Sturzwasser - Karina Ewald - E-Book

Sturzwasser E-Book

Karina Ewald

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Beschreibung

Trügerische Idylle: Ein toter Investor vor traumhafter Bergkulisse Jähes Ende einer Wanderung: Anstatt sich nach dem anstrengenden Aufstieg zur Wiesneralm entspannt zu erholen, macht Carolin Halbach eine grausige Entdeckung. In einem Bottich mit Erfrischungsgetränken schwimmt eine Leiche zwischen den Almdudlerflaschen. Bei dem Toten handelt es sich um einen russischen Investor mit großen Plänen für die idyllische Alm. Natürlich lässt sich die "Miss Marple von Bad Gastein" auch diesmal nicht davon abhalten, den örtlichen Behörden bei den Ermittlungen unter die Arme zu greifen. Der zweite Teil der Regionalkrimi-Reihe rund um die Leiterin der Bad Gasteiner Stadtbibliothek schließt nahtlos an den Vorgänger an. Auch diesmal glaubt Krimifan Carolin Halbach nicht an eine einfache Lösung und wittert Verstrickungen. - Von der einsamen Alm zum kitschigen Luxus-Ressort: Wer wollte die Pläne des Investors vereiteln? - Spannende Urlaubslektüre: Provinzkrimi mit internationalen Verwicklungen - Ein neuer Fall für die unerschrockene Bibliothekarin aus Düsseldorf - Zweiter Band der humorvollen Bad-Gastein-Reihe von Karina Ewald - Krimi-Empfehlung für Ihren Urlaub im Salzburger Land! Immer was los in Bad Gastein Von wegen ruhige Provinz – langweilig wird es Carolin Halbach an ihrem neuen Lebensmittelpunkt garantiert nicht! Kaum hat sie den letzten Mordfall verdaut, der ihren Start in der Stadtbibliothek überschattet hat, stolpert sie schon über die nächst Leiche. Auch diesmal ist sie schnell in die Ermittlungen rund um den Tod des russischen Investors verwickelt – ihr Spitzname "Miss Marple" kommt schließlich nicht von ungefähr. Krimi-Autorin Karina Ewald verbindet auch im zweiten Teil ihrer Heimatkrimi-Reihe ihre Liebe zum Gasteinertal mit spannender Unterhaltung für alle Fans österreichischer Krimis.

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Seitenzahl: 376

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Karina Ewald

STURZWASSER

Ein Bad-Gastein-Krimi

Diese Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden verändert und/oder von der Autorin ausgedacht, Geschehnisse anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2023

Copyright dieser Ausgabe © 2023 Servus Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency, München.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, Courier, Bauer Bodoni

Umschlaggestaltung: www.b3k-design.de, Andrea Schneider, diceindustries

Umschlagmotive: © Erwin Hayden-Hohmann; © SolidMaks / shutterstock.com

Karte Innenklappe: Nina Andritzky

Printed by CPI books GmbH, Germany

ISBN: 978-3-7104-0320-0

eISBN: 978-3-7104-5068-6

Inhalt

Tod auf der Alm

Nächtliche Geister

Der unglaubliche Diebstahl

Zufälle und andere Fälle

Raub im Hotel

Das Wespennest

Ein Indiz zu viel

Der dritte Mann

16 Uhr 13 ab Schwarzach-St. Veit

Die Schneewittchen-Party

Die Kleptomanin

Ein guter Plan

Die goldene Kugel

Ein verdächtiges Zusammentreffen

In tödlicher Gefahr

Etwas ist faul

Ein guter Freund

Danksagung

Tod auf der Alm

»Ist das schön.«

Unwillkürlich war Carolin stehen geblieben. Der Almboden erstreckte sich vor ihr in saftigem Grün. Die sanft gewellten Matten zogen sich rundherum die Hänge empor, nur unterbrochen von den hellen Abbruchkanten des darunterliegenden Gesteins. Zahllose Rinnsale rieselten die Bergflanken herab. Ganz hinten, am jenseitigen Ende der Alm, erhob sich eine steingraue Felswand, durchzogen von einem mächtigen Band aus Schnee, das weitere Bäche in die Tiefe entließ, die sich in silberhellen Kaskaden zu einem Bachlauf vereinten. In sanften Mäandern aus kristallklarem Wasser durchfloss er den Wiesengrund, um am jenseitigen Ende abrupt über die Kante zu verschwinden.

Bruno hatte wahrlich nicht zu viel versprochen, als er an diesem herrlichen Julitag einen Ausflug zur Wiesneralm vorgeschlagen hatte. »Wirst sehen, das lohnt sich«, hatte er gesagt, und er hatte uneingeschränkt recht behalten. Carolin konnte sich nicht erinnern, schon einmal so etwas … Schönes gesehen zu haben.

»Es ist unfassbar schön«, wiederholte sie flüsternd. Es gab kein anderes Wort dafür.

Bruno war ebenfalls stehen geblieben und legte ihr den Arm um die Schultern. Anders als sonst ließ sie ihn diesmal gewähren.

»Das da hinten ist das Wiesner Kees«, meinte er und deutete auf das Schneefeld mitten im Steilhang. »Früher war das viel größer, da hat man kaum was vom Fels gesehen. Heut ist das nur noch ein Bruchteil von dem, was es war, wie ich zum ersten Mal als Bub da heroben war.« Er lachte leise. »Das war Anfang der Neunziger. Unglaublich, wie lang das her ist.«

Carolin atmete tief ein. Die Luft war von einer Klarheit, die man sich im Tal gar nicht vorstellen konnte. Eine überraschend bunte Vielfalt an Blumen hatte sich an die stattliche Höhe von knapp zweitausend Metern angepasst, und selbst die Insekten schienen damit weniger Probleme zu haben als Carolin, der die dünne Höhenluft zu schaffen machte. Sie fuhr sich durch die kurzen schwarzen Haare, strich sich eine verschwitzte Locke aus der Stirn und sah sich um. An dem großen Felsen neben ihr hatte jemand ein metallenes Gestell angeschraubt, das ein einfaches Holzkreuz hielt. »Offenbar hat dieser Ort auch für andere Menschen eine Bedeutung«, stellte sie fest.

Bruno nickte. »Die Leut hier sind sehr gläubig«, sagte er. »Ich erinner mich noch dran, früher ist an dem Kreuz sogar ein g’schnitzter Christus g’hangen. Aber der hat wahrscheinlich das Wetter net überlebt. Im Winter liegt da der Schnee meterhoch.«

Carolin löste sich von Bruno und ging um den Felsblock herum. Einer der Bäche bildete hier einen kleinen Teich, und einen Moment lang bedauerte sie, keine Schwimmsachen mitgebracht zu haben. Ein erfrischendes Bad im Angesicht der Berge, das wäre die Krönung ihrer Wanderung gewesen und der perfekte Ausgleich zu der anstrengenden Arbeitswoche, die hinter ihr lag.

Bruno schien ihre Gedanken zu erraten. »Das Wasser hat höchstens zehn Grad«, rief er ihr zu. »Da drin willst net baden.«

Carolin ging in die Hocke und hielt die Hand ins Wasser. »Das stimmt nicht, es ist ganz warm.«

»Nur ganz oben. Drunten am Grund is es eiskalt.« Bruno winkte ihr zu, er wollte weitergehen.

