Bleib bei mir, Sam - Dustin Thao - E-Book
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Dustin Thao

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Beschreibung

Ich kann dich nicht ein zweites Mal verlieren
Das perfekte Ostergeschenk für alle ab 14 Jahren


Die siebzehnjährige Julie hat ihre Zukunft perfekt geplant – endlich raus aus dem kleinen Ort, mit ihrem Freund Sam in die Stadt ziehen und studieren, den Sommer in Japan verbringen. Aber dann stirbt Sam. Und alles ist anders.
Julie ist am Boden zerstört, geht nicht zur Beerdigung, wirft weg, was sie von Sam besitzt, und versucht ihn zu vergessen. Doch als sie eine Notiz von Sam in ihrem alten Jahrbuch liest, kommt alles wieder hoch. Nur um seine Stimme zu hören, ruft sie Sams Handynummer an. Und Sam hebt ab …

Dustin Thaos hochemotionaler Debütroman über Liebe, Trauer und Verlust stürmte auf Anhieb die New-York-Times-Bestsellerliste, wurde zur TikTok-Sensation und hat inzwischen Millionen Leser*innen auf der ganzen Welt zu Tränen gerührt.

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Seitenzahl: 447

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PetraB

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

So unglaublich spannend und einfühlsam. Ein lohnenswertes Buch
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Ähnliche


DUSTIN THAO

BLEIB BEI MIR, SAM

Aus dem amerikanischen Englisch von Bernadette Ott

Bei diesem Buch wurden die durch das verwendete Material und die Produktion entstandenen CO2 -Emissionen ausgeglichen, indem der cbj-Verlag ein Projekt zur Aufforstung in Brasilien unterstützt. Weitere Informationen zu dem Projekt unter: www.ClimatePartner.com/14044-1912-1001

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Dustin Thao

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Die Originalausgabe erschien erstmals unter dem Titel »You’ve reached Sam« bei Wednesday Books, einem Imprint der Verlagsgruppe St. Martin’s Publishing Group, New York.

Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency

All Rights Reserved

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem amerikanischen Englisch von Bernadette Ott

Umschlaggestaltung: Suse Kopp, Hamburg, unter Verwendung der Vorlage von Kerri Resnick

Umschlagmotiv: © Zipcy

kk · Herstellung: aw

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN: 978-3-641-29224-9V002

www.cbj-verlag.de

PROLOG

Sobald ich die Augen schließe, setzt die Erinnerung ein, und ich bin wieder dort, wo alles begann.

Ein paar Blätter fegen herein, als er die Buchhandlung betritt. Er trägt eine Jeansjacke, die Ärmel hochgeschoben, darunter einen weißen Sweater. Es ist das dritte Mal, dass er in den Laden kommt, seit ich hier vor zwei Wochen zu arbeiten angefangen habe. Sein Name ist Sam Obayashi. Er ist der Junge aus meinem Englischkurs. Ich habe heute die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut, ob er wohl wieder kommt. Aus irgendeinem Grund haben wir noch nicht miteinander gesprochen. Er mustert jedes Mal die Regale, während ich an der Kasse stehe oder neue Bücher einräume. Ich habe keine Ahnung, ob er nach etwas sucht. Ob es ihm nur gefällt, in einer Buchhandlung zu sein. Oder ob er kommt, um mich zu sehen.

Als ich ein Buch aus dem Regal ziehen will und mich frage, ob er wohl meinen Namen kennt, fange ich aus dem Augenwinkel das Aufleuchten brauner Augen ein, die mich von der Seite anschauen. Wir schweigen einen Moment zu lang. Dann lächelt er, und ich habe das Gefühl, dass er etwas sagen will – aber bevor es dazu kommt, schiebe ich das Buch zwischen uns. Und schon bin ich im Hinterzimmer verschwunden. Was ist mit mir los? Warum habe ich nicht zurückgelächelt? Wie konnte ich nur diesen Augenblick so ruinieren? Nachdem ich genug mit mir geschimpft habe, nehme ich all meinen Mut zusammen. Ich gehe wieder zurück in den Laden, um ihn anzusprechen. Aber er ist bereits fort.

Neben der Kasse finde ich etwas, das vorher nicht dort lag. Eine Kirschblüte aus Papier. Ich drehe und wende sie in den Händen, bewundere das kleine Faltkunstwerk.

Hat Sam das hiergelassen?

Ich stürme auf die Straße, vielleicht erwische ich ihn ja noch. Aber kaum bin ich zur Tür hinaus, verblasst die Straße, es ist zwei Wochen später, und ich bin dabei, ein lärmendes Café an der Ecke zur Third Street zu betreten.

Runde Tische wachsen aus den Holzdielen empor, Teenager drängeln sich um sie, machen Selfies, trinken aus großen Tassen. Ich trage einen bequemen, kuschligen grauen Pulli, meine braunen Haare fallen mir in weichen Locken auf die Schultern. Ich höre Sams Stimme, bevor ich ihn sehe. Er steht hinter der Theke und nimmt gerade eine Bestellung entgegen. Ich erkenne seinen dunklen Haarschopf wieder. Vielleicht ist es die Schürze, aber er wirkt größer als sonst. Ich suche mir einen Tisch am anderen Ende des Raums und lasse mich dort umständlich nieder. Es dauert eine Weile, bis ich alle meine Sachen – Hefte, Stifte, Bücher – ausgebreitet habe. Auch wenn ich bei ihm nur einen Latte macchiato bestellen will, muss ich allen Mut zusammennehmen, um zu ihm zu gehen. Als ich aufblicke, steht er plötzlich neben mir, eine große Tasse in der Hand.

»Oh …« Seine plötzliche Anwesenheit verwirrt mich. »Ich hab noch gar nichts bestellt.«

»Dasselbe wie letztes Mal«, sagt Sam und stellt die Tasse vor mir ab. »Ein Honig-Lavendel-Latte, stimmt doch, oder?«

Ich schaue auf die Tasse, dann zur Theke, an der sich die Kunden drängen, dann zurück zu ihm. »Soll ich dort bezahlen?«

Er lacht. »Nein, geht aufs Haus. Mach dir deswegen keine Sorgen.«

»Oh.«

Schweigen zwischen uns. Sag was, Julie!

»Ich kann dir auch was anderes bringen«, bietet er an.

»Nein, ist schon in Ordnung – ich meine … danke schön!«

»Alles gut«, sagt Sam und lächelt. Er steckt die Hände in die Taschen seiner Barista-Schürze. »Dein Name ist Julie, richtig?« Er zeigt auf sein Namensschild. »Ich bin Sam.«

»Ja, ich weiß. Wir sind im selben Englischkurs.«

»Stimmt. Hast du schon alle Bücher auf der Liste gelesen?«

»Nein, noch nicht.«

»Da bin ich aber froh.« Er seufzt. »Ich auch nicht.«

Wieder Schweigen, während er vor mir steht. Er duftet leicht nach Zimt. Keiner von uns beiden weiß, was er jetzt sagen soll. Ich blicke umher. »Machst du gerade Pause?«

Er dreht sich kurz zur Theke um, reibt sich das Kinn. »Na ja, könnte man vermutlich so sagen.« Er grinst. »Mein Chef ist heute nicht da.«

»Bestimmt hast du sie verdient.«

»Wäre schon die fünfte heute, aber wen kümmert das.«

Wir lachen beide. Meine Schultern entkrampfen sich etwas.

»Was dagegen, wenn ich mich kurz zu dir setze?«

»Natürlich nicht …« Ich schiebe meine Utensilien auf dem Tisch zur Seite und er setzt sich neben mich.

»Wo kommst du eigentlich her?«, fragt Sam. »Ihr seid erst vor Kurzem hierhergezogen, oder?«

»Aus Seattle.«

»Regnet es dort wirklich so viel, wie man sagt?«

»Ja.«

Ich muss lächeln, während wir nebeneinander am Tisch sitzen und das erste Mal miteinander reden, über die Schule und die Kurse, die wir besuchen. Wir erzählen uns gegenseitig ein paar Dinge aus unserem Leben – er hat einen jüngeren Bruder, mag Musikdokumentationen und spielt Gitarre. Von Zeit zu Zeit wandern seine Blicke durch den Raum, als wäre er mindestens genauso nervös wie ich. Nach einer Weile quatschen und lachen wir beide, als wären wir schon lange miteinander befreundet. Irgendwann geht draußen die Sonne unter und taucht Sam, der direkt am Fenster sitzt, in ein goldenes Licht. Dieser goldene Schein, der ihn umgibt, entrückt ihn wie in eine andere Welt. Erst als eine Gruppe von Sams Freunden und Freundinnen durch die Tür kommt und seinen Namen ruft, blicken wir beide auf und merken, wie viel Zeit inzwischen verstrichen ist.

