Blaulichtmilieu - Stefan Mühlfried - E-Book

Blaulichtmilieu E-Book

Stefan Mühlfried

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Beschreibung

Feuerwehrmann Tim erwacht nach einem One-Night-Stand und ist sicher: Kriminalkommissarin Marie ist die Frau seiner Träume. Da werden beide zu einem Einsatz gerufen: Am Hamburger Flughafen ist eine Bombe explodiert. Die Polizei ist schon bald einem Verdächtigen auf der Spur, Tim hält jedoch einen anderen für den Täter. Er versucht Marie zu überzeugen, aber die lässt ihn zunächst abblitzen, beruflich wie privat. Doch Maries Zweifel werden größer, und gemeinsam schmieden sie einen waghalsigen Plan …

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Stefan Mühlfried

Blaulichtmilieu

Hamburg-Krimi

Zum Buch

Explosive Wahrheit Eine Bombenexplosion am Flughafen Hamburg tötet 19 Menschen. War es ein islamistischer Terroranschlag? Die Presse sagt ja, die Polizei glaubt es auch. Doch Feuerwehrmann Tim Roth ist sich nicht so sicher – zu seltsam sind die Umstände am Einsatzort. Er versucht die Mordermittlerin Marie Schwartz für seine Idee zu gewinnen, doch die lässt ihn abblitzen, beruflich wie privat. Alles deutet auf den radikalen Moslem Altay Kabaoglu als Täter hin. Tim glaubt, dass Wolfgang Boskop, der die Explosion augenscheinlich verhindern wollte, den Anschlag inszeniert hat. Nach und nach überzeugt er Marie, und gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach der Wahrheit. Doch die ist nicht leicht zu finden: Altay macht sich immer mehr verdächtig, und Boskop nutzt geschickt die Presse, um sich als Volksheld aufzuspielen. Wem können sie noch glauben? Und wer glaubt ihnen? Marie und Tim schmieden einen waghalsigen Plan, um dem Täter auf die Spur zu kommen. Aber der Einsatz ist hoch – viel höher als gedacht …

Stefan Mühlfried, Jahrgang 1965, wuchs in Hamburg-Rahlstedt auf und lebt in Hamburg-Bergedorf. Während seiner Studienzeit machte er eine Ausbildung zum Rettungssanitäter und arbeitete auf verschiedenen Rettungswachen. Im Brotberuf ist er inzwischen als freier EDV-Berater für Kunden im In- und Ausland tätig. 2017 gelangte er auf die Shortlist des Deutschen Selfpublishing-Preises. Wenn er nicht gerade schreibt, betreibt er in seiner Freizeit Kampfsport, singt im Chor und spielt Synthesizer. „Blaulichtmilieu“ ist sein erster Krimi im Gmeiner-Verlag.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © John / stock.adobe.com

und © Gerhard1302 / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6698-4

 

 

Prolog

Eine Bombe zu bauen ist nicht einfach.

Doch was im Leben ist schon einfach? Die guten Dinge sollten einfach sein: Das Richtige tun. Andere auf den Pfad der Tugend führen. Mutig sein. Für sein Volk einstehen, seinen Glauben, seine Überzeugungen. Stark sein. Aber sie sind es nicht.

Schwach zu sein hingegen ist einfach. Der Herde hinterherlaufen. Jammern. Den Verführungen nachgeben. Den schmeichelnden Stimmen der falschen Propheten verfallen. Das zu tun, was alle tun, um nicht denken zu müssen. Das ist einfach.

Sprengstoff herzustellen ist einfach. Dabei nicht selbst in die Luft zu fliegen, ist der schwere Teil. Er warf einen Blick über die Schulter auf den Gefrierschrank, in dem sein Vorrat lagerte. »Die Mutter Satans« nannten sie das Zeug. Unsinn. Was hatte Satan damit zu tun?

Er wandte sich wieder seinem Arbeitstisch zu. Der Lötkolben war jetzt heiß, die Spitze rauchte, als er sie an das Lötzinn hielt. Sobald ein Tropfen flüssigen Metalls daran hing, führte er den Kolben zu der Platine, die vor ihm lag, und lötete das Ende eines Kabels fest. Er blies den Qualm weg, wartete, bis die Lötstelle erkaltet war, und zog sacht am Kabel. Es hielt.

Die Bombe zu zünden, würde leicht und schwer zugleich sein. Leicht, weil nur ein Knopf gedrückt werden musste. Schwer, weil es eine Sünde war, Leben zu nehmen. Aber was bedeutet der Tod schon, wenn es darum geht, das Richtige zu tun.

Das einzig Richtige.

Kapitel 1

20. Mai

Tim wachte auf und blinzelte in grelles Sonnenlicht. Verdammt, er hatte die Jalousien nicht zugemacht. Na gut, er hatte Wichtigeres zu tun gehabt. Und – wow! – das war’s wert gewesen. Diese Frau war … Er suchte nach Worten. Unbeschreiblich. Ja, genau. Unbeschreiblich.

Nicht nur die Nacht. Die auch, aber diese Frau … wow!

Vorsichtig stützte er sich auf und sah über ihren verwuschelten rotblonden Schopf hinweg auf den Wecker. 8.07 Uhr. Wie gut, dass er Spätdienst hatte.

Er betrachtete sie, ihre Schulter, ihren Arm, der angewinkelt auf der Decke lag. Ein paar Sommersprossen auf der leicht gebräunten Haut. Die Muskeln von Schulter und Oberarm zeichneten sich in der tief stehenden Morgensonne ab. Sportlich, aber nicht übertrieben. Und sie konnte zupacken, oh ja.

Wie zur Hölle war noch mal ihr Name?

Als ob sie seinen Blick auf sich spürte, rollte sie sich auf den Rücken, legte den Unterarm über die Augen und seufzte. Unter dem oberen Rand der Decke waren die Gründe dafür zu erahnen, dass er die Jalousien – und alles andere um sich herum – vergessen hatte. Er legte die Hand auf die Decke und fühlte ihre Brüste durch den Stoff. »Guten Morgen, Sonnenschein«, raunte er.

Augenblicklich riss sie ihren Arm vom Gesicht und starrte ihn mit großen Augen an. Nach ein paar Sekunden wich die Verwirrung aus ihrem Gesicht, sie ließ sich zurückfallen und stöhnte: »Oh nein!«

Nicht die Reaktion, die er erwartet hatte. Nicht im Entferntesten die Reaktion, die er erhofft hatte. Er zog die Hand zurück.

»Was ist?«, fragte er.

»Wie komme ich hierher?«

»Wie du …? Komm schon, das musst du doch noch wissen. Party, Knutschen, Taxi …«

»Hast du mir K.-o.-Tropfen in die Cola getan? Ich schwöre dir, wenn –«

»Was? Verdammt, nein! Hör mal, wenn du mehr trinkst, als du –«

»Ich habe keinen Alkohol getrunken. Nicht einen Tropfen.«

»Blödsinn. Du hattest ordentlich …« Er stutzte.

»Was? Was ist?«

»Du hast nicht etwa einen von den Brownies gegessen?«, fragte er gedehnt.

»Doch, die waren lecker. Wieso?«

»Die, über denen das Schild ›Space Cake‹ an der Wand pinnte?«

»Oh nein.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Wieso hast du mich nicht davon abgehalten?«

»Bin ich dein Bewährungshelfer?«

»So ein Mist«, sagte sie und zog die Decke über den Kopf. »Breit wie ne Schrankwand, und das während der Bereitschaft«, hörte Tim sie dumpf sagen. »Fuck!«

»Was für eine Bereitschaft?«

»Ich fasse es nicht. Und dann auch noch das.«

»Das? Was meinst du mit ›das‹?«

»Dass ich mit einem x-beliebigen Kerl im Bett lande. Mann, ich wollte nur kurz auf die Party.«

»X-beliebig?«

»Ja, sorry, du bist bestimmt ein prima Kerl, aber können wir bitte einfach so tun, als sei nichts passiert?« Sie schwang sich aus dem Bett, die Decke um sich geschlungen.

Damit lag Tim mit einem Mal auf dem bloßen Laken. »Und wenn ich das nicht will? Es ist nämlich nicht nichts passiert.«

»Pech«, sagte sie und folgte der Spur ihrer Klamotten in den Flur, um sie einzusammeln. »Und leg dir was über, du bist nackt.«

»Weil du meine Decke hast«, rief er ihr nach und stieg in seine Boxershorts.

Sie verschwand im Bad. Mit Decke. Kurz darauf hörte er die Klospülung rauschen.

»Willst du wenigstens noch einen Kaffee?«

»Was?«

»Kaffee?«

Sie öffnete die Badezimmertür, komplett angezogen, und drückte ihm die Decke in den Arm. »Lass gut sein, ja?«

Er warf das Stoffknäuel aufs Bett. »Lass gut sein? Sag mal, was glaubst du, wer du bist?«

»Auf jeden Fall kein Mädchen für eine Nacht.« Sie stutzte einen Moment und sah ihn von oben bis unten an.