Sie richtete sich auf. »Das klingt, als hättest du es schon ausprobiert.«

Er grinste. »Eh klar. Mit zwölf probiert ma doch alles aus.«

Carolin musste lachen. Bruno in den Bergen war ein anderer Bruno als im Tal: Mit seinen zweiundvierzig war er gerade einmal zwei Jahre älter als sie, aber hier oben wirkte er jünger, fast lausbubenhaft, was ihm deutlich besser stand als die Rolle des ernsthaften Arztes, die er in Bad Gastein zur Schau trug. Sie waren so etwas wie Freunde geworden, seit sie ihm vor einigen Wochen buchstäblich vor die Füße gefallen war. Genau genommen war sie mit ihrem Fahrrad gestürzt, als sie seinem Auto ausweichen wollte. Dabei hatte sie sich den Knöchel verstaucht, und er hatte fachmännisch Erste Hilfe geleistet. Seit damals hatte Bruno sie immer wieder mit in die Berge genommen und ihr gezeigt, wie atemberaubend schön ihre neue Heimat tatsächlich war.

Er wandte sich zum Fluss und schritt kräftig aus. Sie folgte ihm ein wenig langsamer, denn der Boden war feucht, vermutlich eine Folge des Regens in der letzten Nacht, und nur ein schwach ausgetretener Pfad war zu erahnen. Fliegenumschwirrte Kuhfladen zeugten davon, dass es eher die vierbeinigen Bewohner der Alm waren, die ihn benutzten: große rotbraune Tiere mit einem auffallenden weiß gescheckten Streifen an Rücken und Bauch. »Pinzgauer« hatte Bruno sie genannt, junge Milchkühe, die den Sommer hier oben mehr oder weniger unbeaufsichtigt verbrachten, seit die Alm nicht mehr bewirtschaftet wurde.

Der Pfad zog sich den Flusslauf entlang und traf bald auf einen etwas breiteren Wanderweg. Zur Rechten überspannte eine einfache Holzbrücke ohne Geländer den Fluss, keine fünf Meter weiter verschwand das gurgelnde Wasser über eine Felsplatte in die Tiefe. Bruno stand schon auf der Brücke und winkte sie heran. »Komm, du magst doch sicher fotografieren!«, rief er.

»Lieber würde ich mich irgendwo setzen und Pause machen«, gab Carolin zurück. Der Aufstieg zur Alm war anstrengend gewesen. Der markierte Weg wand sich in steilen Kehren nach oben, immer wieder den herabstürzenden Fluss überquerend. Ihre Füße schmerzten in den neuen Schuhen. Fast zwei Stunden hatten sie gebraucht, wovon natürlich die halbe Stunde hinter dem Schleierfall abzuziehen war, wo sie auf der schmalen Bank gesessen und den stiebenden Wassertropfen zugesehen hatten, die sich wie ein silberner Vorhang vor das Bergpanorama des Gasteinertals legten. Carolins Handy hatte nur noch fünfzig Prozent Akku, so viele Fotos hatte sie schon geschossen.

Bruno lachte. »Kommt gleich.« Er deutete auf den Weg, der von der Brücke zurück zur Almhütte führte. »Da hinter dem Mugel ist ein Bankerl, da gibt’s auch was zu trinken.«

Carolin trat zu ihm. Jenseits der Brücke wurde der Weg breiter und war offenbar besser befestigt – grobe Reifenabdrücke im feuchten Untergrund zeigten, dass auch Mountainbiker hier heraufkamen. Sie wandte sich zur Talseite um und schaute fasziniert nach unten. Genau vor ihr sammelte sich das Wasser des kleinen Flusses in einem steinernen Becken, schimmerte grünlich und geheimnisvoll und schien einen Moment innezuhalten, bevor es über die Kante … verschwand. Da war kein spektakulärer Wasserfall oder rauschender Donner, der ihn verriet, das Wasser floss wie beiläufig über den flachen Stein, der die äußerste Grenze des Almbodens markierte. Carolin hob ihr Handy und fotografierte den Anblick, aber schon während sie die Fotos schoss, war ihr klar, dass die Bilder diesen Moment nie so einfangen konnten. Nicht ohne das Plätschern des strömenden Wassers, nicht ohne die kalte, feuchte Luft, die ihr von der Kante entgegenwehte.

Schließlich stieg sie von der Brücke, folgte einem kaum sichtbaren Pfad, der zu der Kante führte, und starrte mit angehaltenem Atem in die Tiefe. Ungebremst fiel das Wasser senkrecht nach unten. War der Fluss oben noch eine grünliche Welle aus glasklarem Wasser, zerstob er nach wenigen Metern zu der weißen Gischt, die sie von unten schon gesehen hatte. Aber von hier aus war das noch um ein Vielfaches eindrucksvoller. Der Blick stürzte ebenso in die Tiefe wie das Nass, ein schwindelerregendes Gefühl, und rasch trat sie einen Schritt zurück. Bruno stand hinter ihr und umfing sie mit den Armen. »Pass bitte auf, Caro«, sagte er in ihr Ohr. »Fall mir nur net runter.«

»Natürlich nicht.« Sie lachte. »Keine Sorge, ich stürze nicht ab.«

»Das will ich hoffen.« Er ließ sie los und reichte ihr die Hand. »Komm, ich hab Durst.«

»Sofort. Ich mache nur noch ein Video.«

Ein deutlich ausgetretener Weg führte sie zurück in Richtung Hütte. Links von ihnen erhob sich ein kleiner Hügel, der die Sicht auf den Bach versperrte und auch das Rauschen des strömenden Wassers dämpfte. Dafür erklang ein Gluckern, der Boden wurde auf einmal schwarz und tief und fast morastig – Wasser floss über den Pfad und versickerte glitzernd im Gras.

Die versprochene Bank kam in Sicht, es gab sogar einen Tisch dazu, beides aus grau verwittertem Holz gezimmert. Erleichtert legte Carolin die letzten Schritte zurück.

Bruno deutete mit dem Kinn nach vorn. »Ich hoff, es ist noch was zum Trinken da«, sagte er.

»Was meinst du?« Carolin ließ sich erleichtert auf die Bank fallen und sah ihn fragend an. Jetzt erst fiel ihr Blick auf das kleine Schild, das an einem Pfosten neben der Bank befestigt war: »Almdudler 2,50 Euro, Wasser 1 Euro«, stand darauf geschrieben. Darunter hing eine einfache Metallkiste mit einem Schlitz. Suchend schaute sie sich um. Tatsächlich, ein stabiler Bottich aus quietschblauem Plastik stand ein Stück oberhalb der Bank am Fuß des grasigen Buckels, den sie soeben umrundet hatten. Ein schwarzes Kunststoffrohr ragte aus dem Boden, ein dünner Wasserstrahl plätscherte hinein, das überlaufende Wasser floss über ein paar Steinplatten herab und versickerte in der Erde.