Ein Mädchen mit langen blonden Haaren legt den Arm um Sams Schultern, umarmt ihn von hinten. Sie streift mich mit einem Blick. »Wer ist das?«

»Das ist Julie. Sie ist gerade erst hergezogen.«

»Ach … Woher denn?«

»Aus Seattle«, antworte ich.

Sie mustert mich.

»Das ist meine Freundin Taylor«, sagt Sam und tätschelt ihren Arm, der immer noch auf seiner Schulter liegt. »Wir gehen nachher alle zusammen ins Kino. In einer Stunde ist meine Schicht zu Ende. Komm doch auch mit.«

»Es ist ein Psychothriller«, fügt Taylor hinzu. »Wahrscheinlich nicht so dein Ding.«

Wir schauen uns beide an. Ich kann nicht sagen, ob sie es unfreundlich meint oder nicht.

Mein Handy fängt auf dem Tisch zu vibrieren an und ich blicke auf die Uhr. Es fühlt sich an, als wäre ich aus einem Tagtraum erwacht. »Schon in Ordnung. Ich sollte jetzt besser nach Hause.«

Kaum bin ich aufgestanden, lässt Taylor sich auf meinen Sitz gleiten. Ich frage mich, ob sie wohl zusammen sind. Ein kurzes Winken zum Abschied. Doch bevor ich gehe, mache ich noch einen Umweg an der Theke vorbei. Als ich mir sicher bin, dass Sam gerade nicht hinschaut, ziehe ich eine Papierblume aus meiner Tasche und lege sie neben die Kasse. Eine Woche lang habe ich damit verbracht, mir im Internet Anleitungen anzusehen, wie man eine Kirschblüte faltet. So eine, wie ich sie in der Buchhandlung neben der Kasse vorgefunden hatte. Aber die Schritte waren für meine ungeübten Hände zu schwierig. Eine Lilie war einfacher.

Ich ziehe den Reißverschluss meiner Tasche zu, haste aus dem Café, und plötzlich befinde ich mich auf den Stufen vor unserer Haustür und schaue über die Rasenfläche zur Straße. Das Gras ist noch feucht vom Morgentau. Sam kommt im Auto vorgefahren, das Seitenfenster heruntergelassen. Am Abend zuvor hatte er mir eine Nachricht geschrieben.

Hey. Hier ist Sam. Ich hab meinen Führerschein!

Soll ich dich morgen früh im Auto mitnehmen?

Ich kann bei dir vorbeikommen, wenn du magst.

Ich steige ein, sinke auf den Beifahrersitz und ziehe die Autotür zu. Ein angenehmer Geruch nach Zitrusfrüchten und Leder steigt mir in die Nase. Ist das ein Aftershave? Sam schiebt die Ärmel seiner Jeansjacke hoch, während ich mich anschnalle. Ein USB-Kabel verbindet das Soundsystem des Wagens mit seinem Smartphone. Ein Song ist zu hören, den ich nicht kenne.

»Du kannst auch ein anderes Lied aussuchen, wenn du magst«, sagt Sam. »Hier – stöpsel einfach dein Handy an.«

Eine Panikwelle durchflutet mich und ich presse mein Handy fest an mich. So weit bin ich noch nicht. Ich will noch nicht, dass er erfährt, was ich gern höre. Was, wenn es ihm nicht gefällt? »Nein, ich mag den Song.«

»Oh, bist du auch Radiohead-Fan?«

»Wer mag die nicht«, antworte ich. Auf den Straßen, durch die wir fahren, ist es ruhig. Von Zeit zu Zeit werfen wir uns verstohlene Blicke zu. Ich grüble, was ich sagen könnte. Als ich eingestiegen bin, habe ich bemerkt, dass hinten eine Anzugjacke hängt. »Ist das dein Auto?«

»Nein, das von meinem Vater.« Sam stellt die Musik leiser. »Donnerstags arbeitet er nicht, deshalb ist das der einzige Tag, an dem ich das Auto haben kann. Aber ich spare, um mir ein eigenes zu kaufen. Deshalb jobbe ich auch in dem Café.«

»Ich versuche auch, Geld zurückzulegen.«

»Wofür?«

»Fürs College«, antworte ich. »Vielleicht auch für eine Wohnung, wenn ich von hier wegziehe.«

»Wohin willst du denn? Du bist doch gerade erst hergezogen.«

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.

Sam nickt. »Also ein Geheimnis …«

Da muss ich lächeln. »Vielleicht sage ich es dir ein anderes Mal.«

»Hört sich gut an«, sagt Sam und schaut mich an. »Wie wär’s mit nächstem Donnerstag?«

Ich muss lachen und dann sind wir auch schon da. Sam biegt mit dem Auto in den Schulparkplatz ein. Die Fahrt dauert nicht lange, aber der Donnerstag wird gerade zu meinem neuen Lieblingswochentag.

Die Erinnerung wechselt wieder. Scheinwerfer tanzen über den Boden der Turnhalle und laute Musik ertönt. Ich durchschreite einen Bogen aus silbernen und goldenen Luftballons. An der Schule ist der große Herbstball und ich kenne niemanden. Ich trage das neue Kleid, dass Mom mit mir gekauft hat, aus dunkelblauem Satin, mit eng anliegendem Bustier und weit schwingendem Rock. Mit den hochgesteckten Haaren habe ich mich im Spiegel kaum wiedererkannt. Am liebsten wäre ich gar nicht auf dieses Fest gegangen, aber davon wollten meine Eltern nichts hören. Ich müsse unbedingt mehr Leute kennenlernen, sagten sie, und ich wollte sie nicht enttäuschen. Schon eine Stunde lang stehe ich an die kalte Betonwand der Turnhalle gelehnt da. Immer mehr Schülerinnen und Schüler strömen herein, tanzen und lachen. Von Zeit zu Zeit checke ich mein Handy, tue so, als würde ich auf jemanden warten. Aber ich werfe nur einen Blick auf den Startbildschirm. Es war ein Fehler, zu kommen.

Irgendetwas hält mich davon ab, zu gehen. Sam hat zu mir gesagt, dass er vielleicht auch da sein würde. Vor ein paar Stunden habe ich ihm getextet, aber es kam keine Antwort – vielleicht hat er sein Handy irgendwo liegen lassen? Als die Musik langsamer wird und viele Leute die Tanzfläche verlassen, schiebe ich mich zwischen den Paaren hindurch, um nach ihm zu suchen. Es dauert eine Weile. Als ich ihn schließlich finde, bleibe ich wie erstarrt stehen. Er hat die Arme um Taylor gelegt. Sie tanzen dicht aneinandergeschmiegt. Mir wird schlagartig übel. Warum bin ich bloß hierhergekommen? Ich hätte zu Hause bleiben sollen. Ich hätte ihm nicht schreiben sollen. Schnell drehe ich mich um, bevor er oder sie mich bemerken können, und stürme zum Ausgang.

Dunkelheit umgibt mich, während die Musik hinter mir immer leiser wird. Ich kann wieder atmen. Der Parkplatz ist so still im Vergleich zu dem Lärm dort drinnen. Nur ein paar Straßenlampen werfen ihr Licht. Es nieselt ein wenig. Ich sollte nach Hause, bevor es richtig zu regnen anfängt. Aber es ist noch zu früh, um meiner Mutter zu schreiben, dass sie kommen und mich abholen soll. Ich will nicht, dass sie mich fragt, was los ist. Vielleicht gehe ich einfach zu Fuß nach Hause und schleiche mich hoch in mein Zimmer. Mit den hohen Absätzen wird es nicht leicht sein, die Füße tun mir jetzt schon weh, aber ich achte nicht darauf. Während ich über den Parkplatz zur Straße gehe, höre ich die Musik einen Augenblick wieder lauter, dann ertönt eine Stimme, die ich sofort erkenne.

»Julie – «

Ich drehe mich um. Sam läuft mir hinterher. In seinem schwarzen Anzug wirkt er viel ernster und erwachsener als sonst.