Sollte sie ruhig bedauern, was sie da in den Wind schoss. Tim widerstand der Versuchung, seine Muskeln anzuspannen, und verschränkte die Arme. »Könnten meinetwegen auch ein paar mehr sein.«

»Du bist so ein blöder –«

»He, nein, das habe ich nicht –«

Ein Mobiltelefon klingelte. Sie hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, und zog das Smartphone aus der Handtasche. »Schwartz«, sagte sie.

Ein anderes Telefon klingelte. Seines. Er fischte es aus der Jeans. Die Einsatzleitstelle. Rasch nahm er den Anruf an. »Roth.«

Wenige Sekunden später steckten beide ihre Telefone wieder ein. »Ich muss los«, sagten sie gleichzeitig.

»Was? Wohin musst du?«, fragte Tim.

»Dienstlich«, sagte sie. »Geht dich nichts an.«

Er zog die Augenbrauen hoch und öffnete die Tür. »Ich wünsche einen angenehmen Tag. Beehren Sie uns bald wieder.«

Für einen Sonntagmorgen herrschte in der Stadt Chaos. Auf den paar Kilometern von seiner Wohnung in Hamburg-Dulsberg zur Feuerwehr- und Rettungswache Barmbek hörte Tim pausenlos Martinshörner. An der Kreuzung zum Ring 2 musste er erst einen Rettungswagen und anschließend ein Rudel Polizeifahrzeuge passieren lassen. Als der ganze Aufzug durch war, zeigte die Ampel in Richtung Dehnhaide längst wieder Rot, aber er pfiff drauf. Zweimal blitzte es orange, dann tastete er sich über die vierspurige Kreuzung und gab Vollgas. Würde ihn ein paar Telefonate kosten. Egal.

Mit quietschenden Reifen bretterte er auf den Hof der Wache, schlitterte in eine freie Parkbucht und sprang aus dem Wagen.

»Na endlich«, rief Wachleiter Bernke. »Hast du noch Brötchen geholt oder was?«

»Mann, ich habe erst in drei Stunden offiziellen Dienstbeginn. Was liegt an?«

»Hörst du kein Radio? Bombenexplosion am Flughafen Fuhlsbüttel. Rauf auf den RTW Dora und runter vom Hof. Mark wartet schon.«

Die Wagen A wie Anton bis C wie Cäsar waren rund um die Uhr besetzt, ein weiterer Wagen wurde bei Bedarf durch die Jungs vom Gerätewagen bemannt und war mit Sicherheit schon unterwegs.

»Geht klar.« Tim lief in die Halle und stieg in seine Schutzkleidung.

Mark öffnete die Fahrertür. »Schön, dass der Herr sich aus dem Bett bequemt hat. Darf ich noch einen Kaffee reichen oder fahren wir?«

»Immer ruhig mit den jungen Pferden. Was ist denn los? Bernke sagte was von einer Bombe.«

»Explosion in Abflugebene Terminal 1. MANV Stufe zwei, Feuer, alles.«

Massenanfall von über 50 Verletzten. Nicht gut. Tim setzte den Helm auf und sprang in den Wagen. Bevor er die Tür zugezogen hatte, trat Mark aufs Gas, aktivierte das Martinshorn und bog nach links auf die Straße ein.

»Wer ist alles mit raus?«, fragte Tim.

»Alles, was rot ist und ein Blaulicht hat. Festhalten!« Er bog scharf links ab.

Tim hatte Schwierigkeiten, den Gurt anzulegen. »Meinst du nicht, wir haben genug zu tun? Ein umgekippter RTW ist nicht auch noch nötig.«

»Schnauze, Beifahrer.«

Tim griff zum Funkgerät und meldete sie bei der Leitstelle an. Er erhielt einen Sonderfunkkanal für den Einsatz, schaltete um und rief die Funkeinsatzleitung. Die wies sie an, den Bereitstellungsbereich vor Terminal 1 anzufahren und vor Ort weitere Anordnungen zu empfangen.

»Willst du nicht die Fuhle hoch?«

»Nee, Saarlandstraße ist schneller.«

»Wie du meinst.«

Sie schossen am Stadtpark entlang, kassierten ein Zielfoto beim Blitzer in Höhe der Freilichtbühne und bogen in den Überseering ein. Ein halsbrecherischer Rechts-links-Schwenk brachte sie in die Sengelmannstraße, die schnurgerade zum Flughafen führte.

In der Zufahrt zu den Abflugterminals herrschte das gleiche Gedränge wie jeden Tag, nur dass die Autos heute keine Taxischilder auf dem Dach hatten, sondern Blaulichter. Gestalten in Blau, Weiß und Rot liefen zwischen ihnen herum, Polizisten in ihren blau-schwarzen Uniformen versuchten, das Chaos in geordnete Bahnen zu lenken. Aus dem Mannschaftswagen vor ihnen sprang eine Gruppe schwer gepanzerter MEK-Beamter mit Maschinenpistolen vor der Brust und lief zum Terminal.

Mark und Tim stellten den Rettungswagen ab und stiegen aus. Ein Führungsbeamter eilte auf sie zu. »Ihr kommt wie gerufen«, sagte er. »Die LNA hat Kräfte nachgefordert. Ausrüstung schnappen, rein und an der Verletztensammelstelle melden. Beeilt euch!«

Die LNA, die leitende Notärztin, war verantwortlich für die medizinische Einsatzleitung. Bei einem Ereignis dieser Größenordnung kein beneidenswerter Job.

Mark und Tim luden sich Notfallrucksäcke und -koffer auf und liefen in die Halle, ohne die Drehtüren zu benutzen – der rechte Teil der Glasfront lag in Scherben am Boden. Sie knirschten unter ihren Stiefeln, als sie darüberstiegen.

Tim erfasste die Einsatzstelle mit einem Rundblick. Die Abfertigungshalle war ein einziges Chaos, aber den Bereich rechts vor ihnen hatte es am schlimmsten erwischt: schwarze Wände, zertrümmerte Einrichtung, zerfetzte Bleche. Blut auf dem Boden, Blut an den Überresten des Interieurs, Blut auf den Körpern der Toten, die wie dahingeworfene Puppen zwischen den Trümmern lagen. Koffer lagen kreuz und quer, teilweise aufgeplatzt, Schuhe, Kleidung, Papier um sie herum verstreut. Eine Flex kreischte, Funkenregen sprühte hoch. Befehle tönten durch die hohe Halle, Verletzte schrien. Von draußen drang unablässig der Klang von Martinshörnern herein, dazwischen das Klopfen von Hubschraubern, die in kurzen Abständen das Terminal überflogen.

Feuer sah er keines mehr, die Kollegen von den Löschzügen sicherten die Trümmer und bargen Opfer aus dem Gefahrenbereich.

Die größte Betriebsamkeit herrschte links von ihnen. Mehr als zwei Dutzend Sanis und Löschkräfte kümmerten sich um Verletzte, die in drei langen Reihen auf Tragen auf dem Boden lagen, einige still und bewegungslos, andere sich in Schmerzen windend und laut schreiend. Ärzte, teils in Rettungsdienstkleidung, teils in weißen Kitteln, liefen zwischen ihnen herum und versorgten die schwersten Fälle.

»He, ihr!« Eine Frau in roter Weste mit der Aufschrift »Leitender Notarzt« winkte sie heran. Sie war zwei Köpfe kleiner als Tim und bemerkenswert dünn, dafür hatte sie hüftlange dunkle Haare. Er und Mark kannten sie von früheren Einsätzen. »Ihr seid frei?«

Tim nickte.

»Dem Himmel sei Dank. Da drüben, die dritte Trage in der zweiten Reihe. Dem geht’s richtig mies. Tut, was ihr könnt.«

Ein anderer Retter kam heran und griff ihren Arm. »Doc, schnell!« Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern zog sie davon.

»Kriegen wir keinen Arzt?«, rief Tim ihr nach.

»Sobald ich einen frei habe«, rief sie zurück.

»Dann wollen wir mal«, sagte Mark.

Sie liefen zu ihrem Patienten. Der Mann war bewusstlos. Ruß und Blut bedeckten Gesicht und Körper, Haare und Gesicht waren auf der linken Kopfseite verbrannt. Auch sonst hatte es ihn auf dieser Seite schlimm erwischt. Es war schwer zu unterscheiden, was verkohlte Kleidung und was Hautfetzen waren. Rechts sah es besser aus, aber nicht viel.

Die Atmung des Mannes war flach und angestrengt. Jemand hatte ihm eine Infusion angelegt, die Plastikflasche lag in Ermangelung eines Infusionsständers auf seiner Brust. Ansonsten war er, wie es schien, unversorgt.

Tim und Mark schauten sich an. Mark verzog das Gesicht. Sah nicht gut aus.

Sie zogen Einmalhandschuhe an. Tim horchte die Lungen ab, Mark steckte den Sensor des Pulsoxymeters auf einen Finger des Patienten und klebte die EKG-Elektroden auf. »Sauerstoffsättigung bei 88«, sagte er. Kein guter Wert.

