Black Sheep - Rachel Harrison - E-Book

Black Sheep E-Book

Rachel Harrison

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer hat schon eine »normale« Familie? Doch die von Vesper ist ... sehr speziell. Mit 18 ist sie abgehauen, ohne je zurückzublicken – denn wer die strenge religiöse Gemeinschaft einmal verlassen hat, darf niemals heimkehren! Aber dann erhält sie plötzlich die Einladung zur Hochzeit ihrer geliebten Cousine Rose. Ein Friedensangebot? Oder eine Falle? Soll sie zurückkehren in die toxische Umgebung, der sie entflohen ist? Noch einmal ihrer erbarmungslosen Mutter Constance entgegentreten? Vespers Heimkehr wird ein schreckliches Geheimnis enthüllen …    Rachel Harrison verbindet das Unheimliche mit psychologischer Tiefe. Ein eindringliches und unvergessliches Leseerlebnis. USA Today: »Ein höllischer Coming-of-Age-Roman mit apokalyptischen Ansätzen und einer köstlichen dunklen Ader.« Library Journal: »Eine messerscharfe Stimme voller Witz und Humor.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 395

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Aus dem Amerikanischen von Simona Turini

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Black Sheep

erschien 2023 im Verlag Berkley.

Copyright © 2023 by Rachel Harrison

This edition published by arrangement with Berkley,

an imprint of Penguin Publishing Group,

a division of Penguin Random House LLC.

Copyright © dieser Ausgabe 2025 by

Festa Verlag GmbH

Justus-von-Liebig-Straße 10

04451 Borsdorf

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Titelbild: Festa Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-210-0

www.Festa-Verlag.de

Für die unartigen Kinder

1

Als ich zum fünften Mal an diesem Abend das Geburtstagslied singen musste, wurde mir klar, dass es doch eine Hölle gab. Die Hölle war dieses Geburtstagslied. Die Hölle war Shortee’s. Die Hölle war das grüne Polohemd mit den Kakihosen, diese ganze dumme Uniform. Die Hölle war mein Leben.

»Und einen fröhlichen Shortee’s-Geburtstag, hey!« Ich klatschte und dachte: Das muss er sein. Das muss der Gipfel des Ekels sein. Ich stellte mir einen Bergsteiger oben auf dem Mount Everest vor, aber verbittert statt stolz, verzweifelt über die Enttäuschung des miesen Ausblicks.

Kerri stellte dem Kind den Schokoladen-Lavakuchen hin, und als dieses die Kerze ausblies, applaudierten und jubelten wir alle und ich sehnte mich danach, zu fühlen, was ich sonst fühlte, nämlich Taubheit. Was ich stattdessen aber fühlte, war Elend.

Die Eltern küssten ihrem Kind die Stirn und wuschelten ihm durch die Haare. Seine Schwester fragte vorsichtig, ob sie einen Bissen probieren dürfe. Ich beobachtete sie, während ich zusätzliches Besteck und Servietten verteilte, und zum ersten Mal nach langer Zeit dachte ich an meine Familie.

Zum ersten Mal nach langer Zeit vermisste ich sie.

Oder wenn ich ehrlich bin, was ich vermutlich sein sollte, gestand ich mir zum ersten Mal nach langer Zeit ein, dass ich sie vermisste. Sehr sogar. In diesem Moment gab ich dem Sog der Familie nach. Dem Sog des Blutes.

Meine Hand fuhr zu meinem Hals, meinem bloßen Hals, frei vom Symbol meiner Jugend, einem manchmal begehrten, meist aber verhassten Schmuckstück.

»Alles klar?«, fragte Kerri, die mir in die Küche folgte.

»Klar«, sagte ich wenig überzeugend.

»Prima. Also, ich hab mich gefragt …«, sagte sie abwesend, abgelenkt von einem Fleck auf ihrem Hemd. »Mist, Schokolade. Das ist Schokoladensoße, oder? Scheiße.«

»Was hast du dich gefragt?«, fragte ich und sah nach, ob die Bestellung für Tisch acht da war.

»Könntest du bis Feierabend meine Tische übernehmen?«, fragte sie und klimperte mit den Wimpern, sodass Mascaraflöckchen ihre Wangen sprenkelten wie Asche.

»Warum sollte ich?«, sagte ich und streckte meinen Kopf durch das Fenster zur Küche, um zu sehen, was die Köche gerade machten, denn ich hatte den Verdacht, dass sie mal wieder trödelten.

»Weil ich wirklich nett frage«, sagte sie. »Und weil du mir was schuldest.«

»Ich schulde dir was?«

»Ich übernehme andauernd Schichten für dich.«

Ich schnaubte. »Wann?«

»Letzte Woche.«

»Da war ich krank«, sagte ich, was keine Lüge war. Ich war krank gewesen. Akute Arbeitsunlust.

»Bitte, Ves!«

»Warum musst du denn früher weg?«, wollte ich wissen und wich einer überambitionierten Hilfskraft aus, die mit einem Tablett wacklig gestapelten Geschirrs ankam.

Sie schnappte sich ein Waffelpommesstäbchen von einem Teller auf dem Tresen. Einem Teller, der nicht für Tisch acht war. »Sean.«

»Sean?«, fragte ich erstaunt. »Echt jetzt? Der Typ? Du schwänzt die Arbeit für den Typen?«

»Du bist so herablassend.«

»Der Kerl behandelt dich wie eine Reisezahnbürste. Er wird dich eine Woche lang benutzen und dann monatelang vergessen«, sagte ich. »Und entweder ist es dir egal, oder dein Selbstvertrauen ist zu weit am Boden, um dich dagegen aufzulehnen. Auf jeden Fall ist es ganz schön daneben.«

Einen Moment lang stand ihr der Mund offen und ihre Augen wurden so groß wie die eines Kindes, das gerade etwas Neues über die Welt gelernt hat. Etwas Brutales. Dein Burger war mal eine Kuh. Muh. Ich kannte diese Miene. Meine Ehrlichkeit hatte sie beleidigt. Aber Wahrheit war nun mal Wahrheit, und von irgendjemandem musste sie sie hören. Warum also nicht von mir?

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Übernimmst du meine Tische oder nicht?«

»Ich will zwar eigentlich keine Beihilfe leisten, aber klar, ich mach’s. Aber ich schwöre: Wenn ich dieses verdammte Geburtstagslied noch ein einziges Mal singen muss, ist alles aus.«

»Danke«, sagte sie und machte auf dem Absatz kehrt. Auf dem Weg ins Hinterzimmer hielt sie inne und sah über ihre Schulter zu mir zurück. »Weißt du, du bist nicht hübsch genug, um dermaßen gemein zu sein. Und du bist mächtig hübsch.«

Fast hätte ich applaudiert. Es war nicht einfach, mir einen reinzudrücken, und sie hatte mein Ego gerade regelrecht zerquetscht.

»Bestellung fertig – Tisch acht!«, schrie einer der Köche. Als ich das Essen abholte, dankte ich ihm. »Gern geschehen, Eure Hoheit«, murmelte er in seinen Bart.

Es gab schlimmere Spitznamen. Schlimmere Beleidigungen. Schlimmeres.

***

Ab 22 Uhr verwandelte sich Shortee’s in einen Sumpf voller betrunkener Trottel. An manchen Abenden hatte ich die Geduld dafür, an anderen hätte ich mich am liebsten von einer Klippe gestürzt.

Dieser Abend gehörte zu letzteren.

»Vierertisch an der Bar«, sagte Amy, die Hostess, und schnalzte mit ihrem Kaugummi. Die Angestellten durften eigentlich keinen Kaugummi kauen, aber sie tat es trotzdem und ich respektierte ihre entschiedene Durchsetzung dieses winzigen Akts der Rebellion.