Bruno war schon hochgestiegen zu dem Behälter und wandte sich zu ihr um. »Was magst denn?«, fragte er. »Almdudler oder lieber ein Wasser?«

Carolin grinste. Im Almwasser gekühlte Getränke, das war ein unerwarteter Service. »Almdudler bitte. Wasser habe ich selbst.«

Bruno nickte und drehte sich um. Im nächsten Moment schnappte er nach Luft. »Jessasmaria!«, rief er. »I glaub, i spinn!«

Carolin schrak auf. »Was ist los?«

»Da liegt einer im Wasser!« Bruno war blass geworden unter der Sonnenbräune. Entsetzt starrte er sie an. »Caro, da drin is ein Toter!«

Unwillkürlich war Carolin aufgesprungen. »Was sagst du da?« Mit großen Schritten eilte sie an Brunos Seite. Sie warf einen Blick über seine Schulter und zuckte zurück. Bruno hatte recht, natürlich hatte er recht, warum sollte er so etwas sagen, wenn nicht … Sie atmete tief durch, beruhigte ihre flatternden Nerven und beugte sich über den Rand. Im Wasser dümpelten mehrere Kunststoffflaschen. Sie drehten sich träge in der Strömung des einlaufenden Wassers und verdeckten fast den Körper eines Mannes, der mit verdrehten Gliedmaßen auf dem Boden des Bottichs lag. Blicklos starrten seine Augen nach oben. An seinem rechten Nasenloch hing eine Luftblase, ganz so, als ob er nur kurz die Luft anhalten würde, doch das saubere Loch in seiner Stirn sprach eindeutig dagegen. Carolin registrierte jede Einzelheit: schütteres dunkles Haar, das sich sachte in der Strömung bewegte, ergraute Schläfen, ein rundes Gesicht mit hohen Wangenknochen, ein voller Mund, ein Grübchen im Kinn. Dunkler Anzug, schwarze Lederschuhe, die denkbar ungeeignet schienen für den Aufstieg zur Alm.

Bruno atmete tief durch. »Ich glaub, auf Erste Hilfe kann ich bei dem verzichten.«

Carolin riss sich von dem Anblick los. »Da hast du bestimmt recht.« Sie zog ihr Telefon aus der Tasche. »Ich rufe Herrn Herzinger an.«

Carolin hatte sich auf eine Wartezeit von mindestens zwei Stunden eingestellt, doch zu ihrer Überraschung dauerte es keine dreißig Minuten, bis Revierinspektor Herzinger hinter dem Buckel auftauchte. Er war nicht allein, ein kräftig gebauter Mann folgte ihm mit zwei Schritten Abstand. Er war einen ganzen Kopf größer als der schlanke Polizist, hatte breite Schultern und ein kräftiges Kreuz, doch seinen Bewegungen nach waren es eher Muskeln als Fett, die seine Silhouette bestimmten. Sein Gesicht wirkte kantig und irgendwie verwittert mit tief eingeprägten Falten und einem eckigen Kinn, obwohl Carolin ihn nur wenige Jahre älter schätzte als sie selbst. Keine fünfzig jedenfalls. Er trug ein kariertes Hemd zu ausgeblichenen Jeans, einen ledernen Hut auf dem Kopf und feste Schuhe an den Füßen und wirkte insgesamt so, als ob er die meiste Zeit im Freien verbrachte. Hinter den beiden tauchte ein großer, zotteliger Hund auf, die rotbraune Nase auf dem Boden. Der Mann pfiff durch die Zähne, und der Hund sprang herbei.

Carolin hatte sich von der Bank erhoben und ging den beiden ein paar Schritte entgegen.

»Grüß Ihnen, Frau Halbach«, sagte Herzinger. Er schüttelte ihr die Hand und nickte Bruno grüßend zu. »Mir treffen uns scheinbar immer nur, wann’s a Leich gibt.« Er nahm die Dienstmütze ab und fuhr sich durch die rötlichen Haare, dann setzte er sie wieder auf und sah sich um. »Wo liegt er denn?«

Carolin deutete auf den improvisierten Kühlbehälter. »Da drin«, sagte sie.

»Was …« Der andere Mann war mit wenigen Schritten am Bottich und starrte hinein. »Kreizkruzifix, des gibt’s do net!« Er war blass geworden. »Des is der Rubinsky!« Der Hund machte Anstalten, am Rand des Behälters hochzuspringen, doch der Mann packte ihn am Halsband und zog ihn weg.

»Wer?« Carolin war ebenfalls herangekommen.

»Na, der Russ, der unser Alm kaufen will.« Der Mann warf ihr einen finsteren Blick zu, als ob sie jeden der vielen Immobilienhaie in und um Gastein kennen müsste. Dann wandte er sich an Herzinger. »Des is der Goscha Rubinsky. Dem g’hört des Hotel Persipan in Gastein. Und no so einiges mehr, was ma so hört.« Er schnitt eine Grimasse.

»Hat der net auch die Finger im Spiel g’habt bei die Sabotagen am Kulturzentrum?«, fragte Herzinger und sah Carolin an.

»Ja, kann sein.« Sie hob die Schultern. »Da war ein Russe, das stimmt. Aber ich habe ihn nie gesehen und mir auch den Namen nicht gemerkt.«

»Is ja egal.« Herzinger winkte ab. »I ruf jetzt in Salzburg an, da müssen die vom LKA die Spurensicherung herschicken. Ihr greifts da jetzt nix mehr an.«

Bruno hob die Hände. »Natürlich net. Was glauben S’ denn.«

»Und du, Lois, nimm den Hund an d’Leine, bevor der no alle Spuren vernichtet.« Herzinger warf seinem Begleiter einen strengen Blick zu, bevor er sein Telefon aus der Tasche zog und sich ein paar Schritte entfernte.

Der Mann gehorchte und leinte den Hund an, dann schien er sich an seine Manieren zu erinnern und streckte Carolin die Hand entgegen: »Tschuldigen S’, i hab mi gar net vorg’stellt. I bin der Grassl Alois. Mir g’hört die Alm, z’sammen mit meim Bruder und meim Onkel. I hab den Valentin aufferg’fahren.«

Carolin erwiderte den Händedruck, er war kräftig, fast schon zu fest. »Carolin Halbach«, stellte sie sich vor. »Man kann hier mit dem Auto hochfahren?« Vorwurfsvoll sah sie Bruno Hunold an. »Wieso sind wir dann gelaufen?«

Grassl lachte und deutete mit der Hand über die Schulter. »Da hinten is a Forststraßen. Aber man braucht an Schlüssel für die Schranken.«

»Ach so.« Carolin grinste schief. »Außerdem sieht man dann natürlich auch den Wasserfall nicht.«

»Den Schleierfall, genau.« Grassl musterte sie aus sehr blauen Augen. »Sie san aber net von da, oder?«

»Nein.« Carolin schüttelte den Kopf. »Ich komme aus Düsseldorf und leite die Bibliothek im Kulturzentrum von Bad Gastein.«

»Ah, Sie san des.« Ein Lächeln blitzte auf, plötzlich wirkte er zehn Jahre jünger. »I hab Sie …«

»… in der Zeitung gesehen«, ergänzte Carolin. »Wie wahrscheinlich neunzig Prozent der Einwohner von Bad Gastein.«

»Ich wohn in Bad Hofgastein. Aber die Zeitung kriegen mir natürlich a.«

Bruno war herangekommen und legte Carolin die Hand auf die Schulter. Eine besitzergreifende Geste, die Carolin plötzlich störte. So nett der Arzt aus der Kurklinik auch war, zu mehr als einer lockeren Freundschaft, die sich auf gemeinsame Bergtouren beschränkte, konnte und wollte sie sich nicht aufraffen. Mit einem leichten Schuldgefühl schüttelte sie seine Hand ab und ging Herzinger entgegen, der sein Telefonat beendet hatte und zu ihnen trat. »Wie lange müssen wir noch bleiben?«, fragte sie ihn.

