Blau 03 - Sonny Stark - E-Book

Blau 03 E-Book

Sonny Stark

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Beschreibung

Die Umwelt ist verpestet, die Ozeane sind verschmutzt, es toben zahlreiche Kriege auf den Kontinenten. Als wäre das nicht genug, bedroht ein sich anbahnender nuklearer Konflikt zwischen den Großmächten das gesamte Leben auf dem blauen Planeten. Ein sanftmütiger Alien-Wissenschaftler schwebt in einem riesigen Forschungsschiff im Erdorbit und beobachtet das Verhalten der Menschheit. Er ist angesichts der Ignoranz und Zerstörungswut des Homo sapiens fassungslos. Der hochintelligente Außerirdische soll entscheiden, ob es nicht besser für die Erde wäre, die dominante Spezies von der Erdoberfläche zu entfernen. Die Antwort auf diese Frage erscheint eindeutig. Wäre da nicht sein bester Freund, ein Mensch von der Erde...

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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

1

Tribandum konnte seine Blicke nicht von dem blauen Planeten abwenden. Die Erde offenbarte ihm ihre ehrfurchtgebietende Schönheit auf dem Hauptschirm des Wissenschaftsdecks. Das Deck, auf dem die Wissenschaftler ihren Dienst verrichteten, war das größte auf dem Forschungsschiff Sirius. Tribandum war ein uraltes humanoides Alien. Nach Erdenjahren gerechnet bereits vor mehreren Jahrtausenden im Sternensystem Abla01 auf dem Planeten Suna74 geboren. Die längste Zeit seiner Existenz hatte Tribandum mit der Erforschung fremder Welten verbracht. Er konnte sich aber nicht daran erinnern, wann er zuletzt einen Planeten gesehen hatte, der ihm so viel Faszination, so viel Bewunderung abverlangte. Lag es vielleicht daran, dass die Lebensformen auf der Erde sich noch immer biologisch fortpflanzten? So, wie er selbst einst gezeugt wurde. Er wusste es nicht. Doch er fühlte eine Verbundenheit zu den menschlichen Bewohnern dieses Planeten, die er sich nicht anders erklären konnte. Jetzt oblag Tribandum eine undankbare Aufgabe. Als Mitglied des Wissenschaftsrates einer intergalaktischen Kooperation von humanoiden Alienrassen musste er darüber entscheiden, was mit der dominanten Spezies auf der Erde geschehen sollte. Die Ansicht der anderen Mitglieder sowie des Vorsitzenden Titawin war in dieser Frage eindeutig. Der Wissenschaftsrat würde der Regierung die dringende Empfehlung aussprechen, die menschliche Spezies aus dem Lebenskreislauf zu extrahieren, um den Fortbestand der Erde und der anderen Lebensformen zu sichern. Anschließend würde der blaue Planet als Kolonie in die Kooperation eingegliedert werden. Tribandum war sich im Klaren darüber, was das für die Menschheit bedeutete. Er hatte diese Prozedur schon unzählige Male begleitet. Die Absonderung einer Spezies bei der Kolonialisierung ihres Heimatplaneten ging mit ihrer Vernichtung einher. Wollte Tribandum das verhindern, so musste er den Rat und insbesondere Titawin davon überzeugen, dass die menschliche Spezies Potenzial zur Weiterentwicklung in eine friedliche Lebensform hatte. Das Problem war nur, Tribandum war selbst nicht davon überzeugt. Seine bisherigen Forschungen über die Menschen mussten im Gegenteil zu dem Schluss führen, dass die Extrahierung der Menschheit zur Rettung anderer Lebensformen, des ökologischen Systems, ja sogar das Planeten selbst, als alternativlos erschien. Um eine abschließende Beurteilung abgeben zu können, hielt Tribandum jedoch weitere Studien für erforderlich. Es war aber sehr fraglich, ob Titawin ihm Zeit dafür geben würde. Derweil analysierte dieser im Hauptlabor der Sirius die neuronale Anatomie der Alienrasse Cron. Er studierte ein dreidimensionales Hologramm. Die Projektion gab eine detaillierte Abbildung aller Neuronen- Verknüpfungen eines Crongehirns wieder. Titawins Überzeugung nach durfte eine Spezies nur dann weiter existieren, wenn sie eine bestimmte Zivilisationsstufe erreicht hatte. Zudem durfte sie ihren Artgenossen, ihren Mitgeschöpfen und ihrer Umwelt keinen Schaden zufügen. Erfüllte sie bereits eines dieser Kriterien nicht, stellte die Eliminierung der gesamten Spezies bei einer Kolonialisierung eines Planeten eine legitime Option dar, ohne Rücksicht oder Mitleid. Titawin hatte den Wissenschaftler Saros-Pi, ebenfalls ein Mitglied des wissenschaftlichen Rates zur Erforschung fremder Rassen, beauftragt, die Cron auf ihren Planeten Cronoton zu beobachten und zu studieren. Saros-Pi hatte mehrere Monate geforscht. Seine Forschungsergebnisse hatten ergeben, dass die Cron seit etwa drei Millionen Jahren existierten. Ihre Technologie und ihre Zivilisation waren sehr weit fortgeschritten. Deutlich weiter als die der Menschen. Ihre detaillierte Geschichtsschreibung reichte etwa 100.000 Jahre zurück. Die Cron lebten in perfekter Harmonie miteinander. Sie hatten ihre Kräfte gebündelt und gemeinsam alle existenziellen Probleme auf ihrem Planeten wie Hunger, Armut und Not beseitigt. Für Titawin stellten die Cron das Idealbild einer Typ-I-Zivilisation dar. Sie lebten im dauerhaften Frieden miteinander und in Koexistenz mit allen anderen Lebewesen sowie ihrer Umwelt. In seinen Augen waren die Cron das genaue Gegenteil der Menschen.

