit dem Zifferblatt nach unten, an dem hölzernen Handgelenk.

Ein Polizist kam herbei. »Die Spuren verlieren sich etwa hundert Meter von hier in Richtung Norden zwischen den Felsen.«

Das bedeutete, der Mörder kannte sich aus, wusste genau, wohin er sich wenden musste. Ein Ortsfremder wäre planlos in den Wald gestürmt, und man hätte ihm leicht folgen können.

Erneut begann Battaglia in das Handy zu sprechen, den Blick dorthin gerichtet, wo der Leichnam lag, auf den langsam ein paar Flocken herabsegelten. Jemand deckte eine Plane darüber.

»Dieser Fetisch stellt den Mörder dar, er hat sein Werk bewundert und möchte uns das wissen lassen …«

Ein plötzliches Geräusch unterbrach die Aufzeichnung der Analyse. Stirnrunzelnd blickte Battaglia auf. Ein Mann kam über die freie Fläche zwischen den geparkten Streifenwagen und dem Wald gelaufen, immer wieder sanken seine Füße im tiefen Morast ein, doch er gab sich nicht geschlagen.

Er war ein Städter, das sah man auf den ersten Blick. Die maßgeschneiderte Jacke flatterte im Wind, das Hemd war Designerware, ebenso wie die inzwischen schlammbedeckten Schuhe. Sonst trug er nichts, das ihn gegen die Kälte schützen konnte.

Trotz seines geröteten Gesichts machte er einen kämpferischen Eindruck, wenn auch vielleicht ein bisschen erschöpft oder vielleicht ein wenig beschämt.

Als Battaglia klar wurde, um wen es sich handeln konnte, reichte ein einziges Wort: »Scheiße.«

4

Massimo Marini war erneut bis zu den Knöcheln in einer Pfütze versunken, und inzwischen ließ sich auf seinem Gesicht eine Reihe von Gefühlen ablesen: Wut, Unbehagen, Ungläubigkeit. Außerdem war ihm das Ganze peinlich. Wie sah das denn bitte aus, wie er hier tief im Dreck stand und vergeblich versuchte, auch den zweiten Fuß aus dem Schlamm zu ziehen.

Alle schauten ihm entgegen: seine neuen Kollegen und wahrscheinlich auch der Mann, der sein künftiger Vorgesetzter war.

Inzwischen schneite es stärker, die Flocken setzten sich auf sein Gesicht und seine Haare, doch er spürte die Nässe kaum. Unauffällig hob er den Blick. Dieser Typ um die vierzig, der da drüben stand und ihn aus schmalen Augen musterte, das musste Commissario Battaglia sein. Etwas kleiner als er, südländischer Teint und Zigarette im Mund.

Einer der uniformierten Polizisten hatte auf seine Frage nach dem Kommissar auf ihn gezeigt, woraufhin Massimo ungeachtet der Warnrufe des Mannes einfach losgelaufen war. Er hatte die allgemeine Aufregung nicht begriffen, bis er in den Morast gesunken war, nachdem er zunächst betont lässig einige Meter zurückgelegt hatte.

Diesen Tag würde er nie vergessen.

Er war ein paar Minuten zu spät ins Büro gekommen und hatte mehr als eine halbe Stunde auf dem Flur warten müssen, bis jemand sich seiner erbarmt und ihm mitgeteilt hatte, dass die Kollegen, mit denen er in Zukunft zusammenarbeiten würde, gar nicht vor Ort waren, sondern auf dem Weg zu einem Tatort. Irgendwo in den Bergen. Auf die Idee, ihn zu informieren, schien niemand gekommen zu sein. Man hatte ihn einfach vergessen.

Gerade mal fünf Minuten war er zu spät auf der Dienststelle erschienen. Nicht viel, oder? Trotzdem war er offenbar der Einzige, der das so locker sah, wie ihm schnell bewusst wurde.

Massimo blieben zwei Möglichkeiten: sitzen zu bleiben und auf die Rückkehr der Kollegen zu warten oder zu versuchen, sie einzuholen.

Leider hatte er sich für Letzteres entschieden, was er bald darauf bitter bereuen sollte.

Dass er zwei Stunden in strömendem Regen unterwegs sein würde, der undurchdringlich wie eine Mauer vor ihm niederprasselte, dazu ohne funktionierendes Navigationsgerät, die Augen starr nach vorne gerichtet, damit hatte er nicht gerechnet. Und ebenfalls nicht damit, dass ihn in dem entlegenen Tal auch noch vereiste Straßen erwarteten. Es war der blanke Horror gewesen. Immer wieder hatten die Reifen auf den engen, spiegelglatten Kehren die Haftung verloren, und dann war der Wagen auf einem Steilstück endgültig hängen geblieben und weggerutscht.