Herzinger steckte das Telefon weg. »I muss nur noch Ihnere Aussagen aufnehmen. Die vom LKA werden sich dann morgen bei Ihnen melden wegen dem Rest. Aber wenns so lang warten wollts, könnts nachher mit dem Lois obifahren.« Er schaute fragend von Carolin zu Hunold.

Bruno schüttelte vehement den Kopf. »Naa, mir gehen z’ Fuß. Des wär ja no schöner.«

Carolin verzog das Gesicht. Wenn sie an ihre schmerzenden Füße dachte, insbesondere an den linken kleinen Zeh, der sich anfühlte, als würde da gerade eine dicke Blase entstehen, dann hatte sie ganz und gar nichts dagegen, sich den Abstieg zu ersparen. Brunos Reaktion war zu erwarten gewesen, schließlich war er Bergsteiger. Sie allerdings nicht, und sie hatte auch nicht vor, sich von ihm bevormunden zu lassen. Sie nickte dem Revierinspektor zu, der sie jetzt auffordernd ansah. »Danke für das Angebot. Das nehme ich gern an.«

Herzinger grinste und blinzelte ihr zu, als wüsste er, dass nicht nur ihr Zeh, sondern auch Brunos bestimmende Art zu ihrer Entscheidung beigetragen hatte. Sie grinste zurück, plötzlich erfreut über das Gefühl von kameradschaftlicher Nähe, das seine Miene vermittelte.

Bruno Hunold zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. »Brauchen S’ mich überhaupt?«, fragte er. »Weil sonst tät i schon gehen.«

»Net wirklich.« Herzinger wedelte ihn weg. »Ihnere Personalien kann mir bestimmt auch die Frau Magister Halbach geben, und g’sehen werden S’ ja des Gleiche haben wie sie.«

»Zumindest kann i feststellen, dass der tot ist«, gab Bruno Hunold zurück. »Immerhin bin i Arzt.«

»Scho recht.« Herzinger machte eine beschwichtigende Geste. »Nur wird si des die Spurensicherung anschauen wollen, bevor a Doktor was untersucht.«

»Wie S’ meinen.« Hunold wandte sich ab. »I geh dann.«

»Tschüss, Bruno«, rief ihm Carolin hinterher.

Er hob die Hand, doch er wandte sich nicht mehr um. Carolin biss sich auf die Unterlippe. Nun bereute sie ihre harsche Reaktion – vermutlich würde er sie so schnell nicht noch einmal zu einer Bergtour mitnehmen, und das tat ihr leid. Sie seufzte. Männer. Warum mussten die immer so kompliziert sein?

Als sie den Kopf hob, sah sie, dass Herzingers Begleiter zu ihr herübersah. Er tätschelte den Kopf seines Hundes, seine Augen funkelten vergnügt. »Machen S’ Ihnen nix draus«, meinte er. »Der kommt bestimmt wieder. Und wann net, dann is er selber schuld.«

Carolin musste lachen. »Hoffentlich«, sagte sie. »Als Bergführer ist er nämlich erstklassig.«

»Da is er aber net der einzige im Goschdeinertal.« Der Mann zwinkerte ihr zu. »Wann S’ Bedarf haben – Sie dürfen si gern bei mir melden.« Er deutete auf den Hund. »Mir san oft in die Berg unterwegs.«

Carolin zog die Brauen hoch. »Vielleicht komme ich darauf zurück«, antwortete sie leichthin. Tatsächlich hatte sie nicht vor, auf dieses Angebot einzugehen – die Mühe, Bruno Hunold auf Abstand zu halten, reichte ihr eigentlich. Nein, nicht noch ein Mann, schon gar nicht ein Almbauer aus Bad Hofgastein mit einem viel zu großen Hund – so hübsch seine blauen Augen auch waren.

Herzinger hatte ihren Wortwechsel mit belustigter Miene verfolgt. »Können mir dann anfangen mit der Befragung?«, wollte er wissen.

»Ja, natürlich.« Carolin wandte sich ihm zu. »Entschuldigen Sie bitte.«

»Is schon gut.« Herzinger wies auf die Bank. »Sollen mir uns hinsetzen?«

Dankbar nickte Carolin.

Der andere Mann – Grassl – deutete den Hang hoch. »I schau schnell nach’m Vieh«, erklärte er. »Oder brauchst mi grad, Valentin?«

»Naa«, antwortete Herzinger. »Kannst ruhig gehn. I fahr nachher mit die Kollegen vom LKA z’ruck. Nur denk dran, dass d’ die Frau Magister glei mit obinimmst.«

»Scho klar.« Er hob die Hand und verschwand hinter dem kleinen Hügel in Richtung Bach. Nach wenigen Schritten leinte er den Hund ab, der mit weiten Sätzen davonsprang.

»Dann schaun mir amal.« Herzinger zog ein zerknittertes Blatt Papier aus der Brusttasche seines Uniformhemds und angelte einen Kugelschreiber aus der Hosentasche. »Personalien kann i mir ja sparen bei Ihnen. Aber wann S’ mir bittschön sagen, wer Ihr Begleiter war?«

»Das ist Dr. Bruno Hunold, er ist Arzt in der Kurklinik«, antwortete Carolin. »Er wohnt in Kötschachdorf, in der Sonnleitenstraße 28.«

Herzinger schrieb mit, und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob er diese hieroglyphenartigen Kürzel später noch würde lesen können.

»Also, erzählen S’. Was is passiert?«

»Okay.« Carolin holte Luft. »Eigentlich gibt es nicht viel zu erzählen. Wir haben eine Wanderung zur Alm gemacht. Wir waren erst an der Hütte, dann sind wir weiter zum Bach und am Ufer zurück zu der Brücke dort hinten. Danach sind wir hierhergekommen, und als Bruno etwas zu trinken aus dem Bottich holen wollte, hat er den Toten gesehen.«

»Hm.« Herzinger kritzelte auf seinem Papier. »Haben S’ unterwegs irgendwen ’troffen?«

»Nein.« Carolin schüttelte den Kopf. »Weiter unten hat auf einer Bank eine Gruppe Wanderer gesessen. Hier oben sind wir niemandem begegnet.«

»Okay.« Herzinger nahm die Kappe ab und kratzte sich am Kopf. »Ich trau mir net zu, zu sagen, wie lang der schon tot ist«, meinte er. »Des muss nachher der Arzt feststellen.«

»Ich finde, er sieht noch recht … frisch aus.« Carolin schluckte und versuchte, das Bild der durchs Wasser starrenden Augen zu vertreiben, das sich unwillkürlich wieder aufdrängte. »Aber natürlich ist das Wasser kalt.«

»Recht haben S’, Miss Marple.« Herzinger grinste schief. »Deswegen wart ma auf die Spusi. Vorher brauch ma gar net drüber nachdenken.« Er faltete das Blatt Papier zusammen und schob es zurück in die Brusttasche seines Hemds. »I schau amal, wo der Lois steckt. Der kann Sie glei runterfahren.«

Carolin nickte. »Das wäre sehr nett, danke.«

»Wohnen S’ immer no bei der Rosi?«, fragte er. »Oder san S’ scho umzogen?«

»Ich bin noch im Haus Sonnenschein«, antwortete Carolin. »Frau Krauskopf zieht erst Ende September aus, und dann muss ich das Haus wohl noch ein bisschen renovieren.«

»Ah so.« Er stand auf. »Dann sag i dem Lois, dass er Sie glei bis zur Rosi fahren soll. Oder wollen S’ lieber den Postbus nehmen?«

»Eigentlich nicht.« Carolin seufzte erleichtert. »Danke.« Als sie Grassls Angebot, sie mit nach unten zu nehmen, so spontan zugestimmt hatte, hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, wie sie vom Startpunkt des Wanderwegs zurück nach Bad Gastein kommen sollte. Bruno Hunold würde heute wohl kaum auf sie warten.

