Bitterwasser - Karina Ewald - E-Book + Hörbuch

Bitterwasser Hörbuch

Karina Ewald

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Beschreibung

Krimi-Spannung in den österreichischen Alpen: Die neue Miss Marple ermittelt Die feierliche Eröffnung des Kulturzentrums in Bad Gastein wird jäh unterbrochen – durch einen Mord! Was für ein Einstand für die frisch gebackene Bibliotheksleiterin Carolin Halbach. Schnell stellt sich heraus: Die Häppchen am Buffet waren vergiftet! Für den Chefarzt der Kurklinik kam jede Hilfe zu spät. Die Ermittlungen der örtlichen Polizei deuten schnell auf einen Sabotageakt hin. Doch Carolin ist überzeugt, dass das Opfer gezielt ausgewählt wurde. Plötzlich steht ein schrecklicher Verdacht im Raum: Sollte am Ende gar sie selbst im Visier des Mörders stehen? Kurzerhand beschließt die Literaturwissenschaftlerin und leidenschaftliche Krimi-Leserin, den Beamten mit ihrer kriminal-literarischen Expertise unter die Arme zu greifen. - Auftakt der neuen Bad-Gastein-Krimireihe mit Hobbyermittlerin Carolin Halbach - Sabotageakt oder gezielter Angriff: Wer steckt hinter dem Gift-Anschlag? - Eine unerschrockene Bibliothekarin beweist den richtigen Riecher in Sachen Mord und Totschlag - Humorvoller Krimi mit Schwung: Die perfekte Lektüre für Ihren nächsten Urlaub im Salzburger Land! Schauplatz Bad Gastein: Welche Geheimnisse verbergen sich hinter der pittoresken Bergkulisse? Von Düsseldorf mitten hinein in den Nationalpark Hohe Tauern: Carolin Halbach bleibt keine Zeit, diesen Kulturschock zu verarbeiten. Ihr durch zahlreiche Krimis geschulter Instinkt sagt ihr, dass die Polizei auf der falschen Fährte ist. Freundlich, aber bestimmt schnüffelt sich die Bibliothekarin durch ihre persönliche Liste der Verdächtigen – was ihr schon bald den Spitznamen »Miss Marple« einbringt. Die Autorin Karina Ewald ist gebürtige Niederösterreicherin. Als Jugendliche reiste sie zum ersten Mal ins Gasteinertal. Seitdem hat die Magie des Ortes sie nicht mehr losgelassen. »Bitterwasser« ist ihr erster Österreich-Krimi – ein Reihenauftakt, der spannende Unterhaltung für alle Fans von Regionalkrimis verspricht!

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Zeit:8 Std. 26 min

Sprecher:Daniela Keckeis

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Karina Ewald

BITTERWASSER

Ein Bad-Gastein-Krimi

Diese Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden verändert und/oder von der Autorin ausgedacht, Geschehnisse anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2022

Copyright © 2022 by Karina Ewald

Copyright deutsche Erstausgabe © 2022 Servus Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency, München.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, Courier, Bauer Bodoni

Umschlaggestaltung: www.b3k-design.de, Andrea Schneider, diceindustries

Umschlagmotive: © trabantos / shutterstock.com; © Alex Polo / shutterstock.com

Karte Innenklappe: Nina Andritzky

ISBN: 978-3-7104-0310-1

eISBN: 978-3-7104-5064-8

Inhalt

PROLOG

Neue Aussichten

Lauter reizende Damen

Tod in der Bibliothek

Stille nach dem Sturm

Ein schmerzhafter Zwischenfall

Miss Marple erinnert sich

Der Wunderheiler

Kater im Taubenschlag

Der Unfall

Mit offenen Karten

Ein seltsamer Scherz

Ein ehrenwerter Mann

Über den Wolken

Die Versuchung

Klugheit ist gefährlich

Die Unschuld in Person

Das Todeskraut

Heimkehr

Danksagung

PROLOG

Der Tag, an dem alles angefangen hat, war ein Mittwoch.

Am Mittwoch bin ich meistens im Schwan, das ist das alte Kaffeehaus am Mozartplatz mit den Kristalllustern und den Biedermeiersesseln. Normal sind da auch nur Touristen, aber so früh im Jahr ist unter der Woche nicht viel los, und ich hab meine Ruh.

Ich bestell mir immer eine Melange, obwohl ich sonst keinen Kaffee trink, weil die Melange ist wirklich gut im Schwan. Und dazu die Torte des Tages, das ist mittwochs immer die Topfentorte mit frischen Marillen. Im Frühjahr halt frisch aus der Dose.

Nur an diesem Mittwoch ist es nichts geworden mit meiner Ruh, weil auch die Monika da war, die Chefin vom Frisiersalon »Haar-Moni« in der Badbergstraße. Eine herzensgute Frau, nur eine furchtbare Tratschen, wie man bei uns sagt. Ich geh ja nie zu ihr, weil sie am Mittwoch zu hat, wenn ich freihab, und weil sie mir zu viel redet, die Moni. Aber alle anderen schon, deshalb kennt sie auch einen jeden.

Am Anfang hab ich mich geärgert, wie sie sich ungefragt zu mir gesetzt hat. Aber dann war ich doch froh, weil sie mir was erzählt hat. Die Leut, hat sie gesagt, die wollen nicht, dass ich aufhöre. Die wollen, dass ich weitermache, weil das ja wichtig wär, was ich mach. Und weil’s außer mir ja keiner so macht.

»Das weiß ich doch«, hab ich gesagt, »aber das liegt jetzt nicht mehr in meiner Hand.« Wenn die Großkopferten da oben das nicht wollen, wer bin ich denn, dass ich das ändern könnt? »Ich hab ja nicht studiert, darum kann ich halt auch nicht so weitermachen wie bisher.«

»Das ist aber schad«, hat die Monika geantwortet. »Da wird vielen Leuten was fehlen bei uns in Gastein.« Sie sagt »Goschdei« und nicht »Gastein«.

Und dann hat s’ grantig dreing’schaut, die Monika, und gemeint: »Da kommt so a hochnaserte Person aus der Großstadt zu uns und glaubt, sie könnt einfach alles kaputt machen. Eine Schande ist das.«

Da hab ich endlich begriffen, dass es ja wirklich nur eine einzige Person ist, wegen der mein Lebenswerk vor dem Ende steht. Und die Schuld dran ist, dass ich meine Berufung verlier. Da hab ich dann auch gewusst, was ich tun muss. Weil es gibt Sachen, die sind größer als ich, und manchmal muss man Opfer bringen für das, woran man glaubt.

Also hab ich weitergemacht und auf den richtigen Moment gewartet. Weil jemanden umbringen ist ja leicht, aber so, dass man net direkt als Erstes an mich denkt, das erfordert ein bisserl mehr Planung.