»Wo willst du hin?«, fragt er.

»Nach Hause.«

»Im Regen? Zu Fuß?«

Ich weiß nicht, was ich ihm darauf antworten soll. Ich fühle mich wie eine Idiotin und zwinge mich zu einem Lächeln. »Ach was. Nieselt nur ein bisschen. Und außerdem bin ich aus Seattle, schon vergessen?«

»Ich kann dich nach Hause bringen, wenn du willst?«

»Schon okay. Ich hab nichts gegen einen kleinen Spaziergang.« Meine Wangen fühlen sich warm an.

»Sicher?«

»Ja, mach dir mal keine Sorgen.« Ich will nur noch weg. Aber Sam rührt sich nicht.

Ich starte einen neuen Versuch. »Wahrscheinlich wartet dadrinnen deine Freundin auf dich.«

»Ähm, was?« Er kommt ins Stottern. »Ach, du meinst Taylor? Sie ist nicht meine Freundin. Wir sind nur gut befreundet.«

Es gibt so viel, was ich ihm sagen möchte, aber ich bringe kein Wort heraus. Zu viele widersprüchliche Gefühle sind in mir. Bin ich eifersüchtig? Dabei sind Sam und ich noch nicht einmal zusammen.

»Warum willst du so früh gehen?«

Ich sehe ihn im bunten Scheinwerferlicht vor mir, die Arme um Taylor gelegt. Aber das sage ich ihm natürlich nicht. »Ach, weißt du, ich kann mit solchen Schulbällen einfach nicht viel anfangen. Das ist alles.«

Sam nickt und steckt die Hände in die Hosentaschen. »Ja, ich weiß genau, was du meinst. Kann ziemlich langweilig sein.«

»Hat irgendjemand an solchen Veranstaltungen wirklich Spaß?«

»Na ja, vielleicht bist du ja nicht mit der richtigen Person hingegangen.«

Einen Moment setzt bei mir der Atem aus. Was will er damit sagen? Durch die halb geöffnete Turnhallentür ist zu hören, wie ein weiterer langsamer Song aus den Lautsprechern kommt.

Sam steht vor mir und wippt in seinen eleganten schwarzen Schuhen vor und zurück. »Willst du nicht … tanzt du nicht gern?«

»Ach, keine Ahnung … Ich kann es einfach nicht besonders gut. Und ich mag es nicht, wenn andere mir dabei zusehen.«

Sam wirft kurz einen Blick in alle Richtungen. Dann grinst er und hält mir seine Hand hin. »Darf ich bitten? Hier sieht uns keiner …«

»Sam – «, fange ich an.

Er lächelt. »Nur ein einziger Tanz.«

Ich halte den Atem an, als er einen Schritt nach vorne macht, nach meiner Hand greift und mich an sich zieht. Niemals hätte ich gedacht, dass mein allererster Tanz so sein würde, Sam und ich im Sprühregen draußen vor der Turnhalle, auf dem Parkplatz vor der Schule. Ich rieche den vertrauten Duft nach Zitrusfrüchten und Leder, als ich meine Wange an seine Brust lehne. Als ich mich enger an ihn schmiege und die Hände auf seine Schultern lege, fällt ihm etwas auf.

»Was ist das denn?«

Die Kirschblüte aus Papier. Ich trage sie an einem Band am Handgelenk.

Wieder habe ich das Gefühl, dass meine Wangen warm und rot werden. »Kein Tanzpartner, kein Sträußchen. Deshalb habe ich mir selber eins gebastelt.«

»Die habe ich dir geschenkt.«

»Ja, ich weiß.«

Sams Lächeln wird größer. »Ich wollte dich eigentlich bitten, mit mir zum Ball zu gehen. Aber ich hatte Angst, dass du Nein sagen würdest.«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil du mir damals nicht geschrieben hast.«

Ich schaue ihn fragend an. »Aber woher hätte ich denn nach unserer Begegnung in der Buchhandlung deine Nummer wissen sollen?«

Sam blickt nach unten, fängt zu lachen an. »Was ist daran so lustig?«, frage ich. Da greift er nach meiner Hand, zieht die Kirschblüte von meinem Handgelenk und faltet sie auseinander. Ich will dagegen protestieren, aber er hält bereits das aufgefaltete Blatt in der Hand. Und auf dem Papier sind sein Name und seine Telefonnummer zu lesen.

»Das hätte ich mich nie getraut …«, stammle ich.

»Wahrscheinlich mein Fehler.«

Wir müssen beide lachen. Dann blicke ich ihn traurig an.

»Was ist los?«, fragt Sam.

»Jetzt ist die Blüte kaputt.«

Alles, was davon noch übrig ist, ist ein vom Regen durchweichtes Blatt Papier.

»Keine Sorge«, sagt Sam. »Ich kann dir wieder eine falten. Ich kann dir tausend Kirschblüten falten.«

Ich lege meine Arme wieder um ihn und aneinandergeschmiegt tanzen wir auf dem Parkplatz weiter, die Musik dringt gedämpft durch die halb geöffnete Tür der Turnhalle zu uns nach draußen, der Regen um uns wird dichter, hüllt uns ein wie Nebel, bis die Wolken sich verziehen und die Sterne am Nachthimmel leuchten und die Erinnerungsszene wieder wechselt.

Aus dem Schlafzimmerfenster meiner Eltern segeln Kleidungsstücke auf den Rasen vor dem Haus. Meine Eltern haben sich bei einem nächtlichen Streit eine Stunde lang angeschrien und ich halte es nicht mehr aus. Ich wusste immer, dass es irgendwann so enden würde, aber ich hatte nicht erwartet, dass es so bald sein würde. Wohin soll ich denn jetzt? Ich habe Sam gebeten, mich zu holen, aber er ist noch nicht da. Ich stehe vorne an der Straße und spüre, wie die Nachbarn mich von ihren Fenstern aus beobachten. Ich kann nicht mehr länger hier herumstehen und auf ihn warten. Ich biege um die nächste Ecke und fange an zu rennen. Ich renne, bis alles hinter mir verschwunden ist.

Ich weiß nicht einmal, wohin ich renne. Ich renne so lange, bis mir nichts mehr bekannt vorkommt. Erst als ich schon am Stadtrand bin, dort, wo sich Weideland und Felder bis zu den fernen Bergen erstrecken, merke ich, dass ich mein Handy vergessen habe. Scheinwerfer tauchen hinter mir auf und beleuchten die leere Straße. Ich trete zur Seite, um das Auto vorbeizulassen, da bremst es ab und kommt neben mir zum Stehen. Es ist Sam.

»Alles in Ordnung?«, fragt er, als ich einsteige. »Ich bin bei dir zu Hause vorbei, aber du warst nicht da.«

Wenn ich mein Handy dabeigehabt hätte, hätte ich ihm meine Koordinaten schicken können. »Woher hast du gewusst, dass ich hier entlanglaufe?«

»Hab ich nicht … Ich hab einfach überall nach dir gesucht.«

Schweigend sitzen wir eine ganze Weile nebeneinander.

»Willst du, dass ich dich wieder nach Hause fahre?«, fragt Sam schließlich.

»Nein.«

»Wohin willst du dann?«

»Irgendwohin.«

Sam fährt los. Wir fahren kreuz und quer durch die Stadt, bis wir jedes Zeitgefühl verloren haben. Die Lichter in den Geschäften gehen nacheinander alle aus und Dunkelheit senkt sich über die Straßen. Als wir nicht mehr weiterfahren wollen, biegt Sam auf den Parkplatz eines Tag und Nacht geöffneten Minimart ein und stellt den Motor ab. Er fragt mich nicht, was zu Hause passiert ist. Er sitzt einfach nur ruhig neben mir, während ich den Kopf gegen das Seitenfenster lehne und die Augen schließe. Das Letzte, woran ich mich erinnere, bevor ich einschlafe, ist die Leuchtschrift des Minimart-Zeichens. Und Sam, wie er seine Jeansjacke über mich breitet.