Grassls Geländewagen stand ein Stück hinter der Brücke, an der Carolin zuvor mit Bruno Hunold gewesen war. Genau da, wo sich der sandige Wanderweg zu einer geschotterten Straße verbreiterte, parkte ein schwerer Land Rover, ein älterer Defender mit großer Ladefläche, auf der sich Werkzeug und alles Mögliche an Material stapelte. Carolin erblickte mehrere Eimer, eine große Autobatterie, eine Werkzeugkiste, ein ordentlich aufgerolltes Seil und einen großen Rucksack, aus dem der lange Lauf eines Gewehrs ragte. Der zottige Hund sprang mit einem Satz auf die Ladefläche und legte sich auf eine Decke.

»Sie sind Jäger?«, fragte sie, während sie auf den Beifahrersitz kletterte. Ihren eigenen Rucksack stellte sie zwischen ihre Beine auf den gummierten Boden.

»Klar«, antwortete Grassl und ließ den Wagen an. »Die Jagd g’hört ja mir, also uns dreien, denen die Alm g’hört. Aber meistens geh i nur schauen und schieß mehr Fotos als aufs Wild.«

»Aber wozu dann das Gewehr?«, wollte Carolin wissen.

»Manchmal rennt mir ja doch was übern Weg.« Er hob die Schultern. »Hirsch und Reh muss ma dezimieren, sonst machen s’ die Vegetation kaputt. Außerdem kommen manchmal Gäst, die Gams und Mankei jagen wollen.«

»Mankei? Was ist das?«

Belustigt sah er sie an. »Murmeltier. Die graben Gänge und Löcher, und die san g’fährlich fürs Vieh, deswegen dürfen s’ net z’viel werden. Verstehen S’?«

Carolin nickte. So richtig verstand sie zwar nicht, warum man Tiere in ihrem angestammten Lebensraum nicht in Frieden leben lassen konnte. Aber ein Bauer, der von der Bewirtschaftung ebendieses Lebensraums lebte, sah das natürlich anders.

Grassl setzte zurück bis zu einer Stelle, an der sich die Fahrspur verbreiterte, wendete das Auto und steuerte es die Schotterpiste hinunter. Seine Miene wirkte konzentriert, er fuhr nicht schnell, sondern ließ den schweren Wagen in einem niedrigen Gang hinunterrollen, bremste nur sanft vor den scharfen Haarnadelkurven, ehe er ihn wieder freigab. Die Forststraße verlief in langen Schwüngen quer zum Hang, holte weit nach Süden aus, bevor sie sich wieder dem herabstürzenden Bach näherte, nur um sich in einer weiteren scharfen Kehre, in der die Piste steil abfiel, zurückzuwenden bis zur nächsten Kurve. Obwohl die Straße neu und gut befestigt schien, war sie ohne Allradantrieb wohl kaum zu bewältigen.

Carolin sah aus dem Fenster und bewunderte das Panorama. Beim Aufstieg hatte sie kaum einen Blick für die herrliche Kulisse der Bergwelt gehabt, zu sehr war sie mit sich selbst und ihrer Atemlosigkeit beschäftigt gewesen. Das holte sie nun nach und erfreute sich an der sich ständig ändernden Aussicht ins Tal.

Endlich wurde der Hang ein wenig flacher, die Kurven etwas weniger eng. Die ersten Häuser kamen in Sicht, eine Schranke versperrte den Weg. Grassl hielt an, stieg aus und hob den Schlagbaum. Der Hund hatte sich aufgesetzt, doch eine Handbewegung seines Herrn brachte ihn wieder zum Liegen. Grassl fuhr den Wagen hindurch, stieg wieder aus und schloss die Schranke sorgfältig. Das Vorhängeschloss ließ er geöffnet hängen.

»Der Valentin sperrt nachher wieder ab, wann s’ fertig san«, erklärte er. »Des brauch i nämlich net, dass da die Touristen mit ihre Autos auffifahren.«

»Wer tut denn so etwas?« Carolin grinste schief. »Wo es doch einen so schönen Wanderweg gibt.«

Grassl schien ihre Ironie nicht zu verstehen. »Wenn Sie wüssten, auf was für Ideen d’Leit kommen, wann ma s’ net dran hindert.«

Nun ging es schnurgerade auf die ersten Häuser zu, und Carolin erkannte das Wirtshaus, auf dessen Parkplatz Bruno seinen Wagen abgestellt hatte. Der kleine Audi stand noch immer hier; Bruno brauchte für den Abstieg vermutlich länger als sie mit dem Auto. Kurz dachte sie daran, Grassl zu bitten anzuhalten und sie aussteigen zu lassen, damit sie auf ihn warten konnte, doch Grassl wurde nicht einmal langsamer, dann waren sie auch schon vorbei, und sie sagte nichts.

»Was denken Sie denn, wer den Russen erschossen hat?«, fragte sie stattdessen, als sie an der Kreuzung der Bundesstraße standen. Bis eben war es ihr gelungen, alle Gedanken an den Toten auf der Alm aus ihrem Kopf zu verdrängen, aber nun, während sie sich wieder der Zivilisation näherten, kamen sie mit aller Macht zurück.

»Wos woaß i.« Grassl hob die Schultern. »Der wird si schon genug Feinde g’macht haben.«

»Meinen Sie?« Carolin hob die Brauen. »Kennen Sie ihn denn näher?«

»Naa, net wirklich.« Eine Lücke im Verkehr tat sich auf, Grassl fuhr an und bog auf die Bundesstraße ein. »Der Rubinsky g’hört zu an Konsortium von russischen Investoren«, fuhr er fort. »Wer woaß, was da bei denen alles an G’schäftln im Hintergrund rennt.«

»Sie denken an illegale Machenschaften?« Carolin sah ihn überrascht an. »Aber wieso wurde er dann ausgerechnet auf Ihrer Alm erschossen?«

Er zuckte erneut mit den Schultern. »Waß i do net. Interessiert mi a net.« Sein Gesicht hatte sich verfinstert.

»Aber immerhin ist es Ihre Alm«, warf Carolin ein.

»Net nur. I hab do g’sagt, dass uns die Alm z’sammen g’hört. Vielleicht woaß mei Onkel was. Der hat mehr mit eam z’tuan g’habt als wie mei Bruder und i.«

»Ach so.« Carolin biss sich auf die Unterlippe. Tatsächlich ging sie das auch gar nichts an. Sie hatte nur den Toten gefunden – mit den Ermittlungen hatte sie nichts zu tun. Auch wenn es sie noch so sehr interessierte.

Nächtliche Geister

Die Sonne verschwand gerade hinter den Gipfeln, als Carolin vor Haus Sonnenschein aus dem Auto kletterte. Sie schulterte ihren Rucksack und wandte sich noch einmal zu Lois Grassl um. »Danke fürs Bringen.«

»Gern g’schehn«, antwortete er und grinste. »Und gern amal wieder, wann S’ mögen.«

Sie lächelte unverbindlich und hob die Hand zum Abschied. »Mal sehen.«

Er winkte zurück, wendete in der Einfahrt und fuhr davon.