»Super«, sagte ich und schaute auf die Uhr. In 45 Minuten war Feierabend und ich bezweifelte, dass dieser neue Tisch bis dahin fertig sein würde, sodass ich länger würde bleiben müssen. Ich verfluchte Kerri und ihre miesen Entscheidungen. Dann verfluchte ich meine eigenen.

Ich spähte rüber und stellte fest, dass es sich um vier Typen handelte, von denen einer ein umgedrehtes Basecap trug. Wenn ich lächelte, Begeisterung heuchelte, erhöhte das vielleicht – vielleicht – meine Chancen auf ein gutes Trinkgeld. Aber ich bezweifelte es. Seit drei Jahren arbeitete ich bei Shortee’s, seit sechs in der Gastronomie, seit ich mit 18 mein Zuhause verlassen hatte. Ich sah den Leuten sofort an, wie viel Trinkgeld sie geben würden, auf den Cent genau. Eine beschissene Gabe, als hätte mir eine bösartige Fee ein grausames, unnützes Geschenk gemacht. Eine entschieden zu spezifische Fähigkeit des Hellsehens.

»Hey, wie geht’s uns denn heute?«, fragte ich die Typen mit gezwungener Fröhlichkeit, als ich an ihren Tisch trat. »Ich bin Vesper und für euch zuständig. Wisst ihr schon, was ihr trinken wollt, oder braucht ihr noch einen Moment?«

»Doch, ähm, ich nehme einen …«, bestellten sie alle nacheinander.

Ich hielt den Kopf gesenkt, notierte alles und versuchte dabei, das Starren zu ignorieren. Ich wurde auf eine Art gemustert, die mir unglücklicherweise nur allzu vertraut war. Tief in meinem Innern wusste ich, was folgen würde. Kurz zog ich in Erwägung, einfach abzuhauen.

Das hab ich nun davon, an sie zu denken, sie zu vermissen, dachte ich. Ich hab sie heraufbeschworen.

»Vesper?«

Beim Klang meines Namens blickte ich instinktiv auf.

»Das ist ein abgefahrener Name«, sagte der Typ. Er war der Älteste am Tisch, ungefähr im richtigen Alter. Mitte bis Ende 30. Alt genug, dass er sich in ihre Filme geschlichen haben konnte, die Videos geliehen haben konnte. Er hatte einen Bartschatten und trug Schwarz. Irgendwann hatte er mal Tunnel in den Ohren gehabt. Ein ehemaliger Hot Topic-Punk. Vermutlich hatte er ihr Poster gekauft und bei sich aufgehängt. Ich wusste auch, welches. Nur in schwarzen Netzstrümpfen, einem Ketten-BH und mit ihrem typischen Schmuckstück, von dem alle annahmen, sie würde es mit einem Augenzwinkern tragen, posiert sie lasziv auf einem Friedhof. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du genau wie Constance Wright aussiehst?«

»Wie wer?«, fragte ich. So reagierte ich immer, weil es sie wahnsinnig machen würde.

»Die Scream Queen? Du weißt schon, die Puppe aus Death Ransom, Blutige Mitternacht, Landgut des Teufels, Die Untersuchung des Black-Hallows-Hexenzirkels?«

Ich schüttelte den Kopf. Die Lüge bereitete mir eine seltsame Freude.

»Echt jetzt? Du hast noch nie von den Filmen gehört?«

»Ich steh nicht auf Horror«, sagte ich. Noch eine Lüge. »Ich bringe euch mal eure Drinks.«

»Du musst kein Horrorfan sein, um Constance Wright zu kennen. Du hast genau das gleiche Gesicht, ich schwör’s.«

Er zog sein Handy hervor und ich machte, dass ich wegkam. »Die Drinks kommen sofort.«

Ich hoffte, dass sie das Thema wechseln würden, ehe ich wieder an ihren Tisch käme, aber ich hatte Pech. Als ich ihnen das Bier brachte, hatte der Typ immer noch sein Handy in der Hand. Er hatte sie gegoogelt und die Bilderseite aufgerufen.

Und da war sie. Meine Mutter.

»Du weißt echt nicht, wer das ist?«, fragte er. »Sie ist eine Ikone.«

»Dude, krieg dich ein«, sagte einer der anderen Typen.

»Keine Ahnung«, sagte ich und zuckte die Schultern. »Sorry.«

»Echt nicht?«, fragte er. Er wirkte enttäuscht und ich verspürte einen kleinen Stich wegen meiner Täuschung. Aber es musste sein.

»Vielleicht sind es die Haare«, sagte ich. Ich hatte meine abgeschnitten, um Situationen wie diese zu vermeiden, aber der Pixie machte kaum einen Unterschied. Er veränderte mein Gesicht nicht.

Der Typ nickte. Dann starrte er wieder auf den Bildschirm seines Handys und scrollte sich durch die Fotos meiner Mutter.

»Bist vermutlich zu jung. Hast das Goldene Zeitalter verpasst. High werden und dann den neusten Slasher gucken. Sich zu Tode fürchten. Heute sprechen sie alle über Horror, aber unheimlich ist gar nichts mehr. Alles muss was aussagen. Es muss doch aber keine Aussage haben, es muss nur gruselig sein …« Jetzt redete er nur noch mit sich selbst, leise. »Vielleicht macht Constance Wright deshalb keine Filme mehr. Weißt du, sie lebt in Jersey. Hat da irgendwo ’ne Farm.«

»Oh, wow. Cool«, sagte ich und tat so, als wäre das eine überraschende neue Information. Aber Constance’ Schauspieltalent hatte ich nicht geerbt. »Bereit, Essen zu bestellen, oder reichen euch die Drinks?«

Sie bestellten die scharfen Southwest-Nachos und Boneless Wings, und mein Traum, vor ein Uhr nachts nach Hause zu kommen, starb einen tragischen Tod.

Ich brachte ihnen Runde um Runde, die sie innerhalb von Minuten vernichteten, womit sie eine Rechnung anhäuften, die theoretisch zu einem ziemlich guten Trinkgeld führen musste, aber dabei besoffen sie sich dermaßen, dass wohl kaum noch einer von ihnen die simplen 20 Prozent würde berechnen können.

Der eine Typ, der ehemalige Punk, sprach nicht mehr von Constance und belästigte mich auch nicht, aber der mit dem umgedrehten Basecap fing an, mich zu nerven. Er hatte am meisten getrunken, was man deutlich merkte.

»Vessie«, sagte er, als ich die Nachos und die Wings abstellte. Nur Rosie durfte mich so nennen. »Vessie, hass du die gemacht? Warst du inner Küche und hass die für uns gemacht?«

»Klar«, sagte ich. »Hab sie in die Mikrowelle gestellt und so.«

Als ich mich umdrehte, um zu gehen, streckte er den Arm aus und strich mit der Hand über meinen Arsch.

Ich fuhr herum und er lachte. »Oh, sorry, mein Fehler. Kann ich noch was von der Käsesoße haben?«

Ich nickte und zog mich in die Küche zurück. Eigentlich gaben wir bei Shortee’s keinen zusätzlichen Nachokäse aus, aber ich tat dennoch etwas in ein Souffléförmchen und erhitzte es für eine Minute. Das würde den Kerl eher zum Schweigen bringen, als wenn ich ihm die sinnlosen Regeln einer Restaurantkette erklärte.