Ich wache auf einer Wiese auf. Es ist Abend und alles ist in goldenes Licht getaucht. Sonnenlicht wärmt mir die Wangen, während ich mich aufsetze und mich umschaue. Die Bäume sind mit unzähligen handgefalteten Papierblüten geschmückt, sie hängen an langen Schnüren herab, die in der leichten Brise wie die Zweige einer Trauerweide sanft schaukeln. Ich bemerke, dass ein Pfad aus Blütenblättern von mir fort in die Ferne führt, an einen Ort, von dem Gitarrenklänge zu mir dringen. Ich folge den Klängen, schreite durch einen Vorhang aus Papierblüten und weiß dann, wo ich bin. An unserem geheimen Platz am See. Dort, wo wir uns so oft getroffen haben. Als ich zwischen den Bäumen heraustrete, spiegelt sich das Licht der untergehenden Sonne im See. Der Strahl zeigt direkt auf mich. Sam erwartet mich am Ufer.

»Julie – «, ruft Sam und setzt die Gitarre ab. »Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest …«

»Und ich war mir nicht sicher, ob du hier sein würdest«, sage ich.

Er nimmt meine Hände. »Ich werde immer für dich da sein, Jules.«

Ich antworte darauf nichts. Nicht jetzt, nicht in diesem Augenblick.

Wir sitzen am Ufer und schauen aufs Wasser hinaus. Wolken ziehen langsam über den rosarot gefärbten Himmel. Manchmal wünsche ich mir, die Sonne würde nie untergehen. Wir könnten für immer hierbleiben, uns freuen, dass wir zusammen sind, miteinander reden wie immer, über Scherze lachen, die nur uns gehören, so tun, als könnte nie etwas Schlimmes passieren. Ich schaue Sam an, nehme sein Gesicht in mich auf, sein wunderschönes Lächeln, seine schwarzen Haare, die ihm schräg in die Stirn fallen, seine braun gebrannte Haut, und ich wünsche mir, ich könnte diesen Moment einfrieren und für immer festhalten. Aber das kann ich nicht. Selbst im Traum kann ich die Zeit nicht anhalten. Die Wolkendecke über uns wird immer dichter und schwärzer und die Erde unter uns fängt leicht zu beben an. Sam muss es auch bemerkt haben, denn er springt auf.

Ich fasse nach seiner Hand. »Geh noch nicht.«

Er blickt mich an. »Julie … wenn ich bleiben könnte, würde ich dich nie verlassen.«

»Aber du hast mich verlassen.«

»Ich weiß … es tut mir unendlich leid.«

»Ohne dich von mir zu verabschieden.«

»Weil ich nie gedacht hätte, dass es so kommen würde …«

Wie aus dem Nichts faucht hinter uns urplötzlich eine Windbö auf, als sei sie gekommen, ihn mir wegzunehmen. Hinter den Bäumen am anderen Ufer geht die Sonne unter, lange Schatten fallen aufs Wasser. Die Welt verliert ihre Farbe. So war es nicht gedacht. Das war doch erst der Anfang. Unsere Geschichte hatte gerade erst begonnen. Mir pocht das Herz wie wild. Ich umklammere Sams Hand noch fester. Er soll mich jetzt nicht verlassen.

»Das ist nicht fair, Sam …« Aber ich bringe den Satz nicht zu Ende. Tränen steigen mir in die Augen.

Sam küsst mich ein letztes Mal. »Ich weiß, dass wir andere Pläne hatten. Aber wenigstens hatten wir diese Zeit miteinander. Ich will, dass du weißt, Julie … Wenn ich alles noch einmal erleben könnte, würde ich es tun. Jede Sekunde, die ich mit dir zusammen war.«

Aber wenn das Ende so schmerzhaft ist, frage ich mich, ob es das wert war.

Ich lasse seine Hand los. »Sorry, Sam …«, sage ich und weiche einen Schritt zurück. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles noch einmal so erleben will …«

Sam blickt mich an, als warte er darauf, dass ich meine Worte zurücknehme. Aber dafür ist keine Zeit mehr. Er löst sich vor mir auf, verschwindet, bis von ihm nur noch ein Wirbel aus unzähligen Kirschblüten übrig ist. Ein heftiger Windstoß fegt durch die Luft. Ich strecke die Hand aus, um eine der Blüten zu fangen, und halte sie fest. Aber irgendwie entgleitet sie meinen Fingern und entschwebt in die Lüfte. Verschwindet in den Himmel, wie alles von ihm.

ERSTES KAPITEL

JETZT

7. März, 23 Uhr 11. Jetzt brauchst du mich nicht mehr abzuholen. Ich kann zu Fuß nach Hause.

Ich bin tatsächlich zu Fuß nach Hause gegangen. Mitten in der Nacht. Die ganzen acht Kilometer vom Busbahnhof. Und habe dabei hinter mir einen vollgestopften Rollkoffer mit einem kaputten Rad hergezogen. Sam hat immer wieder versucht, mich zu erreichen. Zwölf ungelesene Textnachrichten, sieben nicht angenommene Anrufe, ein Spruch auf die Mailbox. Aber ich habe alle diese Versuche ignoriert und bin immer weitergegangen. Wenn ich seine Nachrichten jetzt lese, wünschte ich, ich wäre nicht so wütend auf ihn gewesen. Ich wünschte, ich wäre drangegangen. Vielleicht wäre dann heute alles anders.

Das Morgenlicht scheint durch die Vorhänge. Ich liege zusammengerollt im Bett und höre wieder und wieder Sams Nachricht auf der Mailbox an.

»Julie – bist du da?« Gelächter im Hintergrund und das Knistern eines großen Feuers. »Es tut mir leid! Ich hab das total vergessen. Aber ich fahr jetzt los! Okay? Warte einfach auf mich! In ungefähr einer Stunde bin ich da. Ich weiß, ich hab deswegen ein echt schlechtes Gewissen. Bitte sei nicht sauer auf mich. Ruf mich zurück, okay?«

Wenn er nur auf mich gehört hätte und mit seinen Freunden zusammengeblieben wäre. Wenn er an dem Abend nicht vergessen hätte, dass er mich abholen wollte. Wenn es ihm nur ein einziges Mal egal gewesen wäre, ob ich wütend auf ihn war oder nicht. Wenn er nicht wie immer versucht hätte, alles wiedergutzumachen – dann würde niemand mir die Schuld daran geben, was danach in dieser Nacht passierte. Und vor allem würde ich mir nicht die Schuld daran geben.

Ich höre mir die Sprachnachricht noch ein paarmal an, danach lösche ich alles. Dann stehe ich auf und ziehe alle Schubladen auf, suche alles heraus, was Sam gehört hat. Oder was mich an ihn erinnert. Fotos von uns beiden, Geburtstagsglückwünsche, Kinokarten, Papierblüten, idiotische Geschenke wie den Plüschdinosaurier, den er letztes Jahr auf dem Jahrmarkt gewonnen hat, alle Mix-CDs, die er mir über die Jahre gebrannt hat (wer brennt heute überhaupt noch CDs?). Ich stopfe alles in eine Schachtel.

Jeden Tag fällt es mir schwerer, all die Dinge, die mich an ihn erinnern, anzusehen. Man sagt immer, dass es mit der Zeit leichter wird, dass das Leben weitergeht. Aber es fällt mir schwer, ein Foto von Sam in der Hand zu halten, ohne dass ich zu zittern anfange. Meine Gedanken wandern zu ihm, das machen sie ununterbrochen. Ich kann dich nicht hier um mich haben, Sam. Dann glaube ich, dass du noch da bist. Dass du wieder zurückkommst. Dass ich dich eines Tages wiedersehe.

Als ich alles eingesammelt habe, lasse ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Einen langen Blick. Mir war gar nicht klar, wie viele Dinge von ihm ich in meinem Zimmer hatte. Es fühlt sich jetzt so leer an. Als wäre da ein großes Loch. Als würde etwas fehlen. Ich atme mehrere Male tief durch, bevor ich die Schachtel nehme und das Zimmer verlasse. Es ist das erste Mal in dieser Woche, dass ich es schaffe, vor zwölf Uhr mittags aufzustehen. Aber schon nach zwei Schritten im Flur fällt mir ein, dass ich etwas vergessen habe. Ich setze die Schachtel auf dem Boden ab und kehre um. In meinem Schrank hängt noch Sams Jeansjacke. Die mit dem gestrickten Kragen und seiner privaten Sammlung von Aufbügelbildern (Bandlogos, Flaggen und Wappen von Orten, an denen er war). Ich habe die Jacke schon so lange und trage sie so oft, ich habe ganz vergessen, dass sie eigentlich ihm gehört.