»Atemgeräusche seitenungleich«, stellte Tim fest. »Pneumothorax?«

»Kann nach einer Explosion gut sein.«

Wenn sie recht hatten, war Luft in den Brustraum geraten und drückte die Lunge zusammen.

Mark sah auf das Display. »Sättigung jetzt noch 86. Er braucht eine Druckentlastung.«

Tim richtete sich auf. »Doc?«, rief er. »Irgendeiner? Wir brauchen hier einen Arzt für eine Thoraxdrainage!«

»Mach selber«, rief die leitende Notärztin aus einiger Entfernung. »Schaffst du schon.«

»Na gut«, knurrte Tim. »Du hast es gehört: Wir haben die offizielle Anweisung einer Ärztin.« Er zog eine Kanüle aus dem Notfallrucksack. Normalerweise war sie für Infusionen gedacht, aber das spielte keine Rolle. Die Reste des Hemds riss er kurzerhand ab, dann reinigte und desinfizierte er die Einstichstelle zwischen der zweiten und dritten Rippe, zog die Plastikkappe der Kanüle mit den Zähnen ab und spuckte sie beiseite. Danach stach er sie wenige Zentimeter tief in den Brustkorb ein und zog die innere Stahlnadel ein Stück zurück. Nichts. Er schob weiter vor und probierte es erneut. Diesmal zischte es. Er zog die Stahlnadel heraus und fixierte die Kunststoffkanüle mit einem Pflasterstreifen auf der Haut, während die aufgestaute Luft weiter aus dem Brustraum entwich.

Rasch wurde die Atmung des Mannes ruhiger und tiefer.

»Weiter im Programm«, murmelte Tim. Sie prüften Blutdruck und Pupillen, suchten Blutungsquellen und tasteten den Patienten nach weiteren Verletzungen ab.

»Unglaublich«, sagte Tim, »nichts gebrochen.«

»Aber Blutdruck und Sättigung gehen weiter in den Keller. Puls ist bei 140.«

»Innere Blutung?«

»Könnte sein. Und Schädel-Hirn-Trauma, sonst müsste er längst wieder wach sein.«

Wie auf Kommando stöhnte der Mann und begann, schwach mit den Armen zu rudern.

»Gut, vielleicht doch nichts Dramatisches am Kopf.«

Tim nahm vorsichtig die blutige Hand des Patienten. »Sie sind verletzt. Wir kümmern uns um Sie, machen Sie sich keine Sorgen.«

Der Mann öffnete die Augen und sah sich mit flatterigem Blick um. »Wo bin ich?«, krächzte er.

»Am Flughafen. Wir werden Sie, so schnell es geht, in ein Krankenhaus bringen.«

Ihr Patient schloss die Augen wieder und stöhnte. »Alles ist … falsch. Sollte … nicht passieren.«

»Können Sie mir Ihren Namen sagen?«

»Der Koffer … Er hat … gekämpft … umgeworfen …«

»Ihr Name? Können Sie ihn mir sagen?«

Der Mann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Wolfgang … Boskop.«

»Wissen Sie, welchen Tag wir heute haben?«

Wolfgang Boskop stöhnte und zog schwach die Beine an.

»Haben Sie Schmerzen?«

Er nickte ein wenig. »Bauch«, flüsterte er. »Gesicht.«

Tim drückte auf den linken Oberbauch, der Mann stöhnte auf. Tim und Mark sahen einander an und waren sich einig. Verdacht auf Milzriss. Das bedeutete, dass der Mann in kurzer Zeit verbluten konnte, ohne dass ein Tropfen nach außen trat.

»Wir werden Ihnen etwas gegen die Schmerzen geben«, sagte Tim. »Keine Angst, das wird wieder.« Er winkte die LNA heran.

»Drainage liegt?«, fragte sie. »Gut gemacht.«

»Wenn er hier nicht bald wegkommt, nützt ihm das nichts.« Tim zählte leise die Symptome auf. Die Ärztin nickte und legte dem Patienten ein rotes Armband ums Handgelenk. »Hohe Transportprio. Aber ihr fahrt ihn nicht, ich brauche euch hier. Gebt ihm Ketanest und Dormicum, dann meldet euch bei mir.«

Ein Feuerwehrmann kam heran. Auf den Armen trug er den leblosen Körper einer jungen Frau. Kopftuch und Kleid waren blutdurchtränkt. »Leichenablage?«

Die Ärztin wies flüchtig zur Rückseite der Halle und lief zu einem anderen Team, das mit einer Wiederbelebung beschäftigt war. »Lasst das«, rief sie. »Die Zeit haben wir nicht. Da, kümmert euch um den!«

Der Kollege mit der Toten ging. Tim sah ihm nach, wie er die Leiche zu einer Reihe anderer legte und einen Moment verharrte, bevor er aufstand und zur Einsatzstelle zurückkehrte.

»Wenig Todesopfer«, sagte er.

»Das bedeutet viele Verletzte. Los, mach hin!«

Tim zog die Medikamente auf, während Mark Wundauflagen aus ihren sterilen Verpackungen riss, sie auf die Brandwunden legte und Kochsalzlösung aus einem Infusionsbeutel darüber goss, um die verbrannte Haut feucht zu halten.

»Halt!«, rief eine Frauenstimme.

Mark sah kurz auf. Eine Gruppe stand vor ihm, teils uniformierte Polizisten, teils in Zivil. Tim ignorierte sie und steckte die Spritze an den Adapter der Infusionskanüle.

»Ist er das?«, fragte die Frau.

»Ja, ich glaube schon«, sagte eine andere Frau.

»Sie beide, wir müssen mit dem Mann reden.«

»Habt ihr sie noch alle?«, fragte Mark. »Ihr könnt uns doch nicht einfach in die Behandlung pfuschen.«

»Wollen Sie den Mann gerade in Narkose legen?«

»Was dagegen?«, fragte Tim und drückte auf den Kolben der Spritze. Langsam ließ er die Medis in die Vene des Patienten laufen.

»Stopp!«, rief die Frau.

Nun schaute auch Tim auf – und blickte in ein sommersprossiges Gesicht unter rotblonden Locken. Dieses Gesicht so schnell wiederzusehen, hatte er nicht erwartet.

»Oh nein«, sagte sie. Schon wieder.

»Oh doch«, antwortete er und drückte den Kolben ganz durch. Die Unruhe des Patienten legte sich, der Kopf fiel zur Seite.

»Das kannst du …« Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Das können Sie …«

Tim stand auf. »Hör mal, erzähl uns nicht, wie wir unsere Patienten behandeln sollen, okay? Wir sagen euch auch nicht, wie man Strafzettel schreibt.«

Die LNA stellte sich zu ihm. »Gibt’s Probleme?«

»Ich weiß nicht«, sagte Tim und schaute die Polizistin an. »Gibt es Probleme?«

Diese zog den blauen Dienstausweis aus der Gesäßtasche ihrer Jeans. Tim konnte nicht anders, als daran zu denken, was sich unter dem straff gespannten Stoff befand. Er riss sich zusammen und trat zur Notärztin, um den Namen auf der blauen Karte zu lesen: Marie Schwartz, Kriminaloberkommissarin. Marie, richtig. Tim erinnerte sich.

»Es ist für unsere Ermittlungen sehr wichtig, dass wir so früh wie möglich Spuren und Aussagen sichern«, sagte sie, »und es besteht Grund zur Annahme, dass dieser Mann uns wertvolle Hinweise geben kann.«

»Erst einmal gebe ich Ihnen einen wertvollen Hinweis«, fauchte die Notärztin und schien eine Handbreit zu wachsen. »Der Patient ist schwerst verletzt, und wenn die beiden Jungs ihre Arbeit nicht verdammt gut gemacht hätten, könnten Sie da drüben versuchen, eine Aussage zu bekommen.« Sie deutete zur Leichensammelstelle. »Wenn Sie den Mann so dringend brauchen, dann sollten Sie dafür sorgen, dass der nächste freie Hubschrauber ihn ins Krankenhaus bringt. Und jetzt stehen Sie hier nicht im Weg herum.«

Maries Kieferknochen mahlten, aber sie hatte der Notärztin nichts entgegenzusetzen. Der Kerl von letzter Nacht hielt die Spritze hoch und lächelte freundlich. »Auch eine? Entspannt ungeheuer.«

So ein Idiot. Sie drehte sich um und stapfte davon. Egal wohin, Hauptsache weg.

»Ich kann dir den Namen geben«, rief er ihr nach.

»Danke«, rief sie zurück, ohne sich umzudrehen. »Im Gegensatz zu dir habe ich ihn mir gemerkt.«

»Nicht meinen, Dummkopf. Den vom Patienten.«

Sie blieb stehen, schloss die Augen und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie öffnete sie wieder, vermied es sorgfältig, ihre Kollegen anzusehen, und drehte sich um. »Also?«

Er stand immer noch da wie zuvor, die Spritze in der erhobenen Hand wie James Bond seine Walther PPK. Sie zog das Notizbuch heraus und entnahm den Stift. »Ich höre.«

»Wolfgang Boskop.«

»Boskop wie der Apfel?«

»Ich denke schon.«

»Geburtsdatum?«

Er wies auf das Feuerwehrwappen an seiner Jacke. »Sehe ich aus wie das Einwohnermeldeamt?«

Sie notierte den Namen und klappte das Notizbuch zu. »Sorgen Sie dafür, dass er am Leben bleibt.«

»Das hatte ich vor. Aber danke für den Hinweis.«

Sie drehte sich um und ging, ohne auf ihre Kollegen zu warten.