Es war 23:54 Uhr. Wir bei Shortee’s warfen eigentlich auch niemanden raus. Wenn sie vor halb zwölf kamen, mussten wir sie bleiben lassen, bis sie fertig waren. Shortee’s legt Wert auf Gastfreundlichkeit, sagte mein Manager Rick immer. Meiner Theorie nach war er ein Unternehmensroboter, den man nur als Mensch verkleidet hatte. Ich hatte viele Theorien zu Rick.

Als hätte ich ihn beschworen, stand er plötzlich in der Küche.

»Wie geht’s uns, Vesper?«

»Wir« heißt »du« in Restaurantsprache, und wenn man in seiner Rolle als Angestellte etwas gefragt wird, sollte die Antwort besser positiv sein.

»Gut«, antwortete ich also durch zusammengebissene Zähne.

»Was machen wir?«

»Ein Kerl bat um mehr Nachokäse.«

Rick runzelte die Stirn.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich. »Aber der Kunde ist König, nicht wahr? Ich lege Wert auf Gastfreundlichkeit.«

»Vergiss aber nicht, es zu berechnen«, sagte er. »Zwei Dollar.«

»Echt? Zwei Dollar?«

Wieder runzelte er die Stirn.

»Verstanden. Danke!«, sagte ich und brachte den Käse raus. Ich wollte weg von Rick, aber nicht unbedingt zu dem unhöflichen, handgreiflichen, nachohungrigen Kerl.

Langsam schob ich mich zwischen den Tischen hindurch und inhalierte den vage zitronigen Duft des Reinigungsmittels, mit dem wir alles abwischten. Es roch nach Feierabend. Es roch wie »Zeit, nach Hause zu gehen«. Aber ich wusste, dass ich nicht so bald nach Hause gehen würde, und mein Herz wurde schwer beim Gedanken an eine weitere lange, müde Busfahrt durch die Dunkelheit.

Ich unterdrückte ein Gähnen, unterdrückte den Drang, den Käse an die Wand zu schmettern, wie der unglaubliche Hulk mein Shirt zu zerreißen und den ganzen Laden in Brand zu stecken.

»Bitte sehr«, sagte ich und stellte die Souffléform auf den Tisch.

»Ich hab mal ’ne Frage«, sagte Umgedrehtes Basecap und beugte sich mit einem Schwall seines ekligen Atems zu mir. »Wir sprachen gerade drüber, dass alle heißen Mädchen heutzutage Probleme mit ihrem Daddy haben. Hast du Probleme mit deinem Daddy, Vesper?«

Ich lachte. Weder aus Höflichkeit noch aus Verlegenheit. Ich lachte aufrichtig.

Wenn der wüsste.

Er musste mein Lachen als irgendeine Art Signal aufgefasst haben, denn er berührte mich schon wieder. Dieses Mal umfasste seine Hand meine Taille und er zog mich zu sich.

Einen Augenblick lang dachte ich an Brody. Wie es sich angefühlt hatte, von ihm berührt zu werden. Seine Hände auf meinem Körper, Hände, die ich wollte, denen ich die Berührung erlaubt hatte.

»Hey«, sagte ich und trat vom Tisch zurück. »Fass mich nicht an.«

»Whoa, whoa«, sagte er. »Entspann dich.«

Wieder lachte ich, aber unter diesem Lachen lag eine heiße Wut. Die war nicht neu; sie war immer da. Ein Sieden, das ich regelrecht eingelagert hatte wie einen Baseballschläger neben dem Bett. Sie machte sich bemerkbar, wie sie es immer tat. Ein kurzes Aufflackern blendender, brennender Qual, gefolgt von einem milden Schauer der Niedergeschlagenheit, schließlich die Rückkehr der Gleichgültigkeit.

»Ich komm gleich mit der Rechnung«, sagte ich und wandte mich ab.

»Wir sind noch nicht fertig!«, rief er. »Du wirst machen, was wir dir sagen. Wenn wir sagen, du sollst dich bücken, bückst du dich. Sonst gibt’s kein Trinkgeld.«

Fassungslos über diese Unverfrorenheit wirbelte ich herum.

»Na, wer ist jetzt dein Daddy?«, fragte er und hob eine Augenbraue. Die anderen Typen kicherten kopfschüttelnd, sagten aber nichts.

Er griff nach dem Souffléförmchen … und entweder war es seine eigene Unbeholfenheit oder das Ergebnis einer überambitionierten Mikrowelle, aber plötzlich blubberte der Käse.

Im Grunde explodierte er.

Und er eruptierte ihm mitten ins Gesicht.

Er schrie nicht sofort, sodass es anfangs wie ein harmloses Kleckern wirkte. Aber dann bemerkte ich die dampfenden Wirbel, die von ihm aufstiegen wie winzige durchsichtige Schlangen. Und dann hörte ich es. Das Zischen.

Dann erst schrie er.

»Ah, aaah! Es verbrennt mich! Es verbrennt mein verdammtes Gesicht! Ah! Hilfe!« Er tastete nach seiner Serviette. Der ehemalige Punk – ein schneller Denker – schüttete dem Kerl sein Bier in das käsedampfende Gesicht, aber das Bier konnte den Schaden auch nicht mehr eindämmen. Der Kerl schrie immer weiter. Er hatte seine Serviette erwischt und wischte sich die Klumpen orangen Käses ab. Dahinter taten sich knallrote, sich schälende Hautflecke auf. Ich konnte die Wunde riechen, das verbrannte Fleisch. Eine Vorahnung.

Das war schlimm. Das war sehr schlimm.

Dieses Mal lachte ich nicht, weil ich das lustig fand oder wütend war. Es war ein nervöses Lachen. Das Lachen im Angesicht des Untergangs.

Und es wurde nicht gut aufgenommen.

***

Ich saß mit Rick an der Bar. Er hatte mir Shortee’s hauseigene Honig-Jalapeño-Margarita gemixt und in einem Fishbowlglas serviert. Es war klar, dass er mich rauswerfen würde.

Er trank ein Glas Wasser mit einer Zitronenspalte.

Rick war der Typ Mann, dessen Hose immer einen Tick zu weit nach oben gezogen war. Sein brauner Flechtgürtel war ein Loch zu eng geschnürt und das grüne Poloshirt hatte er in den Bund gestopft. Ich war mir sicher, dass er das Poloshirt liebte. Ich war mir sicher, dass er darin schlief. Er war so ein »Betrachtet mich nicht als Boss«-Boss. Kerri sagte immer, er tue ihr leid, denn er meine es doch nur gut. Obwohl ich sehr behütet aufgewachsen war, war ich jedoch nicht naiv. Rick hatte ganz bestimmt gemeine Züge, oder vielleicht einen geheimen, ekligen Fetisch; vielleicht hatte er ja als Kind kleine Tiere gefoltert. Vielleicht hatte er noch große Hoffnungen und pflegte einen hässlichen Groll, der sich eines Tages zeigen würde, wenn er weiterhin nicht bekam, was er zu verdienen glaubte.

Kerri meinte, ich solle nicht immer das Schlimmste von den Menschen denken.

»Tu ich nicht«, sagte ich zu ihr. »Das ist reine Intuition.«

Sie schien mir das nicht abzunehmen.

»Also«, sagte Rick und räusperte sich.

»Also«, wiederholte ich und nippte an meiner Margarita. Wenn ich schon meinen Job verlor, wollte ich wenigstens jeden Tropfen Tequila aus dem gigantischen Glas vor mir saugen. Ich würde mir von Shortee’s nehmen, was ging, ehe sie mich mit nichts zurückließen.

»Deshalb servieren wir keinen extra Käse«, sagte Rick und schüttelte den Kopf.