Zum Glück war ein Traktor vorbeigekommen.

Der Fahrer, ein alter Mann, der zu dieser frühen Stunde bereits nach Wein roch und dessen Dialekt er kaum verstand, hatte gemeint, das passiere Touristen eben, die um diese Jahreszeit sorglos mit Sommerreifen einen Ausflug ins Gebirge unternähmen. Zu Massimos Erleichterung war er jedoch netterweise bereit gewesen, ihn bis nach oben zu schleppen. Baumstämme, Mist oder Autos, er transportiere alles, hatte er lachend gesagt.

Auf diese Weise also erreichte Massimo Marini das Dorf Travenì. Abgeschleppt von einem Traktor. Immerhin hatte er so wenigstens die Landschaft betrachten können, auch wenn heftige Kopfschmerzen und verspannte Muskeln das Vergnügen ein wenig trübten.

Sie war von eher schlichter Schönheit. Sie hatte es nicht nötig, sich herauszuputzen. Ihre verschneiten Gipfel, die einen jahrtausendealten Wald überragten, sprachen für sich. Sie erinnerten ihn an die Riesen aus der Mythologie, zwangen einen geradezu, den Kopf in den Nacken zu legen, und machten einen schwindelig. Irgendwo im Unterholz, zwischen Kiefern und Heidelbeerbüschen, gurgelten Gebirgsflüsse mit klarem Wasser, sprudelten lebendig um Felsen herum, zwischen Eiszapfen und duftenden Moosteppichen. Hin und wieder sah er den Schatten eines Tieres vorbeihuschen, da war sich Massimo sicher.

Diese Welt hier war so ganz anders als das, was er gewohnt war, sie erzählte von der Bedeutungslosigkeit der Menschheit und erklärte jede Mühe für vergeblich.

Der Traktor tuckerte an einem Plateau vorbei, auf dem ein paar Bagger abgestellt worden waren. Eindeutig wurde hier etwas gebaut, denn ein Stück Wald war bereits abgeholzt, und an mehreren Stellen lagerten riesige Erdhaufen. Im Augenblick aber schienen die Arbeiten zu ruhen, dachte Massimo und wandte den Blick von der hässlichen Wunde ab, die man der unberührten Landschaft geschlagen hatte. In seinen Augen war es ein Schandfleck.

Kurz nach der letzten Haarnadelkurve war Travenì in Sicht gekommen. Der Ort lag in einer Mulde und wurde flankiert von bewaldeten Bergrücken, die den hohen Bergen vorgelagert waren. Die Häuser waren teils aus Holz, teils aus Stein gebaut wie in den Alpen üblich. Im winzigen Zentrum des Ortes wandelte sich das Bild. Hier waren auch mehrstöckige, pastellfarben gestrichene Gebäude zu sehen, ausgebaute Dachböden, die eher an nordische Architektur erinnerten, Weihnachtsdekorationen aus Stechpalmen und roten Schleifen auf den Terrassen. An der Hauptstraße gab es einige Cafés, Bars und altmodische Gasthäuser, die der Moderne zu trotzen schienen, ebenso wie ein paar modernere Ladengeschäfte für die Touristen sowie eine Apotheke. Vor einem Pub stand eine Gruppe Jugendlicher mit Snowboards unter dem Arm und einem Glas Glühwein in der Hand. Offenbar befanden sich die Pisten ganz in der Nähe.

Nachdem der Traktorfahrer ihn und sein Auto auf die Piazza gebracht hatte und winkend davongefahren war, hatte Massimo sich erst einmal umgesehen.

Das Dorf hatte etwas von einer Postkartenidylle, die allerdings Risse hatte, wie ihm schnell klar wurde. In einem Kasten mit Bekanntmachungen am Rathaus las er, dass die Bürger zu einer Versammlung in der Turnhalle eingeladen wurden, um eine weitere Skipiste zu verhindern. Aha, das also war der Grund für die Baustelle und die abgeholzten Bäume. Nicht einmal hier, fern der Stadt, herrschten Eintracht und Frieden.

Die Kollegen zu finden, war nicht schwer gewesen, die Leiche war unweit des Dorfes aufgefunden worden. An der Schotterstraße, die zwischen Geröllfeldern und niedrigen Bäumen dorthin führte, war eine Polizeisperre errichtet worden, ein Kollege schrieb alle Kennzeichen auf und notierte sich zudem, was ihm an Autofahrern oder Schaulustigen auffiel.

Massimo hatte ihm seinen Ausweis gezeigt und nach dem Chef gefragt und war losgestürzt, ohne auf weitere Hinweise zu warten, um nach wenigen Metern im Morast stecken zu bleiben.