Der Vorsitzende war ganz anders als Tribandum. Ein junges Alien, das erst vor wenigen Hundert Jahren im Sternensystem Cequl Vrigrod in einem Reproduktionslabor für wissenschaftliche Führungskräfte in einer Petrischale erschaffen wurde. Sein Genmaterial bestand aus Vrigrod DNA, die am höchsten entwickelte Spezies des Alpha Sektors mit mehreren Milliarden Galaxien. Titawins genetische Codierung sollte sicherstellen, dass er seine Aufgaben rein objektiv, frei von Emotionen erledigte. Seine Entscheidungen basierten, so war es jedenfalls von seinen Erschaffern vorgesehen, allein auf rationalen und logischen Erwägungen. Tribandum betrat das Labor. Er erblickte Titawin, wie dieser vor der Projektion stand. Der große Humanoid fiel durch seinen starken Knochenbau und die ausgeprägte Muskulatur allein auf, nicht nur wegen seiner hellblauen Haut. Seine Augäpfel glänzten tiefschwarz, aber seine Pupillen leuchteten hell, wie Sterne im dunklen Raum des Universums. Konzentriert starrte der Vorsitzende auf die Daten, die sich vor ihm offenbarten. Er schien von den Cron fasziniert zu sein. Tribandum stellte sich zu Titawin, schaute auf die Projektion des Cron. Mit seiner sehr schlanken Gestalt und seinen langen dünnen Extremitäten fühlte sich Tribandum trotz seiner Körpergröße von zwei Metern winzig neben Titawin.

»Tribandum, sehen Sie sich das an«, sagte Titawin. Er deutete auf die Daten. »Es ist kaum zu glauben.«

»In der Tat. Sehr beeindruckend«, sagte Tribandum.

»Kein einziger Cron ist in den letzten 100 Cronoton-Zyklen durch die Hand eines Artgenossen gestorben. Können Sie sich das vorstellen?«, fragte Titawin erstaunt.

»Sie glauben die Erklärung dafür in den Neuronen-Verbindungen des Cron-Enzephalons zu finden?«, fragte Tribandum zurück.

Titawin schaute auf Tribandum hinab. »100 Cronoton-Zyklen. Ist Ihnen klar, was das bedeutet? Das entspricht hunderttausend Erdenjahren. Die Menschen haben auf der Erde allein in den letzten 100 Jahren 300 Millionen ihrer Artgenossen allein durch Kriege und Mord getötet.« Er schaute wieder zu der Kontrolleinheit des Holografen und änderte mit einer Handbewegung die Projektion. »Das hier ist die Hirnstruktur eines modernen Homo sapiens von der Erde samt all seinen neuronalen und synaptischen Verknüpfungen«, erklärte Titawin. Er machte eine erneute Handbewegung. Es erschien eine weitere Projektion. »Hier zum Vergleich, die von einem modernen Cron vom Planeten Cronoton.«

Die beiden außerirdischen Wissenschaftler sahen sich die Projektionen eine Zeit lang schweigend an.

»Sehen Sie die gravierenden Unterschiede?«, fragte Titawin nach einer Weile.

»Ich kann nichts dergleichen erkennen«, erwiderte Tribandum, während er die Darstellungen betrachtete.

»Genau das ist die Antwort auf Ihre Frage. Es gibt keine Unterschiede. Zwei humanoide Rassen mit nahezu identischen Hirnstrukturen«, sagte Titawin triumphierend. »Keine signifikanten Unterschiede in Volumen, Struktur, Aufbau, Komplexität oder in der biologischen sowie chemischen Zusammensetzung.« Er richtete seinen Blick wieder auf Tribandum. »Dennoch zeigen sie komplett gegensätzliche Verhaltensmuster. Die eine Spezies lebt in absoluter Harmonie mit ihren Artgenossen. Mit allen anderen Lebewesen auch. Die andere hingegen begeht zig-millionenfachen Massenmord an der eigenen Art. Damit nicht genug. Hunderte andere Arten werden vom Menschen gleich ganz ausgerottet.«

Tribandum erwiderte Titawins Blicke nicht. Er schaute weiter auf die Projektionen. »Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte er.

»Auf nichts Bestimmtes. Aber ich hoffe, Ihr Bericht wird uns das gewalttätige und zerstörerische Verhalten der Menschen erklären können.«

»Wir wissen nicht, warum ihr Verhalten von solch extremer Aggressivität geprägt ist. Wir wissen insgesamt sehr wenig über diese Spezies. Ich kann zum jetzigen Stand noch keine abschließende Empfehlung für den Umgang mit dem Homo sapiens abgeben. Sie sollten es auch nicht tun.«

»Was wollen Sie, Tribandum?«, fragte Titawin. Er sah ihn abwartend an.

»Mehr Zeit. Ich bin Wissenschaftler. Wissenschaftliche Erkenntnisse erfordern Zeit«, sagte Tribandum. »Lassen Sie mich weiter forschen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich einer Extrahierung der menschlichen Spezies nicht zustimmen.«

»Der Rat braucht Ihre Zustimmung nicht. Das wissen Sie doch.«

»Aber er verlangt von mir eine wissenschaftlich fundierte Einschätzung. Wie gesagt, dafür reicht unser jetziger Kenntnisstand nicht aus.«

Titawin sah in Tribandums große stechend-grüne Augen, die vor leichter Erregung funkelten. Die weiße Haarpracht des alten Aliens erinnerte an die Mähne eines ausgewachsenen Löwen von den Savannen der Erde und verlieh ihm die einnehmende Aura eines alten weisen Mannes.

»Die Richtlinien sind eindeutig«, sagte Titawin. »Die Menschheit ist eine Typ-0-Zivilisation. Beweisen Sie, dass die Menschen weder sich selbst noch ihren Mitgeschöpfen oder ihrer Umwelt schaden. Gelingt Ihnen das nicht, kann es nur eine Empfehlung des Wissenschaftsrates an die Regierung geben. Wir wissen beide, wie diese aussehen muss. Und jetzt Entschuldigen Sie mich.«