Carolin drückte das Gartentor auf. Rosi Brunneder, ihre Zimmerwirtin, stand in der Haustür und blickte ihr entgegen. »Wer war denn des?«, fragte sie und stemmte die Hände in die Hüften. »Wo hast denn dein Doktor ’lassen?«

»Er ist nicht mein Doktor, Rosi«, antwortete Carolin und verzog das Gesicht. »Das war Herr Grassl aus Bad Hofgastein.« Sie schloss sorgfältig das Gartentor, dann wandte sie sich zu Rosi um, die in der Zwischenzeit herangekommen war. »Stell dir vor, wir haben dort oben einen Toten gefunden!«

»Ui!« Rosi schlug die Hand vor den Mund. »Was d’ net sagst. A Unfall? Kumm eina und erzähl!«

Carolin folgte ihr ins Haus bis in die Küche. Dankbar ließ sie sich auf die Eckbank fallen und streckte die Beine aus. Ihre Füße schmerzten noch immer, sie war froh, die klobigen Wanderschuhe ausziehen zu können.

»Magst an Kaffee?« Rosi hob auffordernd die Kanne.

»Ja, bitte.« Carolin sah sich in dem behaglichen Raum um. Rosis Küche war groß, größer als eine normale Küche, wie Carolin sie kannte, aber Rosi bereitete hier schließlich auch das Frühstück für ihre Pensionsgäste vor. Dementsprechend wurde die rechte Wand von einer langen Anrichte eingenommen, auf der morgens Kaffeekannen, Milchkrüge, Brotkörbe, Platten mit Aufschnitt und Käse sowie Schalen mit Marmelade, Honig, Obst und Müsli auf die hungrigen Gäste warteten. In der Ecke stand ein riesiger Kühlschrank, in dem all diese Köstlichkeiten tagsüber gelagert wurden. Ansonsten unterschied sich der Raum nicht großartig von einer normalen Haushaltsküche: abgenutzte Fronten, ein Gewürzregal, Kochlöffel in einem Ständer, ein großer Herd, auf dem immer etwas brutzelte oder kochte, eine schöne alte Kredenz und nicht zuletzt die große Eckbank mit den geschnitzten Rückenlehnen, an der Rosi bis zu acht Personen bewirten konnte.

Carolin seufzte zufrieden und nahm den Kaffee entgegen.

»I hab no was vom Kuchen von heut früh«, sagte Rosi. »Willst a Stückerl?«

»Gern.« Carolins Magen ließ ein deutliches Knurren vernehmen. Das belegte Brot, das sie während ihrer Rast am Schleierfall verzehrt hatte, war inzwischen einige Stunden her. Und nicht nur das – alles, was danach passiert war, erschien ihr plötzlich sehr weit weg, fast, als ob sie es nur geträumt hätte. Ein Toter zwischen den Almdudlerflaschen – das klang wie aus einem völlig abgedrehten Traum.

Rosi goss sich selbst eine Tasse Kaffee ein und setzte sich zu Carolin an den Tisch. »Jetzt erzähl!«

»Viel gibt es da nicht zu erzählen«, gab Carolin zurück und erinnerte sich, dass sie Revierinspektor Herzinger gegenüber die gleichen Worte gebraucht hatte. »Wir waren heute auf der Wiesneralm«, begann sie. »Kennst du die?«

Rosi nickte. »Klar. Des ist die mit dem Wasserfall, oder?«

»Genau.« Carolin schob sich ein Stück Marmorkuchen in den Mund. »Ganz oben, wo der Wasserfall über die Kante stürzt, steht ein Picknicktisch. Gleich daneben befindet sich ein Bottich mit gekühlten Getränken, die man kaufen kann. Nur dass heute zwischen den Flaschen eine Leiche lag. Mit einem Einschussloch in der Stirn.«

»Furchtbar.« Rosi fuhr sich über die Augen. »Weißt denn, wer des war?«

»Ein Russe namens Goscha Rubinsky«, antwortete Carolin. »Zumindest hat Herr Grassl das gesagt, das ist der Besitzer der Alm. Er kam zusammen mit Herrn Herzinger hinauf.«

»Grassl? Der Grassl Gerald aus Böckstein?« Rosi sah von ihrer Tasse auf.

»Nein, er heißt Alois. Alois Grassl.«

»Ah, den kenn i. Des is dem Gerald sei Neffe.«

»Er sagte etwas davon, dass ihm die Alm zusammen mit seinem Bruder und seinem Onkel gehört.«

Rosi nickte zustimmend. »Mit seim Vater, dem Grassl Ignaz, bin i in d’ Schul ’gangen. Der war einer der größten Milchbauern drunten in Hofgastein. Drei Kinder hat er g’habt, zwoa Buam und a Dirndl. Und der Gerald is sei Bruder.«

»Lois Grassl hat nur von einem Bruder gesprochen.« Carolin hob die Schultern.

»Die Fanni hat si ihr Erbe auszahlen lassen, wie der Ignaz g’storben is. Die wohnt jetzt in Deutschland, irgendwo in der Gegend von München. Der Lois hat den Hof übernommen, und sei Bruder, der Moritz, is a Lehrer ’worden.«

»Ach so.« Carolin verbiss sich ein Grinsen. Es gab wahrscheinlich niemanden, der so gut über die Bewohner des Gasteinertals Bescheid wusste wie Rosi. »Und offenbar gehört die Alm zum Teil auch dem Onkel.«

»Genau.« Rosi nickte. »Weil früher hat die dem Ambros g’hört, des war dem Ignaz und dem Gerald sein Vater. Die is immer nur als a Ganzes vererbt worden.«

»Grassl sagte etwas davon, dass der Russe, also Rubinsky, die Alm kaufen wollte.«

»Echt wahr?« Rosi riss die Augen auf. »Der Ignaz tat si im Grab umdrehen, wann er des wüsst.«

»Noch ist sie ja nicht verkauft.« Carolin trank ihren Kaffee aus. »Und jetzt, wo Rubinsky tot ist, wird das vielleicht auch nicht mehr geschehen.«

»Na hoffentlich.« Rosi stand auf und räumte die Kaffeetassen weg. »Schlimm gnug, dass die Ausländer bei uns die ganzen Häuser und Hotels kaufen. Unsere Almen brauchen s’ net a no haben.«

Montagmorgen. Trotz Hauptsaison, Sommerferien und Kaiserwetter war das Parkhaus, das wie ein überdimensioniertes Schwalbennest im Hang neben dem Wasserfall klebte, so gut wie leer. Zumindest galt das für die oberste Etage, die Carolin zügig mit ihrem Fahrrad durchquerte. Sie war spät dran. Ihr Muskelkater hatte einen längeren Aufenthalt unter der heißen Dusche erzwungen, dann musste sie auch noch auf ihren Morgenkaffee in Rosis Küche warten, bis die riesige Filterkaffeemaschine den zweiten Schwung für die Pensionsgäste aufgebrüht hatte.

Aber dank der Abkürzung über den Aufzug im Parkhaus, der sie in Sekundenschnelle elf Etagen in die Tiefe direkt bis zum Straubinger Platz befördern würde, war das nicht schlimm. Wie immer das Schild »Fahrräder verboten« ignorierend, zirkelte sie ihr E-Bike routiniert in die enge Kabine und fuhr nach unten.