Ich ziehe die Jacke vom Bügel. Der Jeansstoff fühlt sich kühl an, beinahe feucht. Als hätte er noch die Regentropfen aufgesogen vom letzten Mal, als ich sie getragen habe. Sam und ich rennen in strömendem Regen die Straße entlang, springen über Pfützen, am Himmel hängen schwere Gewitterwolken, es blitzt und donnert. Wir sind auf dem Nachhauseweg vom Screaming-Trees-Konzert. Ich habe die Jeansjacke über den Kopf gezogen. Sam hält seine signierte Gitarre fest an sich gedrückt, damit sie nicht nass wird. Volle drei Stunden haben wir am Hinterausgang gewartet, bis Mark Lanegan, der Frontmann der Band, herausgekommen ist.

»Ich bin so froh, dass wir gewartet haben!«, ruft Sam.

»Dafür sind wir jetzt pitschnass!«

»Ach, so ein bisschen Regen …«

»Das nennst du ein bisschen?«

Von allen Dingen, die mit ihm zu tun haben und die ich jetzt aussortiere, erinnert mich die Jacke am meisten an ihn. Er hat sie jeden Tag getragen. Jedenfalls bevor er sie mir letzten Sommer geschenkt hat. Vielleicht spielt mir ja meine Erinnerung einen Streich, aber ich finde, sie riecht immer noch nach ihm. Ich hatte eigentlich versprochen, sie ihm zurückzugeben. Ich drücke die Jacke an mich. Einen Augenblick überlege ich, ob ich sie nicht doch behalten soll. Warum soll denn alles von ihm verschwinden? Ich könnte sie ganz hinten in meinem Schrank noch aufheben, unter meinen dicken Pullovern oder Jacken oder sonst wo versteckt. Schade um so eine hübsche Jacke, egal wem sie gehört hat. Dann werfe ich zufällig einen Blick in den Spiegel und komme zur Besinnung.

Meine Haare sind total zerzaust, ich bin noch blasser als sonst, habe seit Tagen dasselbe T-Shirt an und klammere mich an Sams Jacke, als könnte ich ihn dadurch wieder zum Leben erwecken. Ein Gefühl von Scham und Verlegenheit durchflutet mich und ich blicke hastig weg. Die Jacke zu behalten, wäre ein Fehler. Ich muss mich von allem befreien, sonst werde ich nie nach vorne schauen und weiterleben können. Ich mache die Schranktür zu und gehe schnell aus dem Zimmer, bevor ich meine Meinung ändere.

Drunten in der Küche spült meine Mutter gerade ab und schaut dabei aus dem Fenster. Es ist Sonntagvormittag, deshalb ist sie ausnahmsweise noch nicht in ihrem Büro. Wie immer knarzt die letzte Treppenstufe, als ich drauftrete.

»Julie?«, fragt meine Mutter, ohne sich umzudrehen.

»Ich bin’s. Kein Grund zur Sorge.« Ich hatte eigentlich vor, die Schachtel unbemerkt an ihr vorbeizuschmuggeln. Ich habe keine Lust, mit ihr darüber ein Gespräch anzufangen. »Was ist da draußen?«

»Wieder mal Dave«, flüstert sie und späht weiter hinaus. »Ich habe ihn dabei beobachtet, wie er vor seinem Haus neue Überwachungskameras installiert hat.«

»Oh.«

»Genau, wie ich es mir gedacht habe.«

Unser Nachbar Dave wohnt seit sechs Monaten hier. Aus irgendeinem Grund glaubt Mom, dass er ins Nebenhaus gezogen ist, um uns zu überwachen. Seit sie vor ein paar Jahren von offizieller Stelle einen Brief erhielt, dessen Inhalt sie mir nicht mitteilen will, hat meine Mutter solche paranoiden Gedanken. »Besser, du weißt nicht, was drinsteht«, sagte sie damals zu mir. Ich glaube, es hat mit der Vorlesung zu tun, die sie damals an ihrer alten Uni gehalten hat. Es kam daraufhin zu Krawallen. Studierende sollen in Gruppen über den Campus gezogen sein und an allen Wänden die Uhren zertrümmert haben. Wogegen sich der Protest richtete? Ganz allgemein gegen den Begriff der Zeit. Zu Moms Verteidigung muss angeführt werden, dass die Studierenden, wie sie sagt, »das alles falsch verstanden haben«. Die Universität beschloss jedenfalls danach, dass »ihr Unterrichtsstil zu radikal« sei. Man hat ihr gekündigt. Mom ist überzeugt, dass über den Vorfall ein Bericht verfasst und an die Regierung geschickt wurde. »Hemingway ist dasselbe passiert«, erzählt sie jedes Mal. »Aber keiner hat ihm glauben wollen. Faszinierende Geschichte. Solltest du mal googeln.«

»Letzte Woche soll bei ihm in die Garage eingebrochen worden sein«, sage ich. »Wahrscheinlich bringt er deshalb die Kameras an.«

»Merkwürdiger Zufall«, sagt meine Mutter. »Wir leben hier – wie lange? Fast drei Jahre? Und nie ist bei uns in dieser Zeit irgendetwas gestohlen worden, nicht einmal ein Gartenzwerg.«

Die Schachtel fühlt sich allmählich etwas schwer an. »Mom, wir hatten noch nie einen Gartenzwerg«, sage ich. Zum Glück. »Und wir sammeln auch keine alten Sportwagen.«

»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«

»Auf unserer natürlich«, verkünde ich. »Sag mir, wie ich ihn außer Gefecht setzen soll, und ich tu’s.«

Meine Mutter dreht sich zu mir und seufzt. »Hab’s kapiert … ich leide unter einer paranoiden Persönlichkeitsstörung.« Sie atmet tief ein und wieder aus, wie ihre Yogalehrerin es ihr beigebracht hat, dann blickt sie zu mir. »Wie auch immer, ich bin froh, dass du aufgestanden bist«, sagt sie. Ihr Blick wandert zur Uhr über dem Kühlschrank. »Ich wollte gerade los, aber ich kann dir was zum Frühstück machen, wenn du hungrig bist. Eier?« Sie tritt an den Herd.

Im Wasserkocher fängt das heiße Wasser zu sprudeln an. Neben einer Tasse liegt ein Tütchen Instantkaffee bereit.

»Nein – ich hab keinen Hunger.«

»Wirklich nicht?«, fragt meine Mutter, die Hand bereits am Griff einer Bratpfanne. »Ich kann dir auch etwas anderes machen. Lass mich mal nachdenken …« Sie scheint mehr in Eile zu sein als normalerweise. Ich schiele zum Tisch und entdecke darauf einen Stapel Prüfungsarbeiten, die sie noch korrigieren muss. Stimmt, es sind ja gerade Prüfungen an der Central Washington University hier in der Stadt, an der sie unterrichtet. Sie ist Assistenzprofessorin im Philosophie-Department. Nach dem Zwischenfall, wie wir nur noch sagen, war es eine der wenigen Unis, die sie zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen haben. Zum Glück hat einer ihrer alten Kollegen hier eine Professur. Er hat sich für sie verbürgt. Ein Fehler von ihr und sie können beide ihren Job verlieren.

»Danke, aber ich hab was vor«, sage ich, werfe mehrmals einen Blick auf die Uhr und tue so, als ob ich in Eile wäre. Je länger ich stehen bleibe, desto mehr Fragen kann sie mir stellen.

»Was hast du denn vor?«, fragt Mom. Sie stellt den Wasserkocher aus und wischt sich die Hände an einem Geschirrtuch ab.

»Nur einen kleinen Spaziergang.«

»Ach so … Okay. Ich meine, großartig.« In der vergangenen Woche hat meine Mutter mir dreimal am Tag Essen ins Zimmer gebracht und in regelmäßigen Abständen besorgt den Kopf durch die Tür gesteckt. Kein Wunder, dass sie zögerlich und unsicher klingt.

»Ich treffe mich mit jemand.«

»Wunderbar.« Meine Mutter nickt. »Etwas raus an die frische Luft, irgendwo einen Kaffee trinken. Deine Freundinnen zu sehen, wird dir guttun. Ach ja, übrigens – hast du mit Mr Lee von der Buchhandlung gesprochen?«

»Noch nicht …« Ich habe seither mit niemandem gesprochen.