Harald schloss zu ihr auf. »Was war das denn gerade? Oder besser: Wer war das?«

»Frag nicht. Bitte.«

»Zumal er recht hat. Was ist in dich gefahren, die Retter herumzukommandieren?«

»Ich mache nur meinen Job.«

Harald blieb stehen, griff nach ihrer Schulter und drehte sie zu sich. »Vergiss nicht, dass ich 20 Jahre mehr auf dem Buckel habe als du. Du bist eine brillante Ermittlerin, aber in Sachen Menschenkenntnis stecke ich dich in die Tasche. Also?«

Sie fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht. »Ach, ich weiß auch nicht. Das hier ist einsatztaktisch der pure Horror.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Einsatztaktisch.«

»Ja, und ansonsten auch, klar. Und ich bin … nicht richtig fit heute. Sieh dich doch um – wie soll ich hier jemals den Überblick bekommen? Überall Opfer, Spuren, Hinweise, und sie werden schneller zertrampelt, als wir sie sichern können. Du weißt so gut wie ich, dass es mit jeder Sekunde schwieriger wird. Wir können nicht einmal den Tatort vernünftig absperren. Der Mann ist die beste Spur, die wir haben.«

Er drückte ihre Schulter. »Dein erster Einsatz in dieser Größenordnung, was?«

»Bei den Mordermittlern, ja. Im Streifendienst ging’s da eher mal rund. Ich habe es immer gehasst.«

»Ich weiß. Es ist nicht schön, wenn man das Gefühl hat, keine Kontrolle zu haben.«

»Ach, das ist es nicht. Es ist nur …« Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sofort sprangen sie die Bilder an: Nacht. Nasser Asphalt. Ein zerstörtes Auto. Zuckende Blaulichter. Und das Gefühl, die Zeit zurückdrehen zu müssen. Rasch öffnete sie die Augen wieder. »Es erinnert mich an etwas. Ist lange her. Lass uns mit der Stewardess reden.«

Harald kniff die Augen leicht zusammen. Marie kannte den Blick. Er setzte ihn immer auf, wenn er spürte, dass ein Zeuge mehr wusste, als er preisgab. »Okay«, sagte er.

Sie drehten sich zu der jungen Frau in der blauen Uniform der Turkish Airlines um, die einige Schritte hinter ihnen unschlüssig stehen geblieben war.

Marie zog ihr Notizbuch heraus und las den Namen der schwarzhaarigen Frau ab. »Frau Sayin, dürften wir Ihnen noch einige Fragen stellen?«

»Muss das sein? Ich möchte lieber nach Hause, bitte. Kann ich nicht morgen zu Ihnen kommen?«

»Ich weiß, es ist eine schlimme Situation, und ich glaube Ihnen, dass Sie mit Ihren Kräften am Ende sind. Aber die Erfahrung zeigt, dass unmittelbar nach einem Ereignis die Erinnerung am frischesten ist. Wenn es möglich ist, würde ich gerne alles mit Ihnen durchgehen. Es dauert nicht lange.«

Die junge Frau schluckte. »Muss das sein? Es ging alles so schnell und es war so furchtbar …«

»Nur ein paar Minuten, dann sind Sie uns los. Versprochen!«

Seufzen. »Na gut.«

»Vielen Dank. Sie arbeiten hier für Turkish Airlines?«

»Als Check-in-Agent, ja. Aber das habe ich Ihnen schon gesagt.«

»Natürlich. Erzählen Sie bitte trotzdem noch einmal, was sich zugetragen hat.«

»Also, ich hatte Check-in-Dienst seit 6 Uhr heute Morgen, direkt in Reihe drei, wo die Bombe explodiert ist.« Sie zeigte auf die lange Zeile von Check-in-Schaltern, die sich von vorne nach hinten durch die Halle zog. Der rückwärtige Bereich war nahezu unversehrt, der vordere Teil hingegen lag in schwarzen Trümmern: Die Schwingtüren, die dem Personal Zugang zum Arbeitsbereich gewährten, hingen schief in den Angeln oder waren abgerissen, die metallene Überdachung der Schalter war zerfetzt und sah aus wie Papier, das mitten in einem Windstoß eingefroren war. Die elektronischen Anzeigetafeln, die daran gehangen hatten, lagen kreuz und quer auf dem Schalter und dem Fußboden. Von den Countern war die hölzerne Verkleidung abgerissen und hatte sich gemeinsam mit Bildschirmen, Druckern, Papieren und Gepäckstücken im Raum verteilt. Dazwischen lagen stumme Zeugen der so jäh unterbrochenen morgendlichen Geschäftigkeit: umgerissene Absperrungen und Gepäcktrolleys, aufgeplatzte Koffer, Kleidung, Schuhe, Brillen. Und Blut. Sehr viel Blut.

»Oh nein, wie furchtbar!«, sagte die junge Frau mit erstickter Stimme. Offenbar nahm sie das ganze Ausmaß der Zerstörung erst jetzt wahr. »Das kann doch nicht sein! Da, da habe ich gestanden! Das ist …« Sie sah an sich herunter, als müsse sie sich vergewissern, dass sie wirklich bis auf ein paar Schrammen unverletzt war.

»Frau Sayin, es scheint, als hätten Sie großes Glück gehabt. Sie sagen, Sie haben dort gestanden?«

»Bei Schalter vier, genau.«

»Beschreiben Sie bitte, was Sie vor der Explosion gehört und gesehen haben. Bitte versuchen Sie, sich an alle Details zu erinnern und nichts auszulassen, auch wenn Sie es im Moment für unwichtig halten.«

Frau Sayin nickte tapfer. »Wir waren gerade beim Check-in für den Flug um 9.35 Uhr nach Istanbul. Die Schlange war lang, der Flug war ausgebucht.« Sie schluckte schwer und sah wieder zu den zerstörten Schaltern hinüber. »Viele Familien. Bald ist das muslimische Zuckerfest, das feiern viele bei ihren Verwandten in der Türkei.«

»War etwas anders als sonst? Ist Ihnen etwas oder jemand aufgefallen, aus welchem Grund auch immer? Hat sich jemand verdächtig benommen?«

Sie dachte kurz nach, schüttelte dann den Kopf. »Nein, es war alles normal.«

»Was ist vor der Explosion geschehen?«

»Ich habe gerade eine Familie eingecheckt. Der Vater hat die Koffer aufs Band gestellt, sie haben die Bordkarten genommen und sind weggegangen.«

»In welche Richtung?«

»Nach hinten. Also weg von …« Sie sah flüchtig über die Schulter zum Ort der Explosion. »Ich glaube, sie haben es geschafft. Ich hoffe es.«

Marie biss die Zähne zusammen. Ja, schön, das hoffte sie auch. Jetzt vielleicht mal was Relevantes? Ihnen lief die Zeit davon!

»An der Stelle, wo die Explosion war«, sprang Harald ein, »ist Ihnen da etwas aufgefallen? Geräusche, Bewegungen, Personen?«

Marie entspannte sich. Auf Harald war Verlass.

»Ja, der Herr, bei dem wir gerade waren. Der, den die Rettungswagenleute behandelt haben.«

Tim. Tim hieß der Knackar…, der Feuerwehrmann. Sie erinnerte sich. Oh Mann.

»Sie sagten, dieser Herr stand direkt bei der Explosion?«, fragte sie.

»Ja. Er hat mit einem anderen Mann um einen Koffer gestritten.«

»Gestritten?«

»Sie haben beide an dem Koffer gezogen. Und sich angeschrien.«

»Wem gehörte der Koffer denn?«, fragte Harald.

Die Stewardess zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Wer war der andere Mann?«

»Ich weiß es nicht. Es war ein Türke, ein älterer Mann.«

»Und dann ist die Bombe explodiert?«

»Ein paar Sekunden später, ja.«

»Konnten Sie sehen, wo genau die Explosion war? War es vielleicht der Koffer?«

»Nein, ich musste mit dem Check-in weitermachen. Einer der Koffer der Familie war auf dem Band hängen geblieben, und ich bin ein Stück nach hinten gegangen, um ihm einen Schubs zu geben. Dazu habe ich mich runtergebeugt. In dem Moment hat es diesen gewaltigen Schlag gegeben. Mich hat es einfach umgeworfen, ich bin aufs Gepäckband gefallen, alles um mich herum ist zusammengekracht und überall war Qualm und …« Sie stockte und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich lebe nur noch, weil ein Koffer geklemmt hat. Verstehen Sie das? Ich wäre tot, wenn nicht … Da vorne war der Infoschalter. Was ist mit Dorothee passiert? Die hatte heute Morgen Dienst. Ist sie …«

Vom ehemals halbrunden Infoschalter an der Stirnseite der Check-in-Reihe war nichts als Trümmer übrig. Marie schaute kurz hin und sah Holz, Stahl und Blut. »Ich weiß es nicht«, sagte sie leise und räusperte sich. »Sie haben also nicht gesehen, wo genau die Explosion …«

Harald stieß ihr den Ellenbogen in die Rippen.

