Blaue Flecke - Trilogie - Jolene Walker - E-Book

Blaue Flecke - Trilogie E-Book

Jolene Walker

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Beschreibung

Blaue Flecke - Trilogie (Sammelband) enthält folgende Inhalte: 1. Band Blaue Flecke - Der Wunsch nach Liebe: Vanessa ist eine der stärksten Polizistinnen auf dem Revier. Die 28-jährige Deutschrussin ist in den Augen ihres Halbbruders eine Heldin, während ihm die gemeinsame Mutter den Kontakt zu seiner Schwester verbietet. Denn Vanessa ist lesbisch und ihre Familie streng konservativ. Weshalb ihre Mutter keinen Halt davor gemacht hat, ihre damals 16-jährige Tochter aus dem Haus zu werfen. Seitdem steht Vanessa auf eigenen Beinen und ihre Homosexualität wurde zu einem schlecht gehüteten Geheimnis. Vanessas Vergangenheit und ihre Dämonen geben einfach keine Ruhe. Bis sie im Einsatz auf die 16-jährige Yasmin trifft, die vor dem Terror ihrer überforderten Mutter flüchtet. Die junge Polizistin erkennt sich selbst in dem Mädchen und will helfen. Soll sich Vanessa bei Yasmin outen? Würde die Kleine dann noch ihre Nähe suchen? 2. Band Blaue Flecke - Die Angst vor Liebe: Vanessa hat die 16-jährige Yasmin bei sich in Obhut genommen. Obwohl sie sich kaum kennen, traut das Mädchen der blonden Polizistin. Doch Vanessa traut sich selbst nicht. Durch fehlende Liebe und Zuwendung ihrer Familie gerät Vanessa in einen ständigen Konflikt mit sich. Insbesondere, als die traumatisierte Yasmin sich jede Nacht zu ihr legt. In Einsatz- oder in Zivilkleidung, egal wohin Vanessa geht, die Ketten ihrer Vergangenheit hören nicht auf zu rasseln. Trotz der ständigen Angst schafft sie es, sich das erste Mal zu outen. Dann passiert etwas Schreckliches. Yasmin muss aus ihrem Leben verschwinden. 3. Band Blaue Flecke - Der Mut zur Liebe Kurzbeschreibung: Neben aufreibenden Einsätzen kann sich Vanessa nicht verzeihen, was sie getan hat. Sie versucht sich von Yasmin zu distanzieren, was der Teenager nicht zulässt. Um jeden Preis will Yasmin bei der jungen Polizistin bleiben. Dabei beginnt sie durch ihr neu erlangtes Selbstbewusstsein, mit dem Feuer zu spielen. Mit neuem Körpergefühl verdreht Yasmin dem Klassenliebling den Kopf und bietet ihren Mitschülerinnen die Stirn. Auch Vanessa bekommt dies zu spüren, als sie sich anonym auf einer Onlineplattform anmeldet, um Yasmin nachzuspionieren. Einmal Polizistin, immer Polizistin. Was Vanessa nicht ahnt: Yasmin weiß, wer sie ist. Neben erotischen Provokationen und Schmetterlingen im Bauch drängt sich Yasmins Klassenlehrerin in den Vordergrund. Sie stellt Fragen, die Yasmins intimste Geheimnisse berühren. Woher weiß Frau Sutter von all dem?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Bonusszene

Blaue Flecke

Der Wunsch nach Liebe

Teil 1

Jolene Walker

c/o autorenglück.de

Franz-Mehring-Str. 15

01237 Dresden

Alle Rechte vorbehalten.

Die in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.

Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.

Coverdesign von: kreationswunder.de

Korrektorat: [email protected]

Korrektorat von: Lektorat Zeilenschmuck

Klappentext

Vanessa ist eine der stärksten Polizistinnen auf dem Revier. Die 28-jährige Deutschrussin ist in den Augen ihres Halbbruders eine Heldin, während ihm die gemeinsame Mutter den Kontakt zu seiner Schwester verbietet.

Denn Vanessa ist lesbisch und ihre Familie streng konservativ. Weshalb ihre Mutter keinen Halt davor gemacht hat, ihre damals 16-jährige Tochter aus dem Haus zu werfen.

Seitdem steht Vanessa auf eigenen Beinen und ihre Homosexualität wurde zu einem schlecht gehüteten Geheimnis.

Vanessas Vergangenheit und ihre Dämonen geben einfach keine Ruhe. Bis sie im Einsatz auf die 16-jährige Yasmin trifft, die vor dem Terror ihrer überforderten Mutter flüchtet.

Die junge Polizistin erkennt sich selbst in dem Mädchen und will helfen.

Soll sich Vanessa bei Yasmin outen? Würde die Kleine dann noch ihre Nähe suchen?

Blaue Flecke - Der Wunsch nach Liebe ist ein lesbisch/bisexueller Roman über den Kampf der eigenen Akzeptanz, den Weg des Lebens und der Liebe.

Ob Vanessa jemals zu sich selbst stehen kann?

Triggerwarnung

Mit diesem Roman sind wir der Welt näher,

als wir es uns wünschen würden.

Dabei sollte uns der Zauber einer Geschichte

für einen kurzen Augenblick von der weltlichen Last und dem Leid befreien und nicht verschlingen.

Pass auf dich auf. Lege das Buch zur Seite und atme tief durch, wenn es zu viel wird.

Wann immer du bereit bist.

In Liebe, Jo.

Liebe Vivienne. Danke, dass du Vanessa und Yasmin trotz ihrer Fehler lieben konntest. Du bist die Einzige, die bis jetzt alle drei Teile lesen durfte. Als Studierende im sozialen Bereich wirst du die Welt ein Stück besser machen und eine Stütze für Menschen sein, die deine Hilfe brauchen.

»Die Lebensweisheiten zwischendurch fand ich richtig klasse und auch wie du den Beruf der Polizei näherbringst, war sehr spannend und ist perfekt in die Geschichte miteingebaut.«

-Vivienne.

Liebe Katha. Als Bundespolizistin, die im Nebenamt Ansprechperson Diversität ist, habe ich mit dir als Testleserin wohl ins Schwarze getroffen. Ich hatte geglaubt, alles falsch gemacht zu haben. Doch auch dich konnte ich mit meiner Geschichte fangen. Mit deiner Hilfe ist der Roman ein Stück authentischer geworden.

»Blaue Flecke hat mich wirklich beeindruckt. Aus meiner Sicht ist es dir gelungen, die ganze Bandbreite der Gefühle in dieses Buch zu packen und bei mir als lesende Person auszulösen.«

-Katha

Mit all unseren Wünschen.

Kapitel 1

Der Wind roch nach dunkler Erde. Seit Tagen war der Himmel grau und ließ es ausgerechnet heute ununterbrochen nieseln.

Der Herbst neigte sich dem Ende. Die letzten bunten Blätter an den knorrigen Baumgerippen deuteten darauf hin, dass die Natur vor einigen Wochen noch gelebt hatte. Vielleicht war das Grau der Welt schuld am Schmerz des Lebens.

»Ich sage es kein weiteres Mal!«, rief Vanessa. Sie hielt den Täter auf Abstand, während ihr Kollege Sven die Personalien des Opfers aufnahm.

Es war nicht ihre Uniform, die den Mann zum Schweigen brachte, sondern Vanessas ungewohnte Statur und der Klang ihrer für eine Frau untypisch tiefen Stimme.

Der Täter sah sie für einen Moment abschätzend durch seine glasigen Augen an. Er roch säuerlich, als hätte er Tage nicht geduscht. Dementsprechend fettig waren seine Haare. Ein Sixpack mindestens intus, schätzte Vanessa.

Sie standen am Osterdeich und waren den Unruhestiftern als Vorsichtsmaßnahme vom Weserstadion aus gefolgt. Es war Ausnahmezustand, Bremen hatte im heutigen Spiel gegen St. Pauli verloren. In der Masse der Menschen, die von der Bundespolizei begleitet wurden, ragte Vanessa mit ihren 1,78 Meter heraus. Es entging ihr nicht, dass sie durch ihre hellblondierten Haare ins Auge fiel.

»Gehen Sie weiter!«, rief ein Kollege der Hundertschaft mit Schutzausrüstung und Helm aus der Ferne.

Die gegnerischen Fans spielten sich auf, was den Heimspielern nicht passte. Aus Vorfreude vor dem Spiel wurden zum Ende hin Hass und Enttäuschung. Die eigenen Jungs hatten schlechte Leistung erbracht und man hatte gemeinsam mit ihnen versagt. So etwas konnte man anscheinend nicht auf sich sitzen lassen.

»Ich habe dem Typen nichts getan! Sogar als er mich Scheiß Kanake genannt hat, bin ich weiter und der Hund spuckt mich an!«

Sven konnte das Opfer noch davon abhalten, selbst zum Täter zu werden. Per Funk bat er Kollegen, zu ihnen zu stoßen. »229, wäre nett, wenn jemand hier auftauchen würde.«

Die Freunde des Opfers schienen nicht gerade dadurch besänftigt, dass die Polizei anwesend war. Selbstjustiz konnte so verlockend sein. Türken, Kurden, oder andere Nationalitäten. Auf den ersten Blick konnte man sie nicht schnell genug unterscheiden. Wobei die nationale Herkunft keine Rolle spielen sollte. Doch oft blieb eines gleich: Die eigene Ehre wiederherzustellen, hebelte Gesetze aus.

Sven versuchte auf seine väterliche Art, die Situation zu entschärfen. Dennoch blieben die Gemüter erhitzt. Man konnte noch so oft sagen, dass Fußball nichts mit vermeintlich politischen Interessen zu tun hatte. Der heutige Einsatz bewies, dass man vor Ort sein musste, um für Schutz und Ordnung zu sorgen.