»Schau doch mal bei ihm vorbei, wenn du magst. Oder melde dich kurz bei ihm. Er hat ein paarmal auf den AB gesprochen.«

»Ich weiß – «

»Ein paar Lehrer von dir auch.«

Ich greife zusätzlich zur Schachtel noch nach meiner Tasche. »Beruhige dich, Mom. Ich rede am Montag mit ihnen.«

»Heißt das, dass du nächste Woche wieder in die Schule willst?«

»Bleibt mir nichts anderes übrig«, sage ich. »Wenn ich noch eine Woche fehle, lassen sie mich nicht zur Abschlussprüfung zu.« Ganz zu schweigen von den Hausaufgaben, die sich bei mir stapeln, und dem Stoff, den ich nachholen muss. Ich muss wieder in die Spur kommen und mich auf die Schule konzentrieren. Was soll ich sonst tun? Die Welt dreht sich weiter, egal, was passiert.

»Mach dir mal deswegen keine Sorgen, Julie«, sagt meine Mutter. »Sie werden verstehen, wenn du noch Zeit brauchst. Weißt du, was? Ich rufe gleich mal an.« Sie dreht sich suchend um die eigene Achse. »Wo hab ich dieses Ding nur …«

Ihr Handy liegt auf dem Küchentisch. Als sie danach greifen will, stelle ich mich ihr in den Weg.

»Mom, es geht mir gut.«

»Aber, Julie, es – «

»Bitte.«

»Bist du dir auch sicher?«

»Ja, Mom. Bei mir ist alles gut, okay? Du musst niemand anrufen.« Ich will nicht, dass sie sich um mich Sorgen macht. Ich komme schon allein klar.

»Na gut«, seufzt meine Mutter. »Wie du meinst.« Sie streicht mir über die Wange und versucht zu lächeln. Wir schauen uns an. Dann fällt ihr Blick auf die Schachtel. »Und was ist da drin?«

So viel zu der Hoffnung, dass sie nichts bemerken würde. »Nichts weiter. Ich hab nur in meinem Zimmer aufgeräumt.«

Ohne mich zu fragen, hebt sie den Deckel hoch und wirft einen Blick auf den Inhalt. Sie braucht keine Sekunde, um eins und eins zusammenzuzählen. »Oh … Julie, willst du das wirklich tun? Bist du dir ganz sicher?«

»Das ist wirklich keine große Sache …«

»Du musst dich nicht von allem trennen«, sagt sie. »Behalte doch ein paar Erinnerungsstücke an ihn.«

»Nein«, sage ich. »Ich brauche das alles nicht mehr.«

Meine Mutter macht einen Schritt zurück. »Wie du meinst. Ich will mich da nicht einmischen.«

»Ich muss jetzt los. Bis später!«

Ich gehe durch die Garage nach draußen. Vorne an der Straße lasse ich die Schachtel mit Sams Sachen zwischen den Briefkasten und die Abfalltonne fallen. Sie macht beim Aufprall ein klapperndes Geräusch wie Münzen oder Knochen. Der Deckel ist verrutscht, und ein Ärmel von Sams Jeansjacke hängt heraus, als würde ein Gespenst hervorkriechen wollen. Ich richte mich auf und mache mich auf den Weg in die Stadt. Das erste Mal seit Tagen scheint mir die Sonne ins Gesicht.

Ich bin schon fast an der nächsten Kreuzung, als ein Windstoß mir Blätter vor die Füße weht. Unsicher verlangsame ich meine Schritte. Ein seltsamer Gedanke kommt mir. Wenn ich mich jetzt umdrehe – steht er dann vielleicht vor unserem Haus, zieht die Jeansjacke heraus und starrt auf den Rest seiner Sachen? Ich stelle mir den Ausdruck auf seinem Gesicht vor und was er wohl dazu sagen würde. Dann überquere ich die Straße und setze meinen Weg fort, ohne mich umzudrehen.

Trotz der Sonne fühlt sich die Luft frisch an. Ellensburg liegt an der Ostseite des Kaskadengebirges, deshalb bläst immer mal wieder kalte Hochgebirgsluft durch unsere Straßen. Die Stadt ist klein, mit vielen historischen Backsteingebäuden und viel freier Fläche. Es ist ein Ort, an dem nie etwas Aufregendes passiert. Vor drei Jahren bin ich mit meinen Eltern aus Seattle hierhergezogen, als meine Mutter den Lehrauftrag an der Central Washington University bekam. Als daraus später eine Vollzeitstelle wurde, sind nur sie und ich geblieben. Dad ist wieder zurück nach Seattle in seinen alten Job und hat es keine Sekunde bereut. Ich habe ihm nie Vorwürfe gemacht, dass er es in Ellensburg nicht ausgehalten hat. Er hat einfach nicht hierhergehört. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich auch nicht wirklich hierhergehöre. Meine Mutter nennt Ellensburg eine Stadt aus einer anderen Zeit, die noch nicht ganz in der Gegenwart angekommen ist. Modernes Großstadtleben gibt es hier jedenfalls nicht. Obwohl ich es kaum erwarten kann, von hier wieder wegzuziehen, muss ich zugeben, dass der Ort seinen eigenen Charme hat.

Als ich in die Stadtmitte komme, fällt mir auf, wie viel sich innerhalb einer Woche verändert hat. Es ist Frühling geworden. Blumenkörbe hängen unter den Straßenlampen. Entlang der Hauptstraße sind für den wöchentlichen Bauernmarkt weiße Zelte aufgebaut. Ich biege in eine Nebenstraße ein, um das Gedränge zu vermeiden. Ich habe keine Lust darauf, jemandem zu begegnen. Normalerweise macht es Spaß, durch das Zentrum von Ellensburg zu spazieren. Aber alle Straßenecken erinnern mich jetzt an ihn. Hier hat Sam auf mich gewartet, bis ich mit meiner Schicht in der Buchhandlung fertig war. Hier haben wir am Marktstand immer Falafel gekauft. Hier haben wir im Kino sonntags Filme geguckt, die Vorstellung für fünf Dollar, und sind danach Händchen haltend nach Hause gegangen. Mir ist, als müsste er hinter der nächsten Straßenecke auf mich warten. Mein Herz fängt zu rasen an. Vielleicht sollte ich besser umkehren. Aber hinter der Straßenecke steht nur eine Frau, in ein Telefongespräch versunken. Sie bemerkt nicht einmal, dass ich an ihr vorbeigehe.

Meine Freundin Mika und ich haben uns am anderen Ende der Stadt auf einen Kaffee verabredet. In der Stadtmitte gibt es Coffeeshops in Hülle und Fülle, aber ich habe ihr gestern Abend getextet, dass ich auf keinen Fall jemandem über den Weg laufen will, den ich kenne. Sie hat geantwortet: Geht mir genauso. In dem altmodischen Diner suche ich einen Tisch an der Fensterseite aus, in der Nähe eines alten Ehepaars, das gerade die Speisekarte studiert. Als die Bedienung kommt, bestelle ich eine Tasse Kaffee, ohne Milch und Zucker. Normalerweise trinke ich meinen Kaffee immer mit Milch, aber ich gewöhne mir gerade an, ihn schwarz zu trinken. Irgendwo im Internet habe ich gelesen, dass das wie bei Wein ist. Man muss sich an den Geschmack gewöhnen.

Ich habe erst ein paar Schluck getrunken, als die Glöckchen an der Eingangstür bimmeln und Mika hereinkommt. Suchend blickt sie sich nach mir um. Sie trägt eine schwarze Strickjacke und ein schwarzes Kleid, das ich noch nie an ihr gesehen habe. Sie sieht besser aus, als ich erwartet hätte. Mom hat mir erzählt, dass sie auf Sams Beerdigung eine Rede gehalten hat. Mika ist seine Cousine. Wir haben uns über ihn kennengelernt. Sam hat uns auf einer Party vorgestellt, kurz nachdem ich hergezogen bin. Seither sind wir eng miteinander befreundet.

Als Mika mich entdeckt hat, steuert sie auf meinen Tisch zu und setzt sich mir gegenüber auf die rote Plastiklederbank. Sie legt ihr Handy auf den Tisch und schubst ihren Rucksack darunter. Die Bedienung erscheint, stellt, ohne zu fragen, eine zweite Tasse vor sie hin und schenkt ihr Kaffee ein.

»Extra Zucker und Milch wäre großartig«, bittet Mika.