Marie räusperte sich abermals. »Gut, das wäre fürs Erste alles. Hier ist meine Visitenkarte, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Ich werde Sie in den nächsten Tagen anrufen. Vielen Dank.«

Geistesabwesend nahm die junge Frau die Karte und ging ohne einen Gruß. Marie konnte es ihr nicht übel nehmen.

»Meinst du, die Bombe steckte in dem Koffer?«, fragte Harald.

»Das wird die Spurensicherung herausfinden.«

»Was sagt dein Instinkt?«

»Dass sie in dem Koffer war.«

»Ja, das glaube ich auch. Aber was hat es mit diesem Streit auf sich?«

»Meine Vermutung: Einer der beiden war der Bombenleger, und der andere wollte ihn stoppen.«

»Oder beide dachten, der Koffer gehöre ihnen.«

»Ausgerechnet der mit einer Bombe drin?«

Harald zuckte die Schultern. »Schon Pech irgendwie.«

»Wissen wir, wer der türkische Mann war?«

»Noch nicht. Es scheint aber keinen Verletzten zu geben, auf den die Beschreibung passt.«

»Also tot?«

»Schauen wir mal.«

Sie gingen zur Leichensammelstelle. Harald deutete auf einen Leichnam. »Der da könnte es sein.«

Der Tote hatte offensichtlich die volle Wucht der Explosion abbekommen. Vom Gesicht war nicht mehr viel übrig, ebenso wie vom Rest der vorderen Körperseite. Harald reichte Marie ein Paar Einmalhandschuhe. Sie seufzte, zog sie an und durchsuchte die Taschen des Toten – oder was davon übrig war.

In der Brusttasche des Jacketts wurde sie fündig. Mit spitzen Fingern holte sie eine schwer beschädigte, blutige Brieftasche hervor. Sie klappte sie auf. »Hier ist ein Personalausweis.«

»Türkisch?«

»Deutsch. Ibrahim … Den Rest kann ich nicht lesen. Geboren 57.«

»Kannst du die Ausweisnummer entziffern?«

Marie nickte und las sie vor.

Harald schrieb sie auf, zog sein Mobiltelefon heraus und wählte eine Nummer. »KHK Grossmann, LKA 41«, sagte er. »Ich habe hier eine Perso-Nummer, dazu bräuchte ich Name, Anschrift, Strafregister. Ja, kann losgehen.« Er schrieb, bedankte sich und legte auf.

»Ibrahim Kabaoglu«, sagte er. »Wohnt in Wilhelmsburg. Verheiratet, ein Sohn, eine Tochter. Keine Einträge.«

Marie sah auf den Toten hinunter und runzelte die Stirn. »Glaubst du, ein unbescholtener Familienvater wird auf einmal zum Bombenleger?«

»Bist du jetzt nicht ein bisschen voreilig?«

»Hast du mich nicht nach meinen Instinkten gefragt?«

Harald schüttelte langsam den Kopf. »Ist das Instinkt oder Vorurteil?«

Marie seufzte. »Ich weiß es nicht. Aber wir werden diese Frage sehr schnell beantworten müssen. Dir ist klar, was morgen in der Bild-Zeitung stehen wird, oder?«

»Die ›Bild‹ interessiert mich nicht. Was mich interessiert, ist –«

Marie hob den Arm und winkte. »He, hierher!«, rief sie und lief los.

Harald Grossmann seufzte.

Marie stoppte die drei Männer in orangen Overalls, die mit einer Trage und Notfalltaschen beladen durch eine der rückwärtigen Türen in die Halle traten und sich suchend umblickten.

Sie zeigte ihren Dienstausweis. »Schwartz, Kriminalpolizei. Die leitende Notärztin hat uns gebeten, Ihnen einen Patienten mit hoher Priorität zu übergeben.«

Der Notarzt – ein älteres Semester mit gepflegtem grauem Bart – sah sie über den Rand seiner Nickelbrille prüfend an. »Machen Sie neuerdings Botengänge für die Notärzte?«

»Nur ausnahmsweise. Es ist wirklich dringend.«

Er nickte knapp. »Zeigen Sie mal.«

Gemeinsam liefen sie zu Boskop. »Der da«, sagte Marie.

»Provisorisch drainierter Spannungspneu, Verdacht auf Milzriss«, brüllte jemand über den Lärm hinweg. Es war Tim, der neben einem anderen Patienten aufgestanden war und auf Boskop deutete. Die Finger seines Latexhandschuhs waren blutrot. »Dormicum und Ketanest sind drin. Schnappt ihn euch und gebt Gas, dann hat er noch eine Chance!«

Mit geübten Bewegungen untersuchte der Notarzt den Mann, dann nickte er seinen Kollegen zu. »Er hat recht. Das muss jetzt schnell gehen. Pit, lauf los und bereite den Start vor.«

Der Hubschrauberpilot nickte knapp. »Anmeldung in der Unfallklinik Boberg?«, fragte er.

»Ja. 20 bis 30 Prozent Verbrennungen zweiten und dritten Grades und Polytrauma.«

Der Pilot eilte davon. Der Arzt tauschte die leere Infusion gegen einen frischen Beutel und hob den Patienten gemeinsam mit seinem Sani auf die Trage. »Vier Mann, vier Ecken. Rollen geht hier nicht«, sagte er.

Marie und Harald packten mit an, und zu viert trugen sie den Patienten, so schnell es ging, über die Trümmer zu einem Durchgang in der Rückwand der Halle. Kaum hatten sie ihn passiert, war es, als träten sie in eine andere Welt: glänzender Steinfußboden, verglaste Wartezonen, schicke Boutiquen. Und Stille. Nichts deutete darauf hin, dass keine 50 Meter weiter die Hölle losgebrochen war. Abgesehen von den Hubschrauberbesatzungen und Feuerwehrleuten, die an ihnen vorbeihasteten.

»Da vorne die Treppe runter«, sagte der Notfallsanitäter, der am Kopfende neben Harald trug.

Unten befand sich ein weiteres Gate mit einem direkten Zugang zum Vorfeld. Draußen erwartete sie bereits der Pilot, der Marie die Trage abnahm.

Der Doc deutete auf die Infusion, die auf dem Bauch des Patienten lag. »Zusammenpressen«, sagte er. »Ich will, dass die leer ist, wenn wir am Heli sind.«

Marie drückte den Beutel mit beiden Händen zusammen, während sie neben der Trage über das Rollfeld lief. Als sie an dem orangefarbenen Rettungshubschrauber ankamen, schmerzten ihre Finger.

Eine Minute später hoben Marie und Harald die Arme schützend vor das Gesicht, während der Helikopter abhob und der Wind der Rotoren an ihnen zerrte.

Die LNA fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Kommt, lasst es. Hat keinen Zweck.«

Mark drückte noch einige Male auf den Brustkasten des Endzwanzigers vor ihm, warf einen prüfenden Blick auf den EKG-Monitor, der eine schnurgerade Linie zeigte, und richtete sich auf. »Ach, Scheiße!« Er zog die Latexhandschuhe aus und warf sie heftig auf den Boden.

»Kann man nichts machen«, sagte Tim.

»Sieh an, deine neue Flamme ist wieder da.«

»Was für eine Flamme, bitte schön?«

»Na, die Kriminalzicke mit der engen Jeans.«

»Na ja.«

»Was war das vorhin?«

»Wieso? Was soll gewesen sein?«

»Komm schon. Da läuft doch was.«

Tim sah Marie nach, wie sie mit ihrem Kollegen durch die Trümmer streifte und hin und wieder in die Knie ging, um etwas genauer zu untersuchen. »Schön wär’s.«

»Mann, du hast es echt mit den Frauen«, sagte Mark.

»Besser als du.«

»Deshalb bleibe ich bei den Männern.«

»Sollte ich auch mal versuchen. Würde manches vereinfachen.«

»Nee, lieber nicht«, sagte die LNA und stand auf.

»Was?«

Sie grinste und ging. »Kommt ihr? Die Arbeit ruft!«

Notärzte waren ein seltsamer Haufen.

Langsam ließ er den Wagen ausrollen, zog die Handbremse an und drehte den Schlüssel aus dem Zündschloss.

Er hatte es getan. Er hatte es wirklich getan.

Es war gar nicht schwer gewesen. Koffer auf, Paket rein, Koffer zu. Was war schon dabei?

Der Rest lag in Allahs Händen allein. Und die Wege des Allwissenden waren voller Wunder. Was der Schöpfer, der ewig Bleibende, der Glorreiche für ihn bereithielt, das hätte er niemals gedacht. Dass er ihn in seiner unendlichen Weisheit auf den gerechten Pfad führte und ihn mit Männern zusammenbrachte, die ebenso entschlossen waren, für ihren Glauben zu kämpfen, wie er. Männer, in deren Stärke, Mut und Unerschütterlichkeit er ein Vorbild gefunden hatte.