Vanessa seufzte leise. Der Täter war bereits bekannt und sie musste seine Daten erneut protokollieren. Es gab immer Menschen, die aus der Reihe tanzten, doch besonders auffällig war der Mann vor ihr mit seinen Freunden - Hooligans, wie sie im Buche standen. Sie hatten ihren Unmut zuvor schon laut kundgetan. Jetzt pöbelte er direkt vor Vanessas Nase.

»Soll er sich nicht wundern, wenn der hier rumläuft.« Mit »hier« deutete er auf deutschen Boden. »Werder hat doch nur verloren, weil sie einen Quotentürken spielen lassen. Außer Esel ficken könnt ihr doch nichts!«

»Du verdammter …!« Der Jugendliche wollte aus Svens Begrenzung ausbrechen.

»Es reicht!« Vanessa ergriff den stark alkoholisierten Mann am Arm und konnte die Opferseite mit ihrer Aktion notgedrungen zurückhalten. »Sie kommen besser mit aufs Revier.« Der alte Hooligan wollte nicht und wehrte sich.

»Hey, lass ihn los! Er hat nichts getan!« Ein Freund des Täters mischte sich ein. »Scheiß Bullenschlampe!«, fluchte er, bevor er Vanessa wie eine x-beliebige Frau schubste.

Die Situation eskalierte. Es war ein Reflex, die junge Polizistin stieß den Mann mit vollem Körpereinsatz zu Boden. Unbarmherzig schlug er mit dem Kopf auf den Steinboden. Die Platzwunde am Hinterkopf hinterließ einen dunklen Abdruck.

»Scheiße.« Ehe Vanessa Erste Hilfe leisten konnte, drängten sich die anderen Hooligans dazwischen. Der Mann am Boden krümmte sich vor Schmerz.

»Das hat man davon, wenn man eine Frau als Polizistin einsetzt«, kam es aus unmittelbarer Nähe von Passanten, die dem Geschehen aus dem Weg gingen, indem sie die Grünflächen passierten. Es klang aggressiv und abwertend, Vanessa konnte es sich nicht leisten, darauf einzugehen. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Mit Körperkraft bahnte sie sich ihren Weg zum Verletzten, doch die aufgebrachten Männer versperrten ihr den Weg.

»Jetzt machen Sie Platz!« Vanessas Hand wurde weggeschlagen. Sie war machtlos, ohne Gewalt würde sie nicht durchkommen.

Zu ihrer Erleichterung tauchte die von Sven geforderte Hundertschaft auf und marschierte zielstrebig in das Geschehen. Sie brachte das Durcheinander in Ordnung, indem sie die Unruhestifter mit gezielter Kraft auseinanderzerrte.

Darauf hatten die Fußballfans nur gewartet. Sie fühlten sich durch das Gedränge attackiert, obwohl sie zuvor nichts anderes getan hatten, als zu gaffen. Die ersten aufgebrachten Schreie, Beleidigungen und dann Gegenwehr. Handys wurden gezückt. Diese verhassten Handys.

Wie tausend Mal geübt, zog Sven Vanessa aus dem Getümmel. Einer der Kollegen aus der Hundertschaft stolperte und ging mit seiner schweren Schutzausrüstung zu Boden. Für die maskierten Jungs, die aus dem Nichts auftauchten, war das ein gefundenes Fressen. Mit unaussprechlichem Hass traten sie auf den uniformierten Mann ein, beleidigten ihn und brüllten wie Tiere. Verzerrte Gesichter und blutige Fäuste. Von einem Moment auf den anderen wurde nach dem Freundschaftsspiel der Krieg erklärt. Ein Nebelwurfkörper wurde geworfen, doch nicht von der Polizei.

Der scharfe Rauch brachte die ersten Beteiligten hustend zum Flüchten.

Vanessa keuchte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Das Blut pulsierte in den Ohren, sodass sie das Geschrei in ihrer unmittelbaren Nähe nicht mehr hörte.

Der Kollege aus der Hundertschaft lag noch immer hilflos am Boden. Egal wie laut er auch nach Hilfe rief, die anderen gaben nicht nach, auf ihn einzutreten.

Vanessas Muskeln spannten sich an. Sie dachte nicht nach, als sie sich von Sven frei riss, um zu helfen.

»Vanessa!«, mahnte ihr Kollege sie noch. Ungeachtet davon drängte sich die junge Polizistin in die aufgestachelte Menschenmenge, die sich maskiert, nicht vom Rauch vertrieben ließ. Es war kräftezehrend und schmerzvoll zugleich, die aggressiven Beteiligten auseinanderzuzerren. Vanessa stieß sich ihre Hüfte, Beine und Arme. Sie würde blaue Flecke davontragen.

Keuchend schaffte es Vanessa zu dem jungen Mann aus der Hundertschaft. Ihr Kollege schnappte nach ihrer helfenden Hand und richtete sich sogleich auf, um ohne zu zögern seiner Arbeit nachzugehen. Als hätte man ihm eben nicht pure Gewalt angetan.

Die anderen aus seinem Team waren zu weit vorne und hatten nicht mitbekommen, dass einer von ihnen fehlte.

Die Hundertschaft war wie eine unterschätzte Welle. Sie tauchte auf und riss innerhalb kürzester Zeit alles mit sich. Fünf Minuten und die geschulte Einheit führte aggressive Beteiligte mit Handschellen aus der Menschenmenge.

Jemand schrie noch »Nazischweine!«. Vanessa konnte die neue Lage nicht schnell genug abschätzen, als ein Gegenstand in ihre Richtung geworfen wurde und sie mit Wucht so hart an der Stirn traf, dass sie zurücktaumelte. Der dumpfe und zugleich stechende Schmerz raubte ihr den Atem. Vanessa sah helle Punkte und blinzelte, als könnte sie nichts mehr sehen.

Es war eine Bierflasche, die am Boden zerbrach. Die junge Polizistin stöhnte und begann zu torkeln. Alarmiert lief Sven auf sie zu und stützte seine verletzte Kollegin. »Sanitäter!«, rief er in Richtung der Krankenwagen, die bereits am Straßenrand standen.

Ein Mann in leuchtorangener Kleidung kam ihnen zur Hilfe und begleitete Vanessa zum Rettungswagen. Das Blut der Platzwunde oberhalb der Braue lief ihr brennend ins Auge, während die Wunde selbst heiß pulsierte. Der Einsatz gepaart mit den Schmerzen wühlte Vanessa so sehr auf, dass sie nicht bemerkte, wie sich ein Sanitäter und eine Sanitäterin gleichzeitig um sie kümmerten.

»Ist zum Glück nicht groß«, meinte die Frau mit dem lockigen Dutt.

»Blutet dafür wie Hölle«, meinte ihr Kollege, der die Wunde säuberte und einen Druckverband anlegte. »Zumindest müssen wir nicht nähen oder klammern.« Der Mann lächelte Vanessa tröstend zu, die nicht wirklich die Kraft fand, die Mundwinkel zu heben.

In der Zwischenzeit kehrte Sven zum Geschehen zurück und nahm mit einem Beweismittelbeutel das Mundstück der Flasche, die zerbrochen am Boden lag, auf. Das Beweismittel würde er ins Labor schicken und hoffte, mit einem Fingerabdruck oder einer DNA-Spur den Feigling zu überführen, der seine Kollegin angegriffen hatte.

Sven kehrte zum Krankenwagen zurück, den Vanessa mit einem Kühlpad an ihrem Druckverband verließ. Sie wirkte farblos im Gesicht. Egal wie routiniert Sven durch seinen Job bei der Polizei war, wurde ihm beim Anblick flau im Magen. Vanessas Haut war in den Wintermonaten immer ein wenig heller als im Sommer, doch jetzt war sie so blass, dass er glaubte, ihr Kreislauf würde sich jeden Moment verabschieden.

»Warum übertreibst du es immer wieder?«, schimpfte er und stützte sie. Vanessa lächelte erzwungen und wollte keine Schwäche zeigen. Dabei war sie stärker als so mancher Mann in ihrer Dienstgruppe. Ihr dunkelblauer Pullover der Polizeiuniform kaschierte es nur gut.

Vanessa kniff ihr brennendes Lid zusammen. Die Sanitäter hatten zwar ihr Auge ausgespült, dennoch war es gerötet und wirkte fast dämonisch. Ihre dunkelblau marmorierte Regenbogenhaut stach hervor und erinnerte nicht mehr an die unbändige Oberfläche des Ozeans.

Der Sanitäter, der Vanessa behandelt hatte, kam die erste Stufe aus dem Einsatzwagen heraus. »Sollte in den nächsten achtundvierzig Stunden Übelkeit, Erbrechen oder Erinnerungslücken auftreten, muss sie ins Krankenhaus.«

Sven seufzte angestrengt und nickte dem Helfer dankend zu, ehe er sich wieder Vanessa zuwandte. »Warum fährst du nicht mit den Sanitätern mit?«

»Was soll ich im Krankenhaus?« Vanessa sprach, als hätte sie getrunken, was ihren Kollegen nur noch mehr beunruhigte.

»Na, dich von schönen Schwestern umsorgen lassen.« Sven versuchte, sie auf neckische Art umzustimmen.

Vanessa grinste. Nur Sven durfte sich solche Anmerkungen in ihrer Gegenwart erlauben.

Dennoch gab Vanessa nicht nach und Sven begleitete sie schließlich zum Streifenwagen, damit sie sich ausruhen konnte.

Seine Kollegin setzte sich schwerfällig auf die Beifahrerseite und Sven sah sich noch einmal nach der Menschenmenge um, die sich immer weiter auflöste. Zuvor hatten sie mit ihren gezückten Handys mutig Bilder geschossen und Videos gepostet. Ein paar ehrfürchtige Blicke trafen ihn. Erst wenn die Polizei zeigte, mit welcher Gewalt sie durchgreifen konnte, verstanden die Menschen, wie machtlos sie eigentlich waren.