Zum Glück schien Battaglia das Interesse an ihm verloren zu haben. Im Augenblick war seine Aufmerksamkeit völlig auf eine ältere, merkwürdig aussehende Frau gerichtet, die einen langen Mantel trug, unter dem sich ein kompakter Körper mit ausladenden Hüften abzeichnete. Sie war unmöglich zu übersehen, denn sie trug eine feuerrote Pagenfrisur, die weder zu ihrem fortgeschrittenen Alter noch zu der ländlichen Umgebung passte. Sie deutete auf den Leichnam, in dessen Nähe sie standen, und der Kommissar nickte.

Die Frau musste eine Zeugin sein, überlegte Massimo, vielleicht hatte sie den Toten gefunden. Massimo machte die letzten Schritte, einer der Umstehenden reichte ihm helfend die Hand, er presste zwischen den Zähnen ein Dankeschön hervor, das eher wie ein Fluch herauskam, und stand endlich auf festem Boden.

Das erste Mal seit seiner Zeit auf der Polizeischule fühlte er sich, als müsse er vor den Augen unerbittlicher Vorgesetzter eine Prüfung ablegen. Er war kurzatmig und schweißgebadet, trotz der Kälte. Einen schlechteren Start hätte man sich nicht vorstellen können.

»Ispettore Massimo Marini«, stellte er sich dem Mann vor, den er als seinen künftigen Vorgesetzten identifiziert hatte, und reichte ihm die Hand. »Ich bin Ihrem Team zugeteilt worden. Leider hat man mich nicht zeitnah von dieser Tatortbesichtigung unterrichtet, sonst wäre ich früher gekommen.«

Es war ihm so herausgerutscht, obwohl es sogar in seinen Ohren ebenso anmaßend wie weinerlich klang. Kein Wunder, dass niemand ihm zur Begrüßung die Hand gab und auf seine ins Leere gelaufene Erklärung einging.

Das war wirklich kein guter Tag.

Der Mann schaute ihn nur an und sagte kein Wort. Ihm war, als schüttele er leise den Kopf, als wollte er ihn vor etwas warnen. Die Frau mit dem Pagenkopf hingegen antwortete ihm.

»Der Tote hatte leider nicht den Anstand, uns rechtzeitig von seinem Ableben in Kenntnis zu setzen, Ispettore. Sonst hätten wir Ihnen selbstverständlich rechtzeitig Bescheid gegeben.«

Ihre Stimme klang rau, ihr Ton war von einem ätzenden Sarkasmus, der ihre Abneigung deutlich durchklingen ließ. Volltreffer. Er hatte es gleich am ersten Tag vergeigt.

Er musterte sie eingehender. Ihre mit Pailletten besetzte Baskenmütze drückte den Pony ein Stück in die Augen, was nicht zu ihrem Alter zu passen schien, und ihr harscher Gesichtsausdruck verriet ihm, dass sie nicht zum Scherzen aufgelegt war. Ihr Blick, der ihn abschätzig taxierte, schweifte unruhig hin und her, sie biss auf dem Bügel einer Brille herum, und ihre dünnen Lippen bewegten sich ständig, als wollte sie eine Meinung äußern oder ein Urteil sprechen.

Wer um Himmels willen war diese sonderbare Alte?

Ein Polizist kam mit einem Handy und reichte es der Frau. »Commissario Battaglia, der Staatsanwalt für Sie. Er fragt, ob Sie einen Moment Zeit haben.«

Sie nickte, nahm das Handy und entfernte sich ein paar Schritte, um zu telefonieren, wobei sie immer wieder einen Blick zu ihm herüberwarf.

Massimo war wie erstarrt vor Schreck, bemerkte kaum, wie der Mann, den er für Battaglia gehalten hatte, sich als Agente Parisi vorstellte. Sein Mund war ausgetrocknet, er hatte das Gefühl, vor Scham tot umfallen zu müssen. In Gedanken versuchte er, sich eine Entschuldigung zurechtzulegen, die ihn nicht wie einen Vollidioten dastehen ließ. Vergeblich, und als er sah, dass sie ihr Gespräch beendete, rutschte ihm der dümmste Satz heraus, den er hätte sagen können: »Niemand hat mir gesagt, dass Sie eine Frau sind, Commissario.«

Sie schaute ihn an, als wäre er Hundescheiße unter ihrem Schuh.

»Nun, Ispettore, Ihnen selbst scheint die Vorstellung ja auch völlig fremd zu sein.«

Inspektor, ha! Marini war blutjung, sah aus, als sei er einer Werbeanzeige für Mode entstiegen, und sein Aftershave war meilenweit zu riechen. Es passte nicht in diese Berglandschaft, die nach blutbesudeltem Schnee roch, und schon gar nicht an diesen Tatort mit dem Leichnam eines Mannes, der auf eine Art und Weise umgebracht worden war, wie man es nur selten zu sehen bekam.

