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Blackout E-Book

Gregg Hurwitz

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Beschreibung

Die Ärzte sagen, dass Drew Glück hatte: Ohne die Notoperation nach dem epileptischen Anfall hätte sein Hirntumor ihn binnen kurzem umgebracht. Die Polizei hat weniger gute Nachrichten: Sie hat Drew nachts neben der Leiche seiner Ex-Freundin gefunden, das blutverschmierte Messer noch in der Hand. Verzweifelt beteuert er seine Unschuld. Doch in Wahrheit kann er sich an nichts erinnern …

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Kurzbeschreibung:

Die Ärzte sagen, dass Drew Glück hatte: Ohne die Notoperation nach dem epileptischen Anfall hätte sein Hirntumor ihn binnen kurzem umgebracht. Die Polizei hat weniger gute Nachrichten: Sie hat Drew nachts neben der Leiche seiner Ex-Freundin gefunden, das blutverschmierte Messer noch in der Hand. Verzweifelt beteuert er seine Unschuld. Doch in Wahrheit kann er sich an nichts erinnern …

Gregg Hurwitz

Blackout

Thriller

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2019 by Gregg Hurwitz

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Meller

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-318-2

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www.edelelements.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Als ich aufwachte, spürte ich die Infusionsschläuche, die mit Heftpflaster an meinem Arm befestigt waren, eine Magensonde, die man mir durch die Nase gelegt hatte, und meine Zunge, die taub und dick wie eine Socke gegen meine Zähne drückte. Mein Mund war heiß und schmeckte nach Kupfer, und vom vielen Knirschen schienen alle meine Backenzähne zu wackeln. Als ich in das grelle Licht blinzelte, sah ich ein verschwommenes Gesicht, das unangenehm nah vor meinem schwebte – es gehörte zu einem Mann, der rittlings auf einem umgedrehten Stuhl saß. Seine dicken Unterarme hatte er übereinandergelegt, in einer seiner kantigen Fäuste hielt er ein Blatt Papier. Ein Zweiter stand hinter ihm, genauso gekleidet – zerknitterter Mantel, gelockerte Krawatte am offenen Kragen, ein Glitzern an der Hüfte. Ein zum Statistendasein verdammter Arzt wartete an der Tür und ignorierte das Gepiepse und Gefiepe der elektronischen Geräte ringsum. Ich war in einem Krankenhauszimmer.

Mit dem Bewusstsein kam auch der Schmerz zurück. Keine Lichttunnel, keine Explosionen, kein Feuerwerk und auch keine anderweitigen, abgedroschenen Klischees. Nichts als Schmerz, stumpf und konzentriert, ein Rottweiler, der sich in seinen Knochen verbissen hat. Geräuschvoll strömte die Luft durch meine Kehle.

»Er ist aufgewacht«, sagte der Arzt aus weiter Ferne. Eine Krankenschwester tauchte auf und stach eine Nadel in die Weiche meiner Infusion. Eine Sekunde später durchflutete wohltuende Wärme meine Venen, und der Rottweiler legte eine Atempause ein.

Ich hob den Arm mitsamt den daran hängenden Schläuchen und tastete nach meinem dröhnenden Schädel. Meine Handfläche traf jedoch nicht auf Haar, sondern auf einen stoppeligen Saum. Benommenheit und Übelkeit verstärkten meine Verwirrung. Als meine Hand wieder auf meine Brust herabsank, bemerkte ich die dunklen Halbmonde unter meinen Fingernägeln.

Hatte ich mich irgendwo herausgegraben?

Der Polizist auf dem Stuhl drehte das Blatt Papier um, das er in der Hand hielt, und ich erkannte das Foto eines Tatorts.

Eine Nahaufnahme vom Oberkörper einer Frau, deren Unterleib mit dunklem Blut verklebt war. Die schmale Einstichwunde unter den Rippen war so schwarz, dass man hätte meinen können, man bräuchte einen stärkeren Blitz, um ihre Tiefen ganz zu ermessen.

Ich hob eine Hand, wie um das Bild wegzuschieben, und im stumpfblau fluoreszierenden Licht sah ich, dass der Dreck unter meinen Nägeln leicht rötlich schimmerte.

Ob von den Medikamenten oder vom Schmerz, ich weiß es nicht, aber ich spürte, wie sich mein Magen hob und meine Kehle plötzlich wie zugeschnürt war. Beim zweiten Versuch war meine Stimme immer noch rauh und kaum hörbar hinter dem Plastikschlauch. »Wer ist das?«

»Ihre Exfreundin.«

»Wer ... wer hat ihr das angetan?«

Der Detective schob den Unterkiefer ganz langsam einmal von links nach rechts.

»Sie.«

1

Mein Auto stand auf Stellplatz 221 zwischen all den anderen abgeschleppten Autos. Ein Toyota Highlander – das Hybridmodell, so dass ich einen fetten Jeep fahren und trotzdem meine hohe Meinung von mir bewahren konnte.

Ich ließ den Motor an und blieb mit den Händen auf dem Lenkrad sitzen, um meine Vertrautheit mit diesem Gegenstand zurückzugewinnen. Mein Schädel brummte, meine Narbe, die zum Großteil von nachgewachsenem Haar verdeckt wurde, prickelte. Ich spürte einen Druck hinter den Augen, als wollte ich gleich losweinen, aber meine Tränen hatten vergessen, wo es langging. Das Autoradio war an. Springsteen lief immer noch schön am Fluss entlang, obwohl ihm das seit drei Jahrzehnten nichts anderes als Herzschmerz eingetragen hatte. Ich fragte mich, ob ich das Radio selbst angelassen oder ob es irgendjemand beim Abschleppen angeschaltet hatte. Hatte ich auf meiner letzten Fahrt Musik gehört? War ich am Steuer gesessen? War jemand bei mir gewesen?

Natürlich musste ich die Stellplatzgebühr bezahlen, sechshundert Dollar und ein paar Zerquetschte. Ich benutzte eine Kreditkarte, die meine Aufpasser schlauerweise in der Brieftasche gelassen hatten, die sie für mich aufbewahrt hatten. Auf der Heimfahrt kam ich an einem flackernden gelben Licht vorbei und spürte einen erregten Stich, als ich mein Auto parkte. Ein neues Wein- und Spirituosengeschäft.

»Ich möchte einen Bourbon. Haben Sie Blanton’s?«

»Ne.« Der Typ hinter dem Ladentisch sah nicht einmal von seinem Schwarzweißfernseher auf, der ungefähr so groß war wie ein Radiowecker. Von seinen Lippen baumelte eine Zigarette, deren Asche schon seit Minuten nicht mehr abgestreift worden war. Ich konnte den Bildschirm zwar nicht erkennen, hörte aber, wie ein Reporter die neuesten Neuigkeiten über einen Bekloppten verkündete, der denselben Namen trug wie ich.

»Knob Creek?«, fragte ich weiter. Er schüttelte den Kopf. »Maker’s?«

Er sah kurz zu mir und zuckte zusammen. »Jack Daniel’s.«

Ich hätte ihn darauf hinweisen können, dass Jack Daniel’s ein Tennessee Sour Mash ist und kein Bourbon, aber ich hatte das Gefühl, dass es bei meinem ersten Gefecht in der richtigen Welt lieber um etwas wirklich Wichtiges gehen sollte. Guten Wein vielleicht.

»Den Single Barrel?«

»Ja, wir haben den Single Barrel.«

Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken, als ich den Laden verließ.

Zwei Minuten später war ich auf dem Mulholland Drive. Die Asphaltrebe schmiegt sich an die Hügelkette von Santa Monica und schiebt ihre Ranken nordwärts durch das Valley Richtung Santa Anas und südwärts ins Becken von Los Angeles. Auf dem östlichen Abschnitt halten die Touristen am Straßenrand, um ein Foto von den großen weißen Lettern zu schießen: HOLLYWOOD. Persische Paläste und Pseudo-Pueblos sitzen auf Gipfeln und an Hängen, verstecken sich hinter Toren und Steinmauern. Es ist eine gefährliche Straße, getränkt mit Wohlstand und Romantik, die Heimstatt der durchbrochenen Leitplanken, der sich dahinschlängelnden Straßen, der David-Lynch-Phantasie, des Frontalcrashs um zwei Uhr morgens. Man fährt so schnell wie möglich durch und ist froh, wenn man es hinter sich hat.

Heute Nacht hielt ich mich an die erlaubte Höchstgeschwindigkeit, denn ich fand, dass ich vorerst genug Probleme gehabt hatte. Ich fuhr die Mulholland in westlicher Richtung und bog kurz vor der 405 nach unten ab. Meine Auffahrt sah aus wie immer, teilweise beleuchtet von Verandalampen und den Bogenlampen am Gehweg. Die Autobahn war weit genug entfernt, dass der Verkehrslärm seufzend klang. Mein Haus lag im Schatten, aber ich hielt kurz inne, um die Umrisse zu betrachten. Trotz meiner Abwesenheit sah alles unverändert aus – wie Richard Neutra in einer Billigversion, sich überschneidende Ebenen aus Stahl, Glas und Beton, die gut harmonierten, aber eben doch nicht richtig elegant wirkten. Nachdem ich den Vertrag für mein drittes Buch unterzeichnet hatte, hatte ich mir genug zusammengebettelt und – geborgt, um noch ein letztes Zipfelchen auf dem Immobilienmarkt in L.A. zu erhaschen, der von Tag zu Tag enger wurde. Ich hatte viel zu viel bezahlt, aber die atemberaubende Aussicht, die sich bot, wenn man in meinem Garten hinterm Haus stand, tröstete mich darüber hinweg. Wenn ich es mir bis vor dem Prozess nicht wirklich hatte leisten können, dann konnte ich es jetzt erst recht nicht.