Sie würden stolz auf ihn sein.

Allah würde stolz auf ihn sein.

Er blickte aus dem Fenster auf die endlos lange, beige gestrichene Betonfront der Werkshalle vor ihm. Er war spät dran, Schichtbeginn war in nicht einmal 15 Minuten.

Aber arbeiten? Heute? Er brannte darauf, seinen Brüdern die guten Neuigkeiten zu überbringen. Er sah auf die Uhr. In ein, zwei Stunden konnte er sie in der Moschee treffen. Vorher noch zur Arbeit? Ach was. Kurz entschlossen ließ er das Auto wieder an, setzte zurück und schlitterte übermütig mit quietschenden Reifen auf die Straße.

Kapitel 2

20. Mai

Marie und Harald waren die letzten, die den Konferenzraum betraten. Sie grüßten und entschuldigten sich für die Verspätung.

»Macht nichts«, sagte Kriminaloberrat Decker. Er war heute Polizeiführer vom Dienst und hatte vor Ort den Einsatz geleitet. Ein hohes Tier, aber ein netter Mensch. Vorausgesetzt, man folgte seinen Anordnungen.

Mit Decker am runden Besprechungstisch saß ihr Team der dritten Mordbereitschaft: Leiter Arthur Thewes und die Kollegen Markus Schnittgereit und Johannes Tritscher. Außerdem ein Kollege und eine Kollegin, die Marie vom Sehen kannte, aber nicht einordnen konnte, und ein uniformierter Polizist, dessen fünf silberne Sterne an der Schulter ihn als Ersten Kriminalhauptkommissar auswiesen. Seinen Ärmel zierte ein Wappen mit dem Bundesadler. Bundespolizei also. Er war um die 50, hatte einen kahlgeschorenen Schädel und ausgeprägte Lachfalten. Es war nicht ein Staubkorn auf der Uniform, und er war der Einzige, der nicht nach Rauch und Tod stank wie alle anderen am Tisch, Decker eingeschlossen.

Marie und Harald setzen sich.

Decker räusperte sich. »Gut, dann können wir ja anfangen.« Er griff zu einer Fernbedienung und schaltete den Beamer ein, der unter der Decke hing.

»Sie alle wissen, warum wir hier sind: Heute Morgen um 7.37 Uhr ist eine Bombe im Check-in-Bereich des Terminals 1 im Helmut-Schmidt-Flughafen Hamburg explodiert. Die Anzahl der Todesopfer beläuft sich derzeit auf 17, die Anzahl der Verletzten auf rund 140. Wir müssen damit rechnen, dass noch einige von ihnen ihren schweren Verletzungen erliegen werden. Der Ort der Explosion war genau hier.«

Decker drückte auf eine Taste an seinem Notebook. Der Beamer warf einen Grundriss des Terminals auf die Leinwand. Links schlossen sich die Sicherheitskontrollbereiche an, oben der Ladenbereich mit den Rolltreppen zu den Restaurants und unten die Zufahrt. In der rechten unteren Ecke war eine rote Markierung, auf die Decker jetzt deutete.

»Wie Sie sehen – und die meisten von Ihnen auch vor Ort feststellen konnten – ist der Bereich in unmittelbarer Nähe des Infoschalters vor Check-in-Bereich drei. Dieser wird von einer Reihe von Fluggesellschaften, unter anderem Turkish Airlines, genutzt. Der Bereich wird natürlich videoüberwacht, aber leider sind die Kameras ziemlich weit weg, sodass die Bildqualität nicht optimal ist. Die folgenden Aufnahmen setzen etwa 30 Sekunden vor der Detonation ein.«

Der Grundriss auf der Leinwand machte einem Videobild Platz. Die Kamera musste ungefähr in der Mitte der verglasten Hallenfront in einigen Metern Höhe montiert sein, sie zeigte den Check-in-Bereich schräg von oben. Noch war eine Totale des Bereichs zu sehen, aber einige Sekunden nach dem Start des Videos schwenkte und zoomte sie näher an die Szene. Offenbar hatte etwas die Aufmerksamkeit des Operators erregt.

»Bitte beachten Sie diese beiden Männer«, sagte Decker und markierte mit einem Laserpointer zwei Gestalten, die beide eine Hand am Ausziehgriff desselben Rollkoffers hatten.

Die Männer gestikulierten, offensichtlich im Streit. Die Gesten wurden ausladender, beide zerrten an dem Koffer, der zwischen ihnen hin und her gerissen wurde. Die Kamera ging nahe heran und folgte der Auseinandersetzung.

Einer der Männer ließ den Koffer los und fiel nach hinten, aus dem Sichtbereich der Kamera heraus.

Keine zwei Sekunden später wurde die Leinwand übergangslos grellweiß. Als das Bild zurückkehrte, zeigte es nur Rauch und Staub. Decker stoppte die Wiedergabe, bevor die Wolke sich gelegt hatte, und ersparte ihnen die grausigen Bilder, die sie ohnehin alle kannten und die sie noch lange mit sich herumtragen würden.

»Wie Sie sehen, können wir auf den Aufnahmen nicht unmittelbar erkennen, ob der Koffer, um den die beiden sich stritten, der Ausgangspunkt der Explosion war. Unsere Spezialisten hegen daran aber kaum Zweifel. Über die Machart der Bombe wissen wir noch nichts. Bei den Männern handelt es sich vermutlich um einen Wolfgang Boskop, deutscher Staatsbürger, und um einen Deutschtürken namens Ibrahim Kabaoglu. Boskop lebt, ist jedoch in kritischem Zustand. Kabaoglu ist tot. Er hinterlässt eine Frau und eine Tochter, die ebenfalls am Flughafen waren und derzeit psychologisch betreut werden, sowie einen Sohn. Sie alle wissen, dass wir mit massiven Vorverurteilungen vonseiten der Presse und der Bevölkerung konfrontiert sein werden. Wir haben einen Moslem und wir haben eine Bombe, für viele reicht das, um einen islamistischen Terroranschlag anzunehmen. Ich muss Ihnen sicherlich nicht sagen, dass uns das nicht zu interessieren hat. Unser Einsatz dient der Wahrheitsfindung, sonst nichts.

In Absprache mit der Polizeiführung haben wir auf die Einrichtung einer Sonderkommission verzichtet. Der Grund: Nach allem, was wir bisher wissen, handelt es sich um einen Einzeltäter. Wir haben bislang keinerlei Hinweise gefunden, dass es Hintermänner gibt. Trotzdem wird dieser Fall ein wenig über den Rahmen des Üblichen hinausgehen: Wir haben eine große Menge an Zeugen und Betroffenen, die alle vernommen werden müssen, und die Presse wird jeden unserer Schritte genau beobachten, ganz zu schweigen von Polizeipräsident und Innensenator. Seien Sie sich dessen bitte bewusst, und fordern Sie bei Bedarf zeitig weitere Kräfte an. Mit dabei ist der polizeiliche Staatsschutz in Gestalt des LKA 7. Herr Behrend und Frau Zander waren heute vor Ort, vielleicht hat der eine oder andere sie schon am Flughafen gesehen.«

Die beiden Kollegen nickten in die Runde.

»Und da der Tatort der Flughafen war, ist auch die Bundespolizei mit an Bord. Im Grunde fällt die Angelegenheit in ihren Zuständigkeitsbereich, aber da die Bundespolizei keine Tötungsdelikte bearbeitet, sind wir übereingekommen, dass die Sache von uns geführt wird. Wenn Sie irgendetwas von der BuPol brauchen, wenden Sie sich am besten an Herrn Kubicki.«

Der Bundespolizist nickte. »Gerne. Und entschuldigen Sie bitte meinen Aufzug. Hätte ich gewusst, dass es hier so leger zugeht, hätte ich mir kein Bein ausgerissen, um noch zu duschen und die Uniform zu wechseln.«

Alle lachten.

»Wie Herr Decker ganz richtig sagte, liegt der Fall eigentlich bei uns, aber wir sind ganz froh, dass Sie sich darum kümmern. Wenn Sie die Kollegen von der Flughafenwache vernehmen wollen oder Augen und Ohren vor Ort brauchen, koordiniere ich das gerne für Sie.«

»Sehr schön, vielen Dank«, sagte Decker. »Auch von meiner Seite kann ich Ihnen allen volle Unterstützung zusichern: Sagen Sie, was und wen Sie brauchen, und Sie werden es bekommen. Also alles wie immer.«

Verhaltenes Lachen. Die prekäre Finanz- und Personallage der Polizei war ihnen allen bekannt.

