Dark Horse. Der Außenseiter. Ein Orphan X Thriller - Gregg Hurwitz - E-Book

Dark Horse. Der Außenseiter. Ein Orphan X Thriller E-Book

Gregg Hurwitz

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Beschreibung

Die Bestseller- Serie geht weiter - das elektrisierende neue Abenteuer von Evan Smoak  Orphan X stellt sich seiner bisher schwierigsten Mission... Evan Smoak, der "Nowhere Man" und ehemaliger Auftragskiller - Codename: Orphan X - ist ein Mann mit vielen Identitäten und einer schwierigen Vergangenheit. Seine Welt ist geteilt in diejenigen, die seine Hilfe verdienen, und diejenigen, die eine spezielle Art von Gerechtigkeit für sich in Anspruch nehmen. Er ist der, den man auf jeden Fall neben sich haben möchte, wenn es ernst wird. Und damit ist er genau der Richtige für einen verzweifelten Vater, dessen Teenagertochter Anjelina von einem brutalen Verbrecherkartell entführt und über die Grenze nach Mexiko verschleppt wurde.  Evan merkt sehr bald, dass die Vergangenheit seines potenziellen Klienten Aragon Urrea genauso trübe, düster und gefährlich ist, wie seine eigene. Und Urrea ist trotz all seines Geldes und seiner Macht komplett hilflos… Wenn Evan jetzt alles aufs Spiel setzt, um Anjelina zu retten, muss er entscheiden, ob er im Namen dieses Mannes handeln kann: ein nicht wirklich guter Mensch, der, zwar aus oft guten Gründen, schlechte Dinge tut.  Und selbst dann, wenn er in die uneinnehmbare Festung eines schwer bewaffneten, zutiefst paranoiden Kartellführers eindringen könnte, gibt es keine Garantie für einen Erfolg.  Unerbittliches Tempo und Nonstop-Aktion mit einem der fesselndsten Akteure, die ein Thriller überhaupt bieten kann. "Gregg Hurwitz hat sich mit Dark Horse selbst übertroffen. Die Leser werden ein Schleudertrauma bekommen... Die Action schlägt ein wie ein Blitz." Luis Urrea, Pulitzer-Finalist für The Devil's Highway  "Eine herausragende Serie, und die Geschichten werden mit jeder Folge besser" DAILY MAIL

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DARK HORSE Der Außenseiter

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Die Rache der Orphans

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Das Vermächtnis der Orphans

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Tödlicher Fehler

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NICHT IN DEUTSCHER SPRACHE ERSCHIENEN:

The TowerMinutes to BurnDo No HarmThe Survivor

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Dark Horse: An Orphan X Novel« bei Minotaur Books, New York.

Dies ist ein fiktives Werk. Alle in diesem Roman dargestellten Personen, Organisationen und Ereignisse sind entweder ein Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet.

Der Inhalt dieses Buchs/E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtlich Sanktionen nach sich ziehen.

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1. AuflageDeutsche Erstausgabe 2023Copyright der Originalausgabe Copyright © 2022 by Gregg HurwitzAll rights reserved.Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe: Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056 ErlangenÜbersetzung: Noah Sievernich und Gerrit GebauerUmschlaggestaltung: by wayan-design unter Verwendung von Motiven von Depositphotos © rdonar (Roman Donar); AdobeStock © Paul MooreSatz und E-Book-Konvertierung: wayan-design.deDruck und Bindung: siblog Gmbh, Körnerstraße 68, 04107 Leipzig Printed in Germany

ISBN: 978-3-96154-477-6 (Printausgabe) ISBN: 978-3-96154-377-9 (E-Book)

Für Informationen wende dich an Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056 Erlangenwww.ronin-hoerverlag.de

Für Laeta Kalogridis, Billy Ray und Shawn Ryan

Das Trio, das ich neben mir haben möchte,

wenn ich in den Krieg ziehe,

einen Angriff anführe

oder eine Leiche beerdige

und vielleicht

das Trio, mit dem ich schon all dies gemacht habe.

Wenn der Teufel mit dir tanzen will, sagst du besser nein.

– Immortal Technique

Man hört nur die Fragen, auf die man auch Antworten finden kann.

– Nietzsche

Inhalt

DARK HORSE Der Außenseiter

1 Eine Welt, in der es Männer wie ihn gab

2 Höhle des Bösewichts

3 Nicht die besten Voraussetzungen

4 Schutz vor dem Schutz

5 Unsicheres Objekt

6 Ein Katalog des Schreckens

7 Der dunkle Mann

8 Leicht zu traumatisieren

9 Etwas Anderes

10 Ernsthaft gefährlich

11 Hölle

12 Mächtige und gefährliche Männer

13 Die Art von Antwort, die man später bereut

14 Ungewöhnliche Weggefährten

15 In den Händen von Monstern

16 Der Ernst der Lage

17 Rekalibrierung

18 Andere unliebsame Gestalten

19 Schreckliche Dinge

20 Beschmutzt

21 Mangelnde Professionalität

22 Absurde Details

23 Dein dummes Gesicht

24 Nur ein gewöhnlicher Drink unter Bekannten

25 Etwas komplett Anderes

26 Die Gefallenen und die Toten

27 Eine Reise durch die Unterwelt

28 Anfängerdenken

29 Nenn mich X

30 Ein Wirrwarr an obskuren Umgangsformen

31 Einfach alles, was es gibt

32 Komm mit

33 Eine begrenzte Auswahl an Fähigkeiten

34 Feinde näher

35 Keine Gebote

36 Die Lehre von Reue

37 Hol den Löwen

38 Was es bedeutet, rücksichtslos zu sein

39 Giftige Hitze

40 Wer sind Sie?

41 Ein wenig Druck

42 Die Faust Gottes

43 Eine besondere Beziehung zum Schmerz

44 Was ich tue

45 Up in Smoke

46 Ein weiterer arroganter Gringo Pendejo

47 Verdammt weit entfernt von Okay

48 Nicht registrierte Waffen

49 Urgh

50 Menschlicher Augensaft

51 Professionelle Anerkennung

52 Angst bis ins Mark

53 Schmutziges Bürschchen

54 Unter der Erde entscheiden Messer

55 Daunen

56 Front gegen den Feind

57 Die tödliche Gasse

58 Alle Sorgen und Verheißungen der Welt

59 Heimkehr

60 Zerquetschtes weißes Gummibärchen

61 Scheiß drauf

62 Bis

EPILOG Die Jagd nach X

Danksagungen

DARK HORSEDer Außenseiter

1 Eine Welt, in der es Männer wie ihn gab

Manche Menschen sprechen von Engeln und Teufeln. Andere von ihren Gefühlen oder korrumpierenden Trieben. Aragón Urrea kannte es als einen Kampf zwischen zwei Teilen seiner selbst im toten Zentrum seiner Seele. Als er jetzt am Rande der von Spucke und Drinks klebrigen Tanzfläche stand und seine Tochter in ihrem feuerroten Quinceañera-Kleid zwischen Gruppen von Freunden hin und her flippte, wurde ihm klar, dass er nicht so schlecht sein konnte, wie sein Ruf vermuten ließ. Denn sie stammte von ihm ab. Anjelinas Haare fielen ihr über ein Auge. Ihre Haut war glatt wie Seide. Tejano-Wangen wie die ihrer Mutter, breit und ausgeprägt. Die unmögliche Sanftheit ihres Blicks.

Ein Paar strassbesetzter High Heels schwang in ihrer rechten Hand und ihr Kopf wiegte sich zum Sound der Stones Coverband.

Wild, wild horses couldn’t drag me away.Er hatte Mick Jagger zehn Millionen Dollar angeboten, damit er hierher nach Südtexas flog und es selbst sang, aber Mick Jagger brauchte weder 10 Millionen Dollar noch den Imageschaden.

Aragón beobachtete, wie sein Mädchen über das Ahornparkett glitt, wie sich ihre Hüften und Schultern einzeln und doch synchron bewegten, ein Orbit aus Muskeln und Anmut. Als wäre die Musik eine Sprache, die durch ihren Körper in die Welt strömte, wenn sie tanzte.

Er richtete seinen Blick auf die Jungen und Männer, die sie ebenso beobachteten. Als sie seinen Blick spürten, wandten sie sich schnell woanders hin.

Anjelinas Reinheit – ihr inneres Licht – verursachte einen vertrauten Schmerz in seiner Brust. Dass die Welt sie nicht verdiente, ihr nur wehtun würde, so wie sie allen schönen jungen Frauen irgendwann wehtat. Und dass er, selbst wenn er alle ihm zur Verfügung stehende Macht und Bedrohung aufbrächte, um ihre Unschuld zu bewahren, letztendlich scheitern würde, weil die Unschuld dazu bestimmt war, verdorben zu werden.

Sie war das einzig Perfekte, das er je erschaffen hatte und jetzt wurde er von ihrer Existenz heimgesucht – ihrer Verletzlichkeit in einer Welt, in der es Männer wie ihn gab. Der Fluch eines jeden Vaters, der jenseits von Logik und Vernunft liebt.

Heute Abend war ihr 18. Geburtstag. Und doch hatte sie ihr quinceañera-Kleid umgeschneidert, weil sie kein Geld für etwas Neues verschwenden wollte, für etwas, das sie noch mehr ins Rampenlicht gestellt hätte. Sie wollte vor den anderen Mädchen aus Eden, diesem dünnbesiedelten Landstrich flussaufwärts von Brownsville am Nordufer des gelbbraunen Schlamms des Rio Grande, nicht zu grell erscheinen.