In meinem Vorgarten lagerten keine Nachrichtenteams. Keine Paparazzi in zwielichtigen Gefährten. Kein schnauzbärtiger Sensations-Fernsehjournalist in Kampfausrüstung, der gleich auf mich losgehen wollte.

Ich fuhr in die Garage, nahm das Glas aus dem Getränkehalter am Armaturenbrett und die braune Papiertüte vom Rücksitz und ging ins Haus. Es fühlte sich seltsam an, nach so langer Abwesenheit so wenig Gepäck dabeizuhaben. Kein großes Theater, keine Koffer, nur die Kleider, die ich am Leibe trug, eine Flasche in einer Tüte und einen Gehirntumor in einem Glas mit Schraubverschluss.

Vier Monate war ich weg gewesen, aber die Vertrautheit mit dem Ort war unvermindert. Der Riegel an der Vordertür, und das scharrende Geräusch, das die Tür beim Öffnen machte. Der besondere Duft im Haus, übereinander-gelagerte Gerüche nach Teppich und Fliesen, Kaffee und Kerzenwachs. Gegenstände, die ich gekauft, Entscheidungen, die ich getroffen hatte. Die Gefühle, die in mir aufstiegen, brachen sich im selben Moment Bahn, als ich die Tür hinter mir zumachte. Sowie ich allein in meinem Haus stand, fing ich endlich an zu weinen. Mit gesenktem Kopf stand ich da, und meine Tränen tropften auf den Boden, obwohl ich mir die Hand auf die Augen gepresst hatte, im vergeblichen Bemühen, die Flut meiner Qual zurückzuhalten. Ich weiß nicht, wie lange ich zitternd dort stand, aber als ich die Hand wegnahm, musste ich blinzeln, weil mich das Flurlicht blendete.

Ich ging in meine Küche mit den Geräten aus rostfreiem Stahl und den Teakschränken, durch den Flur mit den sich x-fach wiederholenden Warhol-Bildern, an denen sogar ich mich mittlerweile gründlich sattgesehen hatte, vorbei am breiten Treppenhaus. Alles in diesem Haus war kalt und spitz – Steinplatten unter meinen Füßen, Marmorecken an den Arbeitsplatten, kantige Schubladengriffe. Die Atmosphäre hatte etwas Gekünsteltes, Anmaßendes. Wahrscheinlich hätte ich erleichtert oder sogar glücklich sein müssen, wieder zu Hause zu sein, aber ich fühlte mich nur zutiefst verunsichert.

Ich ging zu meinem einzigen wirklich genutzten Möbelstück im Haus, dem Clubsessel im Wohnzimmer. Abgewetztes Leder, Zierbeschläge aus Messing, dazu passende Ottomane: beides hatte ich auf einem Flohmarkt auf einem Gehweg bei Melrose entdeckt und meinen Highlander sofort mit quietschenden Reifen zum Stehen gebracht. Jetzt stellte ich den Jack Daniel’s und den Gehirntumor zusammen auf den Wohnzimmertisch, wo sie in aller Ruhe ihre Berufsgeheimnisse austauschen konnten, ließ mich in den Sessel fallen und spürte, wie sich meine Schultern zum ersten Mal seit vier Monaten entspannten.

Tief einatmen. Länger ausatmen, als ich für möglich gehalten hätte.

Nichts, was ich jemals geschrieben hatte, war hiermit vergleichbar. Und ich hatte reichlich Gelegenheit gehabt, mir Dinge auszudenken. Ich hatte fünf Bücher veröffentlicht, von dreien die Filmrechte verkauft, eines war sogar schon verfilmt worden, wenngleich meine Leser es nicht wiedererkannten – jedenfalls die drei, die sich den Film angesehen hatten – und ich ehrlich gesagt auch nicht. Das Drehbuch über einen Pfarrer, der zum Kopfgeldjäger wird, trug den Namen (es ist mir peinlich, das so hinzuschreiben) Der betende Jäger, und die Hauptrolle wurde von einem Fernsehstar gespielt, der aus unerfindlichen Gründen für seine »Vielseitigkeit« bekannt war. Der Protagonist meiner Krimis ist Derek Chainer vom Morddezernat in L.A. (unseligerweise konvertierte er für obengenannten Flop zu Pater Chainer).

In meinen Büchern verursacht großer Schmerz weiße Explosionen vor den Augen, und Wut lässt den Kopf pochen. Was in meinen Büchern nicht beschrieben wird, ist das Gefühl, den verstümmelten Körper seiner Exfreundin auf Polizeiaufnahmen zu sehen. Oder wie schwierig es ist, sich getrocknetes Blut unter den Fingernägeln herauszukratzen.

Dabei hatte ich immer geglaubt, diese Welt zu kennen. Aber ich hatte sie nur äußerlich gekannt. Als ich zum ersten Mal im Bauch der Bestie war und mir ihre Verdauungssäfte zusetzten, ging mir auf, dass ich keinen blassen Schimmer gehabt hatte. Auf den dunklen Seiten des Lebens war ich immer nur als Tourist gewesen, der durch ein Fernglas zusieht, wie sich die Tiere gegenseitig auflauern und sich aneinander gütlich tun.

Mein Blick glitt durch das Zimmer und blieb an der Reihe mit meinen Büchern hängen – Hardcover, Taschenbücher, ausländische Ausgaben –, und mir wurde jäh bewusst, wie sehr ich noch die geringfügige Bedeutung, die ich ihnen zugestanden hatte, überschätzt hatte. Auf einen Schlag fühlte ich mich nicht mehr gerüstet für eine Welt, in der es offensichtlich kein System für die Verteilung von Erfolg und Scheitern gab. Mein Flohmarktsessel, der sich solide und tröstlich unter mir anfühlte, schien mir auf einmal unschätzbar wertvoll. Mein auf glänzende Buchrücken geprägter Name hingegen? Eines Tages würde ich nur noch eine schwache Erinnerung sein, ich und die restliche Halbprominenz, die sich in die angestaubten Ränge der Irgend-wann-beinahe-mal-berühmt-Gewesenen einreihen durfte. Jahre später würde auf einer Party bei irgendeinem Idioten, der sich verzweifelt um Konversation bemüht, eine bestimmte Ausdrucksweise eine Erinnerung wachrufen. Und dann würden auch die anderen nicken und brav lügen. Andrew Danner. Jaaa, genau, ich erinnere mich. Wie war das noch mal?

Und womit würde unser Idiot dann aufwarten? Mit der Handlung eines Krimis, die er aus dem Dickicht seiner Senilität gerettet hat? Mit einer Antwort, die die juristischen Komplikationen berücksichtigte? Oder würde er einfach die Boulevardpresse zitieren? Er war ein Mörder.

Wie immer fiel es mir schwer, mir nicht ständig mit den Fingerspitzen den Kopf abzutasten, diese Linie von sich verhärtendem Gewebe, das einzig Bekannte, was ich aus den Nebeln meiner Amnesie mitgenommen hatte. Die Narbe an der Stelle, wo sie in meinem Gehirn herumgewühlt hatten, ging direkt hinter meinem linken Ohr los, kurz hinter dem Haaransatz, und verlief dann leicht gebogen Richtung Stirn. Mittlerweile hatte ich durch das Abtasten jeden Millimeter der rosa Narbe auswendig gelernt, als wären in ihren Buckeln und Kanten Antworten in Brailleschrift versteckt.

Ich schaltete den Fernseher ein, um vor mir selbst zu fliehen, aber da war ich schon wieder. Meine verstörte Reaktion, als das Urteil verkündet wurde. Auf dem Bildschirm wurden in mehreren Fenstern gleichzeitig verschiedene Interviewpartner eingeblendet, Bezirksstaatsanwälte und Aktivisten von Organisationen für Verbrechensopfer und dazu noch ein paar Möchtegern-Staranwälte. Ein Interview mit meinem Lehrer aus der siebten Klasse. Die altbekannte Aufnahme, die man aus einem Helikopter heraus von Genevièves Haus gemacht hatte. Ein geistreicher Nachrichtensprecher eines Privatsenders hatte Fotos von mir im Gerichtssaal per Photoshop zu den drei weisen Affen umgearbeitet, die nichts Böses sehen, hören und sagen.

Als Autor hatte ich einigen Erfolg gehabt, aber wirklich berühmt geworden war ich erst als Mörder. Squeaky Fromme, Johnny Stompanato, OJ, die Menendez-Brüder. Jetzt war ich einer von ihnen. Eine Geschichte über Schicksal und Schande. Noch so eine moderne Spielart dieser alten Geschichten von den seltsamen Leuten mit den Kränzen auf dem Kopf und den knubbeligen Knien. Die dumme Pandora, die einfach ihre Büchse nicht zulassen konnte. Der Blödmann, der seinen Vater umbrachte und sich dann über seine Mutter hermachte. Habt ihr schon von dem Typen gehört, der eines Morgens aufwachte und sich nicht mehr erinnern konnte, seine Exfreundin umgebracht zu haben? Tagesgespräch bei Starbucks, Gegenstand oberflächlichen Geplappers und Pointe im Verkehrsradio.

Ich schaltete den Fernseher aus und saß in der durchdringenden Stille.

Was würde ich denn denken, wenn ich mich nicht kennen würde? Motiv. Mittel. Gelegenheit. Dagegen kommt man mit Bauchgefühl nicht an.

Was hatte ich vor Gericht gesagt? Ich glaube, dass jeder Mensch zu allem fähig ist.

Aber leider war ich mein einziger unzuverlässiger Zeuge. Was ich wirklich brauchte, waren harte Fakten, die ich neben dem Sour Mash Whiskey und meinem hübschen kleinen Tumor auf den Tisch knallen konnte.