Titawin drehte sich um, ging zu einem Nebenausgang und verließ das Labor. Tribandum stand noch eine Weile allein vor den Projektionen. Eingehend studierte er noch einmal einige Subdateien über die Proteinstruktur der Gehirne der beiden Spezies. Der Vorsitzende hatte offenbar Recht. Keine Unterschiede. Er beendete die Hologramme und ging Richtung Beobachtungskammer am anderen Ende des Labors. Ein kreisförmiger Raum, abgesperrt durch ein unsichtbares Kraftfeld. Der Wissenschaftler sah einen Cron, gleich daneben einen Menschen. Sie lagen regungslos nebeneinander auf zwei Untersuchungstischen. Ihre Hirnströme wurden permanent von Sensoren gescannt, die gewonnenen Daten an die Recheneinheit des Holografen übermittelt. Warum bist du so gut und du so böse?, dachte der Forscher. Er ertappte sich bei diesem Gedanken. Tribandum schüttelte den Kopf. Überlegungen in den Kategorien Gut und Böse waren für einen Wissenschaftler nicht angebracht. Er verließ das Labor und trat in den röhrenartigen Flur. Das komplex vernetzte Flursystem verband die verschiedenen Sektionen des Wissenschaftsdecks sowie alle anderen Decks des Schiffes miteinander. Abgesehen vom Boden waren die Gänge durchgehend aus einem durchsichtigen Material konstruiert. Tribandum liebte den freien Blick auf die Sterne. Der Forscher blieb stehen. Er starrte in den Weltraum. Hier fühlte er sich zu Hause, hier draußen im All. Hier wollte er sein. Hier wollte er auch eines Tages sterben. Ein feuerroter Doppelstern war in der Ferne zu sehen. Der leuchtende Himmelskörper erinnerte Tribandum an seinen Heimatplaneten im Abla01-System. Seine Heimat, die er nach dem Tod seiner geliebten Frau vor Tausenden von Jahren verlassen hatte. Nie wieder kehrte er zurück. Er dachte oft an Thalhea. An seine wunderschöne Thalhea, die nur noch in seinen Erinnerungen weiterlebte. Ihr Verlust schmerzte noch immer tief in seiner Brust. In diesen traurigen Momenten versuchte er sich damit zu trösten, dass er sie eines Tages in einer anderen Daseinsform wiedersehen würde. Der Glaube an das Konzept der Seelenwanderung und der Reinkarnation war auch unter den verschiedenen Alienrassen verbreitet. Es schien, als sei der Wunsch nach Wiedergeburt und eines Lebens nach dem Tod ein universelles Phänomen zu sein. Doch Tribandum musste sich eingestehen, dass er sich selbst nur etwas vormachte. Er glaubte nicht wirklich daran. So auch in diesem kurzen Moment des Schwelgens in traurigen Erinnerungen. Tribandum schloss seine Augen. Im nächsten Augenblick war er wieder zu Hause auf Suna74. Ein herrlicher Sommertag. Der rote Doppelstern Mira strahlte vom blauen Himmel. Vor seinem geistigen Auge sah Tribandum ein fremdes Raumschiff am Himmel. Das mächtige Schiff kam näher, bedrohlich nahe. Plötzlich ein heimtückischer Angriff. Eine riesige Explosion, dann noch eine und noch eine und unzählige weitere. Dann Stille. Sein Heimatplanet nur noch Schutt und Asche. Überall Feuer, Rauch und der Gestank von verbranntem Fleisch. Tribandum in den Trümmern seines Hauses. Er hält Thalhea in seinen Armen. Sie ist blutüberströmt, atmet nicht, kein Herzschlag. Das Alien schreit vor Verzweiflung in einer furchterregenden, markerschütternden Frequenz seiner fremdartigen Alien-Stimme. Sein 6-jähriger Sohn Tegemun steht daneben. In zerfetzter Kleidung, blutenden Wunden an seinem zarten Kindskörper. Panisch weit aufgerissene Augen. Der außerirdische Junge zittert am ganzen kleinen Körper, ansonsten ist sein Laib regungslos, gefangen in einer festen Schockstarre. Wie in einem Albtraum, aus dem man ausbrechen möchte, aber nicht kann. Es gibt kein Entkommen. Man ist gelähmt und kann nicht aufwachen. Dem Horror hilflos ausgeliefert. Tribandum riss die Augen wieder auf. Er rang um Fassung. Schließlich wandte er hektisch seinen Blick von den Sternen ab, setzte hastig seinen Weg fort. Er wollte zum Freizeitdeck, schnellstens auf andere Gedanken kommen. Tribandum eilte zum nächstgelegenen Lift. Beim Eintreten traf er auf ein Besatzungsmitglied. Es war Dr. Cursa vom Zeta Leonis System. Die Xenophilosophin gehörte dem Ethikrat der Kooperation an. Die Ethiker an Bord bewerteten die Empfehlungen des Wissenschaftsrates aus ethisch-moralischer Sicht. Ein Korrektiv, um Eugenik und Euthanasie bei der Kolonisierung von Planeten vorzubeugen. Der Vorsitzende dieser Kontrollinstanz war Tegemun, Tribandums Sohn. Der Junge, der seiner Mutter auf grausame Weise beim Sterben zusehen musste.

»Cursa«, sagte Tribandum und nickte ihr zu.

Er stellte sich neben sie. Cursa war ein großes humanoides Alien mit der Figur einer sehr schlanken Menschenfrau. Ihre Haut war so weiß wie frischer, unberührter Schnee. Ihr Haupt war im Verhältnis zu ihrer restlichen Statur auffällig groß. Ihr Antlitz war anmutig. Tribandum schaute ihr gerne ins Gesicht.

»Hallo«, sagte sie und sah ihn mit ihren dunklen Augen an. »Auch zum Freizeitdeck?«

»Ja.«

Sie schwiegen, bis der Lift anhielt. Die Türen öffneten sich. Tribandum deutete mit seiner Hand zum Ausgang des Liftes. »Nach Ihnen.«

»Sehr aufmerksam«, entgegnete Cursa. Sie trat aus dem Lift.

Tribandum folgte ihr in den Gang, an dessen Ende sich eine Bar befand. Die Bar war bei den Besatzungsmitgliedern sehr beliebt.

»Wie weit ist Ihre Abteilung mit der Beurteilung der Spezies Homo sapiens von der Erde?«, fragte Cursa.

»Wir maßen uns an, über das Schicksal ganzer Rassen zu entscheiden. Ich frage mich, woher wir uns das Recht dazu nehmen.«