Neue Aussichten

»San Sie die Frau Magister Halbach?«

Carolin Halbach stellte ihre Koffer ab und wandte sich um. Ein kleiner Mann mit schütterem Bart kam energisch auf sie zu, Haar und Arbeitskittel eisengrau, doch voller Tatkraft in jeder Bewegung. Die wenigen anderen Fahrgäste, die hier ausgestiegen waren, machten ihm Platz, manche grüßten. Zischend schlossen sich die Türen des Waggons, der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

»Ich bin der Brunneder, habe die Ehre!« Der Graubart griff mit der Linken nach einem der Koffer und streckte ihr gleichzeitig die Rechte hin. Sein Händedruck war schnell und kräftig, sein Lächeln verschmitzt und voller Falten.

»Herr Brunneder«, wiederholte Carolin. »Guten Tag. Sehr erfreut.« Sie hatte nicht damit gerechnet, abgeholt zu werden, fand es eine wirklich aufmerksame Geste, aber sie hatte keine Ahnung, wer der graue Mann war.

Offenbar deutete er ihre ratlose Miene richtig. »Ich bin der Hausmeister«, erklärte er. »Die Annamirl hat g’sagt, ich soll Sie abholen, weil sich das so gehört und weil Sie ja bei uns wohnen.«

»Annamirl?« Carolin fühlte sich wie im falschen Film.

»Die Frau Bürgermeister. Tschuldigung. Frau Annemarie Axamer. Die was Sie eing’stellt hat.«

»Ah.« Nun verstand Carolin. »Und wieso wohne ich bei Ihnen?«

Herr Brunneder grinste, und die Lachfalten um seine Augen vertieften sich. »Haus Sonnenschein, das ist die Pension von meiner Frau. Da hat Ihnen die Annamirl doch ein Zimmer reserviert. Also die Frau Bürgermeister.«

»Ach so.« Carolin griff nach dem zweiten Koffer. »Dann richten Sie ihr bitte meinen Dank aus. Das ist sehr freundlich.«

»Das können S’ ihr gleich selber sagen. Ich hab den Auftrag, Sie sofort zu ihr zu bringen.«

»Also ich …« Carolin sah ihn irritiert an. »Hat das nicht Zeit bis morgen?«, fragte sie. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich meine künftige Chefin lieber ausgeschlafen kennenlernen.«

»Naa.« Herr Brunneder schüttelte den Kopf. »Net bös sein.« Er nahm ihr den zweiten Koffer aus der Hand und deutete mit dem Kinn die Richtung an. »Aber sie hat gemeint, Sie müssen sich das gleich heut Abend noch anschauen. Das wär wirklich wichtig, hat sie gesagt.«

Der Mann setzte sich in Bewegung. Er sah nicht so aus, als ließe er sich das ausreden, also resignierte sie, rückte ihren Rucksack zurecht und folgte ihm. Trotz der beiden schweren Koffer war er schneller als sie, und sie beschleunigte ihren Schritt, bevor sie ihn mitsamt ihrer Habe aus den Augen verlor.

Am Ende des Bahnhofsgebäudes wurde ein Durchgang zu einem Parkplatz sichtbar, hier hatte ihr Chauffeur seinen blauen Lieferwagen abgestellt. Die Seitentür zierte ein stilisierter silberner Krug, darüber prangte der Schriftzug »Gemeinde Bad Gastein«.

Während Herr Brunneder ihre Koffer in den Wagen wuchtete, knöpfte Carolin ihren Trenchcoat zu. Für Mitte April war es ziemlich kühl, deutlich kälter als in Düsseldorf, von wo sie heute Morgen aufgebrochen war. Der Himmel war grau, und ein eisiger Wind wehte ihr die kurzen dunklen Locken ins Gesicht. Auf der anderen Straßenseite schaute sie auf eine bröckelnde Mauer, ein rostiges Vordach und schäbige Schaufenster im Stil der Achtzigerjahre – auch das war kein sehr einladender Anblick.

Immerhin gab es Berge: Hinter dem Bahnhof erhoben sich hellgrüne Matten und walddunkle Hänge im letzten Tageslicht, auf den Gipfeln lag noch Schnee. Aber wo war die beeindruckende Kulisse, die sie hierhergelockt hatte? Wo die versprochenen Prachtbauten aus dem Jugendstil, die sie auf den Fotos gesehen hatte, und wo der berühmte Wasserfall?

Sie wandte sich ab und bemerkte, dass Herr Brunneder auf sie wartete, die Hand auffordernd an der geöffneten Beifahrertür. Sie stieg ein, er warf die Tür hinter ihr ins Schloss und kam um das Auto herum.

Ein Mann mit Hut und silbergrauem Pferdeschwanz stieg in das Auto, das neben Herrn Brunneders Wagen stand. Sie erkannte ihn wieder, er hatte ab Salzburg im selben Waggon ein paar Plätze weiter gesessen. Er setzte sein Auto zurück, Brunneder ließ das Seitenfenster herunter und rief ihm etwas zu, der andere antwortete, doch von dem darauf folgenden Wortwechsel verstand Carolin so gut wie nichts. Offenbar kannten sich die beiden, und sie sprachen einen Dialekt, den sie erst noch lernen musste.

Endlich gab der andere den Weg frei, und neugierig sah sie sich um, während Herr Brunneder den Wagen auf die Straße lenkte. Aber der erste Anblick ihrer neuen Heimat blieb enttäuschend – es sah nicht anders aus als in jedem x-beliebigen alpinen Urlaubsort: ein Sportgeschäft, ein Souvenirladen, eine Skischule und die unvermeidliche »Lederhosenbar«. Es waren kaum Menschen unterwegs, der Ort wirkte wie ausgestorben.

»Es wird gleich besser«, versprach ihr Fahrer, als könnte er wirklich ihre Gedanken lesen. »Ich bin auch net von hier, a Zuagroaster, wie sie hier sagen. Ich hab im ersten Moment genauso blöd g’schaut wie Sie jetzt grad.«

Eigentlich sollte sie ihn fragen, woher er kam, aber sie fühlte sich von ihm, seiner Tüchtigkeit und all dem Neuen gerade ein wenig überfordert und war froh, dass er schwieg. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, diesen Job anzunehmen. Routiniert verbot sie sich diesen Gedanken, so wie jedes Mal in den letzten drei Monaten, seit sie den Arbeitsvertrag für die Leitung der neu zu eröffnenden Gemeindebibliothek von Bad Gastein unterzeichnet hatte.

Ursprünglich hatte sie ganz andere Pläne gehabt. Sie hatte sich um die Stelle der Leitung der Düsseldorfer Zentralbibliothek beworben und fest mit einer Zusage gerechnet. Schließlich arbeitete sie schon seit gut fünfzehn Jahren dort, hatte vor einigen Jahren die Abteilungsleitung Belletristik übernommen, und sogar ihr scheidender Vorgesetzter hielt sie für mehr als qualifiziert für diese Aufgabe.

Aber dann wurde im letzten Moment von höherer Stelle anders entschieden. Man wies sie höflich, aber bestimmt darauf hin, dass ausdrücklich ein abgeschlossenes Studium im Fachbereich Bibliothekswesen gefordert war, und da sie außer reichlich Erfahrung nur ihren Abschluss in Literaturwissenschaften vorweisen konnte, ging der Posten an einen diplomierten Bibliothekar aus dem Münsterland. Sie wusste, dass die Entscheidung nichts über ihre fachliche Eignung aussagte, aber nach dieser Ablehnung konnte sie keine rechte Motivation mehr aufbringen und begann kurz darauf, sich nach anderen Möglichkeiten umzusehen.