Der Sohn meiner Nachbarn, ein bebrillter kleiner Tyrann, der aussah, als wäre er einem Fernseh-Sketch entstiegen, bearbeitete gerade mal wieder seine Trompete. Er übte Wer bei der Arbeit pfeift, ohne jedes Gefühl für Tempo und Tonart. Mit FRIschem Mut sein TAGwerk tut, schafft MEHR und spart VIEL ZEIT.

Ich stand auf und schlenderte durchs Haus, um mich wieder mit den Dingen bekanntzumachen. Auf dem wackligen Küchentisch stand neben zwei Einkaufstüten voller Post mein Forschner-Messerblock, der sich immer noch in einer versiegelten, durchsichtigen Plastiktüte der Spurensicherung befand. Mir wurde eiskalt. Ein Willkommensgeschenk von der Staatsanwaltschaft oder der Polizei, das dazu gedacht war, mich wieder zurückzuwerfen. Für den Fall, dass ich vorgehabt hätte, wieder zu meinem normalen Leben zurückzukehren. Das Set mit den Messern aus rostfreiem Stahl war eines von Genevièves passiv-aggressiven Geschenken gewesen, eine zehnfache Aufwertung meines kläglichen Billigbestecks mit den Plastikgriffen. Sie besaß haargenau denselben teuren Messerblock. Meine Messer hatten im Prozess ihren kurzen Auftritt gehabt. Sehen Sie her, meine Damen und Herren Geschworenen, er hat genau dasselbe Set wie sie, ganz neu und glänzend, und noch dazu ein Geschenk vom Opfer selbst! Die Inspiration für das Verbrechen!

Das Filetiermesser aus Genevièves Set war ein zentrales Beweisstück gewesen. Wie man mir erzählte, hatte ich ihr dieses Messer in den Unterleib gestoßen.

Ich nahm eine Schere aus einer Schublade und schnitt die Plastiktüte auf. Mit umständlicher Feierlichkeit stellte ich den Messerblock wieder an seinen Platz. Die Tüte knüllte ich zusammen und warf sie in den Mülleimer. Dann lehnte ich mich einen Moment gegen die Arbeitsplatte.

Ich versuchte, mich zusammenzureißen und mich zu erinnern, was ich jetzt für mich tun musste. Das Letzte, was ich in meiner Situation gebrauchen konnte, war ein postoperativer Anfall, also zog ich meine Tabletten aus der Tasche und warf ein Antiepileptikum ein, das ich mit einer Handvoll Wasser aus der Leitung herunterspülte. Was für eine erbärmliche Heimkehr in mein Zuhause.

In der Spüle standen ein leeres Glas und eine weiße Schüssel mit eingetrocknetem orangefarbenen Muster – schlagender Beweis für den Verzehr einer Honigmelone. Frühstück, dreiundzwanzigster September. Das letzte konkrete Ereignis vor der Operation, an das ich mich erinnern konnte. Dieses Geschirr hatte das Gewicht eines archäologischen Fundes. Ich spülte es und stellte es weg, dann schleppte ich meine Taschen und meinen Tumor die Treppe hoch und den Flur auf der Empore entlang, den mein Immobilienmakler als Laufsteg bezeichnet hatte.

Tu’s mit GESANG, dann WÄHRT’S nicht LANG, die Zeit geht SCHNELLER RUM.

Die schönste Aussicht im ganzen Haus hatte mein Büro. Die schalldichten Flügeltüren, die zum Schlafzimmer führten, waren jetzt geschlossen. Mein umgekippter Stuhl bot einen unheimlichen Anblick, als ich die Treppen hochkam, er wirkte wie eine Leiche. Ich starrte einen Moment auf ihn herunter, bevor ich ihn wieder aufrecht hinstellte. Hatte ihn ein Detective bei der Hausdurchsuchung umgestoßen? Ein Einbrecher? Oder meine Wenigkeit, als ich mich gerade in meinem Gehirntumor-Blackout verlor?

In meinem Büropapierkorb lagen ein gefaxtes Angebot von einem italienischen Verlag, Abrisse von Eintrittskarten zu den Spielen der Dodgers und ein paar Werbesendungen. Überreste eines ganz normalen Tages, der seinen Lauf nahm, ohne dass Einzelheiten davon im Gedächtnis bleiben würden. Ich schaltete meinen Palm ein, klickte rückwärts alle verpassten Verabredungen und Besprechungen durch, bis ich zum dreiundzwanzigsten September kam. Der Bildschirm war leer, wie zu erwarten. Als ich den Palm wieder in sein Etui steckte, traf mich die Erkenntnis, dass ich mir bizarrerweise selbst hinterherschnüffelte. Ich war ein Einbrecher in meinem eigenen Haus.

Ich drückte auf den Freisprechknopf meines Telefons, um den Pizza-Service anzurufen, für den Fall, dass mein Appetit jemals zurückkehren sollte, aber nach den ersten drei Ziffern merkte ich, dass der Apparat keinen Ton von sich gab. Nachdem ich die Einkaufstüten durchwühlt hatte, förderte ich eine Handvoll Briefe zutage, in denen man mir mitteilte, dass mein Anschluss gesperrt werden müsse. Alle anderen Anbieter hatten glücklicherweise eine Einzugsermächtigung für mein Girokonto, wie zum Beispiel der Provider meines Handys, das auf dem Aktenschrank stand und brav seinen Akku auflud. Ich stöpselte das Headset in mein Motorola und wählte.

Während die Warteschleifenmusik der Telefongesellschaft mit dem Schneewittchen-Song von nebenan wetteiferte, sah ich meine E-Mails durch. Freunde und Leser sprachen mir ihre Unterstützung aus, andere, die von meiner Schuld überzeugt waren, hatten mir ein paar hasserfüllte Zeilen zukommen lassen, dazu kam eine Unmenge von Werbemails für Viagra und Penisvergrößerungen. Ich beschloss, Letztere als Spam zu betrachten und nicht als zielgruppen-orientiertes Marketing. Als ich zu den Tagen vor und nach Genevièves Tod herunterscrollte, war ich zugleich enttäuscht und erleichtert, nichts Ungewöhnliches zu finden. Ich loggte mich aus und starrte den leeren Bildschirm an. Bei dem Gedanken, demnächst irgendetwas zu schreiben – oder überhaupt jemals wieder etwas zu schreiben –, verließ mich mein ganzer Mut. Es ging doch nichts über ein kleines, altmodisches Trauma, um mir die Egozentrik meines Berufs vor Augen zu führen. Und auch seinen mangelnden Praxisbezug. Ich hätte mir in diesem Moment eine Arztpraxis gewünscht oder von mir aus auch ein Waisenkind, um das ich mich hätte kümmern müssen. Irgendetwas, nur um nicht vor einem Bildschirm sitzen und so tun zu müssen, als wäre das, was ich mir hier ausdachte, für Hunderttausende von Menschen interessant. Menschen, die zum Großteil Berufe ausübten, die wirklich nützlich waren.

Schließlich bekam ich Serg in die Leitung, der mich fragte, womit mir seine Telefongesellschaft heute exzellenten Service bieten könnte. Ich erklärte, dass ich versäumt hatte, meine Telefonrechnung zu zahlen, das jetzt aber nachholen würde und meinen Anschluss wieder freigeschaltet haben wollte. Nachdem er es mir mit ausstehenden Mahngebühren und Freischaltungsgebühren so richtig besorgt hatte – die zu zahlen ich mich natürlich reuig bereiterklärte –, seufzte er enttäuscht und nahm meine Kreditkartennummer auf.

»Kann ich meine Nummer denn behalten?«, fragte ich, denn im Moment war es mir extrem wichtig, nichts Vertrautes aufgeben zu müssen.

»Ihr Anschluss ist gesperrt worden, nicht abgemeldet«, sagte Serg. »Sie behalten also Ihre Nummer. Wir schicken Ihnen jemand vorbei, der den Anschluss wieder freischaltet.«

»Wann?«

»Bis nächsten Donnerstag ungefähr.«

»Können Sie nicht schon eher jemand schicken?«

»Vielleicht. Aber nächster Donnerstag ist der erste Termin, den wir garantieren können.«

Unter exzellentem Service hatte ich mir etwas anderes vorgestellt.

»Hören Sie«, sagte ich. »Es geht einfach nicht, dass ich im Moment überhaupt kein Telefon habe.«

»Dann war es vielleicht keine so gute Idee, Ihre Telefonrechnungen vier Monate lang zu ignorieren?«

»Sagen Sie, habe ich da eigentlich ein Callcenter in Indien erwischt?«

Eine kurze Pause, dann sagte er: »Oh, verstehe. Andrew Danner. Sie waren anderweitig verhindert.«

Doch während ich vor Gericht durch mildernde Umstände meine Freiheit wiedererlangt hatte, ließ sich meine Telefongesellschaft von keinem Argument erweichen. Serg blieb ungerührt, also klappte ich schließlich mein Handy zu, schaltete meinen Computer aus und ließ mein Büro in Frieden.

Mein Schlafzimmer erzählte seine eigene Geschichte, die Geschichte von Aprils Abgang. Tür angelehnt. Zurückgeworfene Bettdecken. Ein paar von meinen Toilettenartikeln auf der Ablage im Bad waren umgefallen, als sie hastig ihre Wochenendtasche zusammenpackte. Ein rosa Rasierer in der Dusche, den sie übersehen hatte. Vielleicht würde ich es später bei ihr versuchen, um der guten alten Zeiten willen. Bei ihrem hektischen Aufbruch hatte April auch eine ihrer Socken neben dem Waschbecken verloren.