Aragón hatte kühlschrankgroße Blöcke mit eingeschweißtem Bargeld in verschiedenen Formationen auf seinem Gelände gestapelt. So viele, dass er Horden von Männern bezahlen musste, um sie regelmäßig umzudrehen, damit sie nicht verrotteten oder von Ratten zerkaut wurden. Und doch zog es Anjelina vor, ein drei Jahre altes Kleid aufzuarbeiten und sogar einen Schal über ihre Schultern zu drapieren und an der Vorderseite herunterhängen zu lassen, um sich in Bescheidenheit zu hüllen. Er hatte ihr Mexico City, New York oder Paris als Veranstaltungsort angeboten und sie hatte sich für das Gemeindezentrum hier in ihrer Heimat entschieden. Dekoration aus Seidenpapier und ein Buffet, serviert von Arnulfo und Hortensia, dem klapprigen Ehepaar, dem die örtliche Taquería gehörte. Die beiden hatten den Auftrag dringend gebrauchen können.

Aragón saß am prominentesten Tisch mit seiner Tante, die für ihn Mutter und Vater zugleich war, seit die Armut seine Eltern getötet hatte – kurz nach seiner Geburt in einem Regionalkrankenhaus von Hidalgo County. Mamá durch eine nicht diagnostizierte Blasenentzündung, Papá mit einem Messer in der Niere, als er versucht hatte, eine Schlägerei hinter einem Whataburger in Corpus Christi zu beenden.

Die Band trug die Uniform des Südens – Alligatorstiefel, saphirfarbene Cowboyhemden, verzierte Westen, blaue Jeans und natürlich riesige ovale Gürtelschnallen, auf denen bockende Broncos, gekreuzte Gewehre oder bescheuerte Familienwappen prangten. Gekauft im Geschenkeladen des Einkaufszentrums in McAllen.

Mit dem leisesten Winken übermittelte Aragón seinen Wunsch an die Bühne. Bei der winzigen Bewegung stoppte der Leadsänger mitten im Refrain, die Musik wurde von der Endgültigkeit einer Guillotine unterbrochen. Der Sänger wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn, nickte seinen Landsleuten zu und die Band begann mit einer Norteño-Nummer. Die Noten des keuchenden Akkordeons brachten Aragóns mexikanisches Blut in Wallung.

Bei dem musikalischen Richtungswechsel hörte Anjelina auf, mit ihren Freundinnen zu tanzen, verschränkte die Arme und sah ihren Vater mit gespielter Frustration an. Dann brach sie in dieses lebensbejahende Lächeln aus, unmöglich symmetrisch, unmöglich breit. Das Lächeln ihrer Mutter Belicia, die hier an Aragóns Seite sein sollte, anstatt in ihrem Schlafzimmer vor sich hin zu vegetieren.

Anjelina schlug die hohen Absätze in ihrer Hand zur Seite, die Männer klatschten und jubelten, die Frauen trällerten und sie wirbelte und glitt umher, ihre üppigen braunen Locken umspielten ihre Augen, ihr goldenes Medaillon baumelte knapp unter ihren glitterverklebten Schlüsselbeinen. Einige Jungen umringten sie und klatschten, aber keiner wagte es, sie zum Tanzen aufzufordern, nicht mit Aragón unter demselben Dach, der die Feierlichkeiten mit strenger Bevormundung und einem Profil, das der Rückseite einer Münze würdig war, überwachte. Und schon gar nicht mit seinen Männern, die rund um das Festgelände postiert waren, die Hände an den Gürtelschnallen verschränkt, die Jacken an den Hüften ausgebeult. Und so hielten sich die jungen Männer respektvoll zurück und warteten in der Hoffnung, dass Anjelina ihren Partner für den Walzer wählte.

Der Esposito-Junge saß verkrampft auf einem Stuhl am Rand und schaute im Schatten seiner Mutter zu. Zwölf Jahre alt, seine Schienbeine ragten auf beiden Seiten aus den klumpigen Schuhen. Die Arme, die mit Ellbogenschienen versehen waren, weit ausgestreckt, als ob er eine Umarmung erwartete. Letztes Jahr hatte Aragón ihn in die Cerebralparese-Klinik des Cook Children’s in Fort Worth einfliegen lassen, damit er neurologisch untersucht und mit Karbonfaserprothesen versorgt werden konnte.

Anjelina wurde langsamer, die Hüften schwankten. Ihre Bewegungen waren geschmackvoll, wenn auch nicht reizlos. Sie musterte die Möglichkeiten, die sich ihr boten. Die jungen Männer, die sie umringten, präsentierten ihre besten Bewegungen, ihre besten Gesichter, ihre Augen glänzten, waren begierig.

Aber sie schaute durch sie alle hindurch zu Nico Esposito. Dann ließ sie sich zum Tisch des Jungen treiben, während sich die Menge teilte. Als sie vor ihm in die Hocke ging, leuchtete sein Gesicht, das seit Jahren nur Schmerz kannte, vor Freude auf. Sie nahm seine Hände und half ihm auf die Beine.

Behutsam ging sie rückwärts und ermutigte ihn, auf die Tanzfläche zu gehen. Er watschelte nervös auf seinen Stützschuhen. Sie war sechs Jahre älter und einen Kopf größer, und doch fand Nico eine Festigkeit in seiner ruinierten Wirbelsäule, die sich dem Moment stellte, weil ihre Aufmerksamkeit es verlangte. Die Prothesen hielten seine Arme in der Höhe, ein steifes Gerüst für den Paartanz. Die Klettverschlüsse verfingen sich an Anjelinas Kleid, bis sie sich auch darauf eingestellt hatte.

Sie hielt ihn fest, um ihm das Gleichgewicht zu erleichtern und die Illusion zu erwecken, er würde führen. Plötzlich bewegte er sich in ihren Armen und sie sich in den seinen und er strahlte, für den Moment aus dem Gefängnis seines Körpers befreit. Die anderen jungen Männer überwanden ihren Neid und klatschten mit, johlten und klopften Nico auf die Schulter, als Anjelina ihn in das Gewühl der Körper mitnahm. Er schwitzte. Ein Schimmer überzog sein Gesicht, und doch war sein Grinsen unbelastet. Sie bewegten sich schneller; schneller, bis zum Crescendo. Und obwohl es beinahe unmöglich war, tanzten sie den Walzer zu Ende und lösten einen Hagelsturm von Jubelrufen aus.

Anjelina führte Nico zu seiner Mutter zurück, setzte ihn auf seinen Stuhl und hockte sich vor ihn. Selbst auf der anderen Seite der Tanzfläche konnte Aragón ihre Lippen lesen: Danke für den Tanz, guapo.

Nicos dunkle Augen leuchteten. Sein Gesicht war gerötet von dem Wunder, an dem er soeben mitgewirkt hatte.

Aragón bemerkte, dass seine eigenen Wangen feucht waren. Und doch schämte er sich nicht. Wie sie alle war er gesegnet, die gleiche Luft wie seine Tochter zu atmen, sie zu bewundern und zu wissen, dass ein Teil von ihr ihm gehörte und ein Teil von ihm ihr.

La Tía griff über den Tisch und nahm Aragóns Hand. Ihre Handfläche war trocken, die Haut wie Papier. Ihre Knöchel waren von Arthrose gezeichnet, aber sie trug trotzdem große türkisfarbene Ringe an allen Fingern. Über die ausgeprägten Falten hatte sie Abdeckcreme, Rouge, Lidschatten und Lippenstift aufgetragen. Weder Alter noch Gebrechen konnten den Geist einer mexikanischen Matriarchin dämpfen.

»Mein Junge«, sagte sie. »Jetzt hältst du deinen Toast. Sprich zu deiner Tochter.«

Aragón trat vor, und die über hundert Menschen im Gemeindezentrum nahmen es gehorsam zur Kenntnis. Die Jungen in der billigen Kleidung, die die Kirche verteilte, die Männer in ihren zweifarbigen Polyesteranzügen und die Frauen, die einfarbige Schals trugen. Ehrfürchtige Blicke schöner brauner Augen und der Dunst von Eau de Toilette in der Luft. Und alle warteten sie auf seine nächste Bewegung.

Als Aragón seiner Tochter auf der anderen Seite der Tanzfläche gegenüberstand, streckte er die Hand aus und sein Leibwächter, Eduardo Gómez, materialisierte sich aus dem Nichts und platzierte eine Sektflöte aus Kristall darin.

Aragón begann seine Ansprache. »Heute wirst du 18 Jahre alt.« Er hielt inne, überrascht von der Emotion, die in seiner sonst so sonoren Stimme mitschwang. »Du wirst vor dem Gesetz eine Erwachsene. Für mich und deine Mamá –die sich von ganzemHerzen wünscht, hier zu sein – ist das wie ein Wunder. Und doch auch bittersüß.«

»Es tut mir leid, Papá.« Anjelinas Augen waren feucht, ihre schlanken Finger an ihrem goldenen Medaillon.

»Du entschuldigst dich zu oft«, sagte er. »Das musst du nun ablegen, um eine Frau zu sein.« Er wandte sich der Menge zu und erhaschte einen Blick auf sich selbst in der Spiegelung des großen Fensters. Breite Schultern, vom Alter unverändert. Groß, markante Züge. Abstoßend und zugleich doch gutaussehend, männlich, wie Carlos Fuentes oder Charles Bronson. »Unsere Kinder werden erwachsen und es tut uns im Herzen weh, aber sie müssen wachsen dürfen, brauchen Platz, sich zu entfalten.« Er schwenkte das Glas zu seiner Tochter, das Festgetränk fing das Licht, sprudelnd und schwappend. »Man sagt uns, es geht so schnell vorbei. Blinzle und sie sind erwachsen. Aber die Sache ist die...«

Er spürte, wie sich seine Stimmbänder verknoteten und hielt noch einmal inne, um sich zu sammeln.