Eine Anzeige im bibliotheksinternen Stellenportal weckte sofort ihre Aufmerksamkeit: »Dort arbeiten, wo andere Urlaub machen.« Der Aufbau einer neuen Bibliothek als Teil einer Kultur- und Veranstaltungsstätte in einer Fremdenverkehrsgemeinde in Österreich – der Job versprach eine echte Herausforderung und klang wie für sie gemacht. Und als sie begann, sich mit Bad Gastein und seiner Geschichte zu befassen, gefiel ihr das, was sie fand, immer besser. Der morbide Charme der alten Gebäude aus der Belle Époque, die jahrzehntelang dem Zahn der Zeit preisgegeben waren, die geschichtsträchtigen Fassaden, die alle Berühmtheiten ihrer Zeit gesehen hatten, die Thermalquellen, der Wasserfall und nicht zuletzt die vielfältigen sportlichen Möglichkeiten der Umgebung, die sie reizten – sie musste nicht lange überlegen.

Kurzerhand bewarb sie sich und wurde umgehend zu einem Vorstellungsgespräch per Videocall eingeladen. Eine rührige Bürgermeisterin, ein behäbiger Tourismusbeauftragter mit sonorer Stimme und der jung-dynamische Leiter des Veranstaltungsmanagements befragten sie ausführlich zu ihrem Woher und Wohin und hielten sie am Ende offenbar für geeignet, die Verantwortung für dieses Projekt zu übernehmen. Und es war, das wurde extra mehrfach betont, eine große Verantwortung, denn das neue Kulturzentrum im denkmalgeschützten Rahmen war ein überaus wichtiger Teil des neuen Tourismuskonzepts des Ortes und dürfe keinesfalls scheitern.

Privat gab es nichts, was sie in Düsseldorf hielt. Ihre beste Freundin war vor einigen Monaten nach Frankreich gezogen, ihre letzte ernsthafte Beziehung war vor über einem Jahr ersatzlos in die Brüche gegangen, und Familie hatte sie kaum noch, nur ihren jüngeren Bruder, aber der war ständig unterwegs, und sie sahen sich selten. Ihr vierzigster Geburtstag vor einigen Monaten hatte sie aufgeschreckt und den Wunsch nach Veränderung beflügelt. Wenn nicht jetzt, wann dann? Dieser Satz war zu ihrem Mantra geworden, wann immer ihr Zweifel über ihre Entscheidung kamen, und das rezitierte sie auch jetzt stumm vor sich hin.

Herr Brunneder setzte den Blinker und bog in eine schmale Straße ein, die steil bergab führte. Nun erinnerte sich Carolin daran, dass der Bahnhof oben im »neuen« Dorf lag – das historische Ortszentrum mit seinen prunkvollen Hotels aus der Kaiserzeit und dem imposanten Wasserfall befand sich tief unter ihr. Vermutlich waren sie dorthin unterwegs. Sie setzte sich aufrecht hin und vertrieb die düsteren Gedanken. Auf einmal war sie hellwach und voller Vorfreude.

Die Straße wurde immer enger und steiler, zuletzt schwang sie sich um eine nass glänzende Felswand herum, und ihr Fahrer bog in die Zufahrt zu einem kleinen Parkhaus ein. Er hielt eine Plastikkarte aus dem Fenster, die Schranke ging hoch, und er steuerte den Wagen in eine leere Parkbucht mit einem Schild »Reserviert für Gemeinde«.

»Wir sind gleich da«, sagte er und stieg aus.

Carolin beeilte sich, aus dem Auto zu kommen, bevor er ihr wieder die Tür aufhalten konnte. Direkt neben dem Gemeindeparkplatz befand sich ein Aufzug, und während sie warteten, warf sie einen Blick aus der breiten Fensteröffnung. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Das Parkhaus klebte wie ein Schwalbennest hoch oben über dem Tal, und sie schaute hinunter auf eine Kirche mit spitzem Turm, auf Häuser, die mehr über- als nebeneinander erbaut zu sein schienen, auf rostig-rote Dächer und – endlich – auf die ersten Jugendstilfassaden, die Zeugnis ablegten von vergangenen glanzvollen Tagen.

»Das ist ja mal ein Anblick«, entfuhr es ihr. »So etwas haben wir in Düsseldorf nicht.«

Brunneder grinste, dann war der Aufzug da, und es ging nach unten. Weit nach unten. »Elf Stockwerke«, erklärte ihr Begleiter. »Das ist der schnellste Weg hinunter zum Straubinger Platz.«

Das Parkhaus entließ sie direkt ins Herz von Bad Gastein. Ein eigenartiges Rauschen lag in der kalten Luft, prasselnd und widerhallend im Fels über ihr, das musste der Wasserfall sein. Eine Gruppe ältlicher Wanderer in bunten Funktionsjacken überquerte mit klappernden Stöcken die Straße, ein kleiner Lastwagen hupte, und als er weiterfuhr, erblickte Carolin zum ersten Mal ihren neuen Arbeitsplatz. Unwillkürlich blieb sie stehen.

Die ehemalige Stadthalle war ein lang gestreckter Betonbau aus den Siebzigerjahren, ein architektonischer Fremdkörper vor der Kulisse der umgebenden Gebäude aus der Belle Époque, aber vielleicht gerade deshalb so beeindruckend. Das kantige Flachdach mit den vier gläsernen Kuppeln und der viereckige Platz davor bildeten die einzigen waagrechten Flächen zwischen all den hochstrebenden Fassaden der früheren Prunkbauten, die inmitten des steilen Alpentals nicht weniger deplatziert wirkten.

Die Gemeinde hatte das denkmalgeschützte Gebäude nach Jahren des ungenutzten Leerstands zurückgekauft und von Grund auf renoviert. Die grauen Betonwände waren geblieben, aber neue Glasfronten und vom Dach herabwucherndes Grün, das die strengen Linien durchbrach, ließen das klobige Bauwerk fast luftig wirken. Der Vorplatz war mit Bänken gesäumt, und matt polierte Edelstahltafeln am Eingang wiesen auf die neue Nutzung hin: links das Kulturbüro, rechts ein Café, oben der Dachgarten, im Gebäude die Lounge, der Eventsaal und das Medienzentrum. Mit dem tristen Bunker, den Carolin aus dem Internet kannte, hatte das hier nichts mehr gemein.

Ihr Fahrer wirkte so stolz, als wäre die Veränderung ganz allein sein Werk. »Verstehen S’ jetzt, warum die Frau Axamer Ihnen das gleich heut noch zeigen wollt?«

Carolin nickte stumm, ihr fehlten die Worte, aber ihr Herz schlug auf einmal schneller. Das war wirklich und wahrhaftig großartig.

Brunneder machte eine auffordernde Geste, sie überquerten den Platz und hielten auf den Eingang zu. In der breiten Glastür erblickte Carolin ihr Spiegelbild: Brunneder klein und grau, im Schatten kaum sichtbar in dem dunklen Glas, sie ein Stück dahinter, groß und schlank in ihrem hellen Mantel. Dann zerbrach das Bild, die Tür ging auf, und die Bürgermeisterin kam ihnen entgegen.