Wir waren noch in der allerersten romantischen Phase unserer Beziehung gewesen. April war eine Orthopädin mit klaren, hübschen Gesichtszügen und einem ausgeglichenen Temperament, das ich neidvoll ihrem Aufwachsen im Mittleren Westen zuschrieb. Sie hatte mich behandelt, nachdem ich mir beim Ballspielen in Balboa Park das Schlüsselbein gebrochen hatte. Ihr fester Medizinergriff, die Mischung aus Fürsorge und Verstand, die Nähe unserer Gesichter, als sie mit meinem Arm probeweise diese und jene Bewegung durchführte – ich hatte einfach keine Chance gehabt. Wir waren erst drei Monate zusammen gewesen, voller Pläne, die viel zu jugendlich schienen für zwei Achtunddreißigjährige. Gutenachtanrufe. Im Bett Eis aus der Packung essen. Alte Filmklassiker in Schwarz-Weiß und Fabrocini-Pizza. Ab und zu übernachtete sie bei mir, nur so zur Übung. Und dann der brutale Mord.

Damit waren diese Leichtigkeit und Hoffnung dahin, die ich eigentlich nie wieder zu erleben erwartet hatte, nachdem Geneviève und ich vor einem halben Jahr ratlos getrennte Wege eingeschlagen hatten. Oder, nach den Worten der Staatsanwaltschaft und den Nachrichtensprechern, unsere bitteren, rachsüchtigen Wege.

Ich hob Aprils Socke auf und spürte schon, wie die Gefühle wieder in mir hochkamen, aber dann beschloss ich, dass ich mir nicht gestatten würde, wegen eines Strumpfes in Tränen zu zerfließen. Also stellte ich meinen Tumor auf das Nachtkästchen, machte das Bett und setzte mich dann auf die Decke, um darüber nachzudenken, was für eine Art Einsamkeit uns jetzt erwartete. Mich und meinen Tumor. Während mein Blick an dieser Masse brauner Zellen hängenblieb, schweiften meine Gedanken wieder zu Geneviève, ihrem grauenvollen Tod, meiner noch grauenvolleren Verwicklung in dieses Verbrechen. Sie hatte ihrem Geschmack, ihren Aussprüchen immer einen Hauch Exotik zu verpassen gewusst, was auf mich unwiderstehlich gewirkt hatte. Eigentlich fand ich fast alles an ihr attraktiv. Die Endgültigkeit ihrer Urteile. Die Sicherheit ihrer Leidenschaften. Sie war eine füllige Frau, mit dicken Oberschenkeln und Hüften, fühlte sich jedoch erfrischend wohl – nein, selbstbewusst – in ihrem Körper und mit dem, was sie mit ihm anstellen konnte. Meine Erinnerungen an sie bestanden zum Großteil aus einer Palette von Gefühlen. Die Weichheit einer Wange, die über meine Brust streicht. Spuren von Petite Cherie auf meinem Kopfkissen. Schweißperlen auf ihrem Alabasterrücken. Ihr Gesicht, wenn sie schlief – so weich wie das eines Kindes. Alles an ihr war weich, und sie hatte auch keine Tage, an denen sie irgendwie schlechter ausgesehen hätte. Es ist viel schwieriger, eine Abneigung gegen eine Frau zu entwickeln, an der alles weich ist. Oder sie müsste sich um einiges hässlicher verhalten. Aber während ich noch eine Weile gebraucht hätte, um so weit zu kommen, preschte sie voraus und hasste ihre Launen so sehr, dass es für uns beide reichte. Ich war verliebt in sie, aber im Grunde war ich am verliebtesten in die Tatsache, dass ich sie über Wasser hielt, und sie war die Einzige von uns beiden, die die komplexen Verhältnisse durchschaute.

In der Nacht, als wir Schluss machten, hatte sie die gesamte Skala durchlaufen. Ich war am Abend aus meinem Büro gekommen und hatte sie im Schlafzimmer gefunden, wo sie sich mit einer ganzen Packung Chunky-Monkey-Eis auf dem Schoß die Rosenzeremonie von Der Bachelor ansah. Sie hob die Hand mit dem Löffel in meine Richtung, zum Zeichen, dass ich sie nicht stören solle. »Jane ist eine blöde Kuh, die müssen sie nach Hause schicken.« Ihr leichter französischer Akzent vertrug sich nicht mit ihrer prosaischen Erklärung, und ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Wenig später meinte sie mit teuflischem Kichern: »Lass uns einen Happen essen gehen. Wenn wir hierbleiben, würden wir heute Abend sowieso nur streiten oder ficken.« Im Restaurant hielt sie meine Hand und zählte mit ekstatischem Gesichtsausdruck die Gewürze einer marokkanischen Lammfleischbratwurst auf. Wieder zu Hause liebten wir uns, schwitzend in der warmen Luft, die zum Fenster hereinkam. In jener Nacht entglitt sie mir wieder in eine ihrer düsteren Stimmungen. Ich fand sie schluchzend in der Dusche. »Alles ist einfach so würdelos geworden. Alles ist so wahnsinnig billig.«

Sie saß auf den Fliesen, während ihr das Wasser auf die Brust prasselte. Ich ging neben ihr in die Hocke und fühlte die altbekannte Hilflosigkeit, während das Wasser meine Ärmel durchweichte. »Was denn?«

»Alles. Das Fernsehen. Nichts. Es tut mir leid. In meinem Kopf stimmt was nicht. Das ist mal wieder einer von diesen ... Es tut mir leid. Es ist nicht fair. Ich sollte lieber gehen.«

In den frühen Morgenstunden war ich aufgewacht und hatte festgestellt, dass sie meine Hand zwischen ihren verschwitzten Handflächen hielt. Mit den Schneidezähnen nagte sie an ihrer blassen Unterlippe, und ihre Augen suchten noch nach Trost in den meinen, als sie es aussprach: »Es wird einfach nicht klappen mit uns.« Ich hatte nicht mehr die Kraft, sie noch einmal umzustimmen. Sie packte ihre wenigen Habseligkeiten, die sie bei mir deponiert hatte, und hörte sich auf ihrem iPod eine Oper an, damit wir nicht noch einen Streit anfangen konnten.

All die Überlegungen, die in den Medien über sie angestellt wurden, machten mir klar, wie schwierig es gewesen war, sie wirklich kennenzulernen. Trotz ihrer vage gehaltenen Behauptungen, einen Teil des Immobilienportfolios ihrer Familie zu managen, hatte sie eigentlich keine Arbeit ausgeübt. Sie las viel. Sie ging zu Matineen. Sie kannte gute Bäckereien. Sie hatte nicht viel vom Leben verlangt und am Ende hatte es ihr noch weniger gegeben. Ich musste an all die Erfahrungen und Erlebnisse denken, die ihr nun verwehrt bleiben würden. Die ganze Welt würde ihr nun unwiderruflich verwehrt bleiben.

Ich wollte die letzten vier Monate abschütteln wie einen bösen Traum. Aber gewisse Tatsachen sind wie Felsbrocken. Sie versperren einem den Weg. Sie haben scharfe Kanten, an denen man sich schneidet, wenn man versucht, sie wegzurollen. Nach dem Tod meiner Mutter war ich noch wochenlang morgens mit diesen schlichten, kindlichen Gedanken aufgewacht: Ich will, dass das nicht wahr ist. Ich will, dass das nicht passiert ist. Es wollte mir einfach nicht in den Kopf. Der Tod meines Vaters anderthalb Jahre später war ebenso schmerzhaft, aber da hatte ich dann zumindest schon ein wenig Übung. Aber wo sollte ich Geneviève mit ihrer tiefen Einstichwunde im Bauch einordnen?

»Ich hab es nicht getan«, sagte ich zu meinem Tumor. Er glotzte gleichgültig zurück.

Ich ging nach unten, machte den Jack Daniel’s auf und sog das volle, befriedigende Aroma tief ein. Dann ging ich an die Küchenspüle und goss den rauchigen Single Barrel in den Abfluss. Die Juden opfern ein Glas Wein für den Propheten Elias, die Buddhisten opfern Obst, die Gangbanger gießen einen Drink für ihre toten Kumpels auf den Boden. Man muss den Göttern zu essen geben. Sonst fressen einen die Götter nämlich selbst.

Nicht, dass sie einen nicht auch so fressen würden.

Eine metallbeschlagene Espresso-Maschine machte sich auf der Arbeitsplatte so breit, als würde dort ein Labrador sitzen. Ich hatte sie für Geneviève gekauft – in dem ungefähr fünf Minuten dauernden Abschnitt unserer Beziehung, als zwischen uns alles prächtig lief. Die Maschine hatte fünfzehn Tassen schlammartigen Espresso produziert, womit wir bei einem Preis von 147 Dollar pro Tasse waren. Im Kühlschrank waren drei Flaschen Wasser und ein Riegel Zartbitterschokolade, den April zur Hälfte aufgegessen hatte. Ich ging zum Küchenschrank und holte das Saftglas und die weiße Schüssel, die ich vorhin weggestellt hatte, wieder heraus. Ich stellte sie auf die Arbeitsplatte und starrte sie an, als erwartete ich, dass sie gleich anfingen zu sprechen.

Frühstück am dreiundzwanzigsten September. Meine letzte Erinnerung, bevor ich im Krankenhaus wieder aufwachte.

Ich konnte nicht verhindern, dass mein Blick zu den Messern wanderte, die dort in dem hölzernen Messerblock standen. Ganz tief irgendwo in meinem Bauch rührte sich eine düstere Neugier, die sich wie eine blau brennende Flamme anfühlte. Wie wenn einem nach zweistündigem Lauftraining ein zwanzig Jahre alter Scotch ins Blut schießt. Ich trat vor den Messerblock und erriet beim ersten Versuch, wo das Filetiermesser steckte. Ich wog es in der Hand, fühlte den Schaft. Bisher hatte ich die Messer vielleicht vier- oder fünfmal benutzt. Warum also hatte meine Hand das Filetiermesser so leicht gefunden?