»Für mich ging es nicht schnell vorbei. Ich habe keinen einzigen Moment verpasst. Nicht, als du einen Atemzug alt warst und ich dich an meine Brust gedrückt habe. Diese ersten Schritte auf dem Rasen vor der Kirche, wie du gefallen bist und wieder aufgestanden. Drei Jahre alt in Höschen und Sandalen und du erobertest die Kücheninsel, klappernde Töpfe und Pfannen auf dem Küchenboden. Dein erster Zahn fiel aus. Ich erinnere mich daran, wie ich an der Tür deiner Klavierstunde lauschte, während du dich mit dem Fingersatz für »Here Comes the Sun« herumquältest. Ich habe dich von der Cross-Country-Praxis abgeholt, als du noch eine Zahnspange und einen unordentlichen Pferdeschwanz hattest, und diese schreckliche Musik, die du auf der Fahrt in deinen Deostift gesungen hast – wer war das?«

Anjelina drückte sich die Hand an ihren Bauch, um Weinen und Lachen zu bändigen. »Ed Sheeran.«

»Ja. Ja. Sheeran. Und der schlechte Haarschnitt, den du vor deiner Konfirmation hattest. Dein erster Tanz. Der Autounfall...« Er bekreuzigte sich. »Unsere Reise nach Zihuatanejo während der Semana Santa und der Streit um den String-Bikini...«

»Es war kein String-Bikini, Papá!«

»Du hast recht. Eher Zahnseide.« Gelächter erfüllte den Raum. »Ich habe dich mit Eiswürfeln gefüttert, als deine Weisheitszähne rauskamen. Du hast dich in der Nacht, in der wir Lulu einschläfern mussten, in den Schlaf geweint. Und jetzt dein Achtzehnter...« Er hielt inne, seine Augen quollen über. Er räusperte sich. Und noch einmal. Der Raum wartete auf ihn. Er hob seinen Blick noch einmal zu ihr. »Ich habe keine Sekunde von dir verpasst.«

Hitze in seiner Brust. Seiner Kehle. In jedem Übergangsritus, in jedem Lebensmoment gibt es, wenn man genau hinschaut, einen Herzschmerz. Nicht ein Zerschmettern oder Zerbröckeln des Herzens, sondern ein Aufbrechen, um mehr Platz zu schaffen. Mehr Gefühl, mehr Verständnis, mehr Raum für die Grausamkeit der Zeit, ohne die es keine Schönheit, keine Bedeutung geben kann. Und dieser nun war so viel größer als alles, was er hier – inmitten der billigen Geburtstagsdekoration und der falschen Holzvertäfelung und dem Duft von Koriander und Tafelwein – vermitteln konnte. Sie hatte ihn gerettet. Sie hatte ihm Leben eingehaucht. Sie hatte ihn zivilisiert, ihn in einen Menschen verwandelt.

Im Gemeindezentrum war es still. Das Quietschen eines Schuhs auf der Tanzfläche. Jemand hustete. La Tía hielt ein zerknülltes Taschentuch bereit. Konnte die Emotionalität dieses Moments sogar ihr eine Träne entlocken?

Aragón räusperte sich. Er hob die Sektflöte. »Hija de mi alma. Auf dich. Den besten Menschen, den ich kenne.«

Der Saal klatschte Beifall, mehr aus Erleichterung als aus Ergriffenheit. Er trank einen Schluck, stellte sein Glas ab und die Band spielte eine schwungvolle Westernnummer. Anjelina wischte sich über das Gesicht und hielt ihm die Arme hin, lud ihn zur Umarmung ein – mitten auf der Tanzfläche. Er hielt inne, um sie zu bewundern. Ihre dunklen Augen hatten eine unmögliche Größe, die ihn in die Zeiten zurückversetzte, als sie zwei, sieben, dreizehn war. Vielleicht war das Altern nichts anderes als die Fähigkeit, die Vergangenheit in der Gegenwart zu sehen, die Gesamtheit einer Seele auf einmal zu begreifen. Vielleicht war es, was auch die Liebe war.

Als er sich auf den Weg zu ihr machte, fasste Eduardo ihm sanft an den Bizeps. Als Aragóns rechte Hand war ihm eine zwanglose Nähe erlaubt, die Aragóns andere Männer nicht wagen würden. »Die Sache, die wir besprochen haben, Patrón«, sagte er leise. »Sie erfordert Ihre Anwesenheit. Er wartet im Zimmer nebenan.«

Aragón zögerte und betrachtete seine Tochter noch einmal durch das Gedränge. Eine ihrer Freundinnen – Teresa, die doch sehr feminine – zerrte an ihrer Hand und zog sie auf die Tanzfläche.

Eduardo ließ Aragóns Arm los und neigte auffordernd den Kopf zur Tür hinter ihnen.

Aragón gestikulierte seiner Tochter: Bin gleich wieder da.

Noch bevor sie antworten konnte, wurde sie in das Getümmel auf der Tanzfläche hineingezogen. Er folgte Eduardo nach draußen, während sich seine anderen Männer in seinem Rücken versammelten.

Er hatte nicht annähernd so viele Feinde wie früher, aber es gab immer noch genug.

Selbst um zehn Uhr nachts klatschte ihm die südtexanische Luftfeuchtigkeit wie ein nasser Lappen ins Gesicht. Sie hatten Chucho Ochoa in das Verwaltungsgebäude nebenan gebracht. Das war wichtig für die Diskretion. Für das, was noch kommen würde, waren angrenzende Wände zu der Feier nicht gerade von Vorteil.

Als sie die Lobby betraten, summte Eduardo vor sich hin, ein weiterer Tick, der ihm den Spitznamen »Special Ed« eingebracht hatte. Er trug Make-up, um die Aknenarben auf beiden Wangen zu verbergen, eine Besonderheit, die die anderen zwar bemerkten, aber nicht zuzugeben wagten. Vom Blinddarm bis zur oberen Leiste hatte er eine Pistole tätowiert, so dass es, wenn er sein Unterhemd lüftete, so aussah, als hätte er eine Waffe in seinem Gürtel stecken. Im Moment war die Tinte überflüssig, eine Glock 21 mit einem glänzenden, hartverchromten Schlitten ruhte über der Tätowierung; wie bei einem Ausmalbild.

Hinten in der Lobby ließ sich Chucho in einen Vinylstuhl fallen, als wäre es der elektrische Stuhl. Abgesplitterte Nägel von der Arbeit auf den Sorghumfeldern, Jeans mit Schmutzrückständen an den Knien, Sonnenschäden, die sein Gesicht mittleren Alters zu dem eines Siebzigjährigen hatten reifen lassen. Ein unscheinbarer Mann mit einer Habichtsnase, dessen Hautfalten sich wie Stoff um die Augen legten. Sein Gesicht zitterte. Er war kurz davor zu weinen, und seine Hand bewegte sich in seinem Schoß hin und her, fast wie bei einem Krampf.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Lobby, so weit weg von Chucho, wie es der Raum zuließ, saßen Silvia Vélez und ihre 19-jährige Tochter Celina. Ein hübsches Mädchen, dunkel glänzendes, glattes Haar. Voll das Gesicht, die Brust, die Hüften. Sie hatte sich an die Seite ihrer Mutter gekuschelt, die Füße unter den Stuhl gezogen, das Gesicht an den Busen ihrer Mutter gedrückt. Ihr Hemd war hochgerutscht und enthüllte einen Streifen straffer Haut an der Taille. Ihr rechtes Auge rahmte ein Bluterguss. Silvia sah müder aus, als Aragón sie je zuvor gesehen hatte. Die Augen niedergeschlagen, als wollten sie sich in ihren Schädel verkriechen. In den letzten fünf Jahren hatte sie in Eden hart gearbeitet und ihrem Mann in Reynosa Geld geschickt.

Wie die etwa 100 Party-Gäste nebenan gehörten auch sie zu Aragóns Leuten. Die Bewohner von Eden waren sein Volk. Sie blühten im Licht seiner Gnade auf und verdorrten in seiner Abwesenheit.

Aragóns Nummer Drei, Enrique Pérez, stand im hinteren Teil des Raumes, verborgen im Schatten. Die Daumen um den breiten Ledergürtel geschlungen, zusammen mit dem Holster seiner überkompensierenden Dirty Harry S&W .44 Magnum. Seine Cowboystiefel hatten hohe Absätze, um seine Körpergröße zu wettzumachen. 1.75. Ein aufgeblähter Bierbauch spannte sein Polohemd, das in seiner Gürtelschnalle steckte. Ein struppiger Schnurrbart versuchte, seinem süßen, sanften Gesicht Ernsthaftigkeit zu verleihen. Er nannte sich »Kiki«, was ihm, zusätzlich zu seiner Komplizenschaft mit Eduardo, den unvermeidlichen Beinamen »Special K« eingebracht hatte.

Kiki hielt seinen Kopf wie immer nach hinten geneigt, entweder in einer vermeintlichen Selbstgerechtigkeit oder um die Röllchen an seinem Kinn zu glätten. »Patrón …«, sagte er.

Aragón schritt über den offenen Boden zwischen den Reihen hässlicher Stühle. Sie waren billig gepolstert und mit rissigem, blaugrünem Vinyl bezogen, Armlehne an Armlehne, wie in einem Krankenhaus oder einer Zulassungsstelle. Seine Männer verteilten sich im Raum und stellten sich an den Wänden auf. Chucho schob sich nach vorne, die Ellbogen stützten sich auf den Knien ab, seine Augen hoben sich nur so weit, dass er die Spitzen von Aragóns Stiefeln sehen konnte. Schon bei dieser kleinen Bewegung stieß Celina einen kleinen Schrei aus und kuschelte sich noch mehr an ihre Mutter. Ihre kindliche Ausstrahlung stand in krassem Widerspruch zu ihrem weiblichen Körper. 19 war ein so verwirrendes Alter für Mädchen. Verwirrend für sie und für Männer, die sich nicht zurückhalten konnten. »Es tut mir leid, Don Urrea«, sagte Chucho, seine Stimme war sanft und demütig. »Ich konnte mir nicht helfen.«

»Du konntest nicht anders.« Aragón schritt hinüber und starrte auf Chucho hinab, bis dieser den Blick hob. »Willst du ihr diese Macht geben? Willst du dich von einem neunzehnjährigen Mädchen reduzieren lassen? Ein Ehemann? Ein Vater? Ein Sohn? Dich zu einem Wilden degradieren lassen?«

»Es tut mir leid, Don Urrea. Ich hatte einen langen Arbeitstag hinter mir. Sie ging am Straßenrand entlang und trug ein enges Kleid. Sehr freizügig.«