Er hatte keinen guten Start gehabt. Sein hübsches Gesicht war unrasiert. Irgendetwas war an diesem Morgen schiefgegangen. Mehr als nur eines, so wie er aussah.

Sein Versuch, selbstbewusst aufzutreten, war komplett missglückt. Dennoch würde Teresa ihm eine Chance geben, das tat sie selbst bei den aussichtslosesten Fällen.

Sie war neugierig, warum er die Versetzung aus der Großstadt in die Provinz beantragt hatte. Zwischen was beziehungsweise wen und sich wollte er mehr als fünfhundert Kilometer Abstand bringen? Entweder hatte er Angst, war verletzt worden, oder er wollte sich selbst bestrafen, überlegte sie. Eine gescheiterte Liebe? Vielleicht, doch auf seinem Gesicht waren keine Spuren von Verzweiflung und schlaflosen Nächten zu erkennen. Er wirkte angespannt, aber dafür war sie verantwortlich. Also musste es etwas anderes sein.

Teresa beobachtete, wie er mit hängenden Schultern dastand und die Schneeflocken auf ihn herabrieselten, und verkniff sich ein zufriedenes Lächeln. Sie mochte die Anspannung und Unsicherheit der Neuankömmlinge, und bei ihm würde sie keine Ausnahme machen – obwohl er sie angeschaut hatte wie ein Hundewelpe, beinahe mitleiderregend. Natürlich hatte er Angst gehabt, wegen seiner Verspätung einen Anpfiff zu kassieren, und jetzt war ihm klar, dass er einen peinlichen und miserablen ersten Eindruck gemacht hatte, wo er doch seine neuen Kollegen mit seiner weltmännischen Ausstrahlung hatte beeindrucken wollen.

Sie achtete nicht weiter auf ihn und wandte sich wieder Parisi zu, um das Gespräch fortzusetzen, das durch die plötzliche Ankunft des Inspektors unterbrochen worden war.

»Wir müssen runter zum Kanal und dort ebenfalls suchen.«

Parisi nickte, und die Kommissarin schaute zu Marini hinüber. »Machen Sie das, Ispettore?«

Er zuckte zusammen, als wäre sie der Teufel persönlich. Trotzdem widersprach er nicht und stieg kommentarlos den rutschigen Abhang zum Kanal hinunter, wobei er sich immer wieder an einem Zweig festhielt, um nicht ganz abzugleiten.

Teresa schüttelte den Kopf. Kurz fragte sie sich, was aus seinem Mantel geworden war oder was er sonst normalerweise als Schutz gegen die Kälte trug. Dass er, ungeachtet seines gewaltigen Egos, sofort ihre Anweisung befolgt und diese undankbare Aufgabe übernommen hatte, betrachtete sie als gutes Zeichen. Er wollte seinen schlechten Einstand wiedergutmachen und war deshalb zu allem bereit.

Als Parisi Anstalten machte, seine Gummistiefel auszuziehen und sie dem Kollegen zu bringen, damit er keine nassen Füße bekam, hielt sie ihn zurück. Schaute stattdessen zu, wie Marini erneut im Schlamm versank zwischen fauligen Blättern und wer weiß was noch.

Fast tat er Teresa leid, aber die Szene hatte einen gewissen Unterhaltungswert.

»Wonach soll ich eigentlich suchen?«, fragte Marini über die Schulter zurück.

»Nach den Augen«, antwortete Teresa, »die haben wir noch nicht gefunden.«

5

Österreich, 1978

Im Dorf sprach man oft über die Schule, wenngleich wenige sie je betreten hatten. Die Geschichten, die sich darum rankten, entsprangen zumeist der Fantasie und wurden nicht zuletzt genährt durch den ungewöhnlichen Anblick, den das ehemalige Jagdschlösschen bot, wenn es unwirklich wie eine Fata Morgana morgens aus den tief hängenden Wolken auftauchte.

Das mehrstöckige Gebäude thronte ein Stück über dem See auf einem Felsvorsprung, einem Ausläufer der nahe gelegenen Höhlen, oder war, richtiger gesagt, in diesen Untergrund hineingebaut worden, sodass sein Sockel mit dem Fels der Umgebung verschmolz. Erst ab dem Erdgeschoss waren die Wände aufgemauert worden.