Frau Axamer war untersetzt, kleiner, als Carolin nach dem Videocall erwartet hatte, und wirkte sehr energisch. Ihr dunkelblondes Haar trug sie in einem dicken Zopf, dazu Rock und Bluse mit dezenten Trachtenmotiven, was ihr ausgesprochen gut stand und Carolin ihr von der Reise zerknittertes Äußeres nur noch bewusster machte. Unwillkürlich fuhr sie sich durchs Haar und strich ihren Trenchcoat glatt, dann schalt sie sich selbst dafür. Was erwartete ihre künftige Chefin denn, wenn sie sie direkt vom Bahnhof zu sich zitierte?

»Frau Magister, es freut mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen.« Die Bürgermeisterin schüttelte ihr förmlich die Hand. Ihre Fingernägel waren kurz, aber sorgfältig manikürt. »Hatten Sie eine gute Reise?«

»Vielen Dank. Ich freue mich auch sehr«, erwiderte Carolin und bemühte sich um eine herzliche Miene.

»Kommen Sie herein«, bat Frau Axamer. »Verzeihen Sie, dass ich Sie direkt vom Bahnhof herbringen hab lassen.« Sie lächelte entschuldigend. »Aber ich wollte nicht, dass Sie heute Abend mit einem falschen Eindruck schlafen gehen.«

»Das habe ich schon verstanden.« Diesmal erwiderte sie das Lächeln ehrlich. Seit sie die ehemalige Stadthalle im neuen Glanz gesehen hatte, konnte sie die Intention der Bürgermeisterin ein klein wenig nachvollziehen. »Was Sie hier geleistet haben, ist wirklich beeindruckend.«

Sie folgte ihrer Chefin ins Gebäude und brauchte einen Augenblick, um sich an das dämmrige Licht zu gewöhnen. Draußen war es noch hell gewesen, doch in dem großen Raum war es trotz der vielen Glasscheiben recht dunkel. Genau in der Mitte führte ein breiter Treppenabgang nach unten. Knallrot gepolsterte Sofas schmiegten sich an massive Säulen aus Beton und zogen sich ringsum an den Wänden und Fenstern entlang. Linker Hand war der Raum von staubigen Plastikplanen begrenzt, es roch nach Farbe.

Die Bürgermeisterin nickte zu Brunneder, der hinter Carolin an der Glastür stand. »Unseren Herrn Brunneder haben Sie ja schon kennengelernt. Er ist der Facility Manager und Leiter der Haustechnik hier am Gebäude.«

»Hausmeister, Annamirl, einfach nur Hausmeister.«

Die Bürgermeisterin bedachte ihn mit einem strafenden Blick. »Du sollst mich im Dienst doch nicht duzen.«

Er sah demonstrativ auf die Uhr. »Es ist gleich sechs, ich hab schon lang dienstfrei.«

Frau Axamer verdrehte die Augen, dann wandte sie sich an Carolin und deutete nach links zu den Planen. »Hier drüben ist unser großer Eventsaal«, sagte sie. »Da wird noch gebaut, deshalb können wir nicht rein. Aber Sie können sich die Dimensionen schon vorstellen, nicht wahr?«

»Ja, natürlich.« Carolin nickte. »Mein Bruder ist Veranstaltungstechniker. Der hätte hieran seine helle Freude.«

»Das ist schön.« Frau Axamer wedelte unverbindlich mit der Hand und wandte sich der großen Treppe zu. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen jetzt Ihre künftige Wirkungsstätte.«

Beim Versuch, ihr im gleichen Tempo zu folgen, stolperte Carolin beinahe über das graue Malervlies, das die Treppe bedeckte.

Im Untergeschoß sah es ähnlich aus wie oben im Foyer, nur dass die Sitzgelegenheiten hier aus gemütlichen Sesseln bestanden, die sich um kleinere und größere Tische gruppierten, und es weniger Fenster gab.

»Das ist unsere Leselounge«, verkündete Frau Axamer und klang wie eine Fremdenführerin, was sie ja auch irgendwie war. »Es gibt hier freies WLAN, damit kann man über unsere App digitale Inhalte abrufen. Alles ganz modern und auf dem neuesten Stand der Technik.«

Von dieser App hatte Carolin schon gehört, aber in Düsseldorf hatte man kein Geld für das System ausgeben wollen. Hier war ganz offensichtlich an nichts gespart worden.

»Da hinten sind die Garderoben für das Veranstaltungszentrum und der Zugang zum Zuschauerraum«, fuhr die Bürgermeisterin fort und deutete nach links, wo die gleichen staubigen Plastikplanen hingen wie oben. »Und hier geht es in unsere Bibliothek.« Sie wandte sich zu den dunklen Glastüren auf der rechten Seite.

Brunneder war ihnen gefolgt. Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und hielt eine Chipkarte an ein Lesegerät. Mit einem leisen Zischen glitten die Türen zur Seite, und LED-Spots an der Decke schalteten sich wie durch Zauberhand ein.

»Bitte schön.«

Die beiden ließen Carolin den Vortritt, und mit angehaltenem Atem setzte sie den ersten Fuß in ihr künftiges Reich. Ein dunkler Fußboden dämpfte ihre Schritte. Vor ihr befand sich ein geschwungener Tresen mit zwei Bildschirmen, an der linken Wand waren zwei Selbstverbuchungsterminals angeschlossen. Ein großer Wegweiser stand genau in der Mitte des Eingangsbereichs und verwies auf Heimatsaal, Bücher, Spiele, Filme und Verwaltung.

»Unser Medienzentrum umfasst drei Stockwerke«, erklärte Frau Axamer, noch immer im Tourguide-Modus. »Hier auf der obersten Ebene befinden sich die Ausleihe, die Büros, die Computerterminals und der Ausstellungsbereich. Ein Stockwerk tiefer dann die Bücher und der Lesesaal. Ganz unten sind die Spiele, DVDs und Hörbücher.«

»Ist denn schon alles fertig bestückt?«, wollte Carolin wissen.

»Teilweise.« Frau Axamer zog eine entschuldigende Miene. »Wir haben natürlich den Bestand aus der bisherigen Gemeindebücherei übernommen. Der Herr Pettenkofler von der Stadtbücherei in Sankt Johann hat den Heimatbereich ausgestattet, weil wir uns gedacht haben, dass Sie sich da nicht so auskennen werden. Aber für den Rest haben Sie selbstverständlich freie Hand innerhalb unseres Budgets.« Sie beugte sich ein wenig vor und senkte die Stimme. »Ich würde mich freuen, wenn Sie auch ein paar Bestsellerautoren erwerben. Verstaubte Klassiker haben wir hier in Gastein schon genug.«

»Ja, natürlich.« Carolin nickte zustimmend. »Sie meinen so etwas wie die Kluftinger-Krimis oder Sebastian Fitzek?«

»Ich dachte eher an Diana Gabaldon und Rebecca Gablé.«

»Ah, ich verstehe.« Carolin schmunzelte. »Das werden wir bestimmt hinbekommen.«

Herr Brunneder sperrte eine unscheinbare Tür neben dem Tresen auf und drückte auf einen Lichtschalter, doch nichts passierte.