»Ich spare für neue Kleider«, knurrte Silvia und tätschelte ihrer Tochter den Kopf. »Es war kein freizügiges Kleid. Es war zu klein.«

»Bitte, Doña Vélez«, sagte Aragón. »Erlauben Sie mir.« Silvia verstummte. Er wandte sich wieder an Chucho. »Hat Celina um deine Aufmerksamkeit gebeten?«

»Es war unmöglich, sie ihr nicht zu geben.«

»Unmöglich.« Aragón probierte das Wort aus und fand, dass es ihm nicht gefiel. »Hat sie sich dir widersetzt?« Chucho faltete seine Hände und starrte auf sie hinunter. »Manchmal mögen Mädchen es, wenn ein Mann das Sagen hat.« Auf der anderen Seite der Halle schniefte Celina und bedeckte ihr freiliegendes Ohr mit der Handfläche. »Aber sie tat das nicht und das hat sie dir gesagt«, sagte Aragón. »Frauen sollten niemals dominiert werden. Wenn du eine Frau willst, musst du sie dir verdienen.«

»Sie haben recht, Don Urrea. Ich schäme mich.« Aragóns Brust füllte sich mit kaltem, brennendem Zorn, eine Flamme in einem Block aus Eis. »Schande«, sagte er. »Männer dürfen diese Art von Scham haben. Weißt du, was eine Frau hat? Furcht. Angst davor, dass ein Mann wie du daherkommt, sie aufreißt und in sie eindringt. Dass du ihr das Augenlicht nimmst, ihr nimmst, was sie dir nicht geben will. Dass sie den Gestank von dir für den Rest ihres Lebens in Erinnerung behalten muss. Dass sie dich in der Dunkelheit jedes Raumes sehen wird, den sie betritt, bevor sie das Licht anmacht. Dass sie dich in der Hochzeitsnacht aus ihren Erinnerungen herausbekommen muss. Dass sie zugrunde geht, weil sie gelernt hat, dass sie auf ein Ding reduziert werden kann, weil manche Männer«, und hier hielt er inne, um seiner Verachtung Raum zu schaffen, »nicht anders können.«

Während Aragón sprach, erschlaffte Chucho in seinem Stuhl, die Schultern sanken nach unten, die Arme verschränkten sich nach innen.

»Und«, sagte Aragón, »sie hat auch Scham. Nicht dein Schamgefühl. Deine Scham ist ein Luxus. Ihre Scham ist ein Fleck, den du auf ihre Seele gelegt hast.«

»Es tut mir leid.« Chuchos Worte kamen vom Schluchzen verzerrt. »Es tut mir leid, Don Urrea.«

»Erinnerst du dich an Juan Manuel Marín?«

Chucho brach zusammen, sein Kopf hing herunter, die Wirbel ragten wie Knöchel am Ansatz seines Halses empor. Er schüttelte sich und sabberte ein wenig auf sein Knie. »Bitte, Don Urrea. Bitte, nein.«

»Erinnerst du dich an ihn?« Unfähig, Worte zu finden, nickte Chucho. Jeder in Eden erinnerte sich. Vor ein paar Jahren hatte Marín eine Schulfreundin von Anjelina auf ähnliche Weise misshandelt. Bei Sonnenaufgang des nächsten Tages fand er sich nackt an ein Straßenschild in Matamoros gefesselt, der Stadt im Süden der Grenze, aus der die Familie des Mädchens stammte. Dort lebten noch 16 ihrer Verwandten, zehn davon männlich und fähig, mit der Metallsäge umzugehen.

»Du hast zwei Möglichkeiten«, sagte Aragón zu Chucho. »Du kannst die Sonne morgen früh in Reynosa begrüßen. Oder wir nehmen dir alle zehn Finger bis zum ersten Fingerknöchel ab.«

Ein unmenschliches Heulen entwich Chucho. »Du wirst genäht werden dürfen.«

»Bitte…«, schluchzte Chucho. Er griff nach Aragóns Hand, aber Aragón hielt sie schlaff, bis er sie losließ. »Bitte! Wie soll ich arbeiten? Meine Familie?«

»Ich werde mich um Daniela und deine Söhne kümmern. Es wird ihnen an nichts mangeln.«

»Nein!«, sagte Chucho. »Nein, nein, nein!«

»Nicht auf das Böse zu antworten, ist das größte Übel von allen«, sagte Aragón. »Und ich werde nicht zulassen, dass du mich in deine Sünde verwickelst. Wähle.«

»Don Urrea, ich flehe Sie an...«

»Wähle!«

Chucho zuckte zurück, die Haare fielen ihm in die Augen, die Brust hob sich. Er starrte Aragón an, aber der gab nichts preis. Er war eine Mauer aus Stein.

Chucho schüttelte den Kopf wie ein Kind und unterdrückte ein Schluchzen.

Und dann – langsam, ganz langsam – streckte er seine Hände aus und bot seine zitternden Finger an.

Kiki griff in seine Gesäßtasche, holte eine Gartenschere heraus und reichte sie Special Ed.

Urrea wandte sich an Silvia und Celina. »Señoritas«, sagte er. »Ihr könnt bleiben oder nicht, wie ihr wollt.«

Celina riss sich von ihrer Mutter los und stürzte hinaus, die Hand vor den Mund gepresst. Silvia richtete sich in ihrem Stuhl auf. »Ich werde jede einzelne Sekunde beobachten.«

»Dann überlasse ich Sie der Obhut meiner Männer, Doña Vélez.«

Chucho rutschte aus seinem Stuhl, plumpste auf den Fliesenboden und rollte sich in eine lockere Fötusstellung. Eduardo trat an ihn heran und betätigte den Sicherheitsverschluss der Schere, woraufhin sich die federbelasteten Klingen mit dem Geräusch gezupften Drahts öffneten.

Aragón ging hinaus und schloss die Tür fest hinter sich.

Der Wind kratzte zwischen den Gebäuden und übertönte den Lärm von Chuchos Heulen und den Klang der Party. Ein Steppenläufer hüpfte durch den Korridor, ausgebrochen aus einem Gary Cooper-Film. Aragón hielt inne, um zu beobachten, wie er über den Zaun in den ewigen Dreck hinausfegte. Er konnte den Schotter in der feuchten Luft schmecken. Dieses gottverlassene Land.

Er schwang die Tür zum Tanzsaal auf und blieb auf der Schwelle stehen. Der Atem stockte ihm in der Brust. Es war sofort klar, dass etwas Schreckliches geschehen war. Die Gäste standen unbeweglich auf der Tanzfläche, die Band schwieg, die Instrumente gesenkt. Eine Serviette wirbelte über dem Podium, gefangen in einer Strömung von... was? Da! Das große Fenster zerbrochen, die hintere Tür schwankte in ihrem Rahmen, als sei sie aufgeschlagen worden. Ein Trio umgestürzter Stühle und der Buffettisch, der schief stand.

»Was ist passiert?« Aragóns Stimme schien von weit her zu kommen. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit hörte er Panik in ihr.

Die Gäste starrten ihn mit großen Augen an – wie eine Gartenstatuen. Das Make-up von La Tía verlief in sauberen Bahnen über beide Wangen, ihr Blick war glasig. Durch den Schlund des Fensters heulte der Wind.

Aragón drehte sich um und betrachtete den Raum. Alles war falsch. »Was ist passiert?«

Arnulfo stand an der Hintertür und hielt sich ein rotes Taschentuch vor den Mund. Nein, nicht rot. Zumindest nicht ursprünglich. Er senkte das Tuch, seine Unterlippe war aufgerissen, zwei Hautfetzen hingen lose herunter. Während er sprach, tropfte das Blut über sein billiges Kellnerhemd.

»Sie haben sie mitgenommen!«, sagte er, und die Worte verschwischten in den Trümmern seines Gesichts. »Sie haben unsere Anjelina mitgenommen!«

2 Höhle des Bösewichts

Der ramponierte Transporter fiel zunächst niemandem auf. Getönte Windschutzscheibe, keine Heckscheiben an den Metalltüren, nur ein Fahrzeug, das langsam auf einen Parkplatz rollt. Das Einzige, was fehlte, war das in tropfenden Buchstaben auf die Seite gesprühte Gratis-Bonbons.

Mexikanische Tagelöhner säumten den Bordstein des Baumarkts, die Finger um glimmende Zigarettenstummel gekrallt. Flanellhemden und Jeans – immer Jeans – schützten sie vor stacheligem Gestrüpp oder splitternden Dachschindeln oder was auch immer ein Tag der Schwarzarbeit mit sich bringen mochte.

Die nächtliche Düsternis hatte sich endlich verflüchtigt, und die August-Sonne von Los Angeles ragte um sechs Uhr morgens wie ein Speer über den Horizont. Die Luft roch nach Tankstellenkaffee und heißem Müll, der von der Containerreihe herüberwehte.

Als der Lieferwagen vor ihnen auftauchte, schnippten die Männer ihre Zigaretten weg und richteten sich auf, wobei sie eine entweder hochmütige oder demütige Haltung einnahmen. Nimm mich, nimm mich.

Keine Bewegung hinter der getönten Windschutzscheibe. Aus dem rasselnden Auspuffrohr trat Abgas aus. Endlich öffnete sich die Fahrertür. Ein Original S.W.A.T.-Boot trat auf den glühenden Asphalt.

Der Gringo, der daran hing, hatte eine ruhige Art und eine Stille, die die Welt um ihn herum – das halbe Dutzend Arbeiter, die in ihren Stahlkappenschuhen umherwippten, die zusammengeknüllten Fast-Food-Verpackungen, die im Rinnstein herumwehten, die Pendler, die auf dem Van Nuys Boulevard endlos vorbeirauschten – vor nervöser Energie flattern ließ. Er war nicht besonders groß oder muskulös.

Ein ganz normaler Typ, nicht besonders hübsch.