In der Mitte der Fassade befanden sich vier gewaltige ionische Säulen, getrennt durch dreieckige Fenster, und über dem dritten und letzten Stock erhob sich eine Kuppel mit Gauben – in der mittleren war eine Uhr eingebaut, die jedoch noch nie funktioniert hatte, zumindest erinnerte sich niemand daran. Seit mehr als einem Jahrhundert zeigte sie ein und dieselbe Zeit, genau drei Uhr.

Es hieß, sie sei stehen geblieben, als der Architekt, ein junger Mann aus Lienz, am See von einem Blitz erschlagen wurde, während er sein gerade fertiggestelltes Meisterwerk bewunderte. Und noch immer wollten die Alten wissen, dass der Zorn Gottes sich gegen das Haus gerichtet habe, weil dieser Ort der Stille, der bis dahin allein dem Wind und den Bergblumen gehört hatte, durch menschliche Anmaßung entweiht worden sei.

Jetzt, wo sie so dicht wie noch nie zuvor vor der Schule stand, begriff Magdalena, was sie meinten. Das Haus war falsch, es passte nicht hierher. Die Laune eines Monarchen, der keine Demut vor der Natur gekannt und keine Grenzen akzeptiert hatte.

Sie war den ganzen Weg zu Fuß gekommen, vom Tal bis ins Dorf. Von dort war sie einen schmalen Pfad hinaufgegangen, der an der Bergflanke entlang steil nach oben führte. Der See roch intensiv nach verrottenden Pflanzen und modrigem Schlamm. Er wirkte auf sie wie das Auge der Erde.

Außer Atem erreichte sie die Schule, eine Strähne hatte sich aus ihren zusammengebundenen Haaren gelöst. Gerade wollte sie den Türklopfer betätigen, der die Form eines Wolfskopfes hatte und an die ursprüngliche Funktion des Gebäudes erinnerte, als die massive Eingangstür aufgerissen wurde und ein langes, altersloses Gesicht sie aus kleinen, strengen Augen anstarrte.

»Magdalena, nehme ich an? Folge mir bitte.«

Agnes Braun, die Oberschwester, passte perfekt zu dem Haus, in dem sie lebte: Auch sie war unnahbar und zeigte bereits Spuren des Verfalls. Allerdings war das von dichten grauen Haaren umrahmte Gesicht bei näherem Hinsehen jünger, als es Magdalena zuerst erschienen war. Wenn sie sich etwas Mühe gäbe, könnte diese Frau durchaus hübsch sein, aber das schien in diesem Haus nicht gerne gesehen zu werden. Zu ihrem Vorstellungsgespräch habe sie ungeschminkt, mit zu einem Knoten gebundenen Haaren und in einfacher Kleidung zu erscheinen, hatte man ihr mitgeteilt.

Agnes zeigte ihr alles freundlich distanziert. So wie sie sich zwischen dem Marmor, den vergoldeten Fresken und den wenigen verbliebenen Antiquitäten in der Eingangshalle bewegte, signalisierte sie, dass sie all das hier als ihr Hoheitsgebiet betrachtete.

Als ihr Reich, in dem sie die Königin war.

Gab es überhaupt noch andere Bewohner?, fragte Magdalena sich. So still, wie es im Haus war, konnte man daran zweifeln.

Auf dem Mosaikboden im Eingangsbereich prangte das Wappen der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Ein schwarzer Adler mit zwei Köpfen auf goldenem Grund, der für den Habsburger Kaiser und König stand. Die Wände waren mit einer Jagdszene in Trompe-l’œil-Technik bemalt. Obwohl die Farben inzwischen ziemlich verblichen waren und hier wie anderswo der Zahn der Zeit genagt hatte, wirkte das Ganze sehr geschmackvoll. Abgesehen von der Standuhr mit zwei Mohren auf dem Zifferblatt, aus deren aufgerissenen Mündern übergroße spitze Zähne aus Elfenbein hervorragten.

»Sie stammt aus Afrika«, erklärte Agnes, der Magdalenas Verblüffung nicht entging. »Die Firma, die sie entworfen hat, gehörte der Familie des Direktors. Er wollte die Uhr unbedingt der Schule schenken.«

Magdalena nickte lächelnd, wenngleich sie die Uhr schrecklich fand.

Agnes musterte ihre junge Besucherin schweigend.

»Findest du, sie zeugt von gutem Geschmack?«, fragte sie und schaute dem Mädchen direkt in die Augen.

»Ja«, zwang Magdalena sich zu sagen, und dennoch hörte man, dass sie log.

Schwester Agnes jedoch schien zufrieden.

»Du musst dich nicht schämen. Deine kleine Lüge hat mir gezeigt, dass du hierher passen könntest. Die Schule verlangt Hingabe, und Hingabe wiederum verlangt, dass man die eigene Freiheit aufgibt. Nicht nur im Tun, sondern auch im Denken. Meinst du nicht?«

Magdalena nickte unmerklich. Irgendetwas an dieser Frau beunruhigte sie. Genau wie die Schule. Irgendetwas stimmte hier nicht.