Obwohl sich die Situation dank der Hundertschaft entschärft hatte, schlug Svens Herz noch immer aufgeregt. Viele vergaßen, dass Polizist*innen auch nur Menschen waren. Ihre Kollegen und Kolleginnen waren ihre Freunde und Freundinnen.

Svens Blick ging zu Vanessa, die sich ein Weilchen ausruhte. Sie waren teils Familie.

Gerade als sich Sven auf den Weg machen wollte, kam der Kollege der Bundespolizei auf sie zu. Der junge Mann nickte Sven zur Begrüßung zu und betrachtete Vanessa aus besorgten Augen. »Du hast dich in Gefahr gebracht«, meinte er vorwurfsvoll.

Vanessa schniefte leicht, ihr gerötetes Auge tränte noch immer. Sie schaffte es, ein halbes Lächeln zu verziehen. »Du brauchtest Unterstützung.« Mehr wollte sie nicht dazu sagen und schämte sich mittlerweile ein wenig, weil sie unüberlegt gehandelt hatte.

Ihr Kollege aus der Hundertschaft war in etwa so alt wie sie. Achtundzwanzig Jahre, vielleicht sogar noch jünger. Das »Danke« wollte ihm nicht über die Lippen. Schließlich war ihm jemand ohne entsprechende Ausbildung und Schutzausrüstung zur Hilfe gekommen.

Er stemmte die Hände an die Hüfte und wirkte trotz der Unsicherheit in seinen Augen autoritär. »Du warst echt stark, vielleicht schulst du um? Wenn es dir besser geht, lade ich dich auf ein Bier ein.«

Vanessa lachte unter Schmerzen und hielt sich den Kopf. Ihr Kollege verabschiedete sich mit sorgenvoller Miene und holte seine Einheit im Laufschritt ein. Jetzt merkte man ihm das Zusatzgewicht seiner Schutzausrüstung von gut zwanzig Kilo kaum an. Ob die Angst vor der Masse ihn für einen Augenblick die Kraft geraubt hatte? Die Gewaltbereitschaft durch andere konnte lähmend auf Körper und Geist wirken.

Sven hob skeptisch die Augenbrauen. »Der hat mit dir geflirtet«, behauptete er mit der Tonlage eines Vaters, dem es nicht passte, dass sein kleines Mädchen für andere interessant wurde.

Vanessa schmunzelte träge. Sven sah sie wieder an.

»Ich glaube, das reicht für heute. Der Einsatz ist zwar nicht beendet, dennoch fahren wir fürs Erste zurück auf die Polizeiwache. Die anderen können sich um den Rest kümmern«, meinte er.

Vanessa erwiderte nichts. Zumindest sah sie ein, dass sie Sven mit ihrer Verletzung keine große Hilfe mehr war.

Ihr Kollege schloss die Beifahrerseite für sie und ging im schnellen Schritt um den Wagen. Durch das Funkgerät an der Schulter gab er in der Einsatzzentrale Bescheid, dass sie sich zurück aufs Revier begaben und keine weiteren Aufträge für den Tag annehmen konnten.

Auf der Fahrerseite schnallte er sich an. Vanessa hielt noch immer das kalte Gelpäckchen an die Stirn.

»Willst du nicht doch mit dem RTW mit?«, fragte Sven besorgt.

»Ist doch nur eine Platzwunde«, entgegnete Vanessa wesentlich klarer als zuvor, was Sven ein wenig beruhigte.

Die Rauchgranate lag noch irgendwo in der Ferne und gab die letzten Schwaden von grauem Nebel von sich. Allein das Kratzen in Svens Hals bewies, wie dick der scharfe Rauch zuvor gewesen war. Der Platz wirkte kein Stück mehr, als hätte Werder eben verloren und die Menschen wären sich deswegen wie Wahnsinnige an die Gurgel gegangen. Als hätte Patrick Süskind den Schluss seines Romanes eingeleitet und die Menschen, die gierig die mit Essenz getränkten Stücke von Grenouilles Körper gerissen hatten, verschwanden nun mit aufgedrehter Scham und einer Verlegenheit sich selbst gegenüber. Doch es gab auch sicher die Gegenseite, die, die nur auf das nächste Ereignis hin lechzte.

Es gruselte Sven. Dennoch startete er den Motor und wendete das Fahrzeug auf die Straße. »Wie wäre es, wenn ich dich direkt nach Hause fahre?« Er bog rechts ab und sah sich nach Fußgänger*innen und Fahrradfahrer*innen um.

»Nimm die Richtung zum Revier.« Vanessa wollte nicht, dass sich ihr Kollege wegen der Schramme Umstände bereitete. Das war typisch für sie und typisch für ihn.

Ihr Partner brummte unzufrieden und machte kein Geheimnis daraus, wie fahrlässig er ihre Entscheidung fand.

»Dass du eingegriffen hast, war richtig, aber auch gefährlich.« Sven bemühte sich, nicht anklagend zu klingen, was Vanessa natürlich merkte. Sie arbeiteten seit gut fünf Jahren zusammen. Manchmal konnte sie ihn besser deuten als seine eigene Frau.

Ihr schiefes Grinsen nahm dem Gespräch ihre Dringlichkeit. »Ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen«, meinte sie und schaute aus dem Beifahrerfenster. Mit den Jahren war es zum Tick geworden, die Augen immer für die nächste Straftat offen zu halten. Egal wie schlecht es einem ging. Diesmal jedoch konnte sie Sven nicht ansehen. Sie hätte ihn durch ihre Aktion ebenfalls in Gefahr bringen können. Wäre die Situation komplett aus den Fugen geraten, hätte er vielleicht die Flasche abbekommen. Allein die Vorstellung, dass Vanessa seiner Frau erklären müsste, was geschehen war und weshalb, brachte sie in Bedrängnis.

»Nein, das meine ich nicht«, widersprach Sven. »Es war gut, du hast einen von uns unterstützt.«

»Aber?« Vanessa war langsam genervt und folgte mit den Augen der Kurve, die sie nahmen.

»Du bist ziemlich stark. Ich habe das Gefühl, dass du manchmal vergisst, dass du auch nur ein Mensch bist. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert.« Sven war auf den Verkehr konzentriert. Seine durchdringende Stimme bereitete Vanessa ein schlechtes Gewissen. Angespannt biss sie sich auf die Innenseite ihrer Unterlippe. Letztendlich war sie ja verletzt worden.

Sven warf ihr einen kurzen Blick zu und schaute dann wieder auf die Straße. »Du bist mir wichtig.«

Wieder hatte Vanessa das Gefühl, als würde ihr der Atem stocken. Wie konnten Worte solch ein Unbehagen verursachen und zugleich einen vor Freude beschämen?

Die junge Polizistin klopfte ihrem Kollegen beschwichtigend auf den Schenkel und gab ihm ein weiteres Mal zu verstehen, dass es ihr den Umständen entsprechend gut ging.

Kapitel 2

Auf der Polizeiwache wurde Vanessa von ihren Kollegen und Kolleginnen wie von Fans empfangen. Sie klopften ihr tröstend auf die Schulter oder riefen ihr von ihren Bürostühlen aus zu.

»Haben schon gehört, was passiert ist. Den finden wir.«

»Geht es dir gut?«

»Hoffe, der Typ war zwei Meter groß.« Einer ihrer Kollegen legte es so aus, als hätte Vanessa einem Nahkampf Mann gegen Frau entgegengestanden.

Mit einem verlegenen Lächeln verschloss Vanessa ihre Waffe in ihrem Waffenfach und schlich zu den Umkleiden, um weiteren tröstenden Zusprüchen entfliehen zu können, von denen sie glaubte, sie nicht zu verdienen.

Kaum hatte sie die Tür aufgeschoben, wäre ihr beinahe ein »Scheiße« über die Lippen gekommen.

Ihre Kollegin Maryam stand an ihrem Spind und zog sich gerade um. Sie warf Vanessa einen vorwurfsvollen Blick zu, obwohl sie nicht einmal ein Wort miteinander gewechselt hatten. Was sich am Osterdeich abgespielt hatte, hatte sich schneller unter den anderen herumgesprochen, als Vanessa lieb war. Innerlich rollte sie entnervt mit den Augen.

Die beiden Polizistinnen kannten sich aus der Ausbildungszeit. Seitdem hatte Maryam versucht, so etwas wie eine Freundschaft zu Vanessa aufzubauen, war aber daran gescheitert, dass Vanessa es nicht zuließ. Der Frust darüber entging der blonden Polizistin bis heute nicht.

»Es war fahrlässig und dumm, sich mitten ins Getümmel zu werfen. Du hattest nicht mal einen Helm auf. Was, wenn dir Sven gefolgt wäre? Er ist Familienvater.« Maryam stemmte die Hände an die Hüfte und sprach ohne Punkt und Komma. Die Worte schossen wie spitze Pfeile auf Vanessa nieder. Sie hatte gar keine Möglichkeit, sich zu wehren.

»Du solltest es besser wissen. Solange wir unsere Uniformen tragen, hassen oder fürchten uns die Menschen.« Maryam zischte mittlerweile.

Vanessa seufzte leise und begab sich zu ihrem Spind, der ein paar Schränke weiter hinten stand. Sie antwortete nicht. Alles, was Maryam sagte, stimmte. Vanessa hatte fahrlässig gehandelt. Sie hatte sich selbst und dann Sven in Gefahr gebracht.