Eine ganze Weile starrte ich meine Hände an, dann mein Gesicht im Spiegel über der Spüle – ein Typ mit einem Messer in der Hand und einer Narbe im Haaransatz. Der Anblick ließ mich schaudern.

Nachdem ich meinen Humidor inspiziert hatte, ging ich auf die Veranda, setzte mich mit den Füßen auf dem Geländer in einen Liegestuhl und rauchte eine Zigarre bis zu ihrer gelb gesprenkelten Bauchbinde. Mein einzig verbliebenes Laster. Abgesehen vom Schreiben.

Falls ich jemals wieder schreiben würde.

Die Nacht war dunkel und januargemäß beißend. Die Leute vergessen immer, wie kalt L.A. im Winter werden kann – der Wind vom Pazifik, von Santa Ana, wütende Regenfluten mit halbherzigen Blitzen, wie ein Monsun mit Verstopfung, der sich Erleichterung verschaffen will. Ein schöner Ausblick heilt jeden Kummer.

Ein schöner Ausblick gibt einem das Gefühl, etwas zu besitzen, das größer ist als man selbst, als würde einem auf diesem Planeten ein Ort wirklich gehören.

Ich betrachtete das funkelnde Valley zu meinen Füßen. Es sah aus wie ein Ozean, nur hübscher, denn es war ein Meer aus Lichtern, und es war Bewegung und Leben, und es erlaubte mir, allein zu sein und doch verbunden mit tausend Menschen in tausend Häusern mit ihren tausend Geschichten, von denen viele noch trauriger waren als meine. Die Sepulveda, die Straße, die Richtung Norden verläuft, mitten in die demographischen Katastrophen. Van Nuys – nur aus der Ferne schön, wo die Mexikaner werktags am Morgen Fußball spielen und sich vor dem Anstoß bekreuzigen, als kümmere sich Gott um das Ergebnis eines verkaterten Spiels. Die 405, ein kurviger Wasserfall aus weißen Vorderscheinwerfern. Die Ventura, die in östlicher Richtung verläuft, vorbei an Stundenmotels mit glamourösen Studionamen, wo die Freier kaputte Straßenkinder hinschleppen oder auch umgekehrt. Und der Cahuenga-Pass, wo die City wartet, eine unersättliche und unergründliche Geliebte, die sich mit einem Sphinxlächeln auf einem Neonbett räkelt, mit zerschmetterten Träumen unter ihren Tatzen.

Ich schloss die Augen und machte in Gedanken eine Tour durch das Hollywood der Hippen und der Möchtegernhippen, der Kulturkonsumenten, die Markennamen in großen Lettern auf ihrem Nickisamt-Arsch spazieren tragen. In Gedanken folgte ich dem General-Motors-Olds-mobile mit Arkansas-Nummernschild, der sich nicht um das Gehupe hinter ihm scherte und weiterhin mit Schrittgeschwindigkeit über den Boulevard fuhr, während sich die Köpfe der Insassen auf beachtlichen Südstaatennacken drehten. Vorbei an schwarzen Kids, die auf umgedrehten weißen Eimern saßen und Rat-tat-tat-tat brüllten, vorbei an sich schälenden deutschen Nasen, dem klebrigen Geruch von Sonnencreme, dem giftigen Smog, den Silberringen in bronzefarbenen Bauchnabeln, den Reklametafeln von Gap mit den Popköniginnen in Schlapphüten, und dann die Straße hinauf ins richtige Hollywood, wo die Nutten über ihrer Kotze knien und die Junkies vor den Eingängen herumstolpern, sich an den Schultern kratzen und sich ihr Gutenachtliedchen vormurmeln, das wird schon wieder, das wird schon wieder.

Durch die ganzen Comedy Clubs, in denen Ehemänner aus Wichita über Jesus-Witze lachen, obwohl die Hausfrauen sie mit verkniffenem Mund von der Seite ansehen, wo die Amateure sich durch ihre Vorstellungen schwitzen und wo vielleicht, aber auch nur vielleicht, irgendein großer Sitcom-Autor vorbeikommen und sein neuestes Material austesten wird, nachdem die abgeklärte Kellnerin das zweite leere Glas des Zwei-Getränke-Minimums abgeräumt hat. Dann Richtung Westen nach Boys Town, wo schwule Pärchen in allen Größen und Formen der eingeschränkten Vorstellungskraft der Heteros eine Lektion erteilen, wo Softporno-Reklametafeln neben glühenden Tarotkarten und Tattoo-Studio-Werbung hängen, wo Liebespaare sitzen und ihren Kaffee schlürfen. Einen Steinwurf weiter stehen die Pornopaläste mit ihrem ganzen purpurfarbenen Polystyrol, und die Schilder mit den Park- und Halteverboten türmen sich übereinander wie an Totempfählen und entziehen sich jedem Deutungsversuch. Vorbei am Urth Café, in dem abgehalfterte geschiedene Frauen auf ihrem organischen Salat herumkauen, mit Gesichtern, die vom Tablettenkonsum gezeichnet und von den Kollagenunterspritzungen angeschwollen sind – ein einziger Zermürbungskrieg des Fleisches. Die aalglatte Schlange des Sunset Boulevard hinunter mit ihren alten Anwesen, dem hellen und schamlosen Hustler-Shop, ihren tausend Lichtern an den Feiertagen. Durch Beverly Hills mit seinen Palmen, die schon so oft gefilmt wurden, ohne dass man jemals ihre Schönheit hätte einfangen können. Jogginganzüge auf Seg-way-Elektrorollern unterwegs zu Valentino, blutjunge angehende Berühmtheiten, die mit ihren Schoßhündchen bummeln gehen, Männer mit ihren unsichtbaren Handy-Kopfhörern, die vor Restaurants und an Ampeln stehen und einsam vor sich hin murmeln in einem Dialog ohne Gegenüber.

Dann Westwood, dann Brentwood, wo Mütter aus den besseren Stadtvierteln ihre ebenmäßigen Kinder in Designer-Kinderwägen über die Bauernmärkte schieben und sich begeistert von Hotels auf Bali erzählen. Dann weiter zu den Palisades, zum Santa Monica Canyon und nach Malibu, die funkelnde Küste hinauf, die nach Auspuffgasen riecht und mit Möwenguano bedeckt ist. Durch die Canyons, tiefe rostfarbene Falten, die aussehen wie Erzadern oder die Falten weiblicher Genitalien, die Luft überraschend frisch und mit Salz gesättigt.

Meine Wangen waren nass von der Meeresbrise und auch, weil mir das Herz überging bei der Betrachtung des Lichtermeers. Los Angeles. Ein Wunder von einer Stadt, die wie kalter Schweiß vom Rücken der Goldgräber und Eisenbahnarbeiter floss und Gestalt annahm, als Piratenfilm-verleiher auf der Flucht vor Edisons Patenten den Zug bestiegen und unter dem Schutz von Ostküstenleibwächtern ihr Glück versuchten.

Los Angeles, das Land des endlosen Versprechens. Und des endlosen Scheiterns. Das Los Angeles der kleinen Grausamkeiten. Das Los Angeles der flüchtigen Hierarchien, der aufgesprühten Sonnenbräune, des Grapschens im Vorübergehen. Das L.A. der verbundenen, frisch operierten Nasen, der Chai-Speisekarte, der Verleumdungsklagen. Der Berufsbezeichnung mit Bindestrich. Der Garagen für zwei Jeeps. L.A. mit seiner Offenheit und seinen vorgefertigten Meinungen. L.A. mit dem bombastischen Sonnenuntergang, mit seiner lauen Nachtluft, die einen ganz betrunken macht. Das L.A. der verlängerten Jugend, der Verführung in Zeitlupe, der alterslosen, ersetzbaren Blondine. Das L.A., in dem ein Pornostar als Gouverneur kandidiert und eine Action-Figur die Wahl gewinnt.

Das L.A., in dem irgendeinem armen Idioten oder einem Glückskind jederzeit alles passieren kann. Wo dir alles passieren kann.

Wo mir alles passiert war.

2

Ich sitze in meinem Highlander und fahre eine steile Straße hinauf. Das einzige Licht kommt von meinen Scheinwerfern und der von Zweigen gedämpften Straßenbeleuchtung. Der Schweiß läuft mir über die Stirn und beißt in meinen Augen. Ein strenger Geruch wie von geschmolzenem Gummi hängt mir in der Nase. Ich fahre schnell. Die Straße ist absurd schmal und ich muss immer wieder parkenden Autos ausweichen. Ich kenne diese Straße. Mit quietschenden Reifen durchfahre ich eine Haarnadelkurve, und da ist es auch schon, da kommt es in Sicht.

Genevièves Haus.

Düster ragt es dort vorne auf, ein hölzernes Gesicht, das aus einer Felswand herausstarrt. Die Pfähle gehen wie Tentakel in den Boden. Über die Schindeln rankt der Efeu.

Die Uhr in meinem Armaturenbrett leuchtet, 1 Uhr 21.

Ein jäher Krampf schnürt mir die Brust zusammen. Ich fahre rechts ran, ein wenig zu hektisch, so dass ein Vorderreifen auf den Gehweg hüpft und einen Sprinklerkopf am Rand des bescheidenen Rasenstücks zerstört. Ich werfe meine Autotür auf und renne die steilen Stufen zur Eingangstür hinauf, wobei sich die Zementplatten leicht unter meinen Füßen bewegen. Der bittere Geruch wird stärker, fast schon unerträglich. Hinter mir quietscht die Autotür in den Angeln und macht den Grillen Konkurrenz.