»Der Kerl hat danach gefragt. Hätte ich Nein sagen sollen?« Ich erhob meine Stimme nicht. Ich hatte gar nicht die Kraft, wütend zu sein. Die hatte ich selten. Wenn man immerzu kämpfen muss, passiert das irgendwann. »Du sagtest, ich solle einfach zwei Dollar berechnen.«

»Es geht hier nicht um Schuldzuweisungen, Vesper. Aber wir könnten verklagt werden.«

»Klar«, sagte ich und leckte den Salzrand ab. »Ich meine, der Typ hat mich mehrfach betatscht, aber klar. Lasst ihn klagen, weil er zu ungeschickt ist, Nachos zu essen.«

»Er hat dich betatscht?«

»Macht das einen Unterschied?«

Rick seufzte, was ich als Nein auffasste.

Natürlich nicht.

»Pass auf«, sagte Rick. »Ich muss dich entlassen.«

Ich erwartete ein Gefühl von Traurigkeit oder Erleichterung oder Angst oder Scham. Aber ich fühlte mich nur betrunken. Diese großen Margaritas setzten mir immer zu. Ich stieß leise auf und sagte nichts.

»Es ist nicht nur wegen heute, Vesper. Es gab mehrere Beschwerden.«

»Ist das so?«, fragte ich. »Mehrere?«

»Wegen deiner Einstellung«, sagte er mit gerunzelter Stirn. »Du seist keine Teamplayerin.«

»Ich hab heute Kerris Schicht übernommen«, sagte ich. »Der Vorfall passierte an einem ihrer Tische. Wenn ich nicht so nett gewesen wäre, für sie zu übernehmen, wäre ich jetzt gar nicht in dieser Lage.«

»Siehst du«, sagte er. »Das ist das Problem mit deiner Einstellung. Dein Sarkasmus. Wir bei Shortee’s sind eine Familie. Niemand ist den anderen überlegen.«

Eure Hoheit, dachte ich und fragte mich, ob sich wohl die Köche beschwert hatten.

»Ich arbeite seit drei Jahren hier«, sagte ich, unsicher, warum ich um einen Job kämpfen sollte, den ich nicht mal mochte. Es ging nicht ums Geld; ich würde eine andere Anstellung finden, ein anderes Shortee’s. Es ging auch nicht um die Ungerechtigkeit; ich hatte von klein auf gelernt, dass es keine Fairness gab. Vielleicht ging es darum, dass ich gefeuert wurde, statt zu kündigen, wovon ich seit meiner ersten Schicht hier geträumt hatte. Oder vielleicht war ich auch einfach so frustriert von meinem Leben, für das ich alles geopfert hatte, dass ich es einfach nicht ertrug, dass der beschissene Rick mir einen Vortrag über meine Einstellung hielt.

»Ach, vergiss es. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich wohl kaum einen weiteren Tag überstanden, an dem ich Begeisterung für frittierte Mac-and-Cheese-Bites heucheln muss, ohne mich vor einen Bus zu werfen. Und ich hasse dieses Shirt. Ich hasse dieses Shirt so sehr. Wir sehen alle aus wie Grundschuldeppen auf einem Klassenausflug. Es ist unmöglich, sich Respekt zu verschaffen, wenn man so ein Shirt trägt. Da wäre eine Narrenkappe kleidsamer.«

Ich kippte den Rest der Margarita so schnell runter, wie ich nur konnte.

»Ich schicke dir deinen letzten Gehaltsscheck zu«, sagte Rick kalt, offensichtlich beleidigt von meinem Polohemd-Kommentar.

»Cool«, sagte ich und glitt vom Barhocker. »Vielen, vielen Dank.«

»Vesper?«, rief Rick mir nach, als ich schon halb aus der Tür war.

Fast wäre ich einfach weitergelaufen, aber ein bisschen war ich auch neugierig, was er noch zu sagen hatte.

»Darf ich dir einen Rat geben?«, fragte er und fuhr fort, ehe ich die Chance hatte, zu antworten. »Du bist schlau. Du bist fleißig. Du bist hübsch. Du bist jung. Aber du bist nicht besser als wir anderen. Du bist nichts Besonderes.«

»Ist das der Rat?«, fragte ich.

»Weißt du was? Vergiss es. Viel Glück, Vesper. Ich wünsche dir nur das Beste.«

Er log, das wusste ich. Er wollte, dass ich versagte, damit er recht behielte. Damit er sich besser fühlen konnte.

Ich ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen und stolperte auf den Parkplatz, benommen vom Tequila und obendrein mit Magenschmerzen. Die ersten 18 Jahre meines Lebens war ich nur verhätschelt worden, hatte nur gehört, wie besonders ich doch sei. Aber seit ich mein Zuhause verlassen hatte, meine Familie, die Kirche – seit ich die echte Welt betreten hatte –, erzählten sie mir alle nur noch, dass dem nicht so war.

Ich wusste nicht so recht, wer ich denn nun wirklich sein wollte.

***

Ich war nicht so betrunken, dass ich den Bus nicht mehr hätte nehmen können, aber betrunken genug, dass ich es vielleicht besser nicht getan hätte. Allerdings war mir ein Uber zu teuer, besonders jetzt, da ich arbeitslos war, schließlich konnte ich von dem Geld eine Woche lang essen. Also atmete ich tief durch, als mir vom Geruckel schwindlig wurde. Bei jedem Halt, wenn der Fahrer mit voller Wucht aufs Bremspedal ging, machte mein Magen einen Satz. In meiner Kehle lauerte Erbrochenes. Ich behielt es drinnen, bis ich meine Haltestelle erreicht hatte. Dann taumelte ich aus dem Bus und beugte mich über einen Mülleimer. Die Rache der scharfen Margarita.

Zum Glück gab es keine Zeugen.

Ich erklomm den Hügel zu meinem Wohnhaus. Es war nicht weit, nur etwa zehn Minuten Fußweg, aber nach der Doppelschicht war ich ausgelaugt, meine Füße schmerzten und mein Kopf hämmerte; mein Rücken, meine Schultern, mein Nacken, all meine Gelenke kreischten. Die Erschöpfung hatte mich fest im Griff und der Hügel wirkte steiler als sonst.

Die Luft war wie eine Folie – dick und feuchtigkeitsschwanger – und die Hitze hatte nicht nachgelassen. Ich vergor wie Milch, die man auf dem Küchentisch vergessen hatte. Mein Blut verklumpte in meinen Adern. Ich fühlte mich nicht mehr menschlich, sondern wie eine bloße Ansammlung von Fleischstücken. Schritt für Schritt schlurfte ich die unmögliche Steigung hinauf und war versucht, mich an Ort und Stelle fallen zu lassen, eine weiße Flagge zu hissen und der Schwerkraft ihren Sieg zu gönnen. Wenn ich schon verlieren musste, dann zumindest mit ein bisschen Würde.

Über dem Hügel erschien das Dach meines Wohnhauses. Ich erkannte mein Apartment, das zweite Fenster von oben, an der Ecke – drinnen war es stockdunkel und mein billiger weißer Vorhang flatterte aus dem offenen Fenster und griff wie ein sehnsüchtiger Geist in die Nacht.

Der Mond schien silbern und wunderschön, als könnte man ihn pflücken, wie mein Vater immer gesagt hatte. Der glitzernde Himmel ruhte wie eine Krone auf dem Horizont. So viele Juwelen – Sterne, die brannten, brannten, so verzweifelt angesehen werden wollten, über Lichtjahre hinweg Aufmerksamkeit heischten. Man vergisst so leicht, dass Sterne sterblich sind; sie werden geboren und sie sterben. Ihr Leuchten ist ihr Vermächtnis.