Cursa schwieg. Sie hatte keine Antwort auf diese Frage und so gingen sie schweigend weiter. In der Bar angekommen, erblickten sie mehrere Besatzungsmitglieder. Aliens, die auf der Suche nach etwas Zerstreuung und Gesellschaft ebenfalls das Deck aufgesucht hatten. Außerirdische Lebensformen aus allen vier Quadranten der Galaxis aßen, tranken, unterhielten sich. Humanoide, Arachnoide, vogel-, reptilien- sowie insektenartige extraterrestrische Wesen hatten sich in der geräumigen Lounge versammelt. Ein riesiges Panoramafenster erlaubte ihnen einen Blick in Richtung ihrer weit entfernten Heimatplaneten. Es lief eine zurückhaltende, unaufdringliche Musik im Hintergrund. Ähnlich einer Harfenmelodie, kombiniert mit dem Spiel einer Shakuhachi, der japanischen Bambuslängsflöte. Entspannt, fast schon meditierend. Begleitet wurde der harmonische Melos durch die kaum wahrnehmbare Vibration im Zusammenspiel mit dem Summen der Stabilisatoren, die das Raumschiff schwebend im Erdorbit hielten. Die musisch ausgewogene Geräuschkulisse verlor ihre Homogenität durch die linguistischen Besonderheiten der gesprochenen Sprachen der zahlreich anwesenden Aliens. Einige sprachen mit wenig Höhen und Tiefen, der Klang war monoton, staccatoartig. Andere wiederum benutzten ausschließlich Konsonanten. Der Atemluftstrom wurde, während der Aussprache im Mundraum gehemmt, was zu einer geringen akustischen Reichweite führte. Diese Aliens sprachen deutlich lauter. Ihre Sprache klang hart. Wieder andere hatten viele Vokale in den Worten, die sie miteinander austauschten. Durch den ungehinderten Luftstrom beim Aussprechen sowie der verschiedenen Betonung der Selbstlaute entstand eine angenehme Sprachmelodie. Es waren aber auch Aliens anwesend, die still für sich allein waren. Sie lasen holografische Texte, schauten sich dreidimensionale Projektionen an, tranken bunte Getränke aus schlanken Gefäßen, ähnlich einem Reagenzglas oder anderen Behältern, die man aus einem herkömmlichen Chemielabor kennt. Einige der Außerirdischen starrten einfach nur aus dem Panoramafenster. Cursa und Tribandum verschafften sich einen kurzen Überblick über das Geschehen. Die Philosophin ergriff die Initiative, indem sie mit ihrem langen dünnen Finger auf zwei freie Plätze an der Bar zeigte. »Lust auf ein gusgollianisches Ale?«

»Ich möchte lieber allein sein.«

»Ja, sicher. Und deswegen kommen Sie auf das meistbesuchte Deck des ganzen Schiffes.«

»Na schön«, murrte Tribandum.

Sie gingen zur Bar, setzten sich an den Tresen. Der halbkreisförmige Bartresen erhellte dezent seine unmittelbare Umgebung mit einem leichten Blauschimmer. Das helle Gesicht von Cursa nahm die Farbe des Lichtes an, ebenso die weiße Mähne von Tribandum. Hinter dem Tresen stand der Humanoid Za’Ul, ein Gusgollianer. Eine friedliche, zugleich äußerst devote, servile Spezies. Verstreut in der ganzen Galaxis, für höher entwickelte Rassen einfache Dienstleistungen erbringend.

»Niemand macht besseres gusgollianisches Ale als Za’Ul«, sagte Cursa.

Tribandums Laune hatte sich nicht gebessert. »Ich bin beeindruckt.«

Cursa gab nicht auf. »Seien Sie kein oxylianischer Lurch. Geben Sie ihm wenigstens eine Chance.«

Tribandum verzog fragend sein Gesicht. »Ein was?«

»Schon gut. Also nehmen Sie jetzt auch einen oder nicht?«

»Von mir aus.«

Za’Ul kam dazu, stütze sich mit seinen Händen an seiner Theke ab. Er beugte sich mit seiner schmächtigen Gestalt nach vorne zu seinen neuen Gästen. Seine violette Haut schimmerte in dem blauen Licht noch etwas mehr als sonst. »Cursa, es ist mir immer wieder eine Freude, dich an meiner Bar begrüßen zu dürfen«, sagte er lächelnd. Dann schaute er zu Tribandum, verneigte sich. »Tribandum, schön, dass Sie auch mal wieder vorbeischauen«, sagte er ebenso lächelnd.

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

Za’Uls Lächeln vertiefte sich. »Ein gusgollianischer Barmann vergisst niemals einen seiner Gäste«, erklärte er. »Ich hatte die Ehre, Ihnen einen reichlich gesüßten madorianischen Tee zu servieren, als die Sirius Mador Urilla kartografierte.«

Tribandum musterte den Barmann skeptisch. »Das wissen Sie noch? Mador Urilla haben wir vor über 100 Erdenjahren kartografiert.«

»Darf ich Ihnen heute wieder einen Tee servieren, fein gesüßt mit echtem madorianischen Honig?«, fragte Za’Ul höflich.

»Nein. Wir nehmen das Ale aus Ihrer Heimat.«

Za’Ul sah zu Cursa. »Ist die Wahl des Herren der Dame genehm?«

»Sehr genehm«, antwortete Cursa.

»Sehr gern. Eine exzellente Wahl«, sagte Za’Ul mit einem leichten Nicken.

Er verließ seine Gäste wieder, um sich an die Arbeit zu machen. Tribandum schaute dem Barmann hinterher. »Erstaunliches Erinnerungsvermögen. Sympathisch obendrein.«

»Warten Sie erst mal sein Ale ab. Dann werden Sie ihn lieben«, sagte Cursa erfreut.

»Wir werden sehen.«

Sie warteten auf ihre Getränke. Tribandum saß teilnahmslos an der Bar. Er starrte vor sich hin. Cursa bemerkte, dass Tribandum mit seinen Gedanken ganz woanders war. Es war kein Geheimnis auf dem Wissenschaftsdeck, dass Tribandum fasziniert von den Menschen war. Auch, dass der dienstälteste Wissenschaftler deswegen einen schweren Stand bei Titawin und seinen Kollegen im Wissenschaftsrat hatte, war allgemein bekannt. Cursa überlegte, ob sie das Thema ansprechen sollte. Neugierig war sie schon sehr, wollte Tribandum aber auch nicht damit belästigen. Plötzlich drehte Tribandum seinen Kopf zu Cursa.

»Was ist?«, fragte sie verunsichert.

»Nun fragen Sie schon«, sagte er.

Tribandum hatte sie überrascht und verunsichert. »Sie wollen wissen, warum ich bei dem Thema Erde und der Spezies Mensch anderer Meinung bin als der gesamte wissenschaftliche Stab. Ja, sogar als jeder andere auf dem Schiff.«

»Woher wissen Sie-?«

»Ihre Frage vorhin im Lift«, unterbrach Tribandum.

»Ich habe doch nur gefragt, wie weit Ihre Abteilung mit der Bewertung ist«, versuchte Cursa sich rauszureden.