Bei meinem letzten Schritt falle ich beinahe und stolpere auf die Veranda. Ich höre Musik – irgendetwas Klassisches, Majestätisches. Oder ist das nur in meinem Kopf?

Der Philodendron zittert im leichten Wind. Ich bücke mich, greife mit verschwitzten Händen nach dem Terrakottatopf, und glänzende Blätter streifen mir übers Gesicht. Die Pflanze kippt leicht, sie gleitet mir aus den Händen, und als sie auf den Boden plumpst, bekommt der Untersetzer aus Ton unter ihrem Gewicht einen Sprung. Der Riss sieht aus wie ein Blitz und reicht fast bis zum Rand. Nachdem ich mir die Handflächen an meiner Jeans abgewischt habe, schiebe ich den Blumentopf wieder zurecht, und dort liegt der Schlüssel und glänzt im Schmutz.

Mit schrecklich dröhnendem Kopf wurde ich wach, auf zerwühlten Bettdecken, in klammer, adrenalingetränkter Panik. Die Hitze jagte über meine Narbe, so intensiv, dass ich beim Betasten einen Moment lang fast das Gefühl hatte, sie sei nass.

Ich brauchte eine Weile, bevor ich mich orientieren konnte. Mein Bett. Meine erste Nacht zu Hause. Mein Fenster hatte sich in zwei wandernde Rechtecke geteilt. Ich blinzelte, um die schwankenden Glasscheiben wieder zu einer zu verschmelzen. Auf meiner Zunge lag ein bitterer Geschmack wie von der Rinde einer harten Frucht. 23:23 sagte meine Uhr auf dem Nachttisch.

Ich versuchte, meine Atmung zu verlangsamen, aber mein Traum schwirrte mir in einer verwirrenden, aufgeregten Schleife unaufhörlich weiter durch den Kopf. Er hatte sich anders angefühlt als jeder andere Alptraum, den ich je gehabt hatte. Zugleich realer und surrealer. Hatte ich ein Stück Zeit wiedergefunden? Wie ich in der Nacht des dreiundzwanzigsten September zu Geneviève hinüberfuhr? Oder heute Nacht? Oder war das alles nur Freud im Schnelldurchlauf, Phantasien, die Purzelbäume schlagen, wenn der Zensor mal eine Kaffeepause einlegt?

In meinem Traum hatte mein Autoreifen einen Sprinklerkopf beschädigt. Und der Terrakottatopf war mir aus der Hand geglitten und hatte den Untersetzer zerbrochen. Diese Bilder bedeuteten nichts. Aber was, wenn dieser Sprinkler und der Untersetzer tatsächlich kaputt waren? Endlich etwas Konkretes, was ich mit eigenen Augen überprüfen konnte.

Schlaftrunken warf ich die Bettdecke zurück und rollte mich aus dem Bett, ein Gefühl, als tauche ich unter Wasser. Die Luft war unerklärlich kalt, und plötzlich hatte ich den Eindruck, dass sich im Erdgeschoss etwas bewegte. Ich trat auf den Laufsteg hinaus und blickte über das Geländer ins Wohnzimmer hinunter.

Unten auf dem Teppich lag eine anderthalb Meter lange Metallstange. In meinem angeschlagenen Zustand brauchte ich einen Augenblick, bevor ich sie als die Stange identifizieren konnte, mit der ich immer die Schiebetür zum Hintergarten sicherte. Ich hörte, wie der Wind am Türrahmen entlangstrich, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte, und dann wurde mir auf einmal wieder bewusst, dass kalte Luft an meine nackte Haut drang. Das Geräusch des Verkehrs unten auf der Autobahn war zwar schwach, wurde aber durch kein Hindernis gedämpft.

Während ich dort stand, versuchte ich mich aus meiner Starre zu lösen und eine logische Erklärung für alles zu finden. Wahrscheinlich war ich erschöpft von der Veranda ins Haus gegangen und hatte vergessen, die Tür hinter mir zu schließen. Schließlich war ich gerade nach vier Monaten von einem Ort zurückgekehrt, an dem ich keine Kontrolle darüber gehabt hatte, wann sich die Türen öffneten oder schlossen. Doch es blieb ein nagender Zweifel. Die zusätzliche Sicherung mit der Stange hätte ich vielleicht noch übersehen können, aber sollte ich tatsächlich vergessen haben, die Tür hinter mir zuzuziehen? Bei dieser Kälte, die mittlerweile draußen herrschte?

Langsam schlich ich die Treppe hinunter. Die Glasschiebetür stand tatsächlich sperrangelweit offen. Der Wind hatte ein paar Blätter hereingeweht, große gelbe Blätter, die auf dem Teppich tanzten. Ich starrte auf das schwarze Rechteck der Veranda, dann riss ich mich zusammen und ging darauf zu. Ich hob die Blätter auf und trat hinaus. Die Veranda war leer, ebenso wie das kleine Rasenstück rechts, kurz vor den efeuüberwucherten Pfählen. Ein Geräusch seitlich neben dem Haus erregte meine Aufmerksamkeit. Vielleicht rüttelte der Wind am Zaun? Ich ging um die Ecke und warf einen Blick zurück zur Straße. Die Straßenlaternen auf dem Gehweg vor dem Haus gegenüber flackerten nacheinander, als huschte eine Gestalt an ihnen vorbei. Doch wie konnte ich sicher sein? Ich war froh, dass ich kein Licht angemacht hatte, so dass sich meine Augen nicht erst an die Dunkelheit gewöhnen mussten, doch der Mond, der sich hinter Johnsons Platane verloren hatte, half mir nur wenig. Ich trabte zur Eingangspforte und lief über meine gepflasterte Auffahrt mitten auf die Straße, wo ich verwirrt eine Runde in Boxershorts drehte. Keine Spur von jemand, kein Geräusch von einem anspringenden Motor.

Ich ging denselben Weg wieder zurück, trat ins Haus und sicherte die Schiebetür hinter mir. Da – auf dem Teppich konnte man im Leuchten der fernen Lichter der Stadt ein paar schmutzige Abdrücke ausmachen, geformt wie ein C, wahrscheinlich von einer Schuhsohle.

Telefon tot. Handy oben. Ich, der Medienliebling, in Unterwäsche, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und heiß geliebt von der örtlichen Polizei.

Leise schlich ich mich in die Küche. Die Augen immer auf den Eingang gerichtet, griff ich blind nach dem Küchenprofimesser mit der Fünfundzwanzigzentimeterklinge und zog es aus dem Messerblock. Dabei spürte ich an den Fingerknöcheln eine Leere, die nicht hätte da sein dürfen, und blickte auf den Messerblock. Zwischen den Messergriffen ein schwarzer Schlitz.

Das Filetiermesser fehlte.

3

Ein unbescholtenes Mitglied der prominenten französischen Gemeinde der Stadt, dessen Leben von einem Krimischreiberling ein Ende gesetzt worden war. Von einem Aufsteiger, dessen Aufstieg hiermit sein Ende gefunden hatte. Sechs Monate, nachdem sie ihn verlassen hatte, war er morgens um 1 Uhr 30 in ihr Haus eingebrochen. Er war in die Küche gegangen, wo er sich ein Filetiermesser griff, den Zwilling aus dem gleichen Messerblock, den sie für ihn gekauft hatte. Er schlich in das Schlafzimmer, in dem er nicht mehr willkommen war, und erstach sie. Dort entdeckte man ihn mit blutverschmierten Händen über ihrem Körper. Als die Polizei eintraf, war sie tot, und er hatte gerade einen Anfall. Mit Blaulicht brachte man ihn ins Krankenhaus, wo die Ärzte den Gehirntumor entdeckten und eine Notoperation durchführten. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war der Tumor entfernt und mit ihm – so behauptete er – seine Erinnerung an alles, was seit dem Frühstück des vorangegangenen Tages geschehen war. Amnesie auf Bestellung, ein alter Trick aus schlechten Romanen. Die Sorte Verteidigung, die nur in Los Angeles funktionieren konnte.

So hat der Enquirer die Geschichte dargestellt. Und die L.A. Times, Fox News und sogar die Vanity Fair. Die Geschichte ist völlig falsch, bis ins letzte Detail, aber sie erzählen sie mit der Leidenschaft der Boulevardpresse.

Ich kann sie nur so erzählen, wie ich sie erlebt habe.

Ich verbrachte meine erste Nacht in Haft damit, mich in das Waschbecken aus rostfreiem Stahl zu übergeben, bis sich meine Magenschleimhaut so durchgewetzt anfühlte wie die schmale Matratze auf dem festgeschraubten Bettgestell. Nach fast achtundvierzig Stunden unter Bewachung im Universitätskrankenhaus war ich in einer Isolationszelle im siebten Stock des Twin-Towers-Gefängnisses gelandet. Die Metallzelle war eng und hatte eine viereckige Maueröffnung, durch die die frische Luft der Innenstadt von Los Angeles hereinströmte. Ich vermisste mein Bett, die gerahmten Zigarettenschachtel-Sammelkarten mit Figuren aus Shakespeare-Stücken, die neben meinem Schrank hingen. Ich vermisste meine Mutter und meinen Vater. Ich hatte in meinem Leben schon unzählige schlaflose Nächte verbracht, ganz zu schweigen von den ruhelosen frühen Morgenstunden zu der Zeit, als sich der Zustand meiner Eltern verschlechterte – bei meiner Mutter nach einer Reihe von schwächenden Schlaganfällen in ihren Sechzigern, bei meinem Vater, achtzehn Monate später und weniger grausam, war es ein Aneurysma. Aber nichts – nichts – was ich erlebt hatte, ließ sich auch nur annähernd mit der absoluten Schwärze dieser Nacht vergleichen.