Die dunklen Augen ihrer Kollegin wirkten durch das Deckenlicht düsterer als sonst. Maryam war einen halben Kopf kleiner als Vanessa und dennoch schaute sie auf Vanessa herab. Ihr schwarzes, langes Haar trug Maryam in einem strammen Pferdeschwanz. Die Arme vor der Brust verschränkt, wartete sie auf eine Reaktion. Irgendeine Gegenwehr, damit sie weiter auf Vanessa herumhacken konnte. Maryam musste Geschwister haben, Kinder hatte ihre Kollegin noch nicht, aber die strenge Mutterrolle beherrschte sie regelrecht.

Vanessas Augen schweiften auf das filigrane Armband mit den bunten Perlen, welches unter der Uniform fast schon unscheinbar hervorschaute. Die Farbkombination war nicht irgendwelche. Rot für das Leben. Orange für das Heilen. Gelb für die Sonne. Grün für die Natur. Blau für die Harmonie. Lila für die Seele.

Als Maryam endlich bemerkte, woran Vanessas Augen hafteten, grinste sie boshaft. »Wenn du willst, knüpfe ich dir auch eins.«

Vanessa zuckte innerlich und schaute zornig auf. »Ganz sicher nicht«, grollte sie und öffnete den Spind mit dem Versuch, ihre Kollegin zu ignorieren.

Maryam schnalzte selbstgefällig. »Überleg es dir, würde dir gut stehen.«

»Halt die Klappe«, zischte Vanessa nun und war dankbar, als Maryam endlich die Umkleide verließ.

Als die Tür zuschlug, atmete Vanessa auf. Sie verdrängte die Sticheleien. Denn ihr Kopf pochte noch vom stumpfen Schmerz und dem schneidenden Brennen der Wunde an der Stirn. Die junge Polizistin biss die Zähne zusammen, was es nicht gerade erträglicher machte. Mit Wut entledigte sich Vanessa ihrer Uniform und zog ihre unauffällige Motorradkombi mit Knieschleifer an, die schon einiges miterlebt hatten. Das dunkle enganliegende Leder betonte ihre strammen Beine und den runden Po. Die Schulterpolster ließ ihr Kreuz breiter wirken und gab ihr nach dem Flaschenangriff ein Stück Selbstvertrauen zurück.

Vanessa schnappte ihren Rucksack und schlug den Spind ein wenig zu fest zu. Sie mochte ihren Job, doch jetzt wollte sie nur noch nach Hause.

Sven wartete im Empfangsbereich auf seine Kollegin. Nach dem Bericht wollte er sich ebenfalls in den Feierabend verabschieden.

»Meinst du, du kannst fahren?«, fragte er und hielt Vanessa die verglaste Sicherheitstür nach draußen auf. Sie nickte verhalten. Sie würde es nicht zugeben, aber die Standpauke von Maryam beschäftigte sie mehr als der Angriff auf dem Platz und die damit verbundenen Schmerzen.

Sven schien ihr das schlechte Gewissen anzusehen und lenkte sie ab. »Du bist heute etwas später gekommen. Hab deine neue Maschine gar nicht gesehen. Du hattest zwar darüber gesprochen, irgendwann die Alte zu verkaufen, dachte aber nicht, dass es so schnell geht.« Gemeinsam schlenderten sie zum Parkplatz, wo Sven das gute Stück zu Gesicht bekam. Er pfiff beeindruckt, woraufhin sich Vanessa mit einem verschmitzten Lächeln auf ihren neuen Feuerstuhl setzte. Der Schmerz auf der Stirn drückte und pulsierte unangenehm, dennoch musste sie den Helm aufsetzen.

Sven tippte mit dem Fingernagel auf den mattschwarzen Integralhelm, der Spitz zulief. »Andere Frauen gönnen sich eine neue Handtasche, unsere Vanessa einen neuen Helm.«

Vanessa lachte. »Es war ein Spontankauf. Ich war am Wochenende ein wenig bummeln, dann hab ich das schicke Ding gesehen und musste sie haben.« Damit meinte sie ihre neue Honda CBR 650R.

»So, so. Eine sie.« Sven schmunzelte und begutachtete das sportlich futuristische Design. Die Außenfarbe war schwarz matt wie Vanessas Helm. Die Gabel vorne in Gold, die Nähte Rot. Die Optik hatte etwas von einer pechschwarzen Wespe.

Vanessa saß in ihrer Lederkluft nach vorne gebeugt. »Kein Supersportler, dennoch sportlich«, sagte sie. »Die Maschine ist in den Kurven stabil und Schlaglöcher steckt sie locker weg. Von null auf hundert in drei Sekunden.« Sie grinste. »Fünfundneunzig PS und geht butterweich in die Gänge. Nur bei der Vollbremsung kommt das Hinterrad hoch.«

Sven hob mahnend die Augenbrauen. »Anscheinend perfekt für die Landstraße. Ich will mal nicht fragen, woher du das alles weißt.«

Vanessa lachte lauter, indirekt hatte sie ihrem Kollegen verraten, dass sie mit ihrer neuen Maschine auch einmal schneller unterwegs war. Doch das Lachen verging ihr. Sie hatten oft genug bei einem Unfall gestanden und schlechte Nachrichten übermittelt. Für kurz holte Vanessa wieder das Leben ein und sie verstummte.

»Sollten die Kopfschmerzen anhalten, gehst du bitte zum Arzt oder Notdienst«, mahnte Sven, ehe sie losfuhr.

»Ich nehme ein paar Schmerzmittel und leg mich hin.« Vanessa wollte sagen, dass es ihr gutging, aber Sven würde ihr eh nicht glauben. Wie gut konnte es auch jemandem gehen, dem man eine leere Flasche an den Kopf geworfen hatte?

»Lass dich krankschreiben«, drängte Sven und schien Vanessa eigentlich nicht allein fahren lassen zu wollen.

Vanessa versuchte, ihn zu beruhigen. »Du und Eugen auf Streife? Lass mal. Eine Mütze Schlaf und ich bin morgen wieder fit.«

Sven grinste schief und trat beiseite. Mit Mühe setzte sich Vanessa den Helm auf und betätigte den Zünder. Der Sound des Motors dröhnte untenrum kernig und ließ Sven beeindruckt zurück. Vanessa sah ihn noch im Seitenspiegel zum Abschied winken.

Es hatte etwas Befreiendes, auf der Maschine zu sitzen und nicht mehr eingepfercht im Auto. Die einzige Zeit, in der Vanessa aufhören konnte zu denken. All das, was in der Vergangenheit passiert war, gerade gegenwärtig oder in der Zukunft spielen würde, war so weit entfernt wie ein anderer Kontinent. Auch wenn der Wind nicht direkt auf ihrer Haut zu spüren war, fühlte ihn Vanessa mit all ihren Sinnen. Die kühle Brise schien ihr sogar den Schmerz an ihrer Stirn zu nehmen.

Es war noch keine Stoßzeit und der Verkehr ließ zu, dass Vanessa durch die Seitenstraßen in kurzer Zeit zu Hause ankam. Unter normalen Umständen hätte sie eine weitläufigere Strecke genommen, um ein Stückchen länger auf ihrer Maschine zu sitzen. Doch Vanessas derzeitiger Zustand war nicht der Beste.

Sie stellte ihre Maschine in der ruhigen Straße auf dem Parkplatz ab, der ihrer Wohnung zugeteilt war. Vanessa lebte in einer Siedlung, die eher Kleinfamilien mit wenig Einkommen bewohnten. Dieser Ort wirkte so fernab von Bremen, welches mit seinen Altbauten die Romantik einer alten Großstadt widerspiegelte. Dennoch hatte sich die junge Polizistin für die Dreizimmerwohnung im zweiten Stock des Vierparteienhauses entschieden. Die plattenbauähnliche Idylle vermittelte ihr so etwas wie Ruhe. Sie mochte es, die Kinder auf dem Spielplatz zu hören, oder die Nachbarn, die sich auf dem Weg abfingen und einen kleinen Plausch hielten. Hier war die Welt mit ihren grünen Wiesen und hohen Bäumen noch in Ordnung.

Schwerfällig stieg Vanessa von ihrer neuen Errungenschaft herunter und hatte sogleich Sehnsucht nach dem warmen Sattel. Es tat ihr ein Stück in der Seele weh, ihre neue Maschine trotz Abdeckung hier draußen stehen zu lassen. Es war albern, aber sie sah sich noch einmal nach ihrer mechanischen Weggefährtin um, ehe sie die Außentür zum Gebäude aufschloss und die Treppen nach oben nahm.

Hatte sie ungewollt Gewichte geschultert? Vanessa wog fünfundsiebzig Kilo. Heute schien sie doppelt so schwer zu sein und kam nur ächzend die Stufen hoch. Der Vorfall bei der Arbeit hatte sie anscheinend mehr mitgenommen, als sie wahrhaben wollte. Wie sollte man sich denn auch fühlen, wenn jemand Wildfremdes einem Gewalt antat, und wie groß war die Wahrscheinlichkeit, den Täter zu finden? Ihre Kollegen würden Überwachungsmaterial auswerten, Zeugen befragen, die alle nichts gesehen hatten oder nur vage Vermutungen von sich gaben, die die Ermittlungen nicht vorantrieben, vielleicht sogar verschleppten. Aber die Polizei war gut. Ein noch so kleines Detail und sie würden den Täter oder doch eine Täterin finden. Menschen konnten ungemeinen Hass in sich tragen.

Vanessas Herz klopfte tiefer in ihrer Brust. Das Gefühl beunruhigte sie, doch sie lenkte sich damit ab, indem sie sich in ihre Wohnung ließ und die Tür hinter sich schloss.

Wie grauenvoll es war, all das Übel, welches man von draußen aufgesammelt hatte, nicht wie einen Schutzanzug abstreifen zu können. Um den mentalen Dreck nicht mit hineinnehmen zu müssen.