6

Irgendetwas hatte die Erwachsenen erschreckt. Mathias konnte es am Gesicht seiner Mutter ablesen, als sie mit der Lehrerin und den anderen Frauen sprach. Am liebsten wäre er näher herangekommen, um sie zu fragen, ließ es aber, da sie ihn nicht beachtete. Sie hielt seinen schlafenden, wenige Monate alten Bruder Markus im Arm. Warum legte sie ihn nicht in den Kinderwagen, wunderte er sich.

Die Aula war von nervösem Flüstern erfüllt. Die Scheinwerfer fielen auf die bunten Kostüme auf der Bühne, doch die Proben für das Krippenspiel waren kurz zuvor von zwei Männern unterbrochen worden, die Mathias noch nie gesehen hatte. Sie hatten erst mit der Lehrerin gesprochen, dann waren sie zu Diegos Mutter gegangen, die ihnen schließlich gefolgt war, leichenblass und mechanisch wie ein Zombie.

Erst als Mathias’ Mutter ihr etwas nachgerufen hatte, war sie noch einmal zu ihrem Sohn zurückgegangen und hatte ihn ermahnt, in der Aula zu bleiben und brav zu sein, die Lehrerin werde sich um ihn kümmern. Und später komme die Großmutter, um ihn abzuholen.

Ihre Stimme hatte gezittert.

Jetzt saß Diego zusammengesunken auf einem Stuhl und starrte durch die hohen Fenster nach draußen. Es wurde früh dunkel um diese Jahreszeit, und die Dunkelheit schien auch die Menschen anzustecken, dachte Mathias. Travenì war nicht mehr der Ort, den er so liebte. In den vergangenen Stunden waren Spekulationen wie Schneeflocken auf die Menschen niedergefallen. Seit Diegos Vater verschwunden war, hatte Angst die Luft vergiftet.

Er ging zu seinem Freund, der im schwachen Bühnenlicht wirkte wie ein trauriger, verlassener kleiner Hund. Furchtsam und ein bisschen aggressiv. Mathias hätte gerne etwas gesagt, aber er wusste, dass Diego ihn sowieso nicht hören würde. Sein Vater war tot. Obwohl es bislang niemand laut ausgesprochen hatte, wussten sie es beide. Hatten es vorausgeahnt wie eine Ohrfeige, die jemand einem verpassen würde, wie das Fieber, das man schon kommen spürte, selbst wenn die Stirn noch kühl war.

Mathias knüllte seine Mütze zu einem Ball zusammen und warf sie ihm zu.

Diegos Hand fing sie auf, ohne dass er den Blick von den Fenstern abwandte.

Unwillkürlich musste Mathias lächeln. Diego war noch da, war bei ihm trotz des Morastes aus Verwirrung, in dem er gerade steckte. Er war sein bester Freund und sein größter Rivale. Trotzdem hätte er ihm in diesem Moment gerne gesagt, dass es ihm nicht mehr wichtig war, Chef der Bande zu sein, dass er seinen Platz einnehmen könne, weil er ebenfalls alles habe, was ein richtiger Leader brauche. Er tat es nicht, denn er wusste, dass es nicht wirklich stimmte. Sie würden sich weiterhin herausfordern, immer wieder, ohne dass ihr fast brüderliches Verhältnis dadurch infrage gestellt würde.

Auch das hätte Mathias ihm eigentlich gerne gesagt, doch plötzlich verdrängte ein Gedanke die Worte, die ihm bereits auf den Lippen gelegen hatten.

»Wo ist Oliver?«

Seine Frage brachte Diego in die Gegenwart zurück.

Oliver war nur ein Jahr jünger als sie, aber alle betrachteten ihn als den Jüngsten, auf den man aufpassen musste. Alarmiert schauten sie sich an. Sie mussten ihn unbedingt finden und ihn schützen, vor allem hier in diesen Mauern.

Der Flur, der zu den Toiletten führte, war ein dunkles Band, dessen Ende nicht zu erkennen war. Jemand hatte das Licht ausgeschaltet, und die Klassenräume waren dunkle Löcher, aus denen es nach Papier und Kreide roch.

Oliver schluckte und hörte das Geräusch der Spucke in seinem Hals. Vergeblich hatte er nach dem Lichtschalter gesucht, den er zuvor noch nie gebraucht hatte. Erneut drehte er sich um zu dem schwachen Licht, das aus der Aula mit den geöffneten Türen fiel.