»Noch Fragen? Gut. Ich übergebe die Leitung des Einsatzes hiermit an Herrn Thewes von der Mordermittlungsgruppe drei.«

»Danke«, sagte Arthur. »Wie gesagt, sieht es vom ermittlungstechnischen Standpunkt her nicht kompliziert aus. Sprengstoffexperten und die Spürhunde haben jede Ecke und jeden Winkel des Flughafens abgesucht, ohne einen Hinweis auf Mittäter oder eine weitere Bombe zu finden. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich um einen Selbstmordanschlag handelt, womit wir keinen flüchtigen Täter mehr suchen müssten. Alleine der große Umfang des Tatorts, der Spuren und der Zeugen und nicht zuletzt, wie Herr Decker schon sagte, die große Aufmerksamkeit, die unserer Arbeit zuteilwird, machen die Sache aufwendig.« Er wandte sich an den Bundespolizisten. »Herr Kubicki, könnten Sie die Befragung der Angestellten am Flughafen übernehmen? Ihre Leute sind näher dran, man kennt sie, und Sie würden uns damit sehr helfen.«

Kubicki nickte. »Natürlich. Ich habe damit gerechnet, meine Leute sind bereits unterwegs.«

»Vielen Dank. Herr Behrend, Frau Zander, wie stellt sich die Sache aus Sicht des Staatsschutzes dar?«

Zander winkte ab. »Diffus. Ich wünschte, wir könnten Ihnen etwas anderes sagen, aber die Sache hat uns ziemlich kalt erwischt.« Sie war eine kleine rundliche Frau Anfang 40 mit kurzen dunklen Haaren. Obwohl sie entspannt auf die Unterarme gestützt am Tisch saß, strahlte sie eine ungeheure Dynamik aus.

Marie mochte sie auf Anhieb.

»Zwar hat die Terrormiliz ›Islamischer Staat‹ über ihren Propagandadienst Amak verlauten lassen, sie sei für den Anschlag verantwortlich, aber wie üblich wurde kein Täterwissen offenbart und nur spärlich Informationen herausgegeben: ›Der Ausführer des Sprengstoffanschlags heute in Hamburg ist ein Soldat des Islamischen Staates. Er führte die Operation nach Aufrufen zum Angriff auf Angehörige der Koalitionsstaaten aus.‹ Das war alles.«

»Ist es nicht ohnehin so, dass der IS bereitwillig die Verantwortung für jeden Vorfall übernimmt, der nur im Entferntesten nach einem Anschlag aussieht?«, frage Kubicki.

Zander nickte. »Im Grunde schon. Wir verlassen uns lieber auf unsere eigenen Erkenntnisse, aber die sind dieses Mal ausgesprochen dünn. Für gewöhnlich liegen uns bereits geraume Zeit vor einer Tat zumindest vage Beobachtungen vor. Wenn diese sich weit genug eingrenzen lassen, dann können wir die Tat oft verhindern. Wir kennen unsere Szene, die linke wie die rechte, und wir bekommen jede größere Erschütterung mit. Aber dieses Mal – nichts. Nicht bei den Islamisten, nicht bei den Rechten, nicht bei den Linken. Sogar die Reichsbürger machen Ferien.«

»Für mich klingt das nach Einzeltäter«, sagte Harald.

Behrend, ein großer Mann mit strubbeligen schwarzen Haaren und einem dicken Schnauzbart, nickte.

Er erinnerte Marie an eine ältere Beamtenversion von Tom Selleck als Privatdetektiv Magnum. Nur nicht so gut aussehend.

»Ja«, bestätigte Behrend, »scheint so. Aber im Regelfall haben wir auch die einsamen Wölfe auf dem Radar, denn auf die eine oder andere Art und Weise sind sie alle vernetzt. Extremisten wollen Bestätigung, sie lieben ihre Filterblase, wie das neudeutsch so schön heißt. Wir dürfen zwar nicht alles mithören, doch die meisten kennen wir.«

»Ibrahim Kabaoglu?«, fragte Marie. »War der bei euch bekannt?«

Zander schüttelte den Kopf. »Eine makellos weiße Weste. Braver Staatsbürger und Steuerzahler, kein einziges Mal in einer der Moscheen aufgetaucht, die wir im Fokus haben.«

»Also sehr vorsichtig? Oder hat er wirklich eine weiße Weste?«

»Meine Liebe, wenn wir das wüssten, wären wir ein gutes Stück weiter.«

»Es spricht aber dennoch eine Menge gegen Kabaoglu«, sagte Behrend. »Ich meine, er hatte im wahrsten Sinne des Wortes die Hand an der Bombe, oder?«

Allgemeines Nicken.

»Gut«, sagte Arthur Thewes. »Wir haben einiges auf der Liste: Familie Kabaoglu muss noch heute vernommen werden, und ich möchte so schnell und so genau wie möglich wissen, was heute Morgen passiert ist, von den beteiligten Personen bis hin zur Bauart der Bombe, dem Explosionsradius und allem, das uns helfen kann, den Vorfall zu rekonstruieren. Ich brauche Aussagen von den eingesetzten Polizisten, Ärzten, Feuerwehrleuten, alles.«

»Wir übernehmen Familie Kabaoglu«, sagte Marie.

»Dann übernehmen die Evangelisten die Tatrekonstruktion. Einverstanden?«

»Evangelisten?«, fragte Kubicki.

»Johannes und Markus, vermute ich«, sagte Zander.

Kubicki schmunzelte.

»Ist dieser Boskop schon vernehmungsfähig?«, fragte Thewes.

»Nein«, antwortete Markus Schnittgereit. »Wir waren vorhin im Krankenhaus Boberg wegen ein paar anderer Aussagen. Es scheint ihm besser zu gehen als befürchtet, aber noch ist nichts zu machen.«

»Okay, aber bleibt dran. Mit Glück können wir den Sack zumachen, sobald wir seine Aussage haben.« Arthur stand auf. »Wenn ihr mich bitte entschuldigt.« Er sammelte seine Papiere ein und verließ den Raum.

Für Marie wirkte es wie eine Flucht, und die verwunderten Gesichter ihrer Kollegen zeigten, dass es ihnen ebenso ging.

Er saß vor seinem Fernseher, unfähig, sich zu bewegen. Sein ganzes Sein war von den Bildern eingenommen, die über den Bildschirm flackerten. Die restliche Welt hatte aufgehört zu existieren. Seine Hände waren taub, und die Kommentare aus den Lautsprechern drangen wie durch Watte zu ihm und verhallten in der Leere in seinem Inneren.

»… 17 Tote …«, hallte es ihm durch den Schädel. »… Bombe … Koffer … Flughafen …« Die Kamera schwenkte durch die Halle. »… Turkish Airlines … Zuckerfest …« Bilder in seinem Kopf. Die Mutter, wie sie ihn küsste. Die Schwester, die ihn umarmte. Der Vater, der ihn anlachte und an sich zog.

In dieser Halle. In dieser Trümmerwüste.

Die Kamera zoomte auf den zerstörten Check-in-Schalter. Genau dort. Genau dort hatten sie sich verabschiedet. Genau dort war nun eine riesige, halb eingetrocknete Blutlache.

Das Telefon klingelte, aber es drang nicht zu ihm durch. Wie aus weiter Ferne vermischte es sich mit den Klängen und den Bildern aus dem Fernseher. Er bemerkte es nicht, ebenso wenig wie die Tränen, die ihm über das Gesicht liefen.

Gereizt trommelte Tim mit den Fingern auf die Armlehne des Sofas. Ihre Arbeit am Flughafen war beendet, alle Fahrzeuge wieder an der Wache, die Besatzungen aus dem Einsatz entlassen, aber Tim und viele andere waren noch geblieben. Das half, das Adrenalin herunterzufahren. Je nach Einsatz und Kollegen wurde mal mehr, mal weniger geredet. Auch das half, mit dem Erlebten fertig zu werden. Sie alle waren darauf trainiert, die furchtbaren Bilder nicht allzu nahe an sich heranzulassen, doch manchmal konnten selbst sie sich ihnen nicht entziehen. Niemand kannte das besser als die Kollegen, und niemand war besser geeignet, darüber zu reden. Oder zu schweigen.

Heute sahen sie die meiste Zeit die Berichterstattung über den Anschlag im Fernsehen an. Die Fakten waren offensichtlich, aber wenn Tim in seiner Zeit als Notfallsanitäter und Feuerwehrmann eines über die Presse gelernt hatte, dann das: Fakten reichten nicht. Nicht für die Nachrichten und erst recht nicht für die Boulevardpresse. Schon am Flughafen hatte an jedem Absperrband ein Reporter gestanden, das pflichtbewusst erschütterte Gesicht der Kamera zugewandt, und mit großem Ernst haltlose Mutmaßungen verkündet.

»Gut, dass die Polizei wenigstens schnell geschaltet und keinen von den Affen in die Halle gelassen hat«, sagte Tim. »Wären die uns auch noch über die Füße gelaufen, ich glaube, ich wäre ausgerastet.«

»Und was ist das?«, fragte einer der Jungs vom Löschzug und deutete auf den Fernseher. Das Bild war grob und wackelte heftig, aber es zeigte unverkennbar Tim, Mark und die langhaarige LNA bei der Wiederbelebung.