Die Mexikaner steckten die Daumen in die Gürtelschlaufen, zogen die Schultern zurück und reckten stolz ihr Kinn in die Höhe. Nimm mich, nimm mich.

Der Gringo wandte sich an den wohlgenährten Arbeiter, der sich von der Wand geschält hatte. »Sprichst du Englisch?«

Der Arbeiter nickte, wobei sich sein Doppelkinn verdreifachte. »Das tue ich.«

»Was ist der Tagessatz?« Der Arbeiter zupfte an seinem schlaffen Schnurrbart. »Hundert pro Tag, mein Freund. Das ist für acht Stunden. Dann zwanzig pro Überstunde. Wenn Sie mehr von uns wollen, kümmere ich mich um das Geld.«

Der Gringo nickte.

Die anderen richteten ihre dunklen Augen auf ihn. Der Jüngste hatte eine glänzende Narbe auf dem Unterarm, wahrscheinlich von einer Tätowierung, die mit einem Messer entfernt worden war. Der Mann neben ihm trug eine Jeans mit Flicken an den Knien, die so oft neu vernäht worden waren, dass der umliegende Jeansstoff fadenscheinig geworden war. Er lächelte freundlich und zeigte einen Vorderzahn, der bis auf einen Stummel abgebrochen war.

Der dicke Arbeiter sagte zu seinen Kollegen: »Nos está ofreciendo ochenta al día para diez horas.«

Die Männer blickten auf den Bürgersteig hinunter. Die Wangenknochen waren roh vor Unterernährung. Falsche goldene Kreuze glitzerten auf ihrer Brust. Sie nickten resigniert, waren nicht in der Lage, zu verhandeln.

Der Junge mit der Narbe am Unterarm hob seinen Blick zu dem Gringo. »Gracias, señor«, sagte er. Dann zwang er sich, ein paar Brocken Englisch zu sprechen. »Wir... arbeiten hart für Sie.«

Der Gringo schaute an dem dicken Arbeiter vorbei und wandte sich an die anderen, wobei er in nahtloses Spanisch wechselte. »Ihr fünf seid angestellt. Ihr werdet fair behandelt. Ich komme um Mitternacht wieder hierher und hole euch ab. Ich zahle jedem von euch 1000 Dollar für sechs Stunden Arbeit.«

Die Männer versteiften sich und sahen sich gegenseitig an. Bis auf den großen Mann, der den Gringo anfunkelte.

Der Gringo ignorierte ihn. Er ging zurück zu seinem Wagen. Hielt inne und drehte ihm den Rücken zu. »Trauen Sie Ihrem Freund hier nicht mehr. Er versucht, Ihren Lohn zu stehlen.«

Der Gringo kletterte in seinen Van. Und fuhr davon.

Um 23:59 Uhr kehrte der Lieferwagen zum Home Depot zurück. Die fünf Arbeiter vibrierten vor Aufregung. Sie wollten nicht glauben, dass es wahr war, dieses magische Angebot. Aber auch Nervosität war zu spüren. Welche Art von Arbeit war 1000 Dollar pro Tag wert? In den Armenvierteln von Los Angeles waren sie schon oft mit Perversion und Laster in Berührung gekommen. Zu Hause in Sinaloa hatten sie Schlimmeres ertragen müssen.

Sie hatten Angst, aber sie waren bereit.

In Culiacán hatten sie Mäuler zu stopfen. Und Polleros, die eine zusätzliche Bezahlung dafür verlangten, dass sie sie hierherbrachten. Die wussten, wo ihre Frauen und Töchter schliefen.

Aber der Gringo war ehrlich zu ihnen gewesen. Er hatte die Wahrheit über Gordos Täuschung angesprochen. Das bedeutete, dass man ihm trauen konnte. Oder etwa nicht?

Der Gringo stieg aus dem Transporter aus und öffnete den Kofferraum. Auf beiden Seiten waren Bänke aufgestellt. Die Männer waren mit dem klaustrophobischen Transport vertraut. Ganz wie in dem alten Witz: »Warum nahm Santa Anna nur 6000 Mann mit nach Alamo? Weil er nur einen Chevy hatte.«

Die Arbeiter kletterten hinein. Die Türen schwangen hinter ihnen zu. Zwischen ihnen und der vorderen Kabine befand sich eine Barriere. Sie konnten nicht sehen, wohin sie gingen.

Als der Wagen abfuhr, rüttelte es sie auf ihren Sitzen wie Insassen eines Gefängnisbusses. Auf dem Weg nach Gott weiß wohin.

Sie rumpelten über Bahngleise und bogen dann in einer weiten Kurve ab, vielleicht auf eine Autobahn. Sie wussten nicht, ob sie zehn Minuten oder zehn Stunden unterwegs sein würden. Wenn sie genau aufgepasst hätten, wäre ihnen vielleicht aufgefallen, dass sie in einer riesigen Schleife gefahren wurden. Und dann noch eine. Und dann noch eine.

Eine Stunde und siebzehn Minuten später fuhr der Wagen über einen Bordstein und sank abrupt ab.

Er hatte geparkt.

Die Männer hörten, wie die Fahrertür geöffnet und dann geschlossen wurde. Schritte entfernten sich. Dann kamen sie zurück.

Die hinteren Türen des Lieferwagens klafften auf. Der Gringo starrte zu ihnen hinein. »Kommen Sie mit mir. Schnell.« Sie liefen durch eine betonierte Tiefgarage. Die Lichter waren ausgeschaltet. Sie stiegen eine kurze Treppe hinauf. An der Seite der Tür befand sich ein Schild, das jedoch mit einem Quadrat aus Pappe abgedeckt war. Sie traten in das Gebäude ein. Es war mucksmäuschenstill. Vor ihnen lag eine Art Lobby, aber der Gringo lenkte sie sofort durch einen hinten herumführenden Gang zu einem Dienstaufzug, dessen Türen wartend offenstanden.

Sie stiegen ein und fuhren hoch. Die Etagenanzeige war mit Klebeband überdeckt. Keiner der Männer redete. Auch der Gringo sprach nicht. Sie könnten zehn oder 30 Stockwerke hochgefahren sein.

Als der Aufzug anhielt, gingen sie einen mit Bauteppich ausgelegten Flur entlang zu einer Tür. Die Wohnungsnummer war ebenfalls mit Pappe überklebt worden.

Der Gringo schloss sie auf.

Der Innenraum war nicht sichtbar. Zu beiden Seiten der Türöffnung waren Bauplatten aufgehängt worden, die einen schmalen Weg vom Eingang durch das Innere beschrieben. Weitere Planen verdeckten den oberen Teil des Labyrinths und bildeten eine niedrige Decke. Die Männer drängten sich zusammen und folgten dem Gringo, als ob sie in ein Kohlebergwerk eindringen wollten.

Sie gingen weiter den behelfsmäßigen Korridor hinunter, als es Sinn zu machen schien. Der Raum entfaltete sich schier endlos. Befanden sie sich in einem mehrstöckigen Lagerhaus? Einer Lagereinrichtung? Einem Versteck für Superschurken?

Sie erreichten einen offenen Raum. Die gegenüberliegende Wand war eine Reihe von riesigen Fenstern. Aber sie konnten nicht durch das Glas sehen; ein paar Meter hinter dem Gebäude war eine weitere Plane vermutlich in der Luft aufgehängt worden und versperrte die Sicht auf das Dahinterliegende. Ein genauerer Blick zeigte, dass die Fenster vorbereitet worden waren. Die Trockenbauwand war mit einem Brecheisen von den Rahmen entfernt worden. Fensterflügel, Federn und Anschläge lagen frei. Die Scheiben bereit zum Herausheben. Mehrere elektrische Sägen lagen auf Plastikplanen, ebenso wie Hämmer und Meißel, Abdichtungspistolen und Klebeband, Wasserwaagen und Bohrer, Handschuhe in verschiedenen Größen und Kannen mit Wasser und gelben Iso-Getränken.

Der Gringo schlug eine Plane von einem Stapel zur Seite und brachte einen Stapel riesiger Ersatzfensterscheiben zum Vorschein. Sie sahen genauso aus wie die, die entfernt werden sollten.

»Die neuen Fensterscheiben sind zu schwer, als dass ich sie allein heben könnte.« Der Gringo zog sein Hemd aus, so dass ein graues T-Shirt mit V-Ausschnitt zum Vorschein kam. »Aber ich werde mit ihnen arbeiten, bis sie angebracht sind. Ich möchte Sie bitten, so leise wie möglich zu sein. Den Rest kann ich selbst erledigen.«

Die Männer konnten den Unterschied zwischen normalem Glas und kugelsicherem thermoplastischem Polykarbonatharz nicht erkennen. Genauso wenig konnten sie wissen, dass der Nachbar, der direkt unter ihnen wohnte, im August in Urlaub war. Oder dass sie nicht die erste geheime Mitternachtsschicht von Arbeitern waren, die an diesen Ort gebracht wurden, um eine sehr spezifische Aufgabe zu erfüllen.

In Zweierteams schufteten sie. Prellungen, Schweiß, gelegentliches Grunzen, das Knacken eines Knies.

Der Junge mit der Narbe am Unterarm – Rogelio – bemerkte die Brandspuren auf dem Betonboden. Da er in Sinaloa aufgewachsen war, wusste er, wie die Nachwirkungen einer Explosion aussehen. Er wartete, bis der Gringo eine Wasserpause einlegte und fragte ihn dann: »Was ist hier passiert?«

Der Gringo nahm einen Schluck, wischte sich mit dem Unterarm den Mund ab und sah Rogelio an, als würde er seine Gedanken lesen.

In den Augen des Gringos stand eine Geschichte, die er nicht erzählen wollte.

3 Nicht die besten Voraussetzungen

Sechs Monate zuvor...