Es war Juli und der Juli ist immer knausrig mit frischen Brisen, ein siedend heißer Geizkragen. Aber diese Nacht … diese Nacht wirkte angespannt. Ich spürte keinen Wind, aber ich sah ihn überall um mich herum. Die Bäume, die die Straße säumten, schwankten und ihre Blätter regten sich. Sie fingen das orange Licht der Straßenlaternen auf, das intensiver zu leuchten schien als sonst. Neben dem Gehweg raschelte etwas im Gebüsch. Die Blumen, üppig blühend, reckten ihre Hälse.

Die Bewegungen, das Licht … das hätte ich vielleicht abtun können. Es war die Stille, die mich nervös machte, die die Szenerie als Täuschung entlarvte.

Ja, ich war erschöpft, und ja, ich war betrunken, und ja, ich war ein bisschen verletzt, weil man mich so mir nichts, dir nichts rausgeworfen hatte. Aber bewusst und auch unbewusst hatte ich jahrelang die Sirenen in meinem Innern darauf trainiert, mich vor Gefahren zu warnen. Manche Menschen müssen das nun mal tun.

Deshalb wusste ich immer, ob ich allein war oder nicht. Ich wusste immer, ob ich beobachtet wurde.

Vermutlich nimmt jeder Mensch das Gefühl heimlicher Blicke anders wahr. Für mich war es, als würde ich mehrfach mit einem spitzen Stock angestupst werden. Wie ein Jucken unter meiner Haut.

Um mich herum war die Nacht noch immer viel zu schön. Zu sauber. Kein Müll auf dem Gehweg, noch so eine verstörende Beobachtung. Die Szenerie wirkte, als sollte ich ihr unbedingt vertrauen, sodass ich das natürlich nicht tat.

Beunruhigt blieb ich stehen, schwankend und mitten auf der Straße, und suchte nach einem Beweis, der visuellen Bestätigung einer Bedrohung. Ich wartete darauf, dass irgendeine Gestalt erschien, ein Schatten, der sich in die Lichtkreise der Laternen drängte oder hinter einem geparkten Auto hervorkroch. Ich wartete auf ein Geräusch, das die übertriebene Stille durchbrach. Ich wartete auf den Antagonisten, der sich aus der Dunkelheit schälte.

Das ist nämlich das Ding mit der Gefahr: Sie hat immer ein Gesicht. Aber sie entscheidet, ob sie es dir zeigt oder nicht.

»Na los – komm raus«, flüsterte ich. »Warum warten?«

Es gibt etwas über mich, das man wissen muss, das ich gelernt habe und das ich vermutlich jetzt erzählen sollte, damit der Rest dieser Episode Sinn ergibt. Offenbar bin ich der Typ Mensch, der an einem Wundschorf kratzt, bis es blutet, und dann die Haut abpult, um zu sehen, was darunter ist. Eine Neugier, die an Selbstzerstörung grenzt.

Allerdings bin ich auch ungeduldig, also gab ich nach einer gefühlten Stunde nur mit seltsamer Stille und nervtötender Feuchtigkeit auf und erklomm den Hügel.

Immer weiter trottete ich dahin – trotz Benommenheit, Schmerzen, triefenden Schweißes und des anhaltenden Brennens von Margarita und Kotze in meinem Hals – und erreichte endlich, endlich die Tür meines Wohnhauses.

Ich kramte nach dem Schlüssel. Dabei spähte ich ein letztes Mal über meine Schulter, halb in der Erwartung, jemanden am anderen Ende des Weges stehen zu sehen, einen lauernden Fremden. Aber da war niemand. Ich war allein.

Ganz allein.

Schließlich schaffte ich es, die Tür aufzuschließen. Wie ein Tier musste ich auf Händen und Knien die drei Treppen erklimmen, weil mich meine betrunkenen, zitternden Beine nicht mehr trugen.

Als ich meine Wohnung erreicht hatte, löste sich mein Verdacht so fließend auf, als hätte man eine Schleife gelöst.

Auf meiner Türmatte lag ein großer roter Umschlag.

Sie hatten die ganze Zeit gewusst, wo ich war. Natürlich hatten sie das.

Deshalb verhält sich die Nacht so merkwürdig, dachte ich. Sie hat Angst.

Ich schnappte mir den Umschlag und ging rein, nicht ohne hinter mir abzuschließen. Ich schlurfte durch den Flur, streifte meine Turnschuhe ab und zog das Polohemd aus, um es in den Müll zu werfen. Dann befreite ich mich von meinem BH und brach auf meinem Bett zusammen, das aufgrund seiner Position niemals ordentlich gemacht war; ich hatte es in die improvisierte Schlafecke meiner Einzimmerwohnung gequetscht, die eigentlich als Schrank gedacht war.

Ich drehte den Umschlag hin und her. Er fühlte sich seidig an und war schwer. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal einen Briefumschlag als wunderschön bezeichnen würde, aber das war er.

Ich hätte auch nie gedacht, mal einen Briefumschlag als schockierend zu bezeichnen, aber das war er. Er war wie das in der Sonne schimmernde Schwert auf dem Weg zum Richtblock. Er erschütterte mich bis in die Tiefen meiner Seele und löste eine so monumentale Panik aus, dass ich mich fühlte, als schwebte ich über meiner Matratze, verlassen von allen Naturgesetzen, die nichts mehr mit mir und der tickenden Zeitbombe in meinen Händen zu tun haben wollten.

Erneut ärgerte ich mich, dass ich früher am Abend an sie gedacht hatte. Sie vermisst hatte.

Du hast sie gerufen!, zischte eine Stimme in meinem Kopf, die nach mir klang und gleichzeitig auch nicht.

Ein Teil von mir wollte den Umschlag aus dem Fenster schleudern und einfach weiterleben. Vielleicht eine trashige Datingshow auf Netflix ansehen und mich davon überzeugen, dass ich gar nicht so kaputt war. Morgen direkt einen neuen Job suchen oder vielleicht auch ganz woanders neu anfangen, meine Sachen packen und abhauen, etwas, wovon ich oft träumte, für das ich aber in Wahrheit zu faul war.

Aber wie gesagt, ich bin neugierig. Und wenn ich ehrlich bin, hatte ich gewartet.

Seit ich gegangen war, wartete ich auf diesen Umschlag. Darauf, dass jemand Kontakt aufnahm. Mich bat, mich anflehte. Sagte: Komm bitte nach Hause, Vesper. Wir vermissen dich. Bitte.

Vielleicht hatte ich gewartet, weil ich verzweifelt nach einer Ausrede suchte. Oder ich wünschte mir eine Gelegenheit, Nein zu sagen, die Entscheidung zu verteidigen, die ich sechs harte, schmerzhafte Jahre zuvor getroffen hatte.

Aus offensichtlichen Gründen stand nicht auf dem Umschlag, von wem er stammte. Es gab keinen Absender.

Ich nahm an, dass er am ehesten von Rosie kam, die mehr Schwester als Cousine war, mehr Seelenverwandte als beste Freundin.

Oder vielleicht von Tante Grace, die mir mehr eine Mutter gewesen war als meine eigene.

Auf keinen Fall kam er von meiner Mutter, der Scream Queen/Queen Bitch Constance Wright.

Vielleicht ja von Brody, der mir sagen wollte, dass er jetzt bereit war. Bereit, mit mir abzuhauen.

Nein, dachte ich. Der Umschlag sah zu offiziell aus, als dass er von Brody hätte sein können. Und in meinem klammen Griff spürte ich, dass die Nachrichten, die er enthielt, auf keinen Fall gut sein konnten.