»Okay«, sagt die Bedienung.

Mika hält die Hand hoch. »Haben Sie vielleicht auch Sojamilch?«

»Sojamilch? Nein.«

»Oh.« Mika runzelt die Stirn. »Na gut, dann normale Milch.« Kaum hat die Bedienung sich umgedreht, sieht Mika mich streng an. »Du hast mir nicht mehr geantwortet. Ich war nicht sicher, ob du wirklich kommst.«

»Tut mir leid. Ich antworte gerade nicht besonders oft auf Nachrichten.« Eine andere Entschuldigung dafür habe ich nicht. Tatsächlich habe ich mir angewöhnt, das Handy oft auf stumm zu schalten. Aber diese Woche war natürlich alles noch mal anders, da wollte ich mit der Welt nichts mehr zu tun haben.

»Ja, schon klar«, sagt sie und runzelt wieder leicht die Stirn. »Aber ich habe tatsächlich kurz geglaubt, dass du vielleicht nicht kommst und mir nur nicht abgesagt hast. Du weißt, dass ich so was nicht mag.«

»Dafür war ich besonders pünktlich da.«

Wir lächeln beide. Ich trinke einen Schluck von meinem schwarzen Kaffee.

Mika nimmt meine Hand. »Ich hab dich so vermisst«, flüstert sie.

»Ich dich auch.« Auch wenn ich gerade am liebsten nur noch allein sein will, freue ich mich sehr, Mika zu sehen. Es tut gut, ein vertrautes Gesicht zu sehen.

Die Bedienung kommt, stellt Milch auf den Tisch, holt ein paar Päckchen Zucker aus der Schürze und verschwindet wieder. Mika reißt drei davon auf und schüttet Zucker in ihren Kaffee. Dann greift sie nach dem Kännchen, hält es mir hin und fragt: »Milch?«

Ich schüttele den Kopf.

»Weil sie keine Sojamilch haben?«

»Nein … ich gewöhne mir gerade an, den Kaffee schwarz zu trinken.«

»Hmm. Beeindruckend.« Sie nickt. »Sehr stylish von dir. Seattle-mäßig.«

Mikas Handy leuchtet auf und meldet neue Nachrichten. Gleichzeitig fängt es zu vibrieren an. Mika schaut auf das Display, dann zu mir. »Ich steck das Ding besser mal weg«, sagt sie, lässt das Handy in ihrem Rucksack verschwinden und greift nach der Speisekarte. »Hast du was bestellt?«

»Nein, ich hab keinen Hunger.«

»Oh, okay.«

Sie legt die Speisekarte wieder auf den Tisch. Verschränkt die Finger ineinander, während ich einen weiteren Schluck Kaffee trinke. Die Jukebox blinkt mit orangefarbenen und blauen Lichtern zu uns herüber, aber es spielt keine Musik. Zwischen uns macht sich Schweigen breit, bis Mika schließlich die Frage stellt:

»Willst du mit mir darüber reden?«

»Nein, nicht wirklich.«

»Wirklich nicht? Ist das nicht der Grund, warum wir uns treffen?«

»Ich wollte vor allem mal raus.«

Sie nickt. »Das ist gut. Aber wie geht’s dir denn so mit allem?«

»Okay, glaube ich.«

Mika sagt nichts. Sieht mich an, als warte sie auf mehr.

»Und du, was ist mit dir?«, frage ich stattdessen.

Mika starrt auf die Tischplatte. »Ich weiß es nicht«, antwortet sie schließlich. »Die Trauerrituale waren hart. Es gibt hier in der Nähe keinen buddhistischen Tempel, deshalb haben wir versucht, uns so gut wie möglich zu behelfen. Bei den Zeremonien sind so viele Traditionen und Gebräuche zu beachten. Die meisten kannte ich gar nicht.«

»Das ist mir alles völlig fremd …«, sage ich. Mika und Sam haben eine viel engere Verbindung zur Kultur, aus der sie kommen, als ich. Meine Eltern stammen beide aus Familien von irgendwoher in Nordeuropa, aber das spielt für mich überhaupt keine Rolle.

Zwischen uns breitet sich wieder Stille aus. Mika rührt lange in ihrem Kaffee, ohne ein Wort zu sagen. Dann hält sie inne, als würde sie sich an etwas erinnern. »Wir haben für ihn Totenwache gehalten«, sagt sie, ohne mich dabei anzuschauen. »Am Tag danach. Ich habe die ganze Nacht bei ihm verbracht. Habe ihn noch einmal gesehen …«

Mir krampft sich bei diesem Gedanken der Magen zusammen. Sam noch einmal zu sehen, nachdem er … Ich verbiete mir, es mir vorzustellen. Ich trinke noch einen Schluck Kaffee und versuche, das Bild aus dem Kopf zu kriegen, aber es gelingt mir nicht. Mir wäre lieber, sie hätte mir nicht davon erzählt.

»Ich weiß. Nicht viele Menschen wollten ihn in diesem Zustand noch einmal sehen«, sagt Mika, ohne mich anzuschauen. »Ich habe es auch fast nicht geschafft. Aber ich wusste, dass es die letzte Gelegenheit sein würde, noch einmal mit ihm zusammen zu sein. Deshalb bin ich hingegangen.«

Ich sage nichts. Trinke meinen Kaffee.

»Zur Beerdigung waren sehr viele da«, fährt sie fort. »Wir hatten gar nicht genug Sitzplätze. Leute aus der Schule, die ich nicht mal gekannt habe. Und es gab jede Menge Blumen.«

»Wie schön.«

»Ein paar haben nach dir gefragt«, fährt Mika fort. »Ich hab gesagt, dass es dir nicht gut geht. Und dass du dich lieber allein von ihm verabschieden willst.«

»Das hättest du nicht machen müssen«, sage ich.

»Ich weiß. Aber sie haben immer wieder nach dir gefragt.«

»Wer?«

»Spielt keine Rolle«, sagt Mika.

Ich trinke den letzten Schluck meines Kaffees, der inzwischen kalt geworden ist und unangenehm bitter schmeckt.

Mika schaut mich an. »Warst du bei ihm? Hast du dich von ihm verabschiedet?«

Ich brauche für meine Antwort eine Weile. »Nein«, sage ich dann. »Noch nicht.«

»Willst du jetzt hin?« Sie greift wieder nach meiner Hand. »Wir könnten zusammen zum Friedhof gehen.«

Ich ziehe meine Hand aus ihrer. »Ich … ich kann nicht … nicht jetzt …«

»Warum nicht?«

»Ich habe nachher noch was vor«, weiche ich aus.

»Was denn?«

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Warum muss ich mich rechtfertigen?

Mika beugt sich über den Tisch und sagt leise: »Julie, ich weiß, dass das alles schrecklich für dich ist. Für mich ist es auch schrecklich. Aber du kannst es nicht ewig aufschieben. Lass uns zusammen auf den Friedhof gehen. Erweise ihm die letzte Ehre. Jetzt erst recht.« Und flüsternd, beinahe unhörbar, fügt sie hinzu: »Bitte, es ist doch Sam …«

Die Stimme versagt ihr, als sie seinen Namen sagt. Ihr ist anzumerken, dass sie versucht, ein Schluchzen zu unterdrücken. Sie so zu sehen, schmerzt mich tief in der Brust, und ich bringe kein Wort heraus. Ich kann nicht glauben, dass sie das gegen mich verwendet. Ich kann nicht mehr richtig denken. Mühsam bewahre ich die Fassung.

Ich umklammere die leere Kaffeetasse. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht darüber reden möchte«, sage ich.

»Was ist nur in dich gefahren, Julie?«, fragt Mika. »Sam hätte dich auch dabeihaben wollen. Du bist die ganze Woche abgetaucht. Nicht einmal zur Beerdigung warst du da.«

»Und ich bin mir sicher, dass sich darüber jetzt alle das Maul zerreißen«, antworte ich.

»Ist doch egal, was alle anderen sagen«, schluchzt Mika. »Was zählt, ist allein Sam.«

»Sam ist tot.«

Woraufhin wir beide nichts mehr sagen.