Er war nicht allein, sagte er sich.

Wieder spähte er angestrengt in den Flur. Wenige Meter, die wie ein Abgrund wirkten und die er alleine durchqueren wollte. Das hatte er sich in den Kopf gesetzt.

Oliver wusste: Irgendwo in der Dunkelheit war er oder in der Turnhalle, um die Geräte wegzuräumen, oder in der Mensa, um zu kontrollieren, ob alle Fenster geschlossen waren. Stets schlich er schweigend herum, bedachte alle, die ihm über den Weg liefen, mit einem strengen Blick. Nur bei Oliver zeigte er sein wahres Gesicht, denn er war von Grund auf böse, genauso wie die Bösewichte im Märchen. Ohne jedes Maß und Ziel.

Allein bei dem Gedanken bekam er Bauchschmerzen.

Die Dunkelheit schien Gewicht zu haben, legte sich schwer auf seine Augenlider, auf seine Haut und seine Kleidung, um ihn mitzureißen. Oliver zwinkerte ein paarmal, machte einen Schritt nach vorne, dann noch einen. Es kam ihm vor, als wäre er zu nah dran am Zentrum dieser dunklen Blase, die er betreten hatte, und zu weit weg vom Licht.

Wenn ihn jetzt eine Hand packen und wegzerren würde …

Sogleich verbannte er den Gedanken wieder, doch die Bauchschmerzen blieben. Die Tür zu den Toiletten war nicht mehr weit. Noch ein paar Meter, und dann würde er die Klinke in seinen Händen spüren, und mit dem Licht würden alle Ängste verschwinden. Mathias und Diego würden stolz auf ihn sein und ihn als ihresgleichen ansehen.

Vorsichtig ging er weiter, bis er mit den Fingerspitzen die Wand berührte, tastete sich bis zur Türklinke weiter und drückte sie nach unten. Der wohlbekannte Geruch nach Chlor und Reinigungsmitteln sagte ihm, dass er richtig war.

Dennoch zögerte er und musste all seinen Mut zusammennehmen, um eine Hand in die Dunkelheit zu stecken.

Dummkopf, schimpfte er sich und war froh, dass keiner da war, der mitbekam, wie viel Angst er hatte.

Er presste die Lippen zusammen, ihm war heiß und kalt zugleich. Endlich fand er den Schalter, und das Neonlicht flammte auf.

Die blauen Kacheln glänzten, aus einem der Hähne tropfte Wasser. Oliver atmete erleichtert auf, hier war niemand, der auf ihn wartete.

Dann die Kabinen. Drei weit geöffnete Türen, von denen er sich für die mittlere entschied. Aber als er den Gürtel seiner Hose zu öffnen begann, stutzte er. Er war nicht allein. Jemand stand hinter ihm, das Geräusch eines fremden Atems mischte sich in die Stille – eines Atems, der nach Knoblauch und kaltem Rauch roch.

»Ciao, Arschloch.«

Langsam drehte Oliver sich um, als wäre das ein Befehl gewesen. Er zitterte am ganzen Körper.

Vor ihm baute sich der gewaltige Umriss seines alltäglichen Albtraums auf und ließ ihn sich noch kleiner fühlen, als er ohnehin schon war.

Abramo Viesel war der Hausmeister der Schule von Travenì. Er war älter als Olivers Eltern und jünger als seine Großeltern. Sein Körper war so massig, dass er sich nur mit Mühe fortbewegen konnte und beim Gehen schwankte wie ein Schiff in den Wellen.

Allerdings hätte Oliver ihn nicht als dick beschrieben. Das Wort, das ihm jedes Mal in den Sinn kam, wenn er Abramo sah und seine Quälereien erdulden musste, war mächtig. Wie der Schurke in den Superheldencomics. So mächtig, dass er einen Wurm wie ihn zerquetschen konnte.

Sein Blick fiel auf Viesels Hände, und voller Entsetzen stellte er sich vor, wie diese riesigen, haarigen Pranken seinen Kopf umfassten.

»Du warst mutig genug, alleine hierherzukommen. Keine gute Idee.«

Der Junge antwortete nicht. Alles, was er sagte, war falsch, das wusste er inzwischen. Seit dem ersten Schultag machte sich Viesel einen Spaß daraus, ihn zu quälen. Lediglich mit Worten, denn er rührte ihn nicht an. Noch nicht. Oliver spürte, dass das bald kommen würde.

Erneut starrte er auf die furchterregenden Hände, die jetzt zuckten, als würden die Muskeln unter der Haut zu arbeiten beginnen. Sie erinnerten ihn an Fische, die mit raschen Flossenbewegungen an die Oberfläche kamen, um dort Insekten zu fangen.