Die Vorahnung steigerte sich immer weiter, die fleischigen Hände der Furcht umklammerten meinen Hals. Also schob ich einen Finger unter die Klappe und riss den Umschlag auf. Der Inhalt ergoss sich auf die Laken, mehrere kleine Bogen edles Briefpapier mit vergoldeten Ecken. Ich nahm den größten und hielt ihn ins Licht.

Wir laden Euch ein, die Hochzeit zu feiern von

ROSEMARY LEIGH SMYTHE

&

BRODY GIDEON LEWIS

Samstag, 16. August, 17 Uhr

Messe & Zeremonie

Wright Farm

The Hamlet of Virgil, New Jersey

Abendgarderobe

Darunter stand mit schwarzem Edding …

Bitte komm heim. Bleib übers Wochenende oder für immer. Wir lieben & vermissen dich.

Ich ließ die Einladung fallen. Dann ging ich direkt zum Notfallpäckchen Zigaretten, das ich neben Plastikgabeln und -löffeln, Essstäbchen und stumpfen Messern in meiner Küchenschublade aufbewahrte. Am Gasherd zündete ich eine an, setzte mich an den Küchentisch und rauchte, erschrocken ins Leere starrend. Ich aschte auf den Tisch, den Boden, meinen Schoß, egal.

Irgendwann nahm ich die Einladung und las sie wieder und wieder, während ich eine nach der anderen rauchte. Mein Unglaube zwang mich, sie immer wieder aufs Neue zu lesen. Vielleicht hätte ich sie ewig studiert und wäre irgendwann am Tisch zu Staub zerfallen, aber da lenkte mich die blaue Flamme des Gasherds ab.

Entweder hatte ich vergessen, sie abzudrehen, oder sie hatte sich selbst entzündet.

Einen Moment lang starrte ich mit leerem Blick in die Flamme und dachte an daheim. An Rosie.

Manchmal sah Rosies Haar wie Gold aus. Manchmal sah es aus wie Flammen.

Eine Erinnerung zwängte sich durch den Damm, den ich all die Jahre lang errichtet hatte.

An jenem Nachmittag war Rosies Haar reinstes Feuer. Wir beide brieten in der Sonne – als hinge über uns ein schwerer gelber Stein, der jede Sekunde abstürzen und unser Leben oder diesen Tag hätte beenden können. Das Gras kitzelte unsere Hälse, unsere Kniekehlen und unsere nackten Knöchel. Wir trugen abgeschnittene Jeansshorts, die wir mit einer Schere und einem Traum selbst gebastelt hatten.

Das taten wir oft. Wir lagen einfach so im Feld und blickten in den Himmel und sprachen über alles Mögliche. Alles und nichts.

So war das zwischen besten Freundinnen. Schwestern. Alles und nichts stand auf dem Spiel.

»Meine Lippen sind so spröde«, sagte ich. »Sie fallen bald ab.«

»Hier«, sagte sie und kramte aus ihrer Tasche einen Lippenbalsam mit dem Geschmack von Geburtstagskuchen hervor. Rosie hatte immer alles dabei. Kaugummi. Pflaster. Creme. Desinfektionsmittel. Glaube.

Ich hatte nie irgendwas.

»Du bist meine Heldin«, sagte ich mit einer übertrieben unschuldigen Stimme.

Sie kicherte. »Du brauchst die Lippen doch, um deinen Freund zu küssen.«

Ich verdrehte die Augen. »Ich sehe ihn nicht wirklich so. Er … Ich weiß nicht. Er ist eben Brody.«

»Ihr werdet heiraten«, sagte sie. »Das ist ganz klar.«

Ich wollte ihr sagen, dass das nicht so war. Dass nichts, was die Zukunft bringen mochte, klar war. Nicht für mich. Aber ich sagte nur: »Wir sind 13.«

Sie drehte sich auf den Bauch und zupfte am Gras. »Ich hoffe, ich heirate mal jemanden, der genauso toll ist.«

»Wer auch immer dich heiratet, hat richtig viel Glück«, sagte ich und reichte ihr den Lippenbalsam zurück.

»Och, Vessie!«

»Der größte Glückspilz!«

Kaum verwunderlich: Ich wusste einen Scheiß über Glück.

Ich wusste überhaupt einen Scheiß. Ich hatte gedacht, Rosie und Brody würden meine Abwesenheit betrauern und sie nicht als Gelegenheit benutzen zusammenzukommen. All die Jahre hatten sie keine Sehnsucht nach mir gehabt. Nein. Offensichtlich hatten sie einander.

Ich stand auf und drehte den Herd ab. Die Flamme erstarb.

2

Wieder einmal musste ich feststellen, dass ich mich hinsichtlich der Hölle geirrt hatte. Ich war nach wie vor überzeugt, dass sie existierte, aber es war eben nicht dieses Geburtstagslied und auch weit entfernt von Shortee’s. Dieses Mal hatte ich sie wirklich gefunden, unter den geschäftigen, dampfenden Straßen von Manhattan.

Die Hölle, das war Penn Station.

New Jersey Transit, das Schattenreich.

Ich versuchte, mich in eine schmierige Ecke zu flüchten, während ich auf meinen Zug wartete, aber es war unmöglich, nicht im Weg zu stehen. Ein Mann schmetterte seinen Koffer gegen mein Schienbein, sodass ich gegen einen Mülleimer taumelte. Er grunzte frustriert und schüttelte den Kopf, als wäre es meine Schuld gewesen.

»Tut mir so leid, Sir«, rief ich ihm nach. »Wie vermessen von mir, Masse zu besitzen.«

Er ignorierte mich und ging weiter.

Ich beobachtete meine Mitreisenden Richtung Jersey. Fremde, Menschen, die ich niemals kennenlernen würde, die an den Deckeln ihrer Kaffeebecher herumfummelten und ihre Quittungen auf den Boden fallen ließen – schamlose Umweltverschmutzung. Sie saßen auf der Treppe unter Schildern, auf denen stand, dass man nicht auf der Treppe sitzen durfte. Sie unterhielten sich laut, schimpften viel zu streng mit ihren Kindern oder überhaupt nicht. Ich sah, wie ein Kind zwischen die Beine eines überraschten Geschäftsmanns kroch. Ich sah eine junge Frau mit langen blonden Haaren und Louis-Vuitton-Gepäckset, die sich direkt vor einem großen Ventilator niederließ, sodass sie die vermutlich einzige Quelle der Erleichterung in diesem unterirdischen Brutkasten blockierte.

Ich suchte nach einem Augenpaar, das Blickkontakt aufnehmen würde, nach jemandem, der diesen existenziellen Schrecken teilte. Es gab Augen, Hunderte, vielleicht Tausende von Augen, aber sie waren alle trübe und merkwürdig leer wie die Augen von Zombies, blass leuchtend im iPhone-Licht. Diese sanfte, alles entlarvende Helligkeit.

Ich konnte gut verstehen, dass sie sich in ihre Telefone flüchteten; ich beneidete sie darum. Bei meinem war der Akku leer und ich fand keine Steckdose, um ihn aufzuladen. Ich nahm an, nahe dem Ventilator musste eine sein, aber die Blondine saß direkt davor, ihre Koffer um sich herum verteilt wie eine Brandmauer. Sie hatte sich auf dem Boden breitgemacht und sah sich ohne Kopfhörer und mit voll aufgedrehtem Ton Videos an.