»Ich weiß, was Sie gefragt haben«, entgegnete Tribandum. »Gemeint haben Sie aber, warum setzt sich dieser alte Sturkopf so sehr für die Menschen ein?«

Cursa nickte anerkennend. »Alle Achtung. Ja, Sie haben Recht. Alle auf dem Schiff, einschließlich die Mitglieder meiner Ethikkommission, stellen sich diese Frage.«

Za’Ul servierte die Getränke. Er bediente zuerst Cursa, anschließend Tribandum. Die beiden beobachteten die punktuelle, helle Pigmentierung aufs Za’Uls zierlichen Händen. »Die Dame, bitte schön, und der Herr. Ich hoffe doch sehr, dass die Getränke Ihnen munden werden«, sagte der Barmann, der die Körpergröße eines durchschnittlicher Erdenmannes hatte. Er verbeugte sich und ließ seine Gäste allein. Tribandum zögerte nicht lange. Er nahm sogleich einen Schluck von seinem Ale.

»Mmmh«, sagte er.

Er nahm gleich noch einen Schluck, nickte Cursa zu, als er sein Getränk wieder auf der Bar abstellte. Sie freute sich über seine Geste und lächelte ihn an.

»Dieser Barmann versteht etwas von seiner Profession. Ich sollte ihn öfter aufsuchen«, sagte Tribandum.

»Habe ich doch gesagt«, sagte Cursa lächelnd.

»Trotzdem liebe ich ihn nicht«, sagte Tribandum.

Cursa musste lachen. Tribandum lachte nicht mit. Er schaute sie ernst an. »Wissen Sie, dass mein Sohn der Vorsitzende Ihrer Kommission ist?«, fragte Tribandum.

»Ja, das weiß ich.«

»Was wissen Sie noch über mich?«

Cursa nahm noch einen Schluck von ihrem Getränk. »Sie sind der älteste und erfahrenste Wissenschaftsoffizier in der gesamten Kooperation«, sagte sie. »Sie arbeiten auf dem Flaggschiff der Forschungsflotte. Sie haben eine Spitzenposition, obwohl Sie ein Natürlich-Gezeugter sind.«

Tribandum zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. Sein Blick wurde noch ernster, als er ohnehin schon war.

»Oh, das tut mir leid! Sie wissen, wie ich das meine. Ich wollte nur meinen Respekt vor Ihrer Leistung zum Ausdruck bringen. Wir wissen ja beide, dass …« Cursa hielt inne, fand nicht die richtigen Worte und schwieg.

»Was wissen wir?«, fragte Tribandum.

»Hören Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten. Vergessen Sie es einfach.« Cursa starrte verunsichert auf ihr Ale, dann wanderte ihr Blick wieder zu ihrem Kollegen.

Tribandum schaute ihr in die Augen. »Außer der Art und Weise meiner Zeugung scheinen Sie nicht allzu viel über mich zu wissen.«

»Reiten Sie doch nicht darauf herum. Ich habe mich doch entschuldigt«, sagte Cursa.

»Ich bin Diskriminierungen wegen meiner Herkunft gewohnt. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken.«

»Worum geht es Ihnen dann?«, fragte sie.

»Um die Beantwortung Ihrer Frage«, entgegnete er. »Wenn Sie meine Beweggründe verstehen wollen, sollten Sie etwas über mich wissen.«

»Was meinen Sie, Tribandum?«

Er drehte nun auch seinen Körper zu ihr. »Wissen Sie, dass mein Sohn mich für den Tod seiner Mutter verantwortlich macht?«

»Nein, das wusste ich nicht. Er spricht nur über seine Arbeit.«

»Thalhea wurde vor etwa 4.000 Erdenjahren auf meinem Heimatplaneten bei einem Angriff der Benthak getötet.«

»Wie schrecklich! Mein herzliches Beileid.«

Tribandum senkte den Kopf. Der alte Wissenschaftler wich Cursas Blicken aus. »Ist schon gut.«

Er verweilte einen Moment schweigend in der Position. Dann richtete er sich in seinem Sitz auf und schaute Cursa wieder an. »Meine Regierung hat daraufhin alle Benthak getötet. Verstehen Sie, was ich sage?«, insistierte er. »Nicht nur die aggressiven Angreifer, sondern alle Benthak. 70 Milliarden friedliche Lebewesen, die nichts mit dem Angriff zu tun hatten. Die gesamte Rasse, einfach ausgelöscht.«

Tribandum senkte seinen Blick erneut. Er machte eine kurze Pause, fuhr dann fort: »Ich hatte die Benthak zuvor als eine friedliche und harmlose Spezies eingestuft. Mein Sohn ist der Meinung, ich hätte mich geirrt. Deswegen habe seine Mutter sterben müssen. Er hat mir niemals verziehen. Er hasst mich.«

»Wie sehen Sie das jetzt? Jetzt im Nachhinein? War es ein Fehlurteil?«

»Es ist grundfalsch, eine gesamte Rasse auszurotten, weil einige wenige Vertreter dieser Art aggressiv und gefährlich sind«, antwortete Tribandum überzeugt. »Jetzt sind wir hier, im Erdorbit. Es geht um das Leben von acht Milliarden Menschen. Wir dürfen nicht zulassen, dass wieder eine gesamte Spezies wegen der Fehler einiger weniger vernichtet wird.«

»Das verstehe ich. Ich stimme Ihnen grundsätzlich auch ohne Vorbehalt zu. Aber sind nicht alle Menschen brutal und feindselig? Das ist doch eine völlig andere Situation.«

»Haben Sie jemals mit einem Menschen zu tun gehabt? Einen von ihnen kennengelernt, mit ihm kommuniziert?«, fragte Tribandum nach.

»Nein. Niemand hat das bisher. Können die überhaupt kommunizieren?«, fragte sie.

»Wenn Sie nicht mal das wissen, dann wissen Sie gar nichts über die Menschen. Wie können Sie dann ein Pauschalurteil über acht Milliarden Individuen fällen?«

Die Philosophin und Ethikerin presste ihre Lippen zusammen. Eine Antwort fiel ihr nicht ein.

»Es ist nichts weiter als ein gefährliches Vorurteil, Doktor.«

Tribandum trank sein Ale in einem Schluck aus. Er knallte das leere Glas auf die Theke. Das Alien erhob sich bedächtig von seinem Platz, baute sich dicht vor Cursa auf. Es schaute zu ihr runter. Mit zusammengekniffenen Augen sah es in Cursas tiefschwarze Pupillen. »Dort, wo die Liebe herrscht, sind alle Gesetze entbehrlich.«

Seine Aussprache war sanft, fast schon emotional. Sie passte nicht zu der dominanten Körpersprache und den einschüchternden Blicken des großen Aliens, was Cursa noch weiter verunsicherte. Sie hielt sich mit beiden Händen an ihrem Getränk fest, blickte zu Tribandum hinauf.