»Naa, net scho wieder«, hörte Carolin ihn murmeln. Er verschwand in der Dunkelheit, es klapperte hohl, dann klickte es zwei Mal, und das Licht ging an. Der Hausmeister schloss ein Wandpaneel und kam wieder zu ihnen.

»Schon wieder eine Sicherung?«, fragte Frau Axamer.

Er nickte. »I werd no narrisch damit«, sagte er und verzog die Mundwinkel.

Die Lampen erhellten einen kurzen Gang, von dem einige Türen abgingen. An der ersten blieb die Bürgermeisterin stehen, und Herr Brunneder zückte ein weiteres Mal seinen Schlüsselbund. An dem Schild neben der Tür stand Carolins Name: Mag. Carolin Halbach. Der Titel sah fremd aus, noch nie hatte sie jemand »Frau Magister« genannt, aber sie hatte schon mitbekommen, dass sie sich hier in Österreich wohl oder übel daran gewöhnen musste.

Das Büro war größer als ihr letztes in Düsseldorf, sah aber ansonsten nicht viel anders aus: alles modern in Weiß und Grau gehalten, ein Schreibtisch, ein kleiner Besprechungstisch, ein großer Schrank an der Wand und daneben das obligatorische Bücherregal, noch leer und auf Befüllung wartend. Den einzigen Kontrast bildete eines der tomatenroten Sofas, das den Weg vom Foyer hier herunter gefunden hatte und wie ein verirrter Farbfleck wirkte. Sie strich mit den Fingern über den samtigen Stoff. Alles roch noch sehr neu.

Brunneder durchquerte den Raum und zog den hellgrauen Lamellenvorhang zur Seite. Carolin schnappte nach Luft. Das breite Fenster ging auf einen überdachten Balkon hinaus und bot einen phänomenalen Ausblick über das gesamte Tal. Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch einen schmalen Streifen zwischen Wolkendecke und Bergrücken und tauchten die Landschaft in rosafarbenes Licht. Die Häuser auf den umliegenden Hängen wirkten wie verstreutes Spielzeug. Hinter dem Balkon ging es senkrecht hinunter, die Bäume, auf deren Wipfel sie blickte, lagen schon im Schatten. Zwischen den Zweigen blinkten Lichter, und sie erahnte weitere Gebäude am Fuß des Steilhangs. Sie drehte sich zu den anderen um.

»Die Aussicht ist wirklich großartig«, sagte sie.

»Freut mich, dass es Ihnen gefällt.« Die Bürgermeisterin lächelte und winkte sie wieder hinaus auf den Flur. »Nebenan ist das Büro Ihrer Mitarbeiterinnen«, erklärte sie und deutete auf die offen stehende Tür neben der ihren. »Und hier ist die Kaffeeküche. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, Tee, Wein oder ein Glas Sekt? Oder einen Zirbengeist?«

Zirbengeist? Das klang nach Schnaps, um Gottes willen, nein. »Am liebsten ein Tonic, wenn Sie das haben.«

»Tonic Water?« Die Bürgermeisterin sah den Hausmeister fragend an, der schüttelte den Kopf.

»Ich glaub, wir haben nur normales Wasser«, sagte er.

»Kein Problem«, beeilte sich Carolin zu versichern. »Ich nehme auch Wasser.«

Die Küche war klein, eine verglaste Tür führte hinaus auf den Balkon, auf dessen Brüstung ein Aschenbecher stand. Die Bürgermeisterin schenkte ihr eigenhändig ein Glas Mineralwasser ein, und dankbar trank sie das Glas in einem Zug leer.

»Da hinten ist dem Herrn Brunneder sein Reich«, sagte Frau Axamer und wies zum Ende des Ganges. »Die Haustechnik.«

Carolin nickte und unterdrückte ein Gähnen, aber der Bürgermeisterin entging es nicht. »Sie sind bestimmt erschöpft von der langen Fahrt.« Sie sah auf die Uhr. »Der Herr Brunneder bringt sie jetzt zu Ihrem Quartier.« Sie lächelte aufmunternd. »Wir sehen uns morgen um acht bei mir im Büro im Gemeindeamt, da erledigen wir den Papierkram, und dann stelle ich Ihnen Ihre Mitarbeiterinnen vor.«

»In Ordnung.« Carolin war tatsächlich müde, obwohl sie den ganzen Tag nur gesessen hatte. Aber vor allem litt sie unter Reizüberflutung und hatte nach den vielen neuen Eindrücken das Bedürfnis nach ein wenig Zeit für sich.

Draußen auf dem Vorplatz brannten inzwischen die Straßenlaternen. Frau Axamer legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie kurz. »Es wird Ihnen bestimmt bei uns gefallen.«

Carolin war sich auf einmal nicht mehr so sicher, all das erschien ihr plötzlich viel zu fremd. Aber sie rang sich ein Lächeln ab. »Das glaube ich auch«, sagte sie mit mehr Zuversicht, als sie empfand, und folgte Herrn Brunneder über die Straße zum Parkhaus.

Wasser glitzerte auf einer dunklen Felswand, überall tropfte es. Sie fuhren die elf Etagen wieder nach oben, Brunneder schloss den Wagen auf, und Carolin warf noch einen letzten Blick über die Brüstung. Die Abenddämmerung war hereingebrochen, und im Tal und auf den Hängen blinkten hell erleuchtete Fenster wie vom Firmament gefallene Sterne. Schön sah das aus.

Schließlich wandte sie sich ab. Herr Brunneder stand wartend neben dem Auto und hielt ihr schon wieder die Beifahrertür auf. Rasch stieg sie ein, er warf die Tür hinter ihr ins Schloss, setzte sich ans Steuer und ließ den Wagen an.

Haus Sonnenschein befand sich im oberen Teil des Dorfs und erwies sich als schmuckes, sonnengelb gestrichenes Haus mit einem dunkel vertäfelten Dachfirst. Ein schwerer Holzbalkon schien das Erdgeschoß fast zu erdrücken.

»Wir sind da«, sagte ihr Fahrer unnötigerweise.

Eine rundliche, kleine Frau mit sehr kurzen grauen Haaren trat aus dem Haus. Sie trug weite Hosen, dazu einen vermutlich handgestrickten Pullover und darüber eine knallbunte geblümte Schürze. Carolin musste unwillkürlich an eine Matrjoschka denken, es fehlte nur noch das Kopftuch.

»Das ist die Rosi, meine Frau«, stellte Herr Brunneder sie vor.

Frau Brunneder kam näher und musterte sie prüfend. »Sie sind also die Neue. Ich hab Sie mir anders vorgestellt.« Sie hielt ihr die Hand hin. »Ich bin die Rosi.«

Anders gut oder anders schlecht? Carolin konnte es Frau Brunneders Miene nicht entnehmen. Sie schüttelte die dargebotene Hand. »Carolin Halbach. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«

Herr Brunneder hatte die beiden Koffer schon aus dem Auto gehoben und trug sie ins Haus. Sie schulterte den Rucksack und folgte ihm.