Tag für Tag kommandierten die Wachen die Gefangenen unten durch einen schmalen Durchgang, und zu meiner Zelle mit den grauen Wänden stieg das Geräusch von klirrenden Fußfesseln empor, körperlose Stimmen, starke und gebrochene, schwarze und weiße, meist klagende. Dazu sangen sie ihre Knacki-Litanei.

Ich war’s nicht.

Irgend so ein Arsch hat mich in die Pfanne gehauen.

Ich bin unschuldig. Ich hab mich nur um meinen eigenen Kram gekümmert, und dann ...

Dort oben, in meiner kalten Kiste, weit weg von den Schalthebeln der Macht, schien es mir angebracht, nicht in diesen Chor einzustimmen. Aber ich wusste, dass ich es nicht getan hatte. Ich wusste, dass ich Geneviève nicht umgebracht haben konnte, sogar dann noch, als ich langsam zu befürchten begann, ich könnte es doch getan haben.

Chic war selbstverständlich als Erster gekommen, sobald man ihn vorgelassen hatte.

Man führte mich durch einen grell beleuchteten, nach Ammoniak stinkenden Korridor zu einem privaten Gesprächszimmer, das für Gefangene benutzt wurde, die man zu ihrem eigenen Schutz abseits von den anderen hielt. Ein von Kampfspuren gezeichneter Holzstuhl, eine Trennwand aus Plexiglas, Obszönitäten, die man mit dem Finger auf die metallene Tischplatte geschmiert hatte – man fühlte sich in die Highschool zurückversetzt.

Die Wache sprach seinen Namen falsch aus, wie die französische Beurteilung einer Frisur, obwohl Chic alles andere ist als das. Er trug dieselben Klamotten wie immer, als wäre er zum ersten Mal ohne seine Mutter einkaufen gegangen. Jeans-Shorts, die ihm bis kurz unters Knie gingen. Ein riesengroßes olivgrünes Seidenhemd, das über seinem breiten Brustkasten zugeknöpft war. Eine glänzende, protzige Goldkette, passend zu dem Goldklunker am Ringfinger seiner linken Hand.

Er bewegte seinen massigen Körper und versuchte, eine bequeme Position auf dem Stuhl zu finden, der nicht für professionelle Sportler entworfen worden war. Als ich ihn sah, stiegen mir die Tränen hoch, denn mir wurde bewusst, wie gründlich mein Leben in Stücke gegangen war, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Vor einer Woche? Vor acht Tagen?

Chic legte eine überraschend weiße Handfläche auf das Plexiglas. Ich legte meine dagegen – es fühlte sich irgendwie surreal an, eine Geste nachzuahmen, die ich nur aus Filmen kannte.

»Was brauchst du?«, fragte er.

Meine Stimme, die ich in letzter Zeit so selten benutzt hatte, klang so heiser wie die, die sonst zu meiner Zelle hochstiegen. »Ich hab das nicht getan.«

Er machte eine beruhigende Geste mit gespreizten Fingern, legte den Kopf auf die Seite und senkte ihn leicht. »Nicht weinen, Drew-Drew«, sagte er sanft. »Nicht hier. Gib ihnen nicht diese Genugtuung.«

Ich wischte mir mit dem Saum meines Gefängnishemds die Augen ab. »Ich weiß.«

Chic sah aus, als würde er am liebsten durch die Glasscheibe brechen und ein paar Kämpfe für mich ausfechten, um sicherzustellen, dass die Tyrannen hier drinnen respektvollen Abstand zu mir hielten. »Was kann ich tun?«

»Einfach nur hier sein.«

Das war nicht das, was er sich vorgestellt hatte. Ich nahm an, dass er sich nach einer Aufgabe sehnte, irgendetwas, womit er mir besser helfen konnte. Chic, der aus Philadelphia stammt, hat diese typische Loyalität der Ostküstenbewohner und stellt sie gerne unter Beweis. Wie ich später erfahren sollte, hatte er geschlagene viereinhalb Stunden unten gewartet, bis er hinein durfte und mich besuchen konnte.

Er ballte seine starken Hände. »Das ist wie eins von deinen Büchern. Nur noch schlimmer.«

»Das nehme ich jetzt mal als Kompliment.«

Meine Finger waren wieder an meinem Kopf zugange, glitten über den Rosenkranz meiner Wundnaht. Als ich merkte, wie Chic mich beobachtete, nahm ich die Hand herunter.

Er sah besorgt aus. »Wie geht’s dir hier drinnen?«

Ich blickte an die Decke, bis meine Augen nicht mehr ganz so wässerig waren. »Ich scheiß mir in die Hosen vor Angst.« Eine Welle von Panik schnürte mir die Kehle zusammen und erinnerte mich daran, warum es besser war, sich der Angst nicht frontal zu stellen.

Er sah aus, als würde er seine nächsten Worte sehr vorsichtig wählen. »Ich war auch schon im Gefängnis, aber das war nicht mit dem hier zu vergleichen. Dein Schatten muss ja schon Angst vor seinem eigenen Schatten haben.«

Ich rieb mir die Augenlider, bis mein Herzschlag sich nicht mehr wie der Trommelwirbel am Schafott anhörte. Dann sagte ich: »Vergewissere dich bitte, dass es April gutgeht. Sie hat mich nicht besucht. Weder im Krankenhaus noch hier.«

»Ihr wart noch nicht besonders lange zusammen.«

»Wahrscheinlich ist das alles ein bisschen zu viel verlangt.«

Chic hob die Augenbrauen als wollte er sagen, ach, findest du wirklich?

Wenn ich meine Fassung bewahren wollte, konnte ich nicht darüber sprechen, dass ich April verloren hatte, also fragte ich stattdessen: »Was gibt’s Neues an der Front?«

»Den üblichen Scheiß. Gerichtsfernsehen, dreiminütige Zusammenfassungen auf dem Fünften, fünfminütige Zusammenfassungen auf dem Dritten. Die Reporter kommen sich weiß Gott wie korrekt vor, weil sie immer schön dran denken, das Wörtchen mutmaßlich zu benutzen.«

Ich wusste bereits, dass die Version des Staatsanwalts die Sichtweise der Medien stark beeinflusst hatte und umgekehrt. Das Opfer war fotogen gewesen, und die Öffentlichkeit hatte sie so gesehen, wie sie wollte, und mich so, wie sie es brauchte. Die Geschichte hatte ein Eigenleben bekommen, und mir war prompt die übelste Rolle zugefallen.

Er blinzelte mir zu. »Kriegst du ab und zu ein bisschen Schlaf?«

»Klar.«

Aber ich bekam eigentlich kaum Schlaf. In der letzten Nacht war ich wach gewesen und hatte meine Hände angestarrt wie Lady Macbeth, bestürzt über ihre geheime Geschichte. Ein kleiner Fleck getrocknetes Blut hielt sich hartnäckig unter meinem rechten Daumennagel, und ich pulte daran herum und pulte weiter, bis meine Frustration in Grauen überging und ich den vorderen Teil des Nagels mit den Zähnen abriss. Später träumte ich dann von Geneviève – ihre blasse Pariser Haut, ihre einladenden, gepolsterten Hüften, wie sie auf meinem Liegestuhl saß und mit einem Löffel geringelte Avocadostückchen aus der dunklen Schale schabte und sie mit Mayonnaise aus der Höhlung garnierte, in der vorher der Avocadokern gesessen hatte. Sie sah mich an und lächelte versöhnlich, und ich wachte auf. Das eine Ende meines dünnen Kissens hatte ich völlig durchgeschwitzt. Der Polyesterbezug war dünn, und ich wusste, dass ich hier in der Dunkelheit einen jämmerlichen Anblick bieten musste, wie ich schauderte und zitterte vor irgendetwas, das ich nicht wirklich benennen konnte.

»Kannst du Genevièves Familie mein Beileid übermitteln?«, bat ich leise. »Sag ihnen, dass ich es nicht getan habe.«

»Bei allem Respekt, aber die wollen im Moment bestimmt nichts von dir wissen.« Er hob eine Hand, als ich anhob zu protestieren. »Wie sind die Rechtsanwälte, die dein übereifriger Verleger für dich gefunden hat?«

»Sie scheinen zu wissen, was sie tun.«

»Wollen wir’s hoffen.« Er holte ein zusammengetackertes Dokument aus der Tasche und legte es in die Durchreiche.

Die Wache stürzte an den Tisch und blökte los: »Wenn ich das bitte mal kurz sehen darf, Sir.«

Chic wartete ungeduldig, während der Mann das Dokument durchblätterte, um die darin versteckte Lötlampe zu finden. Um sich zu rechtfertigen, entfernte er sogar die Heftklammer.

Okay, damit war Plan B also auch gestorben – ich würde also nicht auf einer magischen Heftklammer hier hinausfliegen.

Sobald das Dokument vom Sicherheitsdienst freigegeben war, schob Chic es zu mir durch. Es war eine umfassende Handlungsvollmacht über meine finanziellen und legalen Angelegenheiten.

»Umfassend«, sagte ich. »Hast du dann nur den Röntgenblick, oder kannst du auch deine Gestalt verändern?«

Er setzte ein halbes Grinsen auf, aber ich konnte die Sorge in den tiefen Fältchen um seine Augen sehen. »Die Anwaltskanzlei braucht einen Vorschuss von zweihundertfünfzig. Du musst wohl eine zweite Hypothek auf dein Haus aufnehmen.«

»Eine dritte.« Beim bloßen Gedanken an meine Finanzen begannen meine Schläfen zu pochen. Es gab noch ein bisschen bürokratisches Heckmeck, bis die Wache ein notarielles Siegel herausrückte, das nötig war, um die Handlungsvollmacht rechtsgültig zu machen. Noch so ein Leckerbissen aus dem wahren Leben, den ich auf den Seiten meiner – wie mir nun klar wurde jämmerlich unrealistischen – Romane übersehen hatte.