In meinem Kopf hörte ich Kerris Stimme, die mir sagte, dass ich nicht immer das Schlechteste von den Menschen denken solle. Vielleicht hätte ich diesen Rat auch angenommen, wenn sie nicht die Arbeit geschwänzt hätte, um sich mit einem Kerl zu treffen, der sie nicht mal mochte, was in direkter Folge zu meiner Entlassung geführt hatte. Und vielleicht hätte ich diesen Rat angenommen, wenn mein Instinkt nicht in 100 Prozent der Fälle richtiggelegen hätte. Und vielleicht – nur vielleicht – hätte ich ihren Rat angenommen, wenn ich nicht ausgerechnet zur Hochzeit meiner Cousine/besten Freundin mit meiner ersten und einzigen großen Liebe unterwegs wäre. Wenn ich nicht unterwegs zu dem Zuhause wäre, das ich verlassen hatte, um niemals, nie, nie wieder zurückzukommen. Und wenn ich nicht, um ehrlich zu sein, ein bisschen zu irre gewesen wäre.

»Entschuldigen Sie?«, sagte ich zu der Blondine. Ich sah die Steckdose direkt hinter ihr.

Sie tat so, als würde sie mich nicht hören.

Ich erwog, sofort aufzugeben, aber wie gesagt, ich war irre.

»Entschuldigung, hinter Ihnen ist eine Steckdose und ich muss mein Handy aufladen.« Ich hielt mein Telefon in die Höhe, als müsste ich in einem Schauprozess die Beweise präsentieren.

Erneut ignorierte sie mich. Über ihr mit Make-up zugekleistertes Gesicht huschte ein Ausdruck der Verärgerung – ihre einzige Reaktion auf meine Anwesenheit.

»Es tut mir wirklich leid, Sie zu stören«, sagte ich, was der Wahrheit entsprach, aber es tat mir meinetwegen leid, nicht ihretwegen. »Ich würde nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre.«

Sie verdrehte die Augen und schnalzte mit der Zunge. »Mach doch, ich bin nicht im Weg!«

Aber sie war durchaus im Weg.

»Na gut«, sagte ich und gab auf.

Manchmal stellte ich mir vor, eine Art Register in meinem Innern zu haben, das durch meinen Schädel schwebte. Eine altertümlich aussehende Schriftrolle, in der ich mit Feder und Tinte all die Ereignisse notiert hatte, die meinen Zynismus bestärkten, meinen Mangel an Vertrauen in die Menschheit. Ich hatte keine Ahnung, woher diese Vorstellung kam oder welchem Zweck sie diente. Es war albern. Manchmal fühlte ich mich damit besser, manchmal nicht so sehr.

Diesmal, an diesem speziellen Tag, konnte ich nicht passiv und abgestumpft sein, weil ich aktiv genervt war. Es war eine Sache, kein Vertrauen in die Menschheit zu haben, angewidert und enttäuscht vom Großteil der Bevölkerung zu sein. Aber ich trug gerade außerdem einen frischen Groll gegen die Person mit mir herum, die ich immer für die strahlende Ausnahme gehalten hatte. Für den Inbegriff des Guten.

Ich kam nicht darüber hinweg, stellte mir immer wieder dieselbe Frage: Wie konnte Rosie mir das nur antun?

Sie überschattete alle anderen Fragen, einschließlich der, die mich im Moment sehr viel mehr hätte beschäftigen sollen, nämlich: Warum haben sie mich eingeladen? Oder eher: Wie haben sie mich eingeladen?

Ich hatte die Kirche verlassen, und wenn man das tat, war man endgültig raus; man war erledigt. Es gab kein Zurück, keine Besuche oder Ferien oder Jahrestage oder Geburtstage. Oder Hochzeiten. In den sechs Jahren, seit ich gegangen war, hatte niemand versucht, mich zu erreichen. Warum also jetzt? Warum so?

Das musste ich herausfinden. Außerdem wollte ich verdammt sein, wenn ich Rosie und Brody heiraten ließ, ohne dass sie mir zuvor in die Augen sehen mussten.

Wochen hatte ich in diesem Gefühlschaos verbracht, und jetzt, am Bahnhof, das Ticket für die Heimfahrt in Händen, wünschte ich mir nur noch Ablenkung. Ich wollte mit meinem Handy spielen, mich in einem Artikel über die ethischen Aspekte von Kryptowährungen oder die Existenz von Ufos oder die schmutzige Scheidung irgendwelcher Promis verlieren. Ich wollte etwas über die Modetrends für den Herbst lesen, das Revival von Hüftjeans bejammern oder ein Foto von einem zerzausten Ben Affleck anstarren, der sich gerade in einer Drogerie in West Hollywood ein Deo kaufte.

Aber all das konnte ich nicht machen, und zwar weil diese rücksichtslose Blondine und ihr teures Designergepäck im Weg waren und sie sich weigerte, ein paar Zentimeter zur Seite zu rücken, um einer Fremden zu helfen, die höflich um einen simplen Gefallen gebeten hatte. Sie lachte über irgendetwas – ein lautes, gackerndes Kichern – und warf dabei den Kopf zurück, sodass sie gefährlich nahe an den Ventilator geriet.

Was, wenn die Blätter hungrig werden würden? Was, wenn sie ihr hübsches blondes Haar von ihrem dummen Dickkopf reißen würden? Würde sie dann auch lachen? Würde sie es bereuen, nicht zur Seite gerückt zu sein?

Ich fragte mich, ob mich meine Jugend voller religiöser Texte, die brutale Bestrafungen und aggressive Selbstjustiz beschrieben, auf derart gewalttätige Rachefantasien konditioniert hatte oder ob ich einfach nur völlig durchgeknallt war. Unmöglich zu sagen.

Ich warf mir meine Tasche über die Schulter und ging zur Toilette. Es gab eine lange, lange Schlange.

Als ich endlich ans Waschbecken kam, spritzte ich mir etwas Wasser ins Gesicht und wischte es mit einem Papiertuch ab.

Ich warf einen kurzen Blick auf mein Spiegelbild. Ich hatte noch nie gern vorm Spiegel gestanden, weil mein Gesicht zu sehr dem eines Menschen glich, den ich nicht ertragen konnte. Der mich nicht ertragen konnte. Solange ich denken konnte, sah ich sie, wenn ich mich ansah. Früher hatte ich mich gefragt, ob es ihr auch so ging, aber nach Jahren des Grübelns war ich zu dem Schluss gekommen, dass Constance Wright zu egozentrisch war, um irgendjemanden außer sich selbst zu sehen.

Als ich von der Toilette zurückkam, war die Blondine weg, die Steckdose frei und ich fragte mich, ob ich einfach nur zu ungeduldig gewesen war. Womöglich war ich der Arsch in der Geschichte. Womöglich war ich zu schnell damit, die gesamte Menschheit wegen einer kleinen Unannehmlichkeit zu verdammen.

»Auf Gleis zwölf fährt ein …«

Eine Menschenwelle schwappte an mir vorbei durch den Bahnhof.

»Mit Halt in Secaucus …«

Ich wusste nicht, ob der gerade ausgerufene Zug mein Zug war; die Durchsage war zu undeutlich und wegen der vorbeiziehenden Stampede konnte ich keine der Anzeigetafeln sehen. Mir blieb keine Wahl, als mich der Masse zu ergeben, wenn ich nicht Mufasas Schicksal teilen wollte.

Ich trieb den ganzen Weg bis Gleis zwölf mit. Die Leute waren viel zu dicht an mir dran, der Wunsch nach Distanz fiel dem verzweifelten Drängeln in Richtung Zug zum Opfer. Da waren Schultern, Knie, Ellbogen, Fäuste, lauter verwirrende Extremitäten, die nicht zu mir gehörten, aber jetzt irgendwie befestigt zu sein schienen, untrennbar mit mir verbunden. Lauter heiße Münder, Atem, der meinen Nacken versengte. Jemand stank und ich fürchtete, dass ich das sein könnte. Ich hatte feuchte Haut, konnte aber nicht unterscheiden, ob die Feuchtigkeit von mir stammte oder von jemand anderem. War das mein Schweiß oder der eines Fremden?