Die Bibliothek hatte noch geschlossen, ihre Tore würden erst um neun Uhr öffnen. Die Leere im Parkhaus ließ allerdings schon jetzt nicht viele Besucher erwarten. Das Wetter war einfach zu schön, um den Tag drinnen zu verbringen. Die Sommergäste waren vermutlich in den umliegenden Bergen unterwegs: mit der Seilbahn hoch zum Stubnerkogel, um den heute garantiert grandiosen Blick zum Großglockner zu genießen, oder mit dem Sessellift hinauf zum Graukogel, wo der Zirbenweg und die Graukogelhütte eine etwas rustikalere Alternative boten.

Carolin dagegen freute sich auf ihren Arbeitstag. Wie jedes Mal, wenn sie den Vorplatz zum Kulturzentrum überquerte und den imposanten Flachbau der ehemaligen Stadthalle erblickte, begann ihr Herz zu klopfen. Mit seinen luftigen Glaswänden und dem vom Dach herabrankenden Grün war dieser Arbeitsplatz hoch über dem Gasteinertal wahrhaft einzigartig. Und so fremd ihr die österreichische Mentalität auch anfangs erschienen war, so schnell hatte sie sich nicht nur daran gewöhnt, sondern sie tatsächlich lieben gelernt. Nach nicht einmal vier Monaten empfand sie Bad Gastein bereits als ihr Zuhause.

Sie schob ihr Fahrrad um die Ecke, stellte es in dem Lagerraum ab, der sich an der seitlichen Zufahrt befand, und betrat das Gebäude durch den Haupteingang. Inzwischen waren die Bauarbeiten abgeschlossen, die Plakatwände, die bis vor Kurzem noch die Baustelle im Eventsaal verborgen hatten, waren verschwunden, das Malervlies auf den Treppen war längst entfernt. Das Foyer lag still im Morgenlicht. Später würden sich hier bestimmt noch einige Besucher tummeln, würden in Prospekten stöbern oder einfach nur auf den tomatenroten Sofas sitzen und die Atmosphäre zwischen den wuchtigen Betonpfeilern genießen, die den weiten Blick nach hinten hinaus ins Tal umrahmten. Doch im Augenblick war der große Raum leer und gehörte ihr allein.

Sie verzichtete auf den Aufzug und nahm die Treppe hinunter zur Bibliothek. Die Lounge, die zur Bücherei gehörte, war eine verkleinerte Ausgabe des Foyers oben. Der Unterschied bestand vor allem in der Möblierung: Wo oben Sofas, Polstersessel und Blumenkästen mit filigranen Gräsern ein elegantes Ambiente erzeugten, war es hier unten gemütlich. In lockerer Anordnung waren Tische und Stühle, Sitzecken und Pulte aufgestellt, an denen man lesen und arbeiten konnte, während weiter hinten im Raum eine großzügige Sofalandschaft mit niedrigen Tischen zum Spielen einlud. Und hier herrschte Dämmerung. Das wenige Licht kam von den riesigen Fensterflächen, die zum Gasteinertal schauten, doch sie waren beschattet vom umlaufenden Balkon der darüberliegenden Etage. Nur früh am Morgen, so wie jetzt, verirrte sich manchmal ein Sonnenstrahl herein und malte regenbogenfarbene Tupfen auf den dunklen Teppich. Carolin ließ ihren Blick durch ihr Reich schweifen und seufzte beglückt.

Plötzlich stutzte sie. Was war das? Auf einem der Tische, die das Licht der Morgensonne rötlich reflektierten, lagen Krümel. Am Nachmittag wäre das nicht weiter verwunderlich gewesen, denn trotz der Schilder, die darum baten, hier von Essen und Trinken abzusehen, brachten immer wieder Besucher etwas zu essen mit. Leere Chipstüten, Keksverpackungen, Coffee-to-go-Becher und einmal sogar ein ganzer Pizzakarton legten beredtes Zeugnis davon ab, dass sich niemand daran hielt. Aber es war Montagmorgen, die Leute von der Reinigungsfirma waren ungeachtet des Wochenendes gestern Abend hier gewesen und hatten alles sauber gemacht. Wo also kamen diese Krümel her?

Carolin trat näher. Eindeutig hatte hier jemand gegessen, und ein glänzender Ring deutete auf eine abgestellte Flasche hin. So geschlampt hatte der Putztrupp noch nie. Vielleicht wurde einmal vergessen, einen Papierkorb zu leeren, aber bisher hatte es noch nie Anlass zu Kritik gegeben. Sie fegte die Krümel in die hohle Hand und warf sie in einen der Mülleimer. Dann wandte sie sich ab und den breiten Glastüren zu, die in die eigentliche Bibliothek führten. Im Geiste machte sie sich eine Notiz – sobald sie jemanden von den Reinigungskräften traf, würde sie darauf hinweisen, hier etwas sorgfältiger zu arbeiten.

Die Tür zur Bibliothek war nur angelehnt, und im Eingangsbereich dahinter brannte bereits Licht. Carolin ging am Ausgabetresen und den beiden Selbstverbuchungsterminals vorbei und betrat den schmalen Flur, der zu ihrem Büro führte. Aus der kleinen Küche erklangen Geräusche, sie steckte den Kopf hinein. Herta Krauskopf war schon hier, sie war immer die Erste. Sie hantierte mit dem Wasserkocher, es roch nach russischem Tee.

»Guten Morgen, Frau Krauskopf!«

»Guten Morgen, Frau Magister.«

Ihre Mitarbeiterin hob nur kurz den Kopf und konzentrierte sich wieder auf ihr Ritual der Teezubereitung. Zwar hatte sich ihr Umgang deutlich verbessert, nachdem es Carolin damals gelungen war, den wahren Täter zu überführen, als Frau Krauskopf nach dem Mord in der Bibliothek unschuldig in Untersuchungshaft gesessen hatte. Doch wirklich warm waren sie auch später nicht miteinander geworden. Das war auch gar nicht notwendig, sagte sich Carolin nicht zum ersten Mal. Man musste zu seinen Mitarbeitern keine enge Freundschaft pflegen, andererseits schadete es auch nicht. Nächsten Monat würde sie beginnen, sich um einen Ersatz für Herta Krauskopf umzusehen, die auf eigenen Wunsch im Herbst in Rente gehen würde. Das konnte eigentlich nur eine Verbesserung bedeuten – auch weil sie dann bald Frau Krauskopfs Haus beziehen würde, anstatt in Rosis Pension im Gästeappartement unter dem Dach zu wohnen.

Carolin stellte die Kaffeemaschine an, aber sie wartete die Zubereitung nicht ab, sondern wandte sich ihrem eigenen Büro zu. Ihr erster Weg führte wie immer zum Fenster und dem grauen Lamellenvorhang, den sie zur Seite schob. Das Panorama des Gasteinertals lag wie ein Gemälde in frischen Farben vor ihr. Die Wipfel der dunklen Fichten zu ihren Füßen, die hellen Jugendstilfassaden der alten Hotelbauten rechts und links davon, die moderneren Gebäude mit ihren Balkonreihen weiter entfernt an den Hängen, die roten Dächer der Häuser im Tal, die grünen Matten der Berge und der zartblaue Himmel, der all das überspannte – nie würde sie sich sattsehen können an diesem Anblick.

Fast widerwillig löste sie ihren Blick und setzte sich an den Schreibtisch. Sie öffnete ihr E-Mail-Programm und begann zu arbeiten.