Genau wie sie suchte Viesel nach Nahrung, die seinen verborgenen Hunger zu stillen vermochte. Olivers Angst wuchs, zumal die vierschrötige Gestalt des Hausmeisters den Ausgang blockierte.

»Sie warten auf mich«, flüsterte er.

Viesels Bauch hüpfte auf und ab, als er lachte.

»Du wolltest pissen. Dann mach das endlich«, befahl er, ohne sich von der Stelle zu rühren, und hielt ihm mit einer Schulter die Tür auf.

Oliver schloss die Augen, der Druck in der Blase war eine einzige Tortur.

»Ich muss gehen. Bitte.«

»Nein, du bleibst so lange hier, bis du gepinkelt hast.«

Der Junge spürte Tränen in sich aufsteigen.

»Oh, sind wir ein Mädchen?«, spottete Viesel.

Lucia war auch ein Mädchen, dachte Oliver, und trotzdem war sie mutig und stark. Er öffnete die Augen und wich zurück, als er durch einen Tränenschleier Viesels Umriss auf sich zukommen sah.

»Du weißt ja, was ich mache, wenn du irgendjemandem etwas davon erzählst?«

Oliver antwortete nicht.

»Ich komme nachts zu dir, wenn du schläfst und …«

Er machte eine Bewegung, als würde er etwas den Hals umdrehen, und lachte sich halb tot über die Panik seines Opfers. Plötzlich aber traf ihn etwas am Kopf.

Beide, der Mann und das Kind, richteten ihre Blicke auf den Gegenstand. Es war ein harmloser Schwamm, der auf Viesels Wange einen weißen Strich hinterlassen hatte. Mehr nicht.

Irritiert drehte sich der Hausmeister um, was Oliver die Gelegenheit verschaffte, sich an ihm vorbei durch die Tür nach draußen zu quetschen.

»Wo willst du denn hin?«, hörte er Viesel rufen, als sich Mathias und Diego vor ihn stellten.

»Aha, deine Freunde sind gekommen, um dich zu beschützen. Wann hörst du endlich auf, so ein Feigling zu sein?«

»Lassen Sie ihn in Ruhe«, sagte Mathias.

»Was willst du, Klavora? Hat dein Vater dich diese Woche noch nicht genug verprügelt?«, spottete der Hausmeister und wischte sich die Kreide aus dem Gesicht. »Und da ist ja auch der junge Valent«, sagte er und fixierte Diego. »Dein Alter hat ja kein gutes Ende genommen.«

»Kein Wort mehr!«, schrie Mathias und wollte Diego mit sich wegziehen, doch der Freund rührte sich nicht vom Fleck.

»Lass uns gehen!«, beschwor Mathias ihn, während Viesel weiter Salz in die Wunden streute.

»Ich habe gehört, was die Polizisten auf dem Parkplatz gesagt haben, als sie deine Mutter abgeholt haben«, flüsterte er. »Soll ich es dir erzählen?«

Diego antwortete immer noch nicht. Wie hypnotisiert, dachte Oliver.

»Willst du wissen, wie er gestorben ist?«

Alle drei lauschten gebannt.

Abramo Viesel hob die Hände, die wie spitze Krallen aussahen, und bewegte sie langsam auf Diego zu. »Sie haben ihn in den Wald geschleppt und ihm die Augen rausgerissen. So!«

Zum Glück rief in diesem Moment die Lehrerin nach ihnen und unterbrach das grausame Schauspiel, ermöglichte es Mathias endlich, die beiden Freunde mit sich wegzuziehen.

Hinter ihnen begann Viesel, um etwaigen Beschuldigungen zuvorzukommen, zu lamentieren, dass er das ewige Toilettenputzen satthabe, diese verwöhnten Gören täten alles, um ihm das Leben schwer zu machen.

Oliver drehte sich nicht um, er wusste es besser. Zaghaft sah er Diego an. Der Freund reagierte nicht. Er war leichenblass. Genau wie sein Vater.

7

Im Halbdunkel des Zimmers warf ein Projektor die Fotos vom Tatort an die Wand.

Die halb geöffneten, bläulich verfärbten Lippen, die Spuren der geplatzten Gefäße am Hals, wodurch das Blut sich unter der Haut ausgebreitet hatte wie ein Fluss in seinem Delta. Der blasse Körper. Die dunklen Krater der Augenhöhlen.

Diese Bilder waren der Rohstoff für ihre Arbeit. Eine Art Knetmasse, aus der sie später das Bild des Mörders herausbilden würden. Ein Gesicht, dem man einen Namen zuordnen würde und dann ein Profil, das Abbild seiner Psyche, das sie zu seiner Identität führen würde.

Nie war es umgekehrt.