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Olivers Geschichte: Die Fortsetzung des hochemotionalen Weltbestsellers »Bleib bei mir, Sam«
Oliver ist im zweiten Collegesemester und trauert noch immer um seinen besten Freund Sam. Heimlich schreibt er ihm weiter Nachrichten, obwohl er weiß, dass Sam nie antworten wird. Als er sich am Jahrestag von Sams Tod entschließt, die Nummer endgültig zu löschen, ruft er sie versehentlich an, und es meldet sich jemand: Finn, der Sams alte Nummer übernommen und Olivers Nachrichten gelesen hat. Die beiden freunden sich an und beschließen sich zu treffen. Doch als Oliver zum Treffpunkt kommt, steht er vor einem geschlossenen Diner. Oliver meint, versetzt worden zu sein. Tatsächlich aber leben die beiden nicht genau zur selben Zeit ...
Dustin Thao hat mit seinen Romanen Millionen Fans zu Tränen gerührt. Nun bekommt Oliver, Lieblingsfigur vieler Fans aus »Bleib bei mir, Sam«, seine eigene Geschichte.
Alle Romane des Autors bei cbj:
Bleib bei mir, Sam
Finde mich, Oliver
Warte auf mich, Haru
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Seitenzahl: 358
Veröffentlichungsjahr: 2025
Dustin Thao
Aus dem amerikanischen Englischvon Bernadette Ott
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© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Die englische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »You’ve Found Oliver« bei Dutton Books, einem Imprint der Verlagsgruppe Penguin Random House LLC, New York.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
© 2025 Dustin Thao
Umschlagkonzeption: Suse Kopp, Hamburg, unter Verwendung der Vorlage von Theresa Evangelista
Umschlagillustration: © Zipcy
kk · Herstellung: ang
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-32619-7V001
www.cbj-verlag.de
Für Alex Aster & Chloe Gong, die in unterschiedlichen Restaurants aufeinander gewartet und mich zu dieser Geschichte inspiriert haben
»Die Einbildungskraft trennt uns von der Realität, aber auch von der Vergangenheit; sie ist in die Zukunft gerichtet.«
Gaston Bachelard, Poetik des Raumes
Vorher
Nach all der Zeit denke ich immer noch an ihn.
Manchmal fühlt es sich an, als wäre er noch gestern bei mir gewesen. Sonnenstrahlen blitzen durch die Bäume. Ich blinzle und schlage die Augen auf. Ich liege im warmen Gras, beide Hände auf dem Bauch. Ein paar Blütenblätter schweben vom Himmel herab, als ich den Kopf drehe. Sam sitzt neben mir, den Kopf auf die Hand gestützt, vor sich ein Notizbuch. Plötzlich ist es wieder das Frühjahr unseres ersten Highschooljahrs.
»Na, war’s erholsam?«, fragt er.
Ich drehe den Kopf weg, schließe wieder die Augen. »Ich hab nicht geschlafen, wenn du das meinst.«
»Nein? Was dann?«
»Nur etwas Erholung für meine Augen.«
»Eine Dreiviertelstunde? Also, das Schnarchen war schon eindrucksvoll.«
Ich schiele zu ihm. »Eine Dreiviertelstunde? Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Hab mir gedacht, du brauchst etwas Erholung für deine Augen.« Er lächelt, dann richtet er sich auf, greift nach seinem Notizbuch. »Ich hab gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen ist. War ganz mit meiner Zeichnung beschäftigt.« Ein Windstoß fährt ihm durch die dunklen Haare, weht sie ihm ins Gesicht. Ich könnte den ganzen Tag so daliegen und ihn anschauen. »Ist ziemlich gut geworden, wenn du mich fragst.«
»Und was ist mit der Mathehausaufgabe?«
»Oh … hab ich vergessen!«
»Sam, wir müssen sie morgen abgeben! Von wem soll ich denn abschreiben?«
»Willst du meine Zeichnung nicht sehen?« Er blickt mich von der Seite an. »Ich hab dich gezeichnet.«
Ich schaue ihn an. »Zeig’s mir …«
Sam beugt sich zu mir, reicht mir sein Notizbuch. Es ist eine Bleistiftskizze von mir, wie ich im Gras liege, einen Arm unter den Kopf geschoben. Von Blüten umgeben. Ich nehme alle Einzelheiten in mich auf, die Haare, die Linien meines Gesichts. Noch nie hat mich jemand gezeichnet. Ich muss lächeln. »Das mit den Schatten krieg ich noch nicht so gut hin«, sagt er.
»Das hast du gemacht, während ich geschlafen habe?«
»Du kannst ruhig sagen, wenn es dir nicht gefällt.«
»Na ja, gar nicht mal so schlecht.« Ich deute auf die Zeichnung. »Aber die Arme stimmen nicht. Die sind bei mir viel muskulöser.«
Sam beugt sich über die Zeichnung, reibt sich das Kinn. »Dacht ich mir doch, dass da was nicht stimmt …«
Wir müssen beide lachen. Ich reiche ihm das Notizbuch zurück und sage: »Mir gefallen die Blumen, die du dazuerfunden hast. Sind das Rosen?«
»Weiße Rosen, um genau zu sein.« Er lächelt mich an. »Du weißt ja, meine Lieblingsblumen.«
»Meine auch«, sage ich. Früher hatte ich keine Lieblingsblumen. Aber jetzt sind es weiße Rosen.