Ein wenig später drangen von draußen Geräusche herein. Julia Gschwendtners helle Stimme erklang, unterbrochen von einem brummeligen Bass, den Carolin Max Puntschuh zuordnete, dem Studenten, der über den Sommer als Aushilfe hier arbeitete. Anfangs hatte er schüchtern gewirkt, war zurückhaltend und irgendwie reserviert gewesen, kam offenbar mit Computern besser klar als mit Menschen. Doch mit Julia hatte der junge Mann keine Probleme gehabt, ihre offene, herzliche Art schien seine Schüchternheit problemlos zu überwinden. Und dass er sie praktisch in den Armen von Carolins Bruder Paul kennengelernt hatte, trug vermutlich ebenfalls zu ihrem kameradschaftlichen Verhältnis bei.

Es polterte auf dem Gang vor ihrem Büro, im nächsten Moment ging die Tür auf, und Julia kam herein. In der einen Hand balancierte sie eine dampfende Tasse Kaffee, schwarz und bitter, wie Carolin ihn am liebsten trank, in der anderen einen Stapel Post, der offenbar in der Zwischenzeit eingetroffen war. »Guten Morgen, Frau Magister!«

Mit Julias Erscheinen war es, als fegte ein frischer Wind durch das Büro. Ihr kastanienbraunes Haar sprang in wilden Locken um ihr Gesicht, der breite Mund, der immer zu lachen schien, die Sommersprossen, das gestreifte Shirt zu den kurzen Hosen – Julia verkörperte pure Lebensfreude. Kein Wunder, dass Paul sich in sie verliebt hatte. Zumindest ausreichend verliebt, um der jungen Frau das Gefühl zu geben, sie wäre die Einzige in seinem Leben, korrigierte sich Carolin stumm. Bisher hatte ihr kleiner Bruder keine Anzeichen für ein sesshaftes Leben erkennen lassen, nicht einmal eine feste Beziehung war für ihn vorstellbar gewesen. Aber wenn sich das durch Julia nun ändern würde – Carolin sollte es recht sein. Sie sah Paul ohnehin viel zu selten.

»Guten Morgen, Julia«, sagte sie laut. »Du kommst spät, ist alles okay?«

»Scho«, antwortete Julia. »I bin nur immer so müd in der Früh.« Die junge Frau grinste. »I müssert einfach früher schlafen gehen.«

»Das wäre vielleicht besser.« Carolin erwiderte das Grinsen. »Schau dir das hier bitte mal an«, fuhr sie fort. »Wir haben doch darüber gesprochen, dass du eine richtige Ausbildung zur Bibliotheksassistentin machen solltest. Hier sind die Unterlagen der Berufsschule.«

Julias Augen wurden groß. »Ich hab net ’glaubt, dass Sie des ernst meinen«, sagte sie. »Danke!«

»Du müsstest während des Schuljahres zwölf Wochen in Wien zur Schule gehen, den Rest der Zeit wärst du hier. Dein offizieller Ausbildungsbetrieb wäre die Bücherei in Sankt Johann, aber deine Arbeitsstelle wäre weiterhin bei uns. Frau Axamer hat mir versichert, dass das kein Problem ist, weil die beiden Büchereien faktisch zusammengehören.«

»Zwölf Wochen weg von dahoam?« Julia verzog das Gesicht. »No dazu in Wien?« Sie schüttelte den Kopf. »I glaub net, dass i des will.« Mit einer endgültigen Geste legte sie die Unterlagen zurück auf Carolins Schreibtisch.

»Julia, was sind denn zwölf Wochen. Die gehen im Nu vorbei, und nach zwei Jahren hast du eine abgeschlossene Ausbildung. Das ist doch auch wichtig!«

Julia sah unschlüssig drein. »I überleg mir des no. Aber eigentlich brauch i des net. Ich hab doch mein Job da.«

»Aber wenn du einmal etwas anderes machen willst …«

»Will i do gar net. Ich find’s super bei Ihnen.«

Carolin lächelte. »Das ist schön. Trotzdem wäre es besser, wenn du auch noch einen Abschluss hättest. Dann würdest du auch mehr verdienen.«

Julia hob die Schultern. »Meinen S’ echt, dass des bei mir no was bringt? Na, i denk drüber nach.« Im nächsten Augenblick lachte sie schon wieder. »Außerdem rennt mir des doch net davon. Und jetzt im Sommer geh i sowieso nirgends hin. Sie brauchen mi doch da.«

»Da hast du recht.« Carolin lächelte ihr zu. »Das wäre ohnehin frühestens im nächsten Jahr spruchreif, wenn du mit der Ausbildung im Herbst beginnst.« Sie wurde ernst. »Sprich bitte auch mit deinen Eltern darüber. Und …«, sie zögerte, »mit Paul.«

»Ah geh, der.« Julia schnitt eine Grimasse. »Der hat da doch gar nix mitz’reden. Wenn, dann entscheid i des alloan.«

»Auch gut.« Carolin hielt ihr die Unterlagen erneut hin. »Aber sieh es dir wenigstens an.«

Julia nahm den Stapel Papier mit sichtlichem Widerwillen. »Okay. I schau mir des an. Aber jetzt muaß i aussi, bevor d’Leit kommen. Der Max is ganz alloan draußen. Des kann i eam net antuan.«

Sie blinzelte verschwörerisch, und unwillkürlich musste Carolin lachen. »Du hast recht. Er braucht bestimmt Unterstützung.«

»Bis nachher, Frau Magister!«

»Ja, Julia. Bis später.«

Kurz vor zwölf verließ Carolin die Bücherei. Sie hatte festgestellt, dass sie bei einer frühen Mittagspause im benachbarten Hotel Cäcilia noch ein Frühstück bekam. Sven, der Manager, der eigentlich aus Frankfurt kam, sah darin kein Problem und servierte ihr auch noch um fünf vor zwölf ein Omelette mit gegrilltem Gemüse oder leckeren überbackenen Toast mit Tomaten. Zusammen mit einem Glas frisch gepressten Orangensaft und einer Tasse Kaffee als Nachtisch das perfekte kleine Mittagessen und allemal gesünder als die ewige Gulaschsuppe im Kulturcafé, die ihr schon ein wenig zum Hals heraushing.

»Möchtest du ein Stück Kuchen dazu?«, fragte Sven, als er ihr den Kaffee servierte. »Wir haben noch Apfelkuchen.«

»Keinen Apfelstrudel?« Carolin grinste. Die Kollisionen zwischen österreichischen und deutschen Gerichten, egal ob süß oder herzhaft, waren Anlass zu ständigen Witzeleien zwischen Sven und ihr.

»Caro!« Er verzog in gespielter Verzweiflung das Gesicht. »Den doofen Strudel bekommst du hier doch überall. Den Apfelkuchen nach dem Rezept meiner Oma gibt es nur bei mir.«

Carolin lachte. »Okay, okay. Ich nehme ihn. Bin gespannt, ob er so gut schmeckt wie der von meiner Oma.«

Er blinzelte ihr zu. »Schlagsahne dazu?«

»Bitte.« So wohl sie sich in Gastein auch fühlte, aus Svens Mund ein Deutsch zu hören, das wenigstens so ähnlich klang wie ihr heimatliches Idiom, das war ein Stück Heimat. Sahne statt Obers, Pfannkuchen statt Palatschinken oder ein anständiger gedeckter Apfelkuchen anstelle des feinblättrigen Strudels, den Rosi buk – manchmal musste das einfach sein.