Evan Smoak befindet sich in der Luft und fällt. Die Druckwelle der Detonation in seinem Penthouse ist stark genug gewesen, um ihn von seinem Balkon herunter in die Häuserschlucht zu katapultieren. Kieselsteine aus kugelsicherem Glas regnen um ihn herum und fangen das Gold des Sonnenuntergangs auf. Der Atem der Explosion hatte die Haut an seinem Hals verbrannt. Nach seiner letzten Mission war eine Brandsatz-Drohne selbstständig zu seinem Schlafzimmerfenster geflogen und dort detoniert, was ihn wieder einmal mit Newtons zweitem Bewegungsgesetz vertraut macht. Eine lange Geschichte, deren Details im Moment nichts zur Sache tun, wo doch der Bürgersteig darauf wartet, Evans Milz mit seinem Gaumenzäpfchen zusammenzuführen.

Er hat alle anderen Bedrohungen beseitigt. Niemand ist mehr hinter ihm her, niemand kann ihn mehr ausschalten. Alles, was er noch tun muss, um frei und unversehrt zu sein, ist, in den nächsten Sekunden nicht zu sterben. Eine Hoffnung, deren Erfüllung immer unwahrscheinlicher erscheint.

Glücklicherweise boten die Lexan-Fenster und die diskret gepanzerte Markise einen gewissen Schutz vor der Explosion, so dass sich seine Knochen weiterhin in seiner Haut befinden.

Er hatte gerade noch genug Zeit gehabt, den Fallschirm aus seinem Versteck im Sukkulententopf auf dem Balkon zu reißen, bevor er aus dem 21. Stock in die Luft geschleudert worden war.

Aber er beschließt, für den Segen noch nicht zu danken.

Erstens hat er es nur geschafft, seinen linken Arm durch den Fallschirmgurt zu stecken; der andere Gurt flattert höhnisch vor ihm.

Zweitens dreht sich die Welt wie in einem Waschmaschinenwirbel um ihn herum. Drittens: Dies ist keine angemessene BASE-Jump Höhe. Er verbringt eine kostbare Viertelsekunde mit Rechnen. Er ist bereits unter den Rand seines Balkons gefallen. 20 Stockwerke mit luxuriösen fünf Metern pro Stockwerk ergeben ungefähr 100 Meter.

Für einen BASE-Sprung sind 30 Meter selbstmörderisch. 60 Meter sind idiotisch. Unter den besten Umständen sind 100 Meter optimistisch. Dies sind nicht die besten Umstände. Vernachlässigt man den Luftwiderstand, wird er mit 15 Metern pro Sekunde oder fast 150 Kilometern pro Stunde auf den Boden aufschlagen, ein überlebensfähiger Aufprall, wenn er auf einem Heuhaufen oder einer hohen Schneeverwehung landet, welche beide auf dem Wilshire Boulevard nicht sehr häufig vorkommen.

Das heißt, er hat weniger als sechs Sekunden, um sich etwas einfallen zu lassen. Jeder Zentimeter, jeder Augenblick, bedeutet Leben oder Tod. Er hatte den Fallschirm ohne Öffnungsverzögerer präpariert, was bedeutet, dass sich der Fallschirm mit der Geschwindigkeit eines Airbags öffnen wird. Zumindest, wenn er sich selbst ausbalancieren, den Rucksack in die richtige Position bringen und die Reißleine ziehen kann.

Die Fassade des Gebäudes verschwimmt. War das der 17. Stock? Nein, der 15. Er streckt sich aus, um mehr Luftwiederstand zu erzeugen und fädelt seinen freien Arm durch den flatternden Gurt. Er hat keine Zeit zum Anschnallen, aber er spürt, wie die Vinylbänder an seinen Schultern anliegen.

Der Boden nähert sich schneller. Er greift nach der Reißleine, verfehlt sie. Neunte Etage. Achte. Die rauschende Luft dröhnt in seinen Ohren, treibt ihm das Wasser aus den Augen. Er greift erneut zu, der Stahlgriff klopft über seine Fingerspitzen, tanzt.

Der Bürgersteig droht. Seine Hand schließt sich um die Reißleine. Fünfter Stock. Zu spät? Metall gegen seine Handfläche. Fest zupacken, reißen. Fooomp. Seine Schultern werden nach oben gerissen. Er spürt, wie sich die rechte Seite auskugelt, die Knochen knirschen, die Sehnen schreien. Sein Körper wird in zwei Richtungen gerissen; sein Oberkörper in den Himmel, seine Beine in die Hölle. Es ist, als wäre er zwischen den sich bekriegenden Kiefern eines weißen Hais und eines Pterodaktylus gefangen.

Kaum Zeit, den neuen Schrecken der Empfindungen zu registrieren, bevor er auf den Bürgersteig aufschlägt.

Er hört einen Knochen knacken. Der Bereich um seine Kniescheibe wird taub. Doch er ist sich weitgehend sicher, dass sein Gesicht noch an seinem Schädel befestigt ist.

Auf dem Bürgersteig steht die Sonne des Tages, sie blutet in seine Wange.

Eine in die Basis seines Gehirns eingebrannte Lektion flackert ins Bewusstsein: Der Schmerz gewinnt nur, wenn man ihn bekämpft. Wenn du dich dagegen wehrst, verkrampfst du deine Muskeln und schließt ihn in deinen Zellen ein. Wenn du ihn ganz einlässt, ihn durchspülen lässt, zeigst du ihm, dass du nicht von ihm besessen bist.

Er lässt ihn herein. Entspannt sich, so dass sein Körper nur noch weiches Fleisch ist, das über seine Knochen gegossen wird und mit dem Asphalt verschmilzt, weicher, weicher, weicher. Der Schmerz donnert durch ihn hindurch, wie ein Stacheldraht-Expresszug.

»Autsch!«

Auf der anderen Straßenseite lehnt ein Weißer mit verfilzten Dreads und gehäkelter Rastakappe an seinem VW Käfer, einen Vape Pen vor dem perfekten O seines fassungslosen Mundes. Eine Brise weht durch Evans Haare und trägt den Gestank von Gras heran.

Zu spät versucht er, die Schultergurte abzustreifen.

Bevor er das tun kann, füllt der Wind die Plane und reißt Evan aus seinem Kreideumriss. Er schleppt ihn zwei Meter über den Bürgersteig und schleudert ihn gegen eine Parkuhr. Er hört eine Rippe knacken.

»Autsch!«

Der weiße Rastafari joggt herbei. Seine Augen sind rot umrandet, ebenso wie seine Nasenlöcher. Er scheint unter Schock zu stehen, zittert wie ein Chihuahua und blickt auf Evan herab. »Bro!«, sagt er. Und dann, mit mehr Gefühl: »Bro ….«

Evan geht in die Knie, die Fingerknöchel einer Faust auf den Beton gepresst, wie ein Superheld, der aus großer Höhe gelandet ist. Er erhebt sich, jeder einzelne Wirbel beschwert sich.

Einundzwanzig Stockwerke höher bläst eine zweite Explosion weiteren Nebel aus vormals kugelsicherem Glas heraus. Aus den Öffnungen des Penthouse dringt Feuer.

Der Rasta-Dude starrt hoch. Sein Mund hat sich immer noch nicht geschlossen. »Wie hat das Feuer angefangen?«, fragt er mit gedämpfter Stimme.

Stöhnend kriecht Evan aus den Riemen des Rucksacks und lässt den Wind den Fallschirm über Wilshire davonziehen.

»Durch eine Kleinigkeit.«

4 Schutz vor dem Schutz

Mit der Morgendämmerung kam der Lieferwagen wieder am Home Depot an. Im Osten hingen tiefe wattige Wolken, wo die Berge auf den Himmel trafen, blassblau und lavendelfarben. Los Angeles ist am verführerischsten, wenn es den Tag beschließt. Eine Stadt mit einer Million Geheimnissen, die es zu bewahren gilt, und einer Million Versprechen, die nur darauf warten, gelüftet zu werden. So viel Betrug und Hässlichkeit, die sich unter dieser violetten Pracht verbergen.

Da stand Gordo, allein vor der Stuckwand, als wäre er nie weg gewesen. Es war wie bei einer polizeilichen Gegenüberstellung, sobald die unschuldigen Verdächtigen verschwunden waren. Er starrte auf den herannahenden Lieferwagen, der direkt hinter ihm zum Stehen kam.

Der Gringo stieg aus und schwang die hinteren Türen auf.

Als die Arbeiter herauskamen, verteilte er gummierte Rollen mit Hundert-Dollar-Scheinen und dankte ihnen für ihre Arbeit. Sie nickten und lächelten, zeigten ramponierte Zähne und eine Art tiefer, ehrlicher Dankbarkeit.

Als die anderen abdrifteten, hielt Rogelio inne und kratzte sich an der glänzenden Narbe an seinem Unterarm. »Die Explosion«, sagte er. »Sie hat die Gasleitung getroffen?«

Der Gringo musterte ihn. »Wie kommst du darauf?«

Rogelio sagte: »Die Kleiderfabrik, in der ich als Junge in Culiacán arbeitete, hat das gleiche Schicksal erlitten. Der Besitzer war ein zuvorkommender Mann.« Er hob den Kreuzanhänger und presste ihn an seine Lippen – ein Zeichen des Respekts vor den Verstorbenen. »Aber irgendwann kann man nur noch so viel Schutz bezahlen, wie man einnimmt. Und an wen wendet man sich, wenn man Schutz vor dem Schutz braucht?«

»Das ist eine gute Frage.«

Drüben beim Gebäude fing Gordo an, mit den anderen Arbeitern zu streiten, aber der Gringo beachtete sie nicht.

»Diese Arbeit, die wir für Sie getan haben...« Rogelio kratzte weiter an seiner Narbe, seine Augen waren gesenkt. Er hielt die Geldrolle an seine Hüfte; er hatte sie noch immer nicht in seine Tasche gesteckt. »Ich würde gerne wissen, dass es keine schlechte Arbeit ist. Dass es niemandem schadet. Dass wir Ihnen nicht geholfen haben, wenn...«

»Wenn was?«

»Wenn Sie ein schlechter Mensch sind.« Rogelio befeuchtete seine Lippen. »Sind Sie ein schlechter Mensch oder ein guter?«

»Ich nehme an, beides.«

»Was machen Sie?«

»Ich helfe Menschen, die verzweifelt sind. Die sich an niemanden sonst wenden können. Die machtlos sind.«

»Haben Sie Macht?«

Der Gringo dachte darüber nach. »Ich weiß nicht, ob ich sie habe. Aber wenn ich versuche, anderen zu helfen, hilft das manchmal auch mir.«

Erst jetzt steckte Rogelio das Geld ein. Aber er blieb, wo er war, und starrte auf die Spitze seines Stiefels, die er in den Asphalt drückte, als würde er einen Käfer zerquetschen. Er wog etwas ab.