»Das hat ein Kollege von Ihnen gesagt. Vor etwa 2400 Jahren im alten Griechenland auf der Erde. Er hieß Aristoteles, war ein bedeutender Philosoph und ein Mensch«, erklärte Tribandum.

Cursa nickte.

»Ich sage Ihnen was, Dr. Cursa. Ein gutgemeinter Rat eines Freundes. Sie sollten sich zurückhalten mit Ihren Vorurteilen. Natürlich-Gezeugte sind nicht weniger wert und nicht alle Menschen sind grausame Bestien. Jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Danke für das Getränk.« Er drehte sich weg, verließ mit schnellen Schritten die Bar. Tribandum ließ Cursa nachdenklich zurück.

***

2

Der nächste Morgen. Tribandum trat aus seinem Quartier in den Gang. Er hatte sehr schlecht geschlafen. Die schmerzenden Erinnerungen an seine Frau Thalhea und der Völkermord an den Benthak hatten ihn in seinen Träumen verfolgt. Es half nichts. Deprimiert und übermüdet machte er sich auf den Weg zu dem großen Besprechungssaal des Hauptlabors auf dem Wissenschaftsdeck. Titawin rief für diesen Tag den Wissenschaftsrat ein. Es stand eine wichtige Entscheidung auf der Tagesordnung. Tribandum erreichte den Besprechungsraum. Er trat ein. Der Rat war bereits vollständig versammelt. Die Expertenrunde bestand aus insgesamt fünf Wissenschaftlern. Allesamt hoch qualifizierte Aliens aus entfernten Teilen der Galaxis. Drei von ihnen standen zusammen in einer Ecke des Raumes. Sie unterhielten sich. Tribandum grüßte die Wissenschaftler mit einem Nicken. Dann nahm er gleich seinen Platz am Ende des ellipsenförmigen Tisches ein. Ihm war nicht nach Smalltalk. Der Tisch war zugleich ein hoch entwickelter Quantenrechner, der über dreidimensionale holografische Schirme bedient wurde. Tribandums Sitz führte eine DNA-Analyse durch. Der Scanner identifizierte sekundenschnell Tribandums genetischen Abdruck. Dateien über die Cron erschienen auf Tribandums Schirm. Schlecht gelaunt und unmotiviert begann er sich einen Überblick über die Datenflut zu verschaffen. Im nächsten Augenblick betrat Titawin den Raum. Der Vorsitzende nutzte einen anderen Eingang. Er kam direkt aus seinem Bereitschaftraum, der an das Hauptlabor angeschlossen war. Ohne lange Begrüßungsrituale stellte sich das mit Abstand jüngste Alien unter den Anwesenden an das andere Ende des Tisches. Er startete ein lebensgroßes Hologramm eines männlichen Cron. Die übrigen Wissenschaftler verstanden die Botschaft. Titawin wollte ohne große Umschweife mit der Arbeit beginnen. Sie nahmen ihre Plätze ein, wurden identifiziert. Auch auf ihren Schirmen erschienen die Cron-Dateien. Titawin setzte sich. »Sehr geehrte Kollegen, ich begrüße Sie zu unserer heutigen Sitzung. Der Rat ist vollständig besetzt. Die Sitzung ist eröffnet.«

Die Anwesenden nickten ihrem Vorsitzenden zu.

»Wir werden heute über die Zukunft des Planeten Cronoton sowie das Schicksal seiner Bewohner entscheiden. Saros-Pi, Sie haben das Wort«, sagte er zu einem der Aliens.

Titawin hatte Saros-Pi und dessen wissenschaftliches Team für diese Aufgabe ausgesucht, da Saros-Pi Dagonier war. Dagonier genossen in der Galaxis den Ruf, ausgezeichnete Forscher hervorzubringen. Sie waren eine hoch entwickelte Spezies, verwandt mit Titawins Rasse der Vrigrod, der führenden Rasse in diesem Quadranten der Galaxis.

»Danke, Herr Vorsitzender«, sagte Saros-Pi. Er war ein großes Alien mit hellgrauer Haut und schlankem Körperbau. »Sehr geehrte Kollegen, ich werde mich kurzfassen. Da Ihnen allen mein Bericht bereits vorliegt, dürfte klar sein, wie meine Empfehlung aussehen wird.«

Bis auf Tribandum nickten alle Ratsmitglieder sowie auch der Vorsitzende ihrem berichterstattenden Kollegen zu.

»Die Cron sind eine friedliche Rasse und eine Klasse-I-Zivilisation. Das heißt, sie sind in der Lage, die gesamte Energie ihres Muttersterns zu nutzen«, erklärte Saros-Pi. »Sie stellen keine Bedrohung für sich selbst, ihre Umwelt oder ihre Mitgeschöpfe dar. Sie sind empfindungsfähig und intelligent. Sie sind in der Lage, den Fortbestand ihrer Art mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zu sichern, ohne ihre Umwelt zu gefährden.« Er bediente einige Schaltflächen auf seinem Display. Die holografische Projektion änderte sich. Es erschienen zahlenähnliche Symbole neben dem Cron-Hologramm. »Darüber hinaus sind sie so weit fortgeschritten, dass sie die Schwächen der primitiven biologischen Fortpflanzung erkannt haben«, fügte er hinzu, machte eine kurze Pause. Dann drehte er seinen langen Hals zu Tribandum. Saros-Pi suchte mit seinen großen schwarzen Augen Blickkontakt zu ihm, dem offiziell einzigen auf natürliche Weise gezeugten Lebewesen auf dem Schiff. Tribandum zeigte äußerlich keine Reaktion. Er erwiderte den Blick nicht. Aber die Diskriminierung hatte ihn getroffen. Saros-Pi setzte seine Erklärungen fort. »Durch ausschließliche Reproduktion in speziell zu diesem Zweck errichteten Laboren haben sie, wie alle höheren Zivilisationen, die mögliche Degeneration ihrer Art durch unkontrollierte Mutationen oder der Vererbung von defekten oder minderwertigen Genen und Gensequenzen unterbunden. Es ist dadurch ausgeschlossen, dass sich die Cron jemals in eine aggressive Rasse entwickeln können«, sagte Saros-Pi.