Ausgelaugt lehnte sich Vanessa mit dem Rücken an die Tür. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und nahm den bekannten Geruch ihrer Möbel und Teppiche auf. Sie fasste sich an den Hals und umklammerte den Kreuzanhänger ihrer Goldkette. Es war nur eine Kette und doch fand sie den Halt und die Ruhe, die sie nach solch einem Arbeitstag brauchte.

Abgekapselt von der Welt stellte Vanessa ihren Helm blind auf der Kommode neben der Tür ab. Erst dann richtete sie sich auf und zog ihre restliche Rüstung aus. Dabei vermied sie es, sich im Garderobenspiegel anzusehen. Sie wollte sich selbst durch ihren Anblick nicht unnötig beunruhigen.

Vanessas Wohnung war nicht modern eingerichtet. Als Polizistin konnte sie sich nicht gerade ein Luxusleben leisten. Nicht, wenn man sich spontan ein gigantisches Spielzeug auf zwei Rädern kaufte. Zumindest hatte sie ihre alte Maschine in Zahlung geben können.

Die junge Polizistin ging den schmalen Flur hoch zur Küche. Sie stützte sich auf der Arbeitsfläche ab und öffnete den Kühlschrank, um eine gekühlte Flasche Bier hervorzuholen. Den Kronkorken zog sie träge mit dem Flaschenöffner auf und warf ihn belanglos in die Spüle. Sie konnte sich kaum noch tragen, als sie sich ausgelaugt auf die alte, gepolsterte Eckbank fallen ließ. Erst dann nahm Vanessa einen großen Schluck, der ihre Wangen aufblähte.

Alles war mit einem Mal so still. Bis auf das unterschwellige Rauschen in den Ohren.

Kapitel 3

Nach der Frühschicht kam meist die Nachtschicht. Es war sechs Uhr morgens und nach Feierabend, dennoch saßen Vanessa und Sven mit ihren Kolleg*innen am großen Bürotisch und besprachen die Übergabe.

»Heute nichts Besonderes vorgefallen«, erklärte Sven. »Fehlalarm in einem Geschäft. Ein Mitarbeiter hatte den falschen Ausgang genommen. Und ein verwirrter Seniorenheimbewohner, der geflüchtet aber zum Glück nicht weit gekommen war.« Als er das Letzte anmerkte, trat betretene Stille an den Tisch. Oft kam es vor, dass ältere Mitbürger*innen nur spät oder gar nicht gefunden wurden. Bis sich dann ein*e verstörte*r Jogger*in bei der Notrufleitzentrale meldete und nur noch die Kriminalpolizei helfen konnte.

Die anderen Kolleg*innen gingen ihre Aufträge durch. Vanessa hörte gar nicht mehr zu. Das Pochen ihrer Stirn lenkte sie zu sehr ab, sie hatte zwischen den Schichten auch nicht wirklich schlafen können.

Als die Übergabe abgeschlossen war, löste sich die Truppe auf, während die einen den Tag gerade begannen, verabschiedeten sich die anderen.

»Holst du heute die Brötchen?«, fragte Sven, als sie draußen in Zivilkleidung in der Kälte standen.

Vanessa setzte sich auf ihre Maschine und zog den Helm über den Kopf. Nur noch ein paar Tage, dann war Dezember. Die erste Weihnachtsbeleuchtung hing bereits an manchen Wohngebäuden und Sträuchern. Eigentlich war es zu kalt, um Motorrad zu fahren, aber solange es nicht glatt wurde, würde Vanessa das Wetter ausnutzen.

»Geht klar.« Die junge Polizistin gab mehr Gas als nötig und fuhr vom Platz.

Kopfschüttelnd stieg Sven in seinen alten grauen Passat. »Einmal wieder so jung sein«, stöhnte er und zündete seinen in die Jahre gekommenen Blechkasten.

Es dauerte keine fünfzehn Minuten, bis Vanessa wie aufgetragen bei der Bäckerei hielt. Das warme Licht flutete durch die breiten Schaufenster und schnitt einen leuchtenden Kasten in den dunklen Morgen. Nervös stieg Vanessa von ihrer Maschine und sah durch die Scheibe die beiden Bäckereifachverkäuferinnen, die sich alle Mühe gaben, ihre Kundschaft zufrieden zu stellen.

Die kleine Mollige hatte es Vanessa schon so lange angetan. Es war ihr Lächeln, dass der jungen Polizistin Herzklopfen bereitete. Wo fand man noch Menschen mit einem ehrlichen Lächeln?

Von ihren Gedanken abgelenkt, wäre Vanessa fast mit Helm in den Laden hineingegangen. Vollidiot. Verlegen nahm sie sich so hastig den Schutzhelm ab, dass sie an die Wunde an ihrer Stirn geriet und ihr der Schmerz die Tränen in die Augen trieb. Die Vorfreude auf den kleinen unschuldigen Flirt mit der Verkäuferin hatte sie unvorsichtig gemacht.

Vanessa besann sich, ehe sie den Laden betrat. Eigentlich war sie der ruhige Typ. Dennoch schwang sie die schwere verglaste Eingangstür mit zu viel Kraft auf und die beiden jungen Frauen hinter dem gläsernen Tresen, kicherten sich verschwörerisch zu. Es entging Vanessa nicht. Hatten sie etwa wegen ihr gelacht?

Die Belustigung der beiden jungen Frauen hatte nichts Gemeines oder Abwertendes an sich. Viel mehr schien ihr Lächeln mit einer kleinen Vorfreude verbunden zu sein.

Vanessa spürte förmlich, wie ihr das Blut in den Kopf stieg und sich ihre Wangen röteten. Verlegen trat sie vor, als der nächste Kunde ins Geschäft wollte.

»Lass mich raten: Vier Weltmeister, zwei Sesam, zwei Normale und zwei Mohn. Dann noch Naschkram für die beiden Zwerge«, begrüßte die mollige Bäckereifachverkäuferin sie und zählte Vanessas gewohnte Bestellung auf. Mit den Zwergen meinte die junge Frau Svens Kinder. Seine sechsjährige Tochter Ronja mit dem hellen, gelockten, weichen Haar. Es stand noch offen, ob sie dieses Jahr zur Schule gehen sollte oder erst nächstes. Zumindest war sie aufgeweckt genug und würde ihre Lehrer*innen bei Laune halten. Und seinen vierjährigen Sohn Sebastian, der eher nach seinem Vater kam und ständig müde war.

Vanessa musste so breit lächeln, dass sie die Muskeln im Gesicht spürte. »Ja«, antwortete sie knapp und schaute der jungen Verkäuferin ein wenig länger in die liebevollen Augen, die wohl mehr Wärme ausstrahlten als die Bäckerei selbst.

Die junge Frau ging mit einer großen Papiertüte die Körbe mit den Brötchen ab. Ihre Kollegin bediente die anderen Kunden. Sie hatten zuvor die Plätze getauscht, als hätte sich die mollige Verkäuferin ausgesucht, Vanessa zu bedienen. Vanessa seufzte innerlich, ihr Herz wollte gar nicht mehr aufhören zu trommeln.

Zu schnell verging der Moment der Schwelgereien. Die mollige Verkäuferin krempelte die Papiertüte zu und legte sie auf der Fläche neben der Münzschale. »Hast du dich schon entschieden, was du diesmal mitnehmen möchtest?«

Dich, dachte Vanessa. Aber das würde sie sich niemals im Leben trauen, in aller Öffentlichkeit zu sagen. Versteckt in einem Chat vielleicht.

»Puh«, gab sie dafür überfordert von sich. Ihre Augen durchwanderten das lasierte Gebäck in der Glasvitrine. »Kannst du etwas empfehlen?«

Die junge Frau hinter dem Tresen überlegte nicht lange. »Die Blaubeertörtchen sind sehr beliebt und ich persönlich mag die Mohnschnecken gerne.« Sie kicherte so süß, dass Vanessa mit pochendem Herzen aufsah. Sie schauten sich wieder direkt in die Augen. Vanessa war überfordert und hilflos zugleich. Wie ging das Denken noch einmal?

Ein kurzes Ruckeln ihrer Augen. Ein Blick auf das Namensschild: L. Kramer. Dann schaute Vanessa wieder in diese braungrün schimmernden Augen, die mehr braun als grün waren. Vielleicht sahen sie bei Tageslicht ganz anders aus. Vanessa verlor sich in der Zeit, bis der ältere Herr hinter ihr sich räusperte und sie drängte, endlich eine Entscheidung zu fällen. Genau, deswegen war Vanessa überhaupt hier. Sie sollte Brötchen holen, Sven und die anderen warteten auf sie.

»Ja, bitte. Die Zwerge werden sich sicher freuen«, gab Vanessa zurückgehalten von sich. Noch immer hinkte ihr die Überforderung nach.

Die Bäckereifachverkäuferin schenkte ihr ein weiteres Lächeln. Neben das Süßgebäck legte sie ein Schokohörnchen. Die junge Frau zwinkerte Vanessa plötzlich zu. Es hatte eher etwas Freundliches als Anzügliches an sich.

»Damit es dir schnell wieder besser geht«, meinte sie und deutete auf das Pflaster an Vanessas Stirn. Erneut wuchs die Verlegenheit. Erst wusste Vanessa nicht, was sie machen sollte, schaffte es aber, sich zu bedanken.

Sie holte ihre Geldbörse aus ihrer Hosentasche und bezahlte. Dabei ließ sie ein paar Münzen in die Kaffeekasse wandern und verließ schließlich die warme Backstube.

Es war ernüchternd, zurück nach draußen zu müssen. Normalerweise vermied es Vanessa, sich noch einmal nach der jungen Frau umzusehen. Aber das extra Schokohörnchen lockerte ihre Prinzipien.