Frau Brunneder lief mit kurzen Schritten neben ihr her. »Ich hab Ihnen das Appartement ganz oben gegeben«, sagte sie. »Da haben Sie ein wenig mehr Ruh, wenn das Haus voll ist.«

»Danke«, antwortete Carolin herzlich. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Ruhe, das war das richtige Stichwort.

»Gehen S’ nur mit.« Rosi Brunneder deutete hinter ihrem Mann die Treppe hoch. »Der Peter zeigt’s Ihnen.«

Über ausgetretene Stufen ging es nach oben und einen Flur mit knarrenden Dielen und rustikalen Holztüren entlang. Blank polierte Messingschilder mit Nummern und außen steckende Schlüssel mit klobigen Anhängern wiesen sie als Fremdenzimmer aus. An den Wänden hingen fein gestickte Bilder in dunklen Rahmen, es roch nach altem Holz und frischer Bettwäsche.

Am Ende des Ganges führte eine weitere Treppe schmal und steil nach oben, die an einer schmucklosen Tür ohne Nummer endete. Herr Brunneder schloss auf und winkte sie herein.

Die Möbel waren alt und passten nicht so recht zusammen: rechts an der Wand ein Bettsofa, das halbwegs bequem aussah, davor ein potthässlicher Couchtisch aus den Achtzigern, daneben eine schön geschnitzte Kommode, auf der ein Fernseher thronte. Vor dem breiten Fenster hingen helle Vorhänge, davor stand ein einfacher Holztisch vom Typ IKEA, darauf eine Vase mit bunten Tulpen, eine nette Geste ihrer Zimmerwirtin. Der Holzgeruch war hier noch deutlicher, denn die komplette Dachschräge war mit rötlichen Holzpaneelen vertäfelt. Insgesamt wirkte es sehr gemütlich.

An der anderen Wand gab es eine winzige Küchenzeile sowie eine weitere Tür in der Ecke, die Brunneder aufstieß. »Das ist das Schlafzimmer«, sagte er.

Carolin stellte den Rucksack ab und durchquerte den Raum. Das zweite Zimmer war klein, ein Wandschrank und ein Doppelbett füllten es fast völlig aus. Auch hier war die Decke vertäfelt. Bunte Vorhänge vor dem Fenster und karierte Bettwäsche versprühten ländlichen Charme.

Hinter einer schmalen Tür gab es noch ein kleines Badezimmer, Dusche, Waschbecken, Toilette, mehr Platz war hier nicht, aber mehr würde sie auch nicht benötigen.

Peter Brunneder lehnte im Türrahmen. »Brauchen S’ noch was?«, fragte er.

»Erst einmal nicht, danke.« Caro atmete tief durch. »Es ist sehr schön.«

Wirklich schön war es zwar nicht, aber doch irgendwie heimelig, sodass man sich hier wohlfühlen konnte. Abgesehen davon war das völlig egal, denn sie würde ja nicht lange hier wohnen, nur die erste Zeit, bis sie sich eingewöhnt und etwas Eigenes gefunden hatte. Dafür war es mehr als ausreichend.

Er nickte, und wieder hatte sie das Gefühl, er lese ihre Gedanken. »Wollen S’ noch was essen? Die Rosi hätt Kasnocken g’macht.«

Kasnocken kannte Carolin nicht, aber bei der Vorstellung, dafür dieses Zimmer heute noch einmal verlassen zu müssen, verging ihr jeglicher Appetit. Sie schüttelte den Kopf. »Danke, das ist wirklich sehr nett. Aber ich habe im Zug gegessen und würde lieber gleich schlafen gehen.«

»Ist schon recht.« Er wandte sich zum Gehen. »Frühstück gibt’s ab sieben, ich bring’s Ihnen dann rauf.«

»Das ist nicht nötig, ich komme schon klar.«

»Na gut, dann schlafen S’ gut, Frau Magister.«

»Gute Nacht, Herr Brunneder. Und danke für alles.«

Die Tür fiel ins Schloss, endlich war sie allein. Carolin zog ihren Mantel aus, bewegte die verspannten Schultern und genoss die plötzliche Stille. Dann ging sie ins Wohnzimmer zurück und öffnete das Fenster. Es war fußbodentief und in Wahrheit eine Tür, die auf einen kleinen Balkon mit geschnitztem Geländer führte. Sie trat hinaus und nahm einen tiefen Atemzug. Die Luft war frisch und kalt und prickelte auf ihren erhitzten Wangen. Die Nacht war hereingebrochen, die Straßenlaternen brannten, auf der anderen Straßenseite ging eine Frau mit ihrem Dackel spazieren. Sie nickte grüßend zu ihr herüber, Carolin hob die Hand.

Auf dem Balkon stand ein altersgrauer hölzerner Klappstuhl. Carolin drückte prüfend gegen Lehne und Sitz, bevor sie sich vorsichtig darauf niederließ und sich in ihre Jacke wickelte. Ruhig war es hier. Zwar hörte man von Zeit zu Zeit das Motorengeräusch eines Autos in der Ferne, aber ansonsten war es völlig still.

Einen Moment lang verspürte sie Lust auf eine Zigarette, dabei hatte sie das Rauchen schon vor einigen Jahren aufgegeben. Offenbar steckte sie all das Neue beileibe nicht so locker weg, wie sie nach außen hin vorgab. Natürlich würde sie deshalb nicht wieder anfangen, aber sie beschloss, das Zweitbeste in dieser Situation zu tun. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und rief ihren kleinen Bruder an.

»Schwesterherz!« Paul klang ehrlich erfreut. »Hast du das Dorf der unbeugsamen Pinzgauer erobert?«

Carolin musste lachen. »Gib mir ein paar Tage, ich bin doch gerade erst angekommen.« Sie setzte sich bequem zurecht. »Außerdem sind wir im Pongau, nicht im Pinzgau.«

»G’hüpft wie g’hatscht«, antwortete Paul in einer so schlechten Imitation des österreichischen Idioms, dass es sogar Carolin auffiel.

»Lass das bloß nicht die Leute hier hören«, sagte sie.