»Na super«, sagte Mark. »Das werden wir bis morgen alle zehn Minuten auf jedem Kanal sehen.«

Tim seufzte. »Geschafft hat’s der arme Kerl trotzdem nicht.«

»Wo, um Himmels willen, stand die Kamera?«

»Auf dem Löschfahrzeug.«

»Seid ihr bescheuert, den da raufzulassen?«

»Haben wir nicht. Der ist heimlich raufgeklettert, und wir haben ihn erst nach ein paar Minuten entdeckt. Jörg wollte ihn eigentlich mit dem C-Rohr runterpusten.«

Alle lachten.

Der Sprecher unterlegte die eingespielten Bilder mit Kommentaren, die aus den bekannten und hundertmal wiederholten Fakten gespeist und mit Spekulationen und Allgemeinplätzen aufgefüllt waren. »Der Ort der Explosion lag im vorderen rechten Teil der Halle«, sagte er. »Die Detonation war so heftig, dass das komplette Terminal verwüstet wurde. Es muss befürchtet werden, dass im Umkreis von vielen Metern niemand diese Explosion überlebt hat. Offizielle Zahlen gibt es noch nicht, aber unseren Informationen nach beträgt die Zahl der Todesopfer bis zu 20.«

»Stimmt gar nicht«, sagte Lars, der an diesem Morgen einer der ersten vor Ort gewesen war. »Der eine Typ, der war genau da, wo’s geknallt hat. Oder, Clemens?«

Sein Partner nickte. »Hat am Anfang noch vor sich hingebrabbelt. Sowas wie ›Das hätte nicht passieren dürfen‹.«

Tim nickte. »Ja, den haben wir später versorgt. Sah ziemlich finster aus.«

»Hat er euch denn überlebt?«

»Knapp. Ist als einer der ersten nach Boberg.«

»Da hatte er Glück. Die Verbrennungsbetten dürften in Nullkommanichts ausverkauft gewesen sein.«

Tim schnaubte. »Wer die Betten braucht, hatte per Definition kein Glück.«

»Aber er hat eine Chance.«

Tim schwieg.

»Hab ich schon wieder was Falsches gesagt?«

»Was hat der Mann mit ›Das hätte nicht passieren dürfen‹ gemeint?«

»Ist doch egal. Der war völlig durch den Wind. Keine Ahnung, was ich in so einer Situation sagen würde.«

»Du würdest wahrscheinlich Mark einen Heiratsantrag machen.«

Alle lachten, und Tim mit ihnen. Jetzt war nicht die Zeit zum Grübeln. Aber es nagte an ihm. Irgendetwas passte nicht, doch er kam nicht darauf, was.

In der Moschee waren sie nicht. Nicht im Gebetsraum, nicht in den Gemeinschaftsräumen, nicht im Waschraum.

Nervös streifte er durch die Gänge, öffnete jede Tür, sah in jedem Raum nach. Der Imam grüßte ihn, er grüßte flüchtig zurück, den Blick schon wieder woanders. Keiner von ihnen war da. Hatten sie ihn im Stich gelassen? Hatten sie ihn die Drecksarbeit machen lassen und waren dann verschwunden?

Es war Zeit für das Nachmittagsgebet. Er wünschte sich die Nähe des Barmherzigen. Also wusch er sich, ging in den Gebetsraum, richtete sich nach Mekka aus und hob die Hände. »Allahu akbar …«

Er betete, wie es vorgeschrieben war, aber sein Herz und seine Gedanken waren nicht bei der Sache. Die Erleichterung und die Ruhe im Geist, die er sich vom Gebet erhofft hatte, stellten sich nicht ein. Wie auch? Warum sollte Allah einem Sünder wie ihm Frieden schenken? Einem Mann, der all die getötet hatte, die ihm vom Höchsten zum Schutz befohlen waren – die eigene Familie?

Oder prüfte Allah ihn? Stellte er seine Glaubensfestigkeit auf die Probe mit dem höchsten Opfer, das ein Mann seinem Gott darbringen konnte? War es gar gerechtfertigt, die Familie zu opfern, um möglichst vielen Ungläubigen den Tod zu bringen? Hatte er sie Allahs Gnade als Märtyrer anempfohlen und ihnen einen Platz im Paradies verschafft?

Seine Brüder würden Rat wissen. Wo waren sie?

Er ging vor die Tür, suchte sich eine unbeobachtete Ecke und zog das Smartphone heraus. Zwar war es verboten, andere Mitglieder der Gruppe anzurufen – zu groß die Gefahr, dass eines ihrer Telefone den Ungläubigen in die Hände fiel –, aber das war ihm egal. Er musste Gewissheit haben.

Es klingelte und klingelte, dann sprang die Mailbox an und erklärte mit elektronischer Stimme, der Teilnehmer sei zurzeit nicht erreichbar. Er versuchte es ein zweites und drittes Mal, bevor er es aufgab. Eine Nachricht hinterließ er nicht.

Frustriert steckte er das Smartphone weg und machte sich auf den Heimweg. Er war noch nicht weit gekommen, als es in seiner Tasche vibrierte. Der verschlüsselte Messenger, mit dem sie kommunizierten, zeigte eine neue Nachricht an. Hastig öffnete er sie.

»Nicht anrufen«, stand dort, darunter eine Adresse, die er nicht kannte, und eine Uhrzeit.

Eine Stunde. Dann würde sich alles aufklären.

Sein Blick fiel auf die Benachrichtigungsleiste. Ein Anruf in Abwesenheit.

Er tippte auf die Nachricht, die Nummer wurde angezeigt, und seine Welt drehte sich schlagartig in eine andere Richtung.

Es war die Nummer seiner Schwester.

Kapitel 3

21. Mai

»Da«, sagte Harald, »Nummer 15. Fahr rechts ran.«

Es war später Vormittag und die meisten Anwohner waren bei der Arbeit. Die Erwerbslosenquote war hoch in Wilhelmsburg, aber es blieben genügend automobile Arbeitnehmer, um bequem einen freien Parkplatz in der Nähe des Hauses zu finden.

Marie und Harald stiegen aus dem BMW und gingen zum Eingang eines der typisch hamburgischen Wohnblöcke, vierstöckig und dunkelrot verklinkert. Auf der anderen Straßenseite standen keine Häuser, hier erhob sich sieben oder acht Meter hoch der Elbdeich.

Marie überlegte, ob man vom oberen Geschoss der Häuser aus das Wasser sehen konnte. Anderswo in Hamburg würde man für diese Lage am Ufer der Elbe horrende Mieten bezahlen, aber nicht hier auf der Veddel, einem der klassischen Arbeiterviertel Hamburgs. Noch nicht. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor gewiefte Immobilienspekulanten die Häuser aufkauften, grundsanierten und die alteingesessenen Multikulti-Einwohner gegen schicke junge Leute austauschten, die es hip fanden, in ein heruntergekommenes Viertel zu ziehen. Natürlich in Luxuswohnungen. »Gentrifizierung« hieß das, wenn sie sich recht erinnerte. Ein Prozess, der schon einige Stadtviertel vom authentischen Kiez zur Yuppie-Hochburg verwandelt hatte: Sankt Pauli, die Schanze, Ottensen … Lange würde es nicht mehr dauern, bis Wilhelmsburg dran war. Ging vielleicht schon los, wer weiß.

Harald studierte die Klingeltafel. »Kabaoglu, hier. Mann, haben die eine Sauklaue!« Er drückte den Knopf, und sie hörten weiter oben eine altmodische Türklingel schnarren.

Marie lehnte sich gegen die Tür und wartete auf den Summer.

Stattdessen wurde über ihnen ein Fenster geöffnet. »Ja bitte?«, fragte eine jung klingende Frauenstimme.

Sie traten einige Schritte zurück und blinzelten nach oben. Eine dunkelhaarige Frau Mitte 20 lehnte aus dem Fenster im zweiten Stock.

»Guten Tag, mein Name ist Marie Schwartz, und das ist mein Kollege Harald Grossmann. Können wir bitte Frau Kabaoglu sprechen?«

»Sind Sie Journalisten?«

»Nein.« Marie hielt ihre Dienstmarke hoch. Sie wollte vermeiden, das Wort »Polizei« laut nach oben zu rufen. Das brachte nur unerwünschte Aufmerksamkeit, speziell in Vierteln wie diesem.

Die junge Frau im Fenster nickte. »Kommen Sie rein, die Tür ist nicht verschlossen. Zweiter Stock links.«

Im Treppenhaus roch es nach Kohl, feuchten Wänden und exotischen Gewürzen. Der Handlauf war abgegriffen, die Wände schmutzig und von den Fenstern blätterte die Farbe ab. Umso überraschter war Marie, als die junge Frau die Wohnungstür öffnete und sie in ein blitzsauberes, wenn auch kitschiges Wohnparadies einließ. Auf den alten Bodendielen lagen kunstvoll geknüpfte orientalische Teppiche, die Wände waren mit einer dicken Stofftapete versehen, die obendrein glitzerte. Davor hingen Bilderrahmen mit Familienfotos und ein Spiegel mit einem breiten goldenen Rand in nachgemachtem Barockstil.

Aus dem Wohnzimmer klang ein aufgeregtes Durcheinander von Frauenstimmen bis in den Flur. »Haben Sie Besuch?«, fragte Marie.