Vanessa setzte sich auf die Maschine und zog vorsichtig den engen Helm über den Kopf. Sie schaute auf und die junge Verkäuferin L. Kramer und ihre Kollegin beobachteten sie. Selbst der ungeduldige Opa drehte sich zu Vanessa um.

Vanessa musste lachen. Es war nur ein Bäckereibesuch und dennoch weckte er sie ein Stück fürs Leben auf. »Frau Kramer also«, sagte sie leise. Vanessa war schon so oft hier gewesen, hatte aber nie darauf geachtet, wie die süße Verkäuferin hieß.

Vanessa zog sich die Handschuhe über und winkte zum Abschied. Dann zündete sie den Motor. Sie sollte es nicht tun, es wäre zu angeberisch, aber Vanessa gab wieder mehr Gas als nötig und fuhr von den Parkplätzen auf die Straße. Selbstsicher düste sie Richtung B6n, von dort aus brauchte sie keine zwanzig Minuten, um im Stadtteil Hemelingen anzukommen. Sven lebte hier mit seiner Frau in einer Allee mit Altbauten. Nach dem Tod seiner Großeltern hatte er seinen Eltern das alte Reihenendhaus für ein wenig Geld abgekauft und renoviert. Er lebte das Leben, von dem der Kommerz träumte.

Die Haustür war wie sonst nicht verschlossen. Alle warteten auf Vanessa. Sie drehte den Knauf und das Rascheln der Brötchentüten lockte aufgeregte Kinder zu ihr. Anstatt ihr wie sonst um den Hals zu springen, blieben sie in sicherer Entfernung stehen. Verunsicherte Kulleraugen beäugten die junge Polizistin.

»Guten Morgen.« Vanessa lächelte, obwohl sie die untypische Distanz der beiden Zwerge nicht verstand. Sonst musste sie die Rabauken in die Küche tragen, weil sie sich an ihr festklammerten.

Vanessa reichte ihnen die Tüten mit den Brötchen und dem Naschkram. Als keiner der beiden näher kam, erinnerte sich Vanessa an das Pflaster an ihrer Stirn und strich sich geistesabwesend über die verdeckte Wunde. Jetzt verstand sie endlich. Die Verletzung machte den Kindern Angst.

Ob Sven ihnen von dem Einsatz und der Bierflasche erzählt hatte? Oder ob sie heimlich gelauscht hatten, da ihr Vater so besorgt gewesen war?

Vanessa ging in die Hocke und streckte sich nach den beiden Zwergen, die ihr sogleich in die Arme fielen.

»Es ist alles gut. Ist nichts passiert. Der Papa hat mich gerettet«, flüsterte Vanessa und verteilte tröstende Küsse.

Trotz ihrer Sorge genossen die beiden Kinder die Umarmung.

»Sagt es Mama nicht«, tuschelte Vanessa. »Aber ich habe heute extra viel Naschkram mitgebracht.« Jetzt kicherten die kleinen Zwerge endlich und eilten mit ihren kurzen Beinchen in die Küche zurück, von wo aus der Kaffeeduft Vanessa lockte.

Sofia, Svens Frau, kam auf Vanessa zu und berührte ihre Wange. »Mein Gott«, sagte sie leise, um die Kinder nicht weiter zu beunruhigen.

»Alles gut.« Vanessa wurde wieder verlegen. So langsam wurde ihr die Wunde lästig. »Es drückt nur noch unangenehm. In ein paar Tagen ist sicher nichts mehr zu sehen.«

»Sag das nicht so leichtfertig. Das ist schlimm.« Vanessa war eine erwachsene Frau, dennoch fühlte sie sich mit ihren achtundzwanzig Jahren durch Sofias Besorgnis ein wenig wie ihr Kind.

Sofia war solch eine fürsorgliche Frau. Mit den hellbraunen Strähnchen in ihrem goldblonden Haar sah sie jünger als Anfang vierzig aus. Dafür sah Sven mit seinen dunkelblonden kurzen Haaren und Geheimratsecken doppelt so alt aus.

»Komm, setz dich«, meinte ihr Kollege und half den Kindern, Platz zu nehmen. Doch Ronja wollte bei Vanessa sein und setzte sich schon wie so oft auf ihren Schoß.

»Wir waren gestern Abend noch mit den Kindern bei Oma und haben geholfen, den Garten winterfest zu machen«, erzählte Sofia beiläufig und deckte den Tisch.

»Ich hab eine Snecke gefunden. Die war so groß!« Sebastian prahlte und warf die Hände in die Luft. Er konnte das »Sch« noch nicht aussprechen. Mit dem Körper machte er eine wippende Bewegung und ahmte das Kriechtier nach. »Die hat sich ganz langsam bewegt«, flüsterte er, als würde Langsamkeit auch leises Sprechen bedeuten.

Sie lauschten dem kleinen Jungen und Vanessa drückte Ronja näher an sich, weil sie traurig den Kopf an sie lehnte. Die Wunde verstörte sie anscheinend noch immer. Vanessa bereute, die heutige Einladung angenommen zu haben. Dabei war es keine Einladung mehr. Sven und seine Familie waren schon lange zu ihrer Familie geworden. Sonst hatte Vanessa niemanden in ihrem Leben.

Das schlechte Gewissen wich dem wohligen Gefühl der Geborgenheit, als Sofia ihr mit einem Lächeln die halbe Packung Pute, ein bisschen Butter und Gemüse hinstellte. Dazu reichte sie ihr eine ganze Schale Hüttenkäse, den sie mit extra viel Schnittlauch garniert hatte. Genau wie es Vanessa mochte.

Sie musste nie etwas sagen oder um etwas bitten. Die Mutter von zwei Kindern tat das gerne. Aus Zurückhaltung würde Vanessa sich sonst nur ungern am Frühstück bedienen. Es brauchte immer ewig, bis sie mit jemandem warm wurde.

Sofia wusste, dass Vanessa anschließend zum Sport fahren würde und genug essen musste, um bei Kräften zu bleiben.

Die Familie aß und hörte weiter dem kleinen Sebastian zu, wie sehr ihn die Gartenarbeit beeindruckt hatte. Sven war Brillenträger und bald würde der kleine Junge wie seine große Schwester eine tragen müssen.

Mit der Zeit schien Ronja aufzutauen. Es war fremd, sie so verschlossen zu sehen. Hilflos suchte Vanessa den Blick ihres Kollegen, der ihr mit einem Lächeln zu verstehen gab, dass es halb so schlimm war.

»Ronja macht sich einfach nur Sorgen. Der Job bringt das mit sich«, erklärte er. Einmal mehr ärgerte sich Vanessa, dass sie kopflos gehandelt hatte.

Das kleine Mädchen schaukelte mit den Füßen und bediente sich an Vanessas Teller. Auch den Hüttenkäse aß sie mit. Ihre Mutter wunderte sich. »Seit wann magst du denn Hüttenkäse?«

»Ich will genauso stark wie Vanessa sein und Polizistin werden!« Ihre Tochter schluckte schwer an der trockenen Pute.

»Ich auch!« Sebastian biss demonstrativ ein extra großes Stück von seinem Käsebrot ab.

Angesäuert nahm Sven einen Schluck von seinem Kaffee. »Was ist mit mir? Ich bin auch Polizist.«

Sein Sohn zuckte albern mit den Schultern. »Du bist schon alt und hast einen Bauch.«

Sven war geplättet, während die anderen lachten. Auch Vanessa musste ein wenig schmunzeln. Dabei hatte ihr Partner einen echt guten Sprint drauf, wenn es drauf ankam.

Sofia setzte sich endlich an den Tisch und erzählte, was sie über den Tag geplant hatte. Auf ihrer To-do-Liste stand, dass sie nach der Arbeit bei der Tankstelle, einkaufen musste.

»Ich kann das für dich erledigen«, schlug Vanessa vor.

»Du mit deinem neuen Flitzer? So viel kannst du nicht tragen und den Wagen kann ich dir nicht überlassen. Ich muss die Kinder später noch von der Kita abholen. Außerdem brauchst du deinen Schlaf.« Sofia hob mahnend die Augenbrauen. So schaute auch Sven, wenn etwas nicht in Ordnung war. »Sven kann bei Schichtwechsel auch nicht schlafen. Dir geht es vermutlich nicht anders.« Ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr und Sofia geriet wieder in Hektik.

»Oh, nein! Los Kinder, wir müssen!« Sie gab ihrem Mann einen hastigen Kuss und stand auf. Ronja rutschte Vanessa vom Schoß und half ihrem kleinen Bruder, die Klettverschlüsse seiner Rennautoschuhe zu schließen.

»Bis heute Mittag dann!«, rief ihnen Sven nach, nachdem seine Frau die Kinder mit ihren kleinen Rucksäcken hinausgetrieben hatte.

Die beiden Polizist*innen lauschten der zufallenden Tür, den Schritten, dem Diskutieren der Kinder, wer in welcher Sitzschale Platz nehmen durfte. Dann startete der Motor.

Sven nahm den letzten Schluck Kaffee. Woraufhin ihn Vanessa mürrisch musterte und zum Lächeln brachte.

»Ich weiß, ich weiß. Ich kann nicht richtig schlafen. Aber Sofia macht den besten Kaffee. Die Brühe im Büro ist ein Witz dagegen.« Sven stand auf und stellte Tasse und Teller in die Spüle. »Das Gästezimmer ist wie immer für dich hergerichtet.« Er klopfte Vanessa sachte auf die Schulter und verabschiedete sich.

Seine Kollegin bedankte sich und sah ihm nach, wie er die Küche verließ und den knatschenden schmalen Treppenaufgang nach oben nahm.