»Natürlich nicht, was denkst du denn. Ich kenne meine Grenzen.« Er lachte leise. »Aber jetzt erzähl, wie ist es?«

»Es ist …«, sie zögerte und suchte nach den richtigen Worten, »… überraschend groß. Ich kannte Bad Gastein ja nur von Bildern. In Wirklichkeit ist es noch viel beeindruckender.«

»Muss es wohl sein, wenn du deinen Job in der Stadt dafür aufgibst, um eine Dorfbücherei zu leiten.«

»Eine Dorfbücherei?«, entgegnete sie in gespielter Entrüstung. »Paul, du hast ja keine Ahnung.«

»Was ist es denn sonst?«

»Die Bibliothek ist der Beginn einer neuen Ära in Bad Gastein!«

»Eine neue Ära? In einem Skidorf in den Alpen von Ära zu sprechen, ist wohl ein bisschen hoch gegriffen.«

»Du verstehst das nicht.« Carolin richtete sich unwillkürlich auf. »Die Verantwortlichen wollen weg von Schlagerfeten und Après-Ski-Eimersaufen und sich stattdessen auf Kultur und Geschichte fokussieren. Und meine Bibliothek ist ein Teil des neuen kulturellen Zentrums.«

»Na, ob der Plan aufgeht?« Ihr Bruder klang zweifelnd. »Ich weiß nicht.«

»Ich glaube, du unterschätzt die Atmosphäre dieses Ortes. Das ist hier so einmalig, es wäre geradezu ein Frevel, das nicht zu nutzen.«

»Du meinst, als Alleinstellungsmerkmal? Hm, ja, vielleicht hast du recht. Ich kann es mir wirklich nicht vorstellen.«

»Du müsstest es sehen.« Carolin geriet ins Schwärmen. »Diese riesigen Gebäude aus der Belle Époque und mittendrin die alte Stadthalle, in der sich jetzt das Kulturzentrum befindet. Ich sage dir, das wird großartig.«

»Wenn du so begeistert bist, dann wird es das bestimmt.« Seine Stimme war warm.

»Das hoffe ich sehr.« Carolin war ernst geworden. »Ich möchte hier auf keinen Fall scheitern.«

»Das wirst du nicht, Caro. Scheitern kommt in deinem Wortschatz doch gar nicht vor.«

»Das ist lieb, wenn du das sagst, aber du weißt, dass das nicht stimmt.« Sie sagte es leichthin, aber die Erinnerung an die Ablehnung in Düsseldorf versetzte ihr immer noch einen Stich. »Lass uns nicht nur von mir sprechen. Wo steckst du gerade?«

»Wir sind in Berlin«, antwortete ihr Bruder. »Wir haben ab morgen einen großen Gig im Tiergarten. Mehrere Konzerte, viele Bühnen, das wird eine anstrengende Woche.«

»Vielleicht hast du ja mal ein Engagement in Österreich, dann kannst du mich besuchen.«

»Das mache ich ganz bestimmt.« Im Hintergrund waren Geräusche zu vernehmen. »Du, Caro, ich muss Schluss machen. Wir hören uns, ja? Halt die Ohren steif!«

»Mach ich. Tschüss Paul!«

Carolin beendete das Gespräch und blieb noch einen Augenblick sitzen, das Telefon in der Hand. Es hatte gutgetan, seine Stimme zu hören, aber tatsächlich fühlte sie sich nun noch einsamer als zuvor. Schließlich stand sie auf und ging zurück ins Zimmer.

Lauter reizende Damen

Carolin erwachte vom krächzenden Ruf eines Vogels. Sie blieb noch einen Augenblick liegen und genoss die Wärme des Federbetts und den Duft von Holz, der ihr heute Morgen noch intensiver erschien. Der Vogel krächzte schon wieder, als wollte er sie aus dem Bett scheuchen. Sie schlug die Decke zurück und stellte die nackten Füße auf den Fußboden. Im Zimmer war es empfindlich kalt. Sie hatte das Fenster über Nacht einen Spalt weit geöffnet gelassen und nicht bedacht, dass sie auf tausend Metern Höhe mit anderen Temperaturen zu rechnen hatte. Fröstelnd lief sie zum Fenster.

Der Vogel flog vom Balkongeländer auf. Sie hatte aufgrund des Schreis eine Krähe erwartet, aber er war braun und weiß, kaum größer als eine Amsel. Erneut ließ er sein heiseres Krächzen ertönen, bevor er in einem weiten Bogen zu einem Nadelbaum im Garten segelte. Sie schloss das Fenster mit Nachdruck, drehte den Heizkörper hoch und ging ins Bad.

Nach einer heißen Dusche waren ihre Füße wieder warm. Nackt, wie sie war, ging sie an den Kleiderschrank, den sie am Vorabend noch eingeräumt hatte, bevor sie wie ein Stein ins Bett gefallen war. Sie entschied sich für ihr übliches Joboutfit, dunkle Jeans und helle Bluse, heute kombiniert mit einem seriös wirkenden Leinensakko – schließlich stand ihr gleich der offizielle Antrittsbesuch im Gemeindeamt bevor. Dunkelgraue Wimperntusche betonte das Blau ihrer Augen, und ihr Lippenstift war so tomatenrot wie das Tuch, das sie sich passend zur Farbe der Sofas in der Bibliothek um den Hals schlang. Zuletzt kontrollierte sie ihr Aussehen im Spiegel auf der Innenseite der Schranktür, fand es zufriedenstellend und fuhr sich ein letztes Mal mit den Fingern durch die Haare, die sich noch feucht in alle Richtungen kringelten.

Eine kurze Inspektion der Schränke und Schubladen in der Miniküche dämpfte allerdings ihre Laune. Ein paar Teller, ein Topf, drei bunte Tassen, die nicht zusammenpassten, und etwas Besteck, das war alles. Es gab weder Kaffee noch Tee und auch sonst nichts, das sich als Frühstück eignete. Nun bereute sie, dass sie Herrn Brunneders Angebot, ihr das Frühstück zu bringen, gestern Abend so vorschnell abgelehnt hatte, und sie verließ ihr Zimmer.

Im Haus war es auffallend still. Falls es außer ihr noch andere Gäste gab, schliefen sie offenbar noch oder waren bereits unterwegs. Der Eindruck setzte sich im Frühstücksraum fort, einem hellen Raum mit vielen Fenstern und breiten Terrassentüren, durch die sie auf einen großen Garten blickte. Kein einziger Tisch war gedeckt, das Buffet war leer. Sie schaute auf die Uhr, es war kurz vor halb acht. Unschlüssig blieb sie in der Tür stehen.

Schritte ertönten, sie drehte sich um, Frau Brunneder stand hinter ihr. »Wollen S’ jetzt doch was?«

Carolin wies auf das leere Buffet. »Ich dachte, es gibt hier Frühstück«, sagte sie.

»Normal eh«, antwortete Rosi Brunneder. »Aber wir haben grad keine Gäst außer Ihnen, und weil Sie g’sagt haben, Sie wollen nix, hab ich nix hergerichtet.«

»Ach so.« Caro wandte sich ab. »Das wusste ich nicht.«

Frau Brunneder hielt sie am Ärmel fest. »Jetzt kommen S’ halt in die Küche. Einen Kaffee kriegen S’ bei mir immer.«

Die Küche der Brunneders war groß, aber trotz des Pensionsbetriebs sah es hier kaum anders aus als in einem Privathaushalt: eine ganz normale Einbauküche mit abgenutzten hellen Fronten, ein schöner alter Küchenschrank und eine massive Eckbank, auf die Frau Brunneder wies.