»Eugenik!«, platzte es aus Tribandum heraus.

Die anwesenden Wissenschaftler richteten ihre Blicke auf ihn.

»Das, was Sie hier hoch anpreisen, ist Eugenik in seiner reinsten Form, Herr Kollege, nichts anderes!«, fuhr Tribandum Saros-Pi an.

Tecton, der rechts neben Tribandum saß, nickte anerkennend. Tecton stammte vom Sternsystem Roh Indi. Die Indi waren eine friedliebende Rasse mit einem fundamentalen Respekt vor jeder Art von intelligentem Leben.

»Das war kein Angriff gegen Sie oder Ihre Spezies«, sagte Saros-Pi emotionslos. »Ich trage lediglich die Fakten vor.«

»Das, was Sie Degeneration, unkontrollierte Mutation und Vererbung minderwertiger Gene nennen, sind die Basis für Vielfalt, Variation, Diversität. Die Wurzeln, der Ursprung der Identität einer jeden Rasse«, entgegnete Tribandum.

»Das, was Sie Eugenik nennen, Herr Kollege, ist der Grund dafür, warum die Cron sich seit fast 100 Cronoton-Zyklen nicht mehr gegenseitig umgebracht haben«, beharrte Saros-Pi.

»Woher wissen Sie das?«, fragte Tribandum. »Verwechseln Sie nicht Korrelationen mit Kausalitäten.«

Titawin ergriff das Wort. »Meine Herren, ich möchte Sie daran erinnern, dass wir eine Empfehlung bezüglich der Zukunft der Cron abgeben sollen. Die Frage, die Sie diskutieren, kann der Ethikrat beantworten, wenn es nötig werden sollte«, sagte er und beendete den Schlagabtausch.

»Danke, Herr Vorsitzender«, sagte Saros-Pi.

»Was hat dazu geführt, dass die Cron seit 100 Zyklen friedlich sind?«, fragte Titawin.

»Mit großer Wahrscheinlichkeit war es die Abkehr von der natürlichen, hin zu der gezielten, genetisch gesteuerten und optimierten Reproduktion«, antwortete Saros-Pi.

»Wie kommen Sie zu diesem Schluss?«, warf Tecton ein.

»Das würde mich auch interessieren«, schloss sich Tribandum an.

»Eine berechtigte Frage«, sagte Chalawan vom Tadmor System, der links neben Tribandum saß.

Saros-Pi schaute in die Runde. »Es ist die chronologische Übereinstimmung«, sagte er. »Etwa 2,9 Millionen Erdenjahre lang waren die Cron nicht besser als der moderne Homo sapiens. Dann schafften sie allmählich die biologische Fortpflanzung ab, begannen mit dem kontrollierten, zweckgerichteten Arterhalt. Nach einigen wenigen Generationen haben sich die Cron zu dem entwickelt, was sie heute sind. Eine friedliche, hoch entwickelte Spezies.«

Tecton war mit den Ausführungen seines Kollegen nicht einverstanden. »Tribandum hat recht. Es ist nichts weiter als eine Korrelation.«

Chalawan meldete sich zu Wort. »Haben Sie die drohende selbstverursachte Vernichtung der Cron nicht als Ursache für die Abkehr von der Gewalt in Betracht gezogen? Immerhin liegt dieses Ereignis auch ziemlich genau 100 Zyklen zurück?«, fragte er.

Die Tadmorianer waren sehr geachtete Historiker. Sie verfügten über ein nahezu unbegrenztes Wissen über die Geschichte aller Rassen, mit denen sie jemals in Kontakt gewesen waren. Chalawan spielte auf die drohende selbstverschuldete Auslöschung der Cron vor etwa 100 Zyklen an. Die Cron hatten ihre Umwelt durch Ausbeutung und Profitgier so sehr verschmutzt und beschädigt, dass ein Überleben auf ihrem Heimatplaneten für die folgenden Generationen nicht mehr möglich erschien. Ähnlich der heutigen Situation der Menschheit auf der Erde. In dieser existenziellen Notlage hatten sich die Cron über alle Differenzen untereinander hinweggesetzt und ihren Heimatplaneten mit geeinten Kräften doch noch gerettet.

»Schließlich haben die Cron während der existenziellen Krise auch andere Maßnahmen, als die Umstellung der Fortpflanzungsmethode ergriffen«, sagte Chalawan.

Tribandum und Tecton nickten bejahend.

»Aufklärung, Umverteilung der Ressourcen, Erschließung alternativer, zugleich nachhaltiger Energiequellen, Abrüstung, Frieden, bessere Bildung, Eliminierung der Armut und des Hungers, um nur einige zu nennen. Warum glauben Sie, dass die Anpassung der Fortpflanzungsmethode der alleinige Grund für die Entwicklung der Cron in eine friedliche Spezies war?«, fragte Chalawan.

Saros-Pi faltete seine Hände vor seinem Gesicht und stützte sich mit seinem Ellenbogen am Rand des Tisches ab. Er lehnte sich etwas nach vorn Richtung Chalawan. »Ich sagte mit großer Wahrscheinlichkeit, Herr Kollege. Ich sagte nicht, es sei der alleinige Grund.« Er lehnte sich wieder zurück in seinem Sitz, schaute zu seinen Kollegen. »Wie Sie alle schon richtig festgestellt haben, es ist eine Korrelation. Mit letzter Gewissheit wissen wir nicht, welche Gründe am Ende tatsächlich den Ausschlag gegeben haben. Was wir aber mit Sicherheit wissen, ist, dass die Cron seit etwa 100 Zyklen all unsere Kriterien erfüllen, um als ausreichend zivilisiert, friedlich gegenüber ihrer Umwelt und ihren Mitgeschöpfen, empfindungsfähig und intelligent eingestuft zu werden. Das allein war die Frage, die mein Stab und ich zu beantworten hatten. Ich danke Ihnen und übergebe das Wort dem Vorsitzenden«, sagte Saros-Pi.

»Was ist das Ergebnis Ihrer Studien?«, fragte Titawin.

»Dieser Rat sollte der Regierung empfehlen, Cronoton nicht zu kolonialisieren. Vielmehr sollten die Cron weiter beobachtet werden. Es sollte die Aufnahme der Cron in die Kooperation erwogen werden, sobald sie die Schwelle zu Interstellar-Flügen übertreten haben. Weit sind sie davon nicht mehr entfernt«, antwortete Saros-Pi.

»Gibt es Einwände gegen den Vorschlag des Kollegen?«, fragte der Vorsitzende.