Allein aß Vanessa auf und genoss die Ruhe. Sven lebte mit Sofia und den Kindern in einer wirklich idyllischen Gegend. Jedes Mal aufs Neue verstand Vanessa, warum es der Traum jeder kleinen Familie war, an solch einem Ort zu leben.

Schließlich richtete sich Vanessa auf und verstaute ihr Geschirr mit dem der anderen in die Spülmaschine. Den Aufschnitt stellte sie in den Kühlschrank und entsorgte den Müll in die kleine Tonne unter der Spüle. Vanessa machte sich noch die Mühe, mit einem feuchten Lappen den Tisch und die Arbeitsfläche der Küchenzeile zu reinigen. Die im Flur zerstreuten Spielzeuge der Kinder sammelte sie zusammen und stapelte sie in einen Korb. Die Pantoffeln stellte sie ordentlich an ihren Platz. Erst dann verließ Vanessa das Haus, indem sie vorsichtig die Tür hinter sich schloss.

Egal wie leise Vanessa auch gewesen war, sobald sie ihre Maschine startete, würde Sven wissen, dass sie sich auf den Weg gemacht hatte.

Kapitel 4

Auf den Straßen bemerkte Vanessa ein, zwei Vergehen, die sie zu ignorieren versuchte. Kurz vor knapp über Rot fahren, ein wenig zu schnell um die Kurve und einem Radfahrer die Vorfahrt nehmen. Eine Aktion, die vielleicht nur einen Augenblick dauerte, konnte das Leben für immer negativ verändern. Ein Schulkind auf seinem Rad war schnell übersehen.

Vanessa krampfte sichtlich zusammen, als ihr unweigerlich die Bilder von alten Unfallorten vor dem inneren Auge aufflammten. Die Machtlosigkeit, wenn ein Kind schwerverletzt nach seiner Mutter verlangte und man nach der Ersten Hilfe tatenlos darauf warten musste, bis der Rettungsdienst eintraf. Selbst als erfahrene Polizistin konnte man so etwas nur schwer verarbeiten.

Fiel jemand zu sehr aus dem Raster, meldete Vanessa den Verkehrssünder natürlich ihren Kolleg*innen. Um ehrlich zu sein, hatte Vanessa nie Feierabend. Sie war ständig aufmerksam, um im Notfall eingreifen zu können, was ohne Uniform eher einem Verzweiflungsakt glich.

Zu Hause stellte Vanessa ihre Maschine ab, begab sich hastig in Richtung ihrer Wohnung und schloss die Außentür leise auf. Wie eine Katze hopste sie die Stufen hoch, um niemanden ihrer Nachbarn so früh aus dem Bett zu holen.

Sobald sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, hetzte Vanessa den schmalen Flur hoch zu ihrem Schlafzimmer. Sie riss die Schranktüren auf, packte ihre Sporttasche und schnappte sich noch eine Wasserflasche, um die Wohnung dann wieder zu verlassen. Nachdem sie abgeschlossen hatte, schaute sie auf ihre Smartwatch. Als wäre sie zu spät, eilte sie nun ohne Rücksicht die Treppen runter. Nach der Nachtschicht war ihr stets, als würde sie zu allem zu spät kommen.

Nach zehn Minuten stand Vanessa vor dem Fitnessstudio und nahm den Helm ab. Diesmal war sie schlauer und passte darauf auf, ihre Stirn nicht zu stoßen.

Erneut schaute sie auf die Uhr und sah sich um. Obwohl sie glaubte, zu spät zu sein, war es erst kurz nach sieben.

Vanessa stieg von ihrer Maschine und lehnte sich gegen den Sitz. Wie jeden Morgen nach der Nachtschicht wartete sie.

Vielleicht hat er einen Umweg genommen? Manchmal tat er das, um ihr aus dem Weg zu gehen.

Draußen war es so frisch, dass Vanessa schniefen musste. Die Wunde an ihrer Stirn drückte, aber es war zum Aushalten. Sie musste nur später beim Sport aufpassen. Ein Arzt hätte ihr sicher angeraten, sich auszuruhen, aber so war Vanessa nicht.

Das Warten in der Kälte wurde mit jeder weiteren Minute zur Herausforderung. Kind um Kind kreuzte ihren Weg. Zu Fuß, auf dem Fahrrad oder einem Scooter durch die Nebenstraße zur Schule.

Mittlerweile hatte sich der Himmel aufgehellt. Vanessa seufzte und schaute erneut auf die Uhr. Eine halbe Stunde war seit ihrer Ankunft vergangen. Er kommt heute also auch nicht.

Genau dann, als Vanessa die Hoffnung aufgeben und ins warme Studio wollte, entdeckte sie einen Jungen mit Schulranzen, der müde die Straße hochkam.

Vanessas Herz klopfte schneller. Sie lächelte übers ganze Gesicht, obwohl der Junge sie noch nicht gesehen hatte. Dann schaute er auf und hatte diese Freude in den Augen, die seine Mundwinkel nicht erreichten.

Doch Vanessa genügte dieses halbe Lächeln. Das war es wert gewesen, sich zu beeilen und auf ihren kleinen Bruder zu warten.

Obwohl es aussah, als würde er sich dazu zwingen, zu Vanessa rüberzukommen, beeilte er sich. Er konnte seine große Halbschwester nicht in die Augen sehen, dennoch trug er dieses gewollte, ungewollte Lächeln im Gesicht.

»Guten Morgen, Partner«, begrüßte Vanessa den schmalen Jungen mit den gleichen blauen Augen. »Hast wohl nicht gut geschlafen?«, fragte sie und hätte ihm zu gerne die hellen Haare zerzaust. Sascha, der russische Kosename für Alexander, war zwölf Jahre alt und ging in die sechste Klasse der Realschule. Obwohl sie beide verschiedene Väter hatten, sahen sie sich so ähnlich. Vorbeigehende Passanten fragten oft, ob Sascha Vanessas Sohn wäre. Nichts hätte sich seine Halbschwester sehnlicher gewünscht.

Vanessas Mutter hatte nach dem Tod ihres Mannes wieder geheiratet. Es ging so schnell, besonders als sie Vanessa mit sechzehn aus dem Haus geschmissen hatte.

»Bin zu früh aufgestanden«, moserte Sascha und rieb sich die letzten Krümel aus den Augen.

Vanessa lächelte. »Wegen mir?«

Ihr kleiner Bruder wurde verlegen. Sein Blick ging auf das Pflaster an ihrer Stirn. »Hast du heute wieder Verbrecher geschnappt?« Er klang ein kleines Stück aufgeregt.

»Ja, jede Menge.« Vanessa lachte und war froh über ihren Job, mit dem sie ihren Bruder ein klein wenig beeindrucken konnte.

»Cool.« Sascha wurde still und sah zu Boden. Er wusste anscheinend nicht mehr, was er sagen sollte. Oder beunruhigte ihn die Verletzung genauso wie Ronja?

Der Verkehr nahm zu. Schüler*innen auf Fahrrädern kreuzten ihren Weg zur Schule. Nicht mehr lang, dann musste auch Sascha los, um nicht zu spät zu kommen. Sich verabschieden zu müssen, zog an Vanessas Herzen. Sie wollte die kostbaren Minuten mit ihrem Halbbruder nicht so einfach verstreichen lassen.

»Magst du ein Schokocroissant um die Ecke haben?« Vanessa versuchte, das Eis zwischen ihnen zu brechen. Schokocroissants mochte Sascha am liebsten.

Ihr Halbbruder war nicht mit Vanessa aufgewachsen. Er war auf die Welt gekommen und einige Monate später lebte seine große Schwester nicht mehr bei ihnen. Er kannte sie nur von flüchtigen Besuchen, die meist mit Angst und Vorsicht behaftet waren. Seine Schwester bekam jedes Mal Ärger. Dennoch kam sie immer wieder mit Tränen in den Augen. Sie brachte Geschenke und anderen Kram, den ihre gemeinsame Mutter hasste.

Sascha schaute traurig und Vanessa wurde unsicher.

»Was ist los?« Sie wollte ihn ein letztes Mal locken. »Bis der Unterricht beginnt, hast du noch ein bisschen Zeit.«

»Mama hat gesagt, ich soll mich nicht mit dir treffen und irgendwo hingehen. Sie hat Angst, dass ich wegen dir schwul werde.«

Wie ein unerwarteter Messerstich zwischen die Rippen, anders konnte Vanessa den Schmerz nicht beschreiben, der ihr die Luft zum Atmen raubte.

Ihr Bruder suchte kurz ihren Blick und senkte wieder schuldig den Kopf. Es waren nicht seine Gedanken, aber ihre gemeinsame Mutter hatte sie ihm gekonnt in den Kopf gepflanzt.

Vanessa wurde flau im Magen, dennoch zwang sie sich ein Lächeln auf. »Du hast Mama erzählt, dass wir uns treffen?« Ihre Stimme zitterte kaum merklich.

Sascha zögerte, ehe er antwortete. »Einer meiner Freunde hat mich auf dem Schulweg gesehen. Er hat seiner Mama erzählt, dass ich mit einer fremden Frau beim Bäcker war, und sie hat das dann Mama gepetzt.« Er verzog unzufrieden das Gesicht. »Ich musste ihr dann verraten, dass ich dich getroffen hatte.«

Vanessas Lächeln war nur noch eine gekonnt gespielte Fassade. »Tut mir leid, dass du Ärger bekommen hast.«

»Drei Wochen Stubenarrest«, murrte Sascha und gab Preis, wie unzufrieden er damit war. Deswegen hatten sie sich also in letzter Zeit nicht gesehen.