Ich sah mich um und erblickte entstellte Mienen. Man konnte die Fäulnis in der Luft fast schmecken. Verdorbenheit. Warum flippen alle auf Reisen so aus?, dachte ich. Gibt es ein bösartiges Wesen, das Bahnhöfe und Bushaltestellen und Flughäfen heimsucht und sich von unserer Vernunft ernährt? Das uns unhöflich und dämlich und ungeduldig zurücklässt, unfähig, die einfachsten Regeln zu befolgen? Welche andere Erklärung mochte es dafür geben?

Am oberen Ende einer schmalen Rolltreppe, auf dem einzigen Weg nach unten zum Gleis, kam es zum Stau. Auch am Fuß der Rolltreppe stauten sich die Leute, am Gleis, wo die Menge einfach stehen blieb, als bemerkten sie nicht das Drängen der Menschen hinter ihnen. Langsam schoben sie sich zum Zug, hielten an, um die Gleisnummer wieder und wieder zu überprüfen, sich umzusehen, den Ausblick zu genießen. Am Fuß der Rolltreppe stand eine Frau, die die Treppe nicht verlassen konnte, weil direkt vor ihr ein Mann den Weg versperrte. Also wollte sie einen Schritt nach hinten machen, was ebenfalls unmöglich war, denn da kamen weitere Menschen, die von der Rolltreppe nach unten getragen wurden. Sie stieß ein unheimliches Heulen aus. Der Klang war verstörend.

Angst äußert sich bei jedem anders. In manchen Kehlen blüht sie auf.

»Bewegung! Bewegung!«, brüllte jemand. Dann brüllten alle.

Es war so verrückt, so unfassbar lächerlich, dass ich lachen musste; allerdings konnte ich nicht lachen, denn ich bekam keine Luft. Einatmen war unmöglich; es gab nichts einzuatmen außer dem Nacken der Person vor mir, die mir so nahe war, als wären wir miteinander verwachsen. Der Druck des Körpers hinter mir – Knochen, Muskeln, Haut, Hitze – war erstickend. Ich wurde zerquetscht. Es war ein Menschengedränge.

Ich dachte: Ich werde nicht in der Penn Station sterben. Nach allem, was war, werde ich nicht in der Hölle verrecken.

Außerdem: Ich werde zu dieser Hochzeit fahren, und wenn es mich umbringt.

»Treten Sie zur Seite! Los!«, rief ich mit aller Autorität, die ich aufbringen konnte.

Plötzlich gab es eine Verlagerung. Die Menge teilte sich, der Stau löste sich auf. Ich stolperte nach vorn und wäre fast über meine Füße gefallen, als ich von der Rolltreppe trat. Schnell fing ich mich und eilte beiseite, um nicht niedergetrampelt zu werden.

Ich stieg in den Zug und ließ mir von einem übel gelaunten Schaffner bestätigen, dass es der richtige war. Dann schaffte ich es, einen der begehrten Einzelsitze zu ergattern, in dem ich mich zwei Sekunden lang der Erleichterung hingab, ehe mich die Realität wieder einholte. Das Wissen, wo ich war und wohin ich wollte.

Ich wünschte, ich könnte behaupten, die Entscheidung nicht sofort getroffen zu haben. Dass ich die Wochen nach dem Erhalt der Einladung sorgfältig nachgedacht und das Für und Wider abgewogen hätte. Aber ich hatte die Entscheidung getroffen, als ich rauchend an meinem Küchentisch saß und die Einladung in meinen Händen drehte. Klar, es lag am Rosie-und-Brody-Faktor. Aber dann war da auch noch diese eine spezielle Zeile …

Bitte komm heim. Bleib übers Wochenende oder für immer. Wir lieben & vermissen dich.

Ich erkannte nicht, wessen Handschrift das war. Rosies eher nicht, aber sicher konnte ich mir nicht sein. War es so lange her, dass ich sie vergessen hatte? Was war den Jahren der Abwesenheit noch zum Opfer gefallen? Vieles hatte ich verdrängen müssen, aber irgendwie hatte ich immer geglaubt, es schon wieder zurückholen zu können, wenn ich es wirklich wollte. Es machte mir Angst, dass ich einige Erinnerungen für immer verloren haben könnte. Es gab einen Unterschied zwischen der Entscheidung, sich nicht zu erinnern, und dem Vergessen.

Nervös kaute ich an meinen Fingernägeln, eine Angewohnheit, die Constance missfallen würde. Der Gedanke, mich wieder dem Missfallen meiner Mutter stellen zu müssen, brachte einen unheilvollen Schauder mit sich.

Ich sah aus dem Fenster, als der Zug den Bahnhof verließ und durch einen dunklen Tunnel ins Marschland New Jerseys rumpelte.

Am Vorabend war Kerri mit Essen von Shortee’s als Friedensangebot vorbeigekommen. Oder eher als Möglichkeit, sich bei mir darüber zu beschweren, dass Sean sie schon wieder ghostete, wobei das Essen nur als Friedensangebot getarnt war. Sie bemerkte meine halb gepackte Tasche auf dem Bett und wollte wissen, wohin ich fahren wolle.

»Zur Hochzeit meiner Cousine«, gab ich als kurze, einfache Antwort.

»Ich dachte, du hättest keine Familie.«

Nachdem ich mein Zuhause verlassen hatte, lernte ich schnell, dass man früher oder später über seine Familie sprechen muss, besonders wenn man sich so oft freiwillig für Feiertagsschichten meldet wie ich. Außerdem lernte ich, dass die Leute immer annehmen, man selbst wäre daran schuld, sobald man zugibt, keinen Kontakt mit der Familie zu haben. Sie nehmen an, dass es an einem selbst liegt, wenn man nicht mit diesen Leuten klarkommt, dass es so was wie ein Charakterfehler ist. Sie betrachten es als Warnsignal. Sogar wenn sie selbst keinen Kontakt mehr haben. Wenn es um die Familie geht, die Basis der Gesellschaft, die Wurzel aller Existenz, ist es vorbei mit Empathie und Verständnis.

Im Lauf der Jahre hatte ich es mit verschiedenen Erklärungen versucht. Mal Wir reden nicht miteinander oder Sie sind extrem religiös oder, wenn ich mich nach Mitgefühl sehnte, eine extremere Variante der Wahrheit wie Ich bin in einem gewalttätigen Haushalt aufgewachsen. Trotzdem begegnete mir jedes Mal Misstrauen. Ein kleines Zucken am Auge oder Neigen des Kinns, das sagte: Okay, was hast du denn gemacht, das deine Mutter zum Zuschlagen provoziert hat? Oder: Glaubst du etwa nicht an Gott?

Wenn ich behauptete, dass ich keine Familie hatte, brachte mir das die wenigsten Vorurteile ein, also entschied ich mich meist dafür. Und offenbar hatte ich das auch irgendwann mal Kerri erzählt.

»Es ist kompliziert«, sagte ich und änderte so ohne großes Gewese meine frühere Antwort, während ich an einem lauwarmen Cajun-Zucchinistäbchen kaute. Ich hatte Shortee’s mittelmäßiges Essen vermisst.

»Ich dachte, sie wären alle tot«, sagte sie. »Irgendwie dachte ich, deshalb wärst du so, wie du bist.«

Ich zuckte die Schultern und tunkte mein Zucchinistäbchen in Shortee’s Dirty South-Dip.