Es gab keine.

»Dann ist es beschlossen. Wir werden verfahren, wie der Kollege Saros-Pi es vorgeschlagen hat. Die Sitzung ist geschlossen.«

Titawin schaltete die Projektion ab. Er verließ den Raum durch den Eingang, durch den er gekommen war. Die Ratsmitglieder erhoben sich. Sie verließen nacheinander ebenfalls den Raum. Tribandum und Saros-Pi gingen auf dem Gang nebeneinanderher in Richtung ihrer eigenen Labore. Saros-Pi begann die Unterhaltung: »Wie weit sind Sie mit der Beurteilung der Homo sapiens Frage?«

»Ich habe mich noch nicht festgelegt.«

»Dann sind Sie wohl der einzige.«

»Mag sein.«

»Ich halte es für falsch, dass Sie als Biologisch-Gezeugter eine primitive Rasse beurteilen sollen, die sich ebenfalls noch immer durch Paarung fortpflanzt.«

»Ach tatsächlich?«

»Ja. Sie fühlen sich mit den Menschen verbunden. Dadurch sind Sie befangen, Ihre Urteilsfähigkeit ist beeinträchtigt.«

»Sind Sie neuerdings der Schiffspsychologe?«

»Dafür bedarf es keines Psychologen, Herr Kollege.«

Sie blieben stehen, sahen sich an.

»Denken Sie darüber nach, Tribandum. Sie tragen eine große Verantwortung. Es geht um die Fortexistenz eines ganzen Planeten. Milliarden von Lebewesen, Zehntausenden von verschiedensten Arten sowie einem hoch entwickelten und einzigartigen ökologischen System droht die Vernichtung durch eine primitive und gleichzeitig im höchsten Maße feindselige und aggressive Spezies. Daran ändern auch Ihre persönlichen Gefühle nichts.«

Tribandum schwieg.

»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen«, sagte Saros-Pi und ging weiter.

Tribandum schaute ihm hinterher. Saros-Pi bog in einen Gang und verschwand aus Tribandums Blickfeld. Tribandum blieb noch stehen. Er war an Diskriminierungen wegen seines biologischen Ursprungs gewohnt. Durch natürliche Paarung Gezeugte wurden in weiten Teilen der Galaxis als weniger zivilisiert und entwickelt angesehen. Sie galten als Aliens zweiter Klasse. Das hatte ihn schon sein ganzes Leben begleitet. Aber in diesem Fall musste er sich eingestehen, dass Saros-Pi mit seiner Einschätzung recht haben könnte. Der Gedanke gefiel ihm ganz und gar nicht. Tribandum schob seine Bedenken zur Seite. Er machte sich auf den Weg in sein Labor. Dort angekommen ging der Forscher direkt zu der zentralen Kotrolleinheit für die zahlreichen wissenschaftlichen Instrumente. Er startete ein 3D Hologramm. Es erschien eine lebensgroße Projektion eines männlichen Homo sapiens in der Mitte des Raumes. Tribandum sah sich die Abbildung, die sich langsam und gleichmäßig um die eigene Achse drehte, an. Sie war anatomisch perfekt bis ins kleinste Detail. Als sich das Gesicht des Homo sapiens wieder dem Alien zuwandte, stoppte es die Drehung und schaute ihm in die Augen. So gut die Simulation auch war, es war kein Leben in den Augen des Menschen. Sein Blick war leer und kalt, wie die eines Toten. Kein Spiegel der Seele, wenn es denn so etwas wie eine Seele gab. Tribandum schaltete eine Textdatei hinzu. Konzentriert studierte er die aufgerufenen Informationen. Er verschränkte die Arme vor seinem Körper, schärfte seinen Blick, indem er leicht die Augen zusammenkniff. Was er sah, gefiel ihm nicht. Krieg, Völkermord, Sklaverei, Ausbeutung, Hinrichtungen, Unterdrückung, Folter, Vergewaltigungen, Mord, Hunderte Millionen tote Menschen, getötet von anderen Menschen. Seit Jahrtausenden immer wieder dasselbe Bild. Keine nennenswerte Entwicklung. Zudem die systematische Zerstörung der Natur und Umwelt seit der Industrialisierung in einem erschreckenden Tempo. Woher kamen die Brutalität und die Grausamkeit der Menschen? Warum waren sie so? Wie sollte er den Wissenschaftsrat davon überzeugen die Menschen zu verschonen? Und noch wichtiger war die Frage, konnte er es denn überhaupt mit seinem Gewissen vereinbaren? Nichts sprach dafür. Tribandum beendete die Projektion, hielt kurz inne. Er knetete an seiner Unterlippe rum, dachte nach. Schließlich seufzte er, schüttelte den Kopf. Er verließ sein Labor wieder, ging zum nächsten Lift und trat ein. »Zu den Mannschaftsquartieren.«

Der Lift fuhr einige Decks aufwärts und hielt wieder an. Tribandum trat hinaus. An seinem Quartier angekommen, blieb er am Eingang stehen. Ein Sensor identifizierte ihn. Das Kraftfeld wurde deaktiviert. Tribandum trat in sein spartanisch eingerichtetes Zuhause. Das Kraftfeld baute sich wieder auf. Das Alien ging direkt zu dem Nahrungsverteiler. Der Verteiler war in einer Ecke des Standartquartiers in die Wand eingebettet. Es war eine Vorrichtung zur Replikation von Speisen und Getränken. Sie bildete die Moleküle von allen lebenswichtigen Nährstoffen nach und setze daraus eine breiartige Masse zusammen. Die Hauptnahrung für die Besatzungsmitglieder. Auch Getränke, heiß und kalt, konnte die Einheit reproduzieren. Tribandum ließ sich ein Heißgetränk, ähnlich einem Tee zubereiten. Damit ging er zu einem Sessel, der vor einem großen Bullauge stand. Er setzte sich hin, nahm einen Schluck. Der erschöpfte Forscher schaute hinaus. Er dachte immer noch über die Menschen nach. Der Tag der Entscheidung stand kurz bevor und Tribandum hatte nichts in der Hand, um die Menschheit vor der Auslöschung zu bewahren. Er stellte das Getränk auf einem Beistelltisch ab, lehnte sich zurück und verschränkte seine Hände hinterm Kopf. Nach einer Weile sagte er: »Musik. Beethoven von der Erde. 9. Symphonie. Für Elise. Zimmerlautstärke.«