»Setzen S’ Ihnen. Ich bring Ihnen was.«

»Danke, Frau Brunneder.«

»Und sagen S’ Rosi zu mir. Die Frau Brunneder war mei Schwiegermutter.«

Caro schmunzelte und streckte ihre langen Beine aus. Gemütlich war es hier. Die Küche war aufgeräumtes Chaos aus Tiegeln und Tassen, Vorratsdosen, Küchengeräten, Gewürzgläsern und Kochbüchern. Es roch nach Kaffee und frisch gebackenem Brot. Frau Brunneder, nein, Rosi holte Geschirr mit Blumenmuster aus dem Küchenschrank und schnitt Brotscheiben ab. Butter, Marmelade, Milch und Honig wanderten auf den Tisch, und Carolin griff herzhaft zu. Das Brot war noch warm, die Butter schmolz zu gelblichen Seen und vermischte sich mit dem goldenen Honig. Sie hatte schon lange kein so gutes Brot mehr gegessen.

Als sie das sagte, lächelte Rosi erfreut. »Das back ich selber. Wenn Gäst da sind, back ich jeden Tag. Schön, dass es Ihnen schmeckt.«

Caro nickte mit vollem Mund und nahm einen Schluck Kaffee.

Draußen vor dem Fenster ertönte erneut das unmelodische Krächzen, das sie zuvor geweckt hatte. »Was ist das für ein Vogel?«, wollte sie wissen.

»Das ist ein Zirbengratsch«, erklärte Rosi. »Ein Tannenhäher. Der wohnt da drüben in meiner Zirben.« Sie öffnete das Fenster und legte ein paar Erdnüsse auf das Fensterbrett. Dann trat sie einen Schritt zurück.

Der Vogel flog heran und ließ sich vor dem Fenster nieder. Er war braun-weiß gesprenkelt, nicht so bunt wie sein größerer Verwandter, der Eichelhäher, den Caro aus den Wäldern rund um Düsseldorf kannte. Er legte den Kopf schief und musterte sie aus schwarz glänzenden Augen. Schließlich hüpfte er zu den Erdnüssen und pickte daran herum.

Rosi schloss das Fenster, der Vogel flatterte davon, eine Nuss im Schnabel. »Der kommt jeden Morgen und holt sich sein Frühstück«, sagte sie. »Grad so wie die anderen Gäst.« Sie hob die Kaffeekanne. »Wollen S’ noch einen?«

»Ja, bitte.« Carolin hielt ihr die Tasse hin, und Frau Brunneder füllte sie auf.

»Sie müssen aber gleich los, die Annamirl hat keine Freud, wenn s’ warten muss.«

»Ich bin schnell zu Fuß«, entgegnete Carolin. »Und zum Gemeindeamt ist es ja nicht weit.«

»Das ist wahr.« Rosi stellte Butter und Milch zurück in den Kühlschrank.

»Kennen Sie Frau Axamer gut?«, fragte Carolin.

»Die Annamirl is des Patenkind von meiner Schwester«, erklärte ihre Zimmerwirtin. »Die war schon als Kind so umtriebig und hat’s immer eilig g’habt. Aber sie hat’s damit auch zu was ’bracht.«

»Das kann man wohl sagen.« Caro nickte zustimmend. »Dieses neue Tourismuskonzept ist wirklich genial.«

»Ich find’s auch besser so. Dann kommen die Gäst vielleicht das ganze Jahr über und net nur im Winter zum Schifoan. Weil nur vom Kurbetrieb kann unsereins ja net leben.« Rosi kam mit einem Lappen und wischte den Tisch ab. »Nur leider denken bei uns net alle so.«

»Wer sollte denn bitte etwas dagegen haben, wenn mehr Gäste kommen?«

»Na alle die mit den Diskotheken und den Schlagerbars und den Skihütten«, antwortete Rosi. »Die hätten sich g’wünscht, wenn der Plan von dem Vorbesitzer umg’setzt worden wär. Der wollt nämlich a Seilbahnstation aufm Dach von der Stadthalle bauen und die Schifoarer direkt vom Berg ins Ortszentrum bringen. Da hätten s’ dann glei weiterfeiern können.«

»Dann bin ich aber froh, dass aus diesem Plan nichts geworden ist.« Carolin trank ihren Kaffee aus. »Wie hat Frau Axamer denn den Vorbesitzer dazu gebracht, die Stadthalle zu verkaufen?«

»Des soll Ihnen die Annamirl selber erzählen.« Rosis Gesicht wirkte auf einmal verschlossen. Sie deutete auf die Uhr. »Sie miassen jetzt gehen«, sagte sie.

Carolin sah sie verdutzt an. Offenbar gab es hier eine Sache, über die sie nicht sprechen wollte. Sie schob sich zwischen Tisch und Eckbank hervor. »Danke für das Frühstück, Rosi.«

»Schon recht, Frau Magister.«

Das Gemeindeamt lag ebenfalls im oberen Teil des Orts, höchstens zehn Minuten Fußweg vom Haus Sonnenschein entfernt. Carolin verspätete sich trotzdem, denn irgendwo bog sie falsch ab und fand sich auf einmal am Ufer der Gasteiner Ache wieder. Bis sie festgestellt hatte, dass sie in die falsche Richtung lief, hatte sie bereits die halbe Siedlung durchquert. Praktisch jedes Haus schien ein Hotel oder eine Pension zu beherbergen, und unwillkürlich fragte sie sich, wo hier die Leute eigentlich wohnten, wenn alles an Touristen vermietet war.

»Ah, die Frau Magister«, begrüßte die Bürgermeisterin sie, als sie um fünf Minuten nach acht etwas atemlos ihr Büro betrat. Frau Axamer deutete auf den runden Besprechungstisch in der Ecke, auf dem ein schmaler Heftordner lag. »Setzen wir uns doch hierhin. Kaffee oder Tee? Oder einen Zirbengeist?« Sie hob die Brauen und klimperte übertrieben mit den Wimpern, Carolin musste lachen.

»Kaffee, bitte. Und ich heiße Halbach, nicht Magister.«

Die Bürgermeisterin stutzte, dann hob sie die Schultern und lachte ebenfalls. »Natürlich, Frau Halbach.« Sie füllte eigenhändig die Tassen, schob ihr Zuckerdose und Kondensmilch hin, dann setzte sie sich neben Carolin und schlug den Ordner auf.

»Ich habe hier noch ein paar Dinge, die Sie unterschreiben müssen«, begann sie. »Nachher gehen wir noch durchs Amt, und ich stelle Ihnen die wichtigsten Mitarbeiter vor.«

Caro nippte an ihrem Kaffee, er war heiß und sehr stark, dann begann sie zu lesen. Die Vereinbarung für das Pensionszimmer war kurz und knapp, die Versicherungsunterlagen deutlich umfangreicher, und sie überflog nur die ersten Absätze. Frau Axamer schob ihr einen Kugelschreiber hin, und sie unterschrieb überall dort, wo die Bürgermeisterin hindeutete.

Zuletzt legte Frau Axamer einen dicken Schlüsselbund auf den Tisch. »Das ist jetzt Ihrer«, sagte sie. An dem silbernen Ring hing die gleiche Chipkarte, die schon Herr Brunneder gestern benutzt hatte, sowie einige weitere kleine und große Schlüssel. Die Liste, die sie dafür unterschrieb, ging über eine halbe Seite.

»Das liegt am Alter von diesem Gebäude«, erklärte Frau Axamer. »Gewachsene Strukturen, verstehen S’? Aber Sie haben damit überall Zutritt, wo Sie’s brauchen.«