Mika starrt mich an. Ihr Blick sucht in meinen Augen nach einem Anzeichen von Schuldgefühl oder Bedauern, als würde sie darauf warten, dass ich mich für meine Worte in irgendeiner Weise entschuldige. Aber alles, was ich zu ihr sagen kann, ist: »Er ist tot, Mika, und ob ich sein Grab besuche oder nicht, ändert daran überhaupt nichts.«

Wir schauen einander eine gefühlte Ewigkeit an, dann wendet Mika den Blick ab. Ihrem Schweigen entnehme ich, dass sie überrascht, aber auch enttäuscht ist. Erst in diesem Moment fällt mir auf, dass um uns herum ebenfalls alle verstummt sind. Die Bedienung geht wortlos an unserem Tisch vorbei.

Nach einer Weile, als wieder der normale Geräuschpegel herrscht, finde ich die Sprache wieder.

»Ich bin nicht daran schuld, kapierst du? Ich habe ihm geschrieben, dass er nicht kommen soll. Aber er hat nicht auf mich gehört. Ich habe ihm geschrieben, dass er bleiben soll, wo er ist. Deshalb sollen alle damit aufhören, von mir so etwas wie ein Schuldbekenntnis zu erwarten und mir vorzuwerfen, dass – «

»Ich gebe dir nicht die Schuld daran«, sagt Mika.

»Ich weiß. Aber alle anderen wahrscheinlich.«

»Nein. Nicht alle denken so, Julie. Und, tut mir leid, es geht dabei nicht um dich – es geht um Sam. Du warst nicht bei seiner Beerdigung. Obwohl du ihm nähergestanden hast als alle anderen, obwohl du ihn am besten gekannt hast, warst du nicht da, um dich mit ein paar Worten von ihm zu verabschieden. Sam hätte das verdient, und das weißt du auch. Das ist es, was wir alle von dir erwartet hatten. Aber du warst nicht da, du hast dich die ganze Woche in deinem Zimmer verkrochen.«

»Du hast recht. Vielleicht kenne ich ihn wirklich am besten«, sage ich. »Und deshalb bin ich mir auch ziemlich sicher, dass er an den ganzen Kram nicht geglaubt hat. Trauergottesdienst, Totenwache, die Abordnungen von der Schule. Hey, komm schon, das ist Sam doch alles egal. Er hätte das alles gehasst. Wahrscheinlich ist er froh, dass ich nicht gekommen bin!«

»War mir schon klar, dass es dir nicht viel bedeutet«, sagt Mika.

»Sag du mir nicht, woran ich glaube«, erwidere ich. In einem schärferen Tonfall als beabsichtigt. Fast will ich mich dafür entschuldigen, aber nur fast.

Zum Glück taucht die Bedienung wieder auf, um zu fragen, ob wir noch etwas möchten. Mika blickt von mir zur Kellnerin, dann wieder zu mir.

»Ich glaube, ich gehe jetzt besser«, sagt sie und greift nach ihrem Rucksack. Die Bedienung macht einen Schritt zur Seite, als Mika aufsteht. Sie legt Geld auf den Tisch und will schon gehen, da dreht sie sich noch einmal zu mir um. »Hätte ich fast vergessen«, sagt sie. »Ich habe deine zurückgegebenen Arbeiten für dich mitgenommen. War mir nicht sicher, wann du wiederkommst.« Sie zieht den Reißverschluss ihres Rucksacks auf. »Die Jahrbücher sind inzwischen auch da. Beim Abholen waren nur noch unsere beiden übrig, deshalb hab ich deins auch gleich eingesteckt. Hier …« Sie lässt alles auf den Tisch fallen.

»Oh … danke.«

»Bis später.«

Ich erwidere darauf nichts. Sehe Mika hinterher, wie sie zwischen den Tischen hindurchgeht. Die Glöckchen an der Tür klingeln. Ich sitze wieder allein da. Die Bedienung will mir Kaffee nachschenken, aber ich schüttele den Kopf. Plötzlich halte ich es in dem lärmenden, überfüllten, nach Fett riechenden Diner nicht mehr aus. Mir ist alles zu viel. Ich muss unbedingt raus hier.

Der Nachmittag liegt leer vor mir. Mir fällt nichts anderes ein, als wieder durch die Straßen zu spazieren. Ich versuche, nicht an Mika zu denken, daran, was ich ihr besser hätte antworten sollen. Denn dafür ist es zu spät. Ich streife durch die Stadt. Der Kaffee hat mich wacher werden lassen. Der kalte Wind von den Bergen hat sich gelegt. Die Schaufenster leuchten in der Nachmittagssonne. Ich schlendere überall vorbei, ohne hineinzugehen. An der Ecke kommt der Trödelladen. Sam und ich haben dort oft herumgestöbert. Haben uns ausgemalt, wie wir unsere Wohnung einrichten würden. Ich bleibe vor dem Fenster stehen. Durch die verstaubte Scheibe sind Gemälde und kleine Statuen zu erkennen, auf dem Boden stapeln sich Perserteppiche, der Raum ist mit alten Möbeln vollgestellt. Während ich alles betrachte, steigt eine Erinnerung in mir hoch …

Sam überreicht mir ein Geschenk. »Hier, das ist für dich.«

»Aber ich hab doch gar nicht Geburtstag.«

»Als Geschenk zum Schulabschluss.«

»Aber wir haben doch noch gar nicht – «

»Pack’s einfach aus, Julie!«

Ich reiße das Geschenk auf. Eine silberne Buchstütze kommt zum Vorschein. Sie hat die Form eines Engelsflügels.

»Sollten das nicht zwei sein?«, frage ich. »Wo ist das Gegenstück?«

»Ich konnte mir nur einen Flügel leisten«, erklärt Sam. »Aber ich hab gerade meinen Lohn bekommen. Wir können gleich hin, dann schenke ich dir noch den anderen.«

Als wir zum Trödelladen kommen, ist der zweite Engelsflügel bereits verkauft.

»Wer kauft denn bitte eine einzelne Buchstütze?«, fragt Sam die Besitzerin des Ladens.

Ich drehe mich zu ihm. »Nur jemand wie du.«

Damit habe ich ihn noch oft aufgezogen. Aber das ist jetzt alles unwichtig geworden. Ich habe die Buchstütze zusammen mit seinen restlichen Sachen aussortiert.

Die Stadt ist voller Erinnerungen an mich und Sam. Da ist der Plattenladen, wo ich ihn immer getroffen habe, wenn ich aus der Buchhandlung kam. Ein Stuhl hält an diesem Frühlingstag die rote Ladentür offen. Drinnen blättern ein paar Kunden durch die Kisten mit alten Schallplatten. Jemand zieht bei einer elektrischen Gitarre neue Saiten auf. Alles ist wie immer. Nur Sam sitzt nicht mehr neben dem Plattenteller und legt Musik auf. Er hat nicht mal dort gearbeitet. Aber er kannte alle im Laden und auch alle, die in den Laden kamen. Ich gehe schnell dran vorbei, bevor jemand mich sieht und mit mir ein Gespräch anfangen will. Danach ist mir nämlich gerade überhaupt nicht.

Ich weiß nicht, wie ich es noch länger in Ellensburg aushalten soll. Ich will nicht an jeder Ecke an ihn erinnert werden. Zum Glück habe ich in zwei Monaten die Schule hinter mir. Und dann nichts wie weg. Ich habe noch keine Ahnung, wohin ich danach will, aber Hauptsache, fort von hier.

Ich erinnere mich nicht daran, wie ich zum See gekommen bin. Er liegt ein ganzes Stück von der Stadt entfernt. Es gibt keine ausgeschilderten Wege, die dorthin führen. Man muss genau wissen, wo er liegt. Man muss ihn selbst finden. Auf der langen Liste von Orten, die ich an diesem Tag meiden wollte, hatte ich mit dem See am wenigsten gerechnet.

Ich sitze auf der Bank am Ufer. Sam und ich waren im Sommer oft hier. Es war unser geheimer Treffpunkt, unsere kleine Flucht. Unser heimliches Paradies, wenn wir nicht wussten, wohin, und von unserem Leben in Ellensburg die Nase voll hatten. Manchmal saß ich mit meinem Tagebuch da und versuchte zu schreiben, während Sam im See schwamm. Wenn ich die Augen schließe, kann ich hören, wie er durchs Wasser krault, kann ich seinen Kopf und die nass glänzenden Schultern vor mir sehen. Aber dann schlage ich die Augen wieder auf und vor mir liegt die spiegelglatte Wasserfläche und ich bin wieder allein.