Der Gringo wartete geduldig, und schließlich sprach Rogelio. »Ich kenne jemanden, der solche Hilfe braucht. Er ist verzweifelt. Er kann sich an niemanden sonst wenden. Aber er ist nicht machtlos, mein Freund. Ganz und gar nicht.«

Der Gringo schaute in den Sonnenaufgang, das Licht färbte sein Gesicht bronzefarben.

»Ist er ein schlechter oder ein guter Mensch?«

»Er ist beides. Wie Sie.«

»Die Sache, bei der er Hilfe braucht … ist sie gerecht?«

»Es ist die gerechteste Sache, die ich je gekannt habe.«

Der Gringo sah Rogelio an. Rogelio blickte zurück.

Und er dachte daran, wie hart der Junge geschuftet hatte. Wie er sich geweigert hatte, das Geld einzustecken, bis er sich gewiss war, dass die Arbeit, die er getan hatte, nicht schmutzig war.

Dann sagte er: »1-855-2-NOWHERE.« Als er wegging, rief Rogelio ihm nach. »Was ist das?« Er hielt an der Fahrertür inne. »Wenn Ihr Freund anruft, wird er es erfahren.«

5 Unsicheres Objekt

Säuberlich aufgewischte Zerstörung. Der offene Grundriss von Evans Penthouse im Castle Heights Residential Tower ließ die Kargheit noch spärlicher erscheinen. 650 leere Quadratmeter. Naja, nicht ganz leer. Die Trainingsstationen, Trainingsmatten und Möbel des großen Raums waren bei der Explosion verbrannt. Nur der frisch restaurierte Kamin ragte wie ein Baum aus der Mitte der Gussbetonebene. Ein paar Säulen hatten sich ihren Weg zurück ins Leben gebahnt, zusammen mit einer Stahltreppe, die spiralförmig zu einem teilweise sanierten Dachboden mit leeren Bücherregalen hinaufführte, die noch immer nach Sägemehl, Holz und Leim rochen.

Die Küche war am weitesten fortgeschritten: metallgraue Arbeitsflächen mit Rotelementen, Armaturen aus gebürstetem Nickel und eine breite Mittelinsel, an der Evan seine Mahlzeiten allein einnahm. Bläuliche Plastikfolie färbte die Oberfläche des unbenutzten Backofens und säumte den Rand des Geschirrspülers. Ungefähr die Hälfte der verspiegelten Subway-Fliesen, die die Wand dahinter dekorieren sollten, waren bereits verlegt worden und ragten am Putz herunter wie ein aufgegebenes Lego-Projekt.

In der vergangenen Woche war der gläserne Wodka-Kühlraum wiederhergestellt worden, auch wenn die Regale noch nicht wieder vollständig aufgefüllt waren. Und in der Woche davor war die lebende Wand reanimiert worden; ein vertikaler Garten, der aus dem Boden ragte. Im Moment war er nicht viel mehr als eine Aufschichtung verkrusteter Erde und vergrabener Samen, die von einer Tropfbewässerung gespeist wurden, aber eines Tages würde er Minze und Basilikum, Paprika und Kamille sprießen lassen.

Riesige, raumhohe Fenster öffneten den Blick in die Welt da draußen; Downtown, das sich 20 Kilometer östlich abzeichnete, und die Wolkenkratzer von Century City, die sich im Süden in den Himmel bohrten. 21 Stockwerke tiefer bahnte sich der verstopfte Verkehr seinen Weg durch den berüchtigten Angeleno-Stau. Die Autos wurden angetrieben von Schimpfwörtern und Hupen.

Evan hatte die kugelsicheren Lexan-Fenster mit Sensoren verbessert, die splitterndes Glas, sich nähernde Fremdkörper und jede signifikante Druckschallsignatur von den Quarzsteinen, mit denen die Balkone überzogen waren, erkennen. Er trat von der transparenten Wand weg, wischte sich über die Stirn und starrte in den riesigen Innenraum.

Es war kalt. Leblos. Sicher. Nicht annähernd so aufgeräumt wie sonst wegen der verstreuten Werkzeuge, Planen und der einen oder anderen Plastikwasserflasche, die von der regulären Baucrew oder einem der heimlichen Nachtschichtarbeitern übriggeblieben war. Die diskret gepanzerten Sonnenschutze – ein ansprechendes Veilchenblau – mussten noch aufgehängt werden. Säuberlich lagen sie auf dem Boden; gearbeitet wie ein Kettenhemd. Sie bestanden aus einer seltenen Titanvariante, die in Ringen verwoben war, und boten einen zusätzlichen Schutz vor Scharfschützengeschossen oder Sprengsätzen – eine Eigenschaft, die erst kürzlich auf die Probe gestellt worden war.

Die ausgeklügelte Alarmanlage war installiert und ihre Firmware aktualisiert worden. Ebenso wie die Eingangstür, hinter der sich ineinandergreifende Stahlgitter und ein wassergefüllter Kern verbargen, der die Wirkung eines Rammbocks zerstreute. Die Holzfassade passte zu jeder anderen Wohnungstür im Gebäude und entsprach scheinbar den Vorschriften – eine Fassade, die ausreichte, um Hugh Walters, den übereifrigen Präsidenten der Hausbesitzervereinigung, in Schach zu halten.

Evan hatte es geschafft, die standardmäßige Dämmung hinter den Rigipsplatten aus dem Wohnbereich gegen gehärtete Stahlplatten auszutauschen, um den Schall zu dämmen und für den Fall, dass jemand die Haustür aufgäbe und versuchen würde, mit einer Feuerwehraxt, einer Kettensäge oder wie Wile E. Coyote aus einer Kanone durch die Wände zu kommen, für Stabilität zu sorgen. Mit einem Anstrich wurde die nicht genehmigte Aufrüstung unsichtbar gemacht.

Warum machte er das alles mit, anstatt sich eine neue Höhle zu suchen oder sich von Stadt zu Stadt treiben zu lassen, wie er es früher getan hatte, anonym und einsam? Dieses Stück Boden, der Geschmack dieser Luft, die Aussicht aus diesen Fenstern; sie waren ein Teil von ihm geworden. Er hatte nie verstanden, was es bedeutete, einen Platz im Universum zu haben und jetzt, wo er einen hatte, wollte er ihn nur ungern aufgeben.

Dann war da noch Mia Hall, neun Stockwerke tiefer. Alleinerziehende Mutter, Staatsanwältin, Schönheitsfleck an der Schläfe. Und ihr Sohn Peter, der bald zehn Jahre alt wurde. Mit seiner rauen Stimme und den kohlrabenschwarzen Augen war er unschuldig und schelmisch, die Art von Junge, die Evan in einem anderen Leben hätte sein können. Jahrelang hatten Evan und Mia die Frage umschifft, was Evan eigentlich tat, ein Tanz, der dadurch notwendig wurde, dass Mia eigentlich Leute verfolgte, die – wie er – das Gesetz brachen.

Er schüttelte den Gedanken ab. Er hatte nicht die Absicht, wegen Mia und Peter hier zu bleiben. Es ging um die Aussicht. Seine Festung. Das Gewölbe.

Das vierte Gebot: Lass es nie persönlich werden.

Evan ging in die Küche, seine Stiefel hinterließen Staubabdrücke auf dem polierten Beton. Er besänftigte die Zwangsneurotik, die sein Stammhirn im Griff hatte. Die Fußabdrücke konnten aufgefegt und gesäubert, jede Spur seiner Bewegung beseitigt werden. Durch den Umbau war sein Verstand in ständiger Alarmbereitschaft, sein visuelles Abtasten nach Unvollkommenheiten war auf einem überreizten Niveau. Überall, wo er hinsah, gab es Splitter zu schleifen, Kratzer zu beseitigen und Müll zu transportieren, ein Chaos, das sich ständig vergrößerte. All diese Zeichen des Lebens und der menschlichen Unvollkommenheit waren schwer zu ertragen für einen Mann, der es vorzog, keine Spuren zu hinterlassen, der sein Refugium hier über der Stadt immer makelloser als ein Mausoleum gehalten hatte.

Auf der großen Kochinsel stand sein RoamZone auf seinem Ständer, aufgeladen und bereit.

Von allem im Penthouse war das verschlüsselte Telefon das Wichtigste.

Das Verfahren war einfach. Nachdem er einen Auftrag abgeschlossen hatte, verlangte er als einzige Gegenleistung, dass sein Kunde jemanden fand, der sich in einer unlösbaren Situation sah; jemanden, der sich an niemanden sonst wenden konnte. Dieser sollte Evans Nummer weitergeben. Der neue Kunde wählte die Nummer 1-855-2-NOWHERE, so wie der vorherige Kunde und alle Kunden zuvor.

Der Anruf würde in digitale Pakete umgewandelt, verschlüsselt, durch das Internet geschossen und durch mehr als ein Dutzend virtueller privater Netztunnel in Ländern von Andorra bis Sambia geleitet. Das RoamZone würde klingeln. Er würde abnehmen.

Die erste Frage war jedes Mal dieselbe.

Brauchen Sie meine Hilfe?