Ich unterschrieb und schob das Dokument wieder zu Chic durch. Seine Augen blieben an dem Zettel hängen, den ich dazugelegt hatte. »Was ist das denn?«

»Für Adeline.«

»Genevièves Schwester? Glaubst du allen Ernstes, dass sie von dir hören will?« Er faltete das Papier auseinander, ohne mich vorher um Erlaubnis zu fragen, und las meinen pubertären Brief.

Ich habe Deine Schwester nicht umgebracht.

Sag mir, wenn es irgendetwas gibt, was ich tun kann.

Ich fühle Deinen Verlust aus ganzem Herzen mit.

Er faltete den Zettel wieder zusammen und ließ ihn in seiner Tasche verschwinden. Sein Blick sprach Bände.

»Man wird also angeklagt und darf keine menschlichen Reaktionen mehr zeigen?«, fragte ich.

»Sicher, aber glauben wird dir keiner. Wenn du jetzt ehrlich bist, dann zerlegen sie dich gleich. Jeder wird glauben, dass du nur eine Show für die Jury abziehen willst. Das ist hier wie ein großes Spiel. Je schneller du das kapierst, umso besser.«

»Also, was soll ich tun?«

»Unschuldig aussehen.«

»Ich bin unschuldig.«

»Sieh danach aus.«

Wir blieben ein Weilchen schweigend sitzen und starrten uns an. Die Wache kam zu uns herüber. »Die Zeit ist um.«

Chics Blick zuckte kaum, als er das Spiegelbild der Wache in der Glasscheibe wahrnahm. »Ich bin gerade erst gekommen.«

»Sie gehen jetzt hier rechts raus. Klar?«

Chic saugte an seinen Zähnen und verzog den Mund zur Seite. »Ja, klar.« Dann, an mich gewandt: »Halt durch. Ich bin für dich da, was auch immer du brauchst.« Er schob quietschend seinen Stuhl zurück, und dann hörte ich seine Schritte von den kalten Betonwänden widerhallen.

Am nächsten Morgen hatten meine Anwälte ein Treffen angesetzt, und es ging wieder durch den nach Ammoniak stinkenden Korridor in den Plexiglas-Pavillon. Sie saßen wartend auf ihren Stühlen, ihre Konturen hell umrissen vom starken Morgenlicht. Der eine hatte sich nach vorne gelehnt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Lippen geschürzt angesichts der Last kommender Entscheidungen. Der andere kippelte mit seinem Stuhl nach hinten, drückte sich einen Daumen in die Wange und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Oberlippe. Beide hielten die Köpfe gesenkt wie im Gebet. Bevor ich ihre Gesichtszüge erkennen konnte, hatte ich schon das starke Gefühl, dass ich auf das berühmte Bild von JFK und Bobby Kennedy zumarschierte, das aufgenommen wurde, als Chruschtschows Schiffe mit Volldampf auf Kuba zuhielten.

Ich verstand ihre Besorgnis. Ich hatte schon gezeigt, dass ich ein extrem unkooperativer Mandant war. Gegen ihren Rat hatte ich mich entschieden, auf mein Recht auf einen möglichst baldigen Prozess nicht zu verzichten. Der Antrag auf Kaution war abgelehnt worden, eine Sicherheitsmaßnahme des Richters, dem man diesen Prozess übertragen hatte und der schon jetzt eingeschüchtert war von den immer lauter schmetternden Fanfaren der Medien. Die Aussicht, vielleicht Jahre hinter Gittern verbringen zu müssen, während ich auf meinen Prozess wartete, war so grauenhaft für mich, dass ich die Sache einfach nicht objektiv betrachten konnte. Meine Anwälte und ich hatten auch diverse Male über das Plädoyer diskutiert. Ich konnte wählen zwischen schuldig und nicht schuldig. In der zweiten Phase des Prozesses würde man auf vorübergehende geistige Unzurechnungsfähigkeit plädieren – aber nur, wenn man mich für schuldig befinden sollte.

Donnie Smith, dem das Haar noch halb nass am Kopf klebte, weil er sich gerade nach dem Fitness-Training noch geduscht hatte, nahm den Faden dort wieder auf, wo wir beim letzten Mal aufgehört hatten. »Wenn Sie auf nicht schuldig plädieren, verärgern Sie damit nur den Richter, die Öffentlichkeit, die Presse und das Gericht. Und das sind genau die Leute, die über Ihr Schicksal entscheiden werden. Nicht nur diese zwölf Geschworenen. Sie müssen auf schuldig plädieren, damit Sie in der Frage der eingeschränkten Zurechnungsfähigkeit glaubwürdiger dastehen. Aufgrund des massiven Medieninteresses wird Harriman den Fall verhandeln, und Sie können was darauf wetten, dass sie uns in der ersten Phase, wenn wir auf schuldig plädieren, ungespitzt in den Boden rammen wird. Wir müssen so schnell wie möglich zur Frage der Schuldfähigkeit kommen und vermeiden, dass Sie sich durch einen Prozess quälen, der für Sie so gut wie aussichtslos wäre.« Mein Herz fühlte sich an, als flattere es in meinem Gefängnishemd herum. »Aber ich habe es nicht getan. Und kein Mensch auf der Welt will mir glauben.«

Diese Behauptung hörten sie nicht zum ersten Mal. Ausdrucksloser Blick. Geduldig. Aber nicht weit entfernt davon, demnächst die Geduld zu verlieren.

»Ihr Standpunkt lautet also, Sie können sich nicht erinnern, dass Sie sie nicht umgebracht haben?« Donnie sprach ganz langsam, als rede er mit einem geistig zurückgebliebenen Kind.

Ich gab keine Antwort. Es klang für mich ja genauso dumm. Wie schon bei den anderen Treffen stieg mit jeder Minute meine Angst, überhaupt nichts zu meiner Verteidigung sagen zu können. Und dass ich etwas gestehen musste, was ich gar nicht getan hatte, wenn ich nicht in einer Gefängniszelle sterben wollte.

Schließlich kochte mein Frust über. »Versucht eigentlich überhaupt jemand herauszufinden, wer es wirklich getan hat? Oder sind alle zu beschäftigt damit, ihre Spielchen vor Gericht zu planen, so wie wir?«

Donnie und Terrie sahen sich unangenehm berührt an.

»Was?«, bohrte ich nach. »Was soll denn dieser Blick schon wieder heißen?«

»Die Polizei von L.A. hat gestern etwas Beunruhigendes entdeckt«, erklärte Donnie. »Geneviève hat Sie in der Mordnacht um 1 Uhr 08 angerufen, ungefähr zwanzig Minuten, bevor sie umgebracht wurde.«

»Das hat man mir bereits mitgeteilt.«

Donnie holte eine versiegelte Tüte des LAPD aus seiner Aktentasche. Sie enthielt eine CD. »Und sie hat Ihnen eine Nachricht hinterlassen.«

»Ist das denn schlimm?«, erkundigte ich mich. Keine Antwort. Aufgeregt stand ich auf, ging einmal im Kreis, setzte mich wieder. »Deswegen kam ich also nicht mehr an meine Voicemail.«

Donnie legte die CD in seinen Laptop ein und drückte ein paar Tasten.

Die vertraute Stimme, von den Toten auferstanden, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich jetzt mit jemand anders zusammen bin. Ich hoffe, ich tue dir weh damit. Ich hoffe, dass du unter diesem Schmerz leidest. Ich hoffe, du fühlst dich so richtig einsam. Adieu.«

Ich brauchte einen Moment, um mich überhaupt davon zu erholen, Genevièves Stimme gehört zu haben. Mein Herzschlag hämmerte mir in den Ohren, und meine Anwälte starrten mich mit stiller Besorgnis an. Ihre Tonlage, der Akzent, die Aussprache. Hinzu kam die Irritation, dass man mit dem Abspielen dieser Nachricht einfach so in meine Intimsphäre eingedrungen war. Die Polizei hatte Genevièves letzte Worte vor mir gehört. Die Nachricht war von der Staatsanwaltschaft zurückgehalten und mir erst aus zweiter Hand zugänglich gemacht worden – wie der Rest meines Lebens – und lieferte nun den letzten Nagel für den Sarg, in dem man meine Rechte und meine Privatsphäre beerdigte.

Ich konnte mich natürlich nicht erinnern, in der Mordnacht Genevièves Nachricht gehört zu haben. Ihre Bitterkeit stand in krassem Gegensatz zu unserem Verhältnis nach der Trennung, zumindest wie ich es empfunden hatte. Aber sie war immer wieder launisch und schwierig gewesen, also erschreckte mich der Ton eigentlich nicht. Ich konnte mir unter keinen Umständen vorstellen, dass ich Geneviève deswegen hätte weh tun wollen. Aber, wie mir mit wachsender Angst bewusst wurde, diese Nachricht kam gerade recht für eine Jury, die nach den Fotos ihres geschundenen Körpers ohnehin schon voreingenommen war.

»Das spricht noch mehr für das Motiv, das man Ihnen unterstellt«, erklärte Donnie sanft. »Wir brauchen also eine ganz schlichte Version, die wir den Geschworenen gut verkaufen können. Vorübergehende geistige Unzurechnungsfähigkeit ist Ihr einziger Ausweg. Es ist sauber. Es erklärt sich von selbst. Es wird von den Fakten unterstützt. Der Gehirntumor bat es getan.«

Ich erwiderte seinen verzweifelten Blick.