Vanessa biss die Zähne zusammen. Und doch war ihr kleiner Bruder heute gekommen, um sie zu sehen. Hiernach würde es vermutlich Prügel geben, wenn herauskam, dass er sich wieder mit seiner Schwester getroffen hatte. Vanessa kannte noch von früher, wie reizbar ihre Mutter war.

»Du weißt, wenn etwas passiert, dann bin ich immer für dich da«, versicherte sie. Sascha nickte nur träge.

Was seine große Schwester sagte, hatte keine wirkliche Bedeutung für ihn. Eltern waren Heilige, egal wie schlimm sie waren, sie standen über allem.

Vanessa fand sich in diesem Gefühl wieder. Sie war verletzt, dennoch kam ihr nicht einmal die Idee, ihre Mutter innerlich zu verfluchen. Zu groß war die Sehnsucht nach ihrer Liebe. Zumindest die Illusion davon.

Kinder, die misshandelt wurden, hörten nicht auf, ihre Eltern zu lieben. Stattdessen hörten sie auf, sich selbst zu lieben.

Vanessa schluckte. Sie wollte ihrem Bruder keine weiteren Probleme bereiten und kramte in ihrer Hosentasche. Sie reichte ihm einen Zehneuroschein. »Hier«, sagte sie. »Du sparst doch für dieses eine Spiel für deine Playstation.«

Sascha betrachtete aus ehrfürchtigen Kinderaugen das Geld und sah dann seine Schwester an. »Ich bekomme nur wieder Ärger«, meinte er verunsichert.

Vanessa zog die Mundwinkel etwas höher. »Du sagst es Mama einfach nicht. Sie bemerkt bestimmt nicht, wenn ein wenig mehr in deinem Sparschwein ist.«

Mama. Sie hatte es wieder so einfach gesagt. Als hätten sie sich über Banalitäten gestritten und würden sich in den nächsten Tagen wieder versöhnen. Dabei saß Vanessas Schmerz viel tiefer.

Sascha grinste frech. Doch sobald er den Schein in den Händen hielt, wurde seine Haltung wieder unsicher.

»Ich muss jetzt«, sagte er, als wollte er vor einer unangenehmen Situation flüchten.

Vanessa mochte die Zuneigung ihres Bruders nicht erkaufen, gleichwohl hätte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als eine Umarmung von ihm zu bekommen. Seit Sascha wusste, was Homosexualität war und warum seine Mutter ihm den Kontakt zu seiner großen Schwester verbot, stand er immer ein Stück weiter von ihr weg. Er sagte es zwar nicht, dennoch fürchtete er sich davor, dass seine lesbische Schwester ihn mit ihrer Homosexualität anstecken könnte. Wie eine Krankheit.

Vanessas Homosexualität war schon immer da gewesen. Als würde sie irgendwo in einem Raum voller Gedanken in einer Ecke darauf warten, dass sie dieses Gefühl, das tief in ihr verborgen war, endlich zulassen würde.

Aus Sorge vor Gewalt und Ausgrenzung hatte Vanessa ihre sexuelle Orientierung stets geheim gehalten. Das tat sie zum großen Teil noch immer. Von klein auf hatte ihr ihre russisch-orthodoxe Mutter beigebracht, wie wenig wert sie war, wenn sie ihre Jungfräulichkeit nicht zu beschützen wusste. Egal, ob jemand sie sich mit Gewalt nahm. Wie wenig Wert ihre Meinung hatte. Besonders, wenn es um ihre sexuelle Orientierung ging. Wer würde schon gerne freiwillig ins Fegefeuer gehen? Vanessa würde auf dem Scheiterhaufen verbrennen.

Irgendwann in ihrer Jugend war Vanessa all die Verbote mit dem Bild der Hölle so überdrüssig, dass sie heimlich abgehauen war, um mit Freunden am Abend zu grillen. So etwas Banales und ihre Mutter hatte es ihr wieder einmal verboten. Es war der leise Schrei nach Freiheit. Vanessa war ein gehorsames Kind. Nur dieses eine Mal wollte sie die Regel brechen. Weil sie schon so ewig in ihre Klassenkameradin Valerie verliebt gewesen war.

Es war das alte Spiel mit dem Flaschendrehen, so abgedroschen und doch gehörte es zu ihrer kleinen Jugendsünde. Aus der Aufregung heraus hatte sie das dunkelblonde Mädchen geküsst und dabei den heranrollenden Wagen ihrer Mutter überhört. Die Schmetterlinge im Bauch waren unbeschreiblich. Selbst die Prügel zu Hause waren dieses Gefühl wert gewesen.

Heute, mit achtundzwanzig, unterdrückte Vanessa noch immer, was in ihr verborgen lag. Obwohl es alle sehen konnten, besonders ihre Kollegin Maryam.

Als ihre Mutter sie rausgeschmissen und Vanessa endlich so etwas wie ein eigenes Leben aufgebaut hatte, hatte sie sich getraut, diese versteckte Seite in ihr auszuleben. Aber es endete immerzu in einer Katastrophe. Vanessa war nie wirklich bereit, zu ihrer Homosexualität zu stehen. Ihre Mutter selbst hatte doch gesagt, dass ihr Vater nur wegen ihr gestorben war. Sie hätte durch ihre Sünden den Teufel ins Haus geholt.

Mittlerweile gab es genug Aussagen von Theolog*innen, dass die Bibel Homosexualität, wie sie heute verstanden wurde, nicht als solches verurteilte. Es gab diesen einen Online-Auszug, an den sich Vanessa regelrecht klammerte. »An keiner Stelle verurteilt die Bibel Homosexualität«, hieß es auf der Seite von Katholisch.de. Die Theologin Müller erklärte, dass der Vers Levitikus 18,22 und Römer 1,26-27 als solches nicht in Bezug der heutigen Homosexualität in Verbindung gebracht werden konnte. Dass man nicht von der gleichgeschlechtlichen Liebe als solches sprach, sondern Männer verurteilte, die ihre Macht missbrauchten, um mit ihrer Sexualität andere Männer zu erniedrigen, und ihnen auf diese Weise die Ehre nahm. So, wie missbilligt wurde, mit seiner Frau während ihrer Periode zu schlafen. Da dieser Geschlechtsakt nicht als gemeinschaftsförderlich galt. Also war jeder, der nur aus Lust mit seinem Partner oder seiner Partnerin schlief, genauso abstoßend wie Vanessa mit ihrer Homosexualität.

Vanessa hatte den Artikel gefunden, weil sie wissen wollte, warum Homosexualität Sünde war.

Dennoch wog das, was sie tat, mehr als die Taten der anderen. Viele Menschen hatten den Vers aus der Bibel nicht einmal selbst gelesen und dennoch verurteilten sie Vanessa, zumal sie der Auslegung anderer vertrauten und nicht auf ihren eigenen Menschenverstand.

Dieses lähmende Gefühl war wieder da. Vanessa schniefte durch die Kälte und ertrank erneut in den Fluten ihrer Vergangenheit.

Sie hob den Blick, ihr kleiner Stiefbruder war längst auf dem Weg Richtung Schule. Vanessa hoffte darauf, dass er sich noch einmal zu ihr umdrehen und ihr zuwinken würde. Aber er ging mit gesenktem Kopf weiter. Voller Reue, weil er hinter dem Rücken seiner Mutter seine Schwester traf.

Vanessa kamen die Tränen, sie schluckte. Ihre schweren Beine bewegten sich von allein. Sie musste Sascha noch einmal sprechen und ging ihm nach.

Die junge Polizistin traute sich nicht, nach ihm zu rufen, sie musste ihm persönlich sagen, dass er nichts Falsches tat. Dass sie Geschwister waren und es in Ordnung war, dass sie sich mochten.

Vanessa blieb stehen, als ihr Bruder auf einen Mitschüler traf, dem er seinen Geldschein überreichte. »Cool! Wo hast du den denn her?«

»Irgendwo auf der Straße gefunden. Du kannst den haben.« Sascha sprach leise und doch verstand Vanessa jedes Wort.

Starr stand sie da. Sie sah den kleinen Menschen zu, wie sie mit ihren vollgepackten Ranzen auf dem Weg zur Schule waren und in dem großen Gebäude verschwanden.

Schlug ihr Herz noch? Vanessas Augen brannten. Sie wischte sich den Tropfen von ihrer Nase fort und kehrte zurück zu ihrer Maschine. Unberührt nahm sie ihre Tasche und betrat das Fitnessstudio. Sie ging in die Umkleiden, wechselte ihr Schuhwerk, schloss ihre Wertgegenstände ein und stellte sich bei den Cardiogeräten aufs Laufband. Die Musik in ihren Ohren lief auf höchster Lautstärke. Sie hörte nichts und niemanden, nicht einmal ihre Gedanken. Nur den Song und den Text.

Obwohl die Wunde an ihrer Stirn drückte, ging sie die Geräte im Hantelbereich ohne Pause durch. Vanessa hatte die beiden Frauen bereits bemerkt, tat aber so, als hätte sie sie nicht gesehen.

Diese Maya war da. Sie kannte sie von einem früheren Einsatz: blutige Geschichte mit einer Exfreundin.

Vanessa traf fast regelmäßig auf die Frau mit der blonden Kurzhaarmähne. Eine freundliche Begrüßung und das Gefühl, dass sie etwas verband. Dabei ging es nicht um den Fall von damals, sondern um viel mehr.

Die laute Musik in den Ohren ließ Vanessa nicht zur Ruhe kommen. Sie zwang sich dazu, weiter zu machen. Kreuzheben hundertvierzig Kilo, Maximalgewicht. Fünf Mal fünf Wiederholungen. Kurz und intensiv. Die Übung nahm ihr den letzten Atem. Wieder suchten ihre Augen die beiden Frauen, die gemeinsam lachten und sich unterhielten. Wieder zwang sich Vanessa zu trainieren.

Nina?