Als Attentäter der Regierung, der im Alter von zwölf Jahren aus einer Pflegefamilie geholt und im offiziell nichtexistenten Orphan-Programm ausgebildet wurde, verfügte Evan über ein Arsenal an Fähigkeiten, das nur wenige Menschen auf dem Planeten besitzen. Er war von einem Betreuer erzogen worden, der sich über Verfahren und Traditionen hinwegsetzte, um Evans Sinn für Moral intakt zu halten. Jack Johns hatte ihn zu einer Waffe geschmiedet und ihn dabei nie vergessen lassen, dass das Schwierigste nicht darin bestand, ein Killer zu sein. Das Schwierigste war, Mensch zu bleiben.

Etwa ein Jahrzehnt lang hatte Evan inoffiziell vom Verteidigungsministerium benannte Ziele neutralisiert. Technisch gesehen existierte er nicht, er trieb im Schatten, ernährte sich von gut gefüllten Bankkonten, die in nicht meldenden Ländern auf der ganzen Welt Zinsen abwarfen, und war nur unter seinem Codenamen bekannt: Orphan X.

Als er aus dem Programm geflohen war, hatten die Machthaber ihn als unsicheres Objekt bezeichnet, als einen Mann, der zu viel wusste. Jetzt musste er sein Leben unter dem Radar führen, eine Herausforderung, die durch seine Pro-Bono-Arbeit und seinen Wunsch, unter den normalen Menschen zu leben, erschwert wurde – doch es war der Versuch die letzte Flamme seiner Menschlichkeit am Leben zu erhalten.

An den meisten Tagen war er Evan Smoak, ein langweiliger Bewohner von Castle Heights und Importeur von industriellen Reinigungsmitteln.

Aber wenn das RoamZone klingelte, wurde er zu etwas anderem.

Dem Nowhere Man.

Es war seine Art, für das Blut zu büßen, das er in europäischen Gassen und nahöstlichen Schwitzhütten, auf südamerikanischen Plazas und afrikanischen Feldern vergossen hatte.

Sein eigener moralischer Kompass, ausgerichtet auf seinen eigenen wahren Norden – die einzige Art, die er kannte, menschlich zu bleiben.

Jetzt nahm er das verschlüsselte Telefon in die Hand und prüfte, ob er Anrufe verpasst hatte, obwohl er jede wache Minute in Hörweite des Telefons gewesen war. Ganz im Sinne seines Umbaus hatte er dem RoamZone einige Upgrades verpasst. Der organische Polyether-Thioureas-Bildschirm mit der Fähigkeit, sich selbst wieder zusammenzufügen, wenn er einen Riss hat, war in einem »Antigravitations«-Gehäuse untergebracht, das an den meisten glatten Oberflächen haften konnte. Jetzt testete er es, indem er das Telefon an den Kühlschrank warf, wobei die Nanosuktions-Rückseite dafür sorgte, dass das RoamZone nicht fiel.

Er leerte ein Glas Wasser, spülte und trocknete die Tasse ab und stellte sie weg. Dann nahm er das RoamZone vom Kühlschrank und schritt durch den leeren großen Raum, um sich auszuziehen.

Er warf die Kleidung und seine Stiefel in den Kamin, entfachte ein Feuer und verbrannte sie. Aus Gewohnheit vernichtete er am Ende einer Mission oder eines Tages, an dem er mit Fremden oder ungewöhnlichen Materialien zu tun hatte, die Fremd-DNA und alle Spuren an seinem Körper.

Er ging einen kurzen Flur an der Nordseite des Penthouses entlang und betrat das teilweise sanierte Hauptschlafzimmer. In der Ecke lag eine Kingsize-Matratze auf dem Boden, fein säuberlich mit weißen Laken zurechtgemacht. Normalerweise ruhte sie auf einer Metallplatte, die einen Meter über dem Boden schwebte, hochgehalten von Neodym-Magneten und gefesselt mit Stahlseilen, aber durch die Explosion hatte sie sich gelöst und war nach oben geflogen, um an der Decke zu zerplatzen.

Im Badezimmer waren die Sanitäranlagen erneuert worden – Toilette, geflieste Kabine, Duschkopf, der aus der Wand ragte –, aber es gab immer noch keine Schränke und auch die neue Duschtür war nicht eingebaut worden.

Er warf das RoamZone an die Wand, wo es kopfüber hängen blieb, und trat in den Wasserstrahl, um sich abzuspülen. Als er fertig war, ergriff er den Heißwasserhebel, wartete darauf, dass die eingebauten elektronischen Sensoren das Venenmuster in seiner Handfläche scannten, und drehte in die falsche Richtung.

Eine verborgene Tür, die nahtlos durch das Fliesenmuster getarnt war, schwang nach innen und gab den Blick frei auf das Gewölbe; ein asymmetrischer Raum von etwa 40 Quadratmetern, der als Zentrale für seine Missionsplanung diente. Aufgrund seiner versteckten Lage, gepuffert hinter dem Rest der Wohnung, war dies der einzige Teil des Penthouses, der nicht von der Explosion zerstört worden war. Ein L-förmiger Blechschreibtisch, vollgestapelt mit Elektronik. Serverregale und Waffenschränke, Munitionskisten und Überwachungsgeräte, alles fein säuberlich unter dem Verputz der öffentlichen Treppe zum Dach gelagert, die sich wie ein Korkenzieher nach oben schlängelte.

Die Geräte waren durch die Wucht der Explosion umhergerutscht – ein paar Kabel waren gerissen, ein Serverschrank war in Schräglage geraten und stützte sich an seinem Nachbarn, eine Yagi-Richtantenne. Einige der 2,57 Millimeter dünnen OLED-Bildschirme, die drei der rauen Betonwände bedeckten, hatten Risse, die sich wie Blitzschläge durch ihre unsichtbaren Oberflächen zogen.

Evans einzige Gefährtin, eine kieferzapfengroße Aloe-Vera-Pflanze, die in einer Glasschale zwischen kobaltblauen Kieselsteinen stand, war in den Wochen nach der Explosion in seiner Abwesenheit gestorben. Vera, zweite ihres Namens, treue Gefährtin.

Tropfnass ging er hinüber und hob sie auf. Braune Blätter, brüchiger Kern.

Er sagte: »Ruhe in Frieden«, und warf sie in den Mülleimer.

Er kehrte ins Badezimmer zurück, trocknete sich ab und nahm dann sein Handy von der Wand, um Joey Morales eine SMS zu schicken; ebenfalls eine Aussteigerin aus dem Waisenprogramm, die unerklärlicherweise in seiner Obhut gelandet war. Mit ihren 16 Jahren war sie die beste Hackerin, der er je begegnet war, mit einer Verarbeitungsgeschwindigkeit, die nur von ihrer Klugscheißerei übertroffen wurde. Aus Gründen, die sie weder verstanden noch vollständig anerkannten, waren sie füreinander zur Familie geworden.

Er tippte:

Brauche deine Hilfe, um die Nagelsets zu reparieren.

Weniger als eine Sekunde später:

Nagelsets? Ich meinte Nachtsichtgeräte. Autokorrektur.

Schade, X! Ich hatte gehofft, wir könnten ein bisschen französische Maniküre machen.

Komm einfach hierher.

Oder vielleicht Gelnägel, könntest sie in schwarz bekommen, damit du dich fühlen kannst wie Orphan Y.

Joey.

Ich bin nur froh, dass du dich endlich mit deiner weiblichen Seite auseinandersetzt

Josephine.

Gut. Wir sehen uns in zehn Minuten.

Er stapfte hinaus und ging zu den Kleiderstapeln in der Ecke des Schlafzimmers. Graue T-Shirts mit V-Ausschnitt, diskrete taktische Cargohosen, dunkelblaue 501er, Boxershorts – jeweils acht Stück, in perfekten Quadraten gefaltet. Obwohl das Schlafzimmer makellos war, juckte es ihm im Kopf, wenn sie in Bodennähe lagen, also staubte er jedes Teil ab, bevor er es anzog, und vergewisserte sich, wann die Ersatzkommode eintreffen würde.

Der begehbare Kleiderschrank war leer bis auf acht hängende Woolrich-Hemden, acht Uhrenanhänger von Vertex und acht Original S.W.A.T.-Schuhkartons.

Nein, warte. Sieben. Sieben Original S.W.A.T.-Schuhkartons. Er starrte sie an und wollte nicht wahrhaben, dass es so war. Er hatte sich heute durch ein zusätzliches Paar Stiefel gequält, als eine Kreissäge ein Stück aus der Sohle herausgebissen hatte, und nun stand er da. Ein Stapel mit einem Stück weniger als die anderen. Der Gedanke ließ seine Stirn vor Unbehagen Falten werfen.

Er kratzte sich am Hinterkopf. Starrte auf die Kisten. Zählte sie. Zählte sie noch einmal. Immer noch sieben. Er hatte eine Bestellung aufgegeben, um seinen Vorrat aufzufüllen, aber er hatte den ungleichen Verbrauch nicht berücksichtigt.

Er knöpfte einen Woolrich Hemd über seinem T-Shirt zu und zog sich ein neues Paar Stiefel an.

Jetzt waren es sieben von jedem. Aber sechs von den Stiefeln.

Wenn die neuen Kleidungsstücke eintrafen, wichen die Zahlen immer noch um eins voneinander ab.

Es war okay. Er konnte damit umgehen. Er machte sich auf den Weg nach draußen. An der Schwelle zum Schlafzimmer blieb er stehen.

Seine Wohnung war ein einziges Chaos, übersät mit Sägespänen und Werkzeugen und verdammten, halb ausgetrunkenen Wasserflaschen mit den Keimen anderer Leute darauf. Mit dem unfertigen Zustand des Penthouses kam er gerade noch so zurecht, aber dass die Anzahl seiner Kleidungsstücke nicht stimmte, war zu viel. Unbehagen machte sich in seinem Magen breit und drückte auf seine Augenhöhlen.

Er machte kehrt und nahm von jedem Stapel auf dem Boden einen Gegenstand. Dann ein hängendes Hemd und einen Uhrenanhänger aus dem Kleiderschrank.

Er drückte den Haufen nagelneuer Sachen an seine Brust, ging zurück zum Kamin, warf das RoamZone gegen den Rauchfang und die Kleidung ins Feuer.