»Weißt du, was ich finde? Wir kriegen als Jungs nicht genug Blumen geschenkt.«
»Definitiv. Das sollte sich unbedingt ändern. Die Gesellschaft, meine ich.«
Sam nickt. Blickt dann wieder zu mir. »Darf ich dich was fragen?«
»Schieß los.«
»Wer ist Zach?«
Das erwischt mich kalt. Woher hat er den Namen?
Er schielt zu meinem Handy, das zwischen uns beiden liegt. »Sorry. Ich hab bemerkt, wie du ihm ein paarmal geschrieben hast.«
»Ein Freund«, antworte ich ausweichend.
»Wann lerne ich ihn kennen?«
»Weiß ich nicht. Er wohnt in Redmond.« Auch eine Kleinstadt in Washington, ganz in der Nähe von Seattle, ungefähr eine Autostunde von Ellensburg entfernt.
»Cool. Wie lang kennt ihr euch schon?«
Ich starre vor mir aufs Gras, überlege, was ich ihm antworten soll. »Noch nicht sehr lange.« Wir schreiben uns seit ein paar Wochen. Getroffen habe ich ihn noch nicht. Aber das erwähne ich nicht, das ist mir zu peinlich. Vor allem, weil ich mich an der Schule noch nicht so richtig geoutet habe.
Wir schweigen eine Weile. Schließlich sagt Sam: »Du kannst mit mir über alles reden, weißt du …«
Wir schauen uns an. Sam und ich sind seit der siebten Klasse die besten Freunde. Wir wissen so ziemlich alles voneinander. Aber es gibt ein paar Dinge, die ich noch nicht mit jemand teilen möchte. »Ich weiß …«, sage ich.
Sam lächelt mich wieder an. Dann schaut er auf den See. »Das Wasser sieht gut aus heute.« Ich bin ihm für den Themenwechsel dankbar. »Wollen wir schwimmen gehen?«
»Und was ist mit den Hausaufgaben? Schon vergessen?«, ziehe ich ihn auf.
»Du hast recht. Wir sollten jetzt lieber Mathe machen.«
»Ja, ganz genau. Sollten wir.«
Wir schauen uns an. Das ist so ein Spiel, das wir manchmal spielen. Ich warte darauf, dass er zu grinsen anfängt, und dann springen wir beide blitzschnell auf. Und schon rennen wir runter zum Steg. Schleudern unterwegs unsere T-Shirts fort. In der Sekunde, als wir in den See springen und das Wasser um uns herum aufspritzt, verschwimmt alles um uns herum, und eine andere Erinnerung taucht auf …
Schuhe mit Ledersohlen, der Marmorboden einer Hotellobby. Sam und ich stehen vor dem großen Ballsaal, elegant gekleidet, schwarzer Anzug, weißes Hemd, Fliege. Durch die Flügeltüren dringt Musik nach draußen. Sam steckt kurz den Kopf hindurch, dann fragt er: »Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«
»Was soll uns denn schon groß passieren?«
»Sie könnten uns verhaften.«
»Dafür, dass wir uneingeladen auf einer Hochzeit auftauchen?«
Sam seufzt. »Ich weiß auch nicht, wie du es immer wieder schaffst, mich zu solchen Sachen zu überreden.«
Es ist im Herbst unseres zweiten Highschooljahrs. Das Sagamore ist das beste und schönste Hotel in Ellensburg. Hunderte Male sind wir schon daran vorbeispaziert und haben gewitzelt, dass wir uns dort eines Tages in eine Party einschmuggeln. Um ehrlich zu sein, hätte ich nie gedacht, dass wir es irgendwann wirklich tun würden. Aber da stehen wir nun. Ich lege Sam die Hände auf die Schultern und sage: »Wir gehen rein, schnappen uns ein Stück Kuchen und gehen wieder raus. Vielleicht noch ein paar von diesen Mini-Burgern. Niemand wird überhaupt merken, dass wir da waren.«
»Hoffentlich gibt’s auch Krabbencocktail.«
»Mal sehen. Also los!«
Wir rücken uns gegenseitig die Krawatten zurecht, dann gehen wir rein. Hinter der Eingangstür sind rechts und links riesige Blumenbuketts aufgebaut. Auf der Tanzfläche drängen sich Smokings und glitzernde Ballkleider. Am anderen Ende des Saals spielt eine Band. Man merkt, dass die Leute so richtig viel Geld haben, denn die Eisskulpturen, die als Deko herumstehen, sind größer als ich. Ich strecke die Hand aus, um einen der Eisschwäne anzufassen.
Sam stößt mich in die Seite. »Lass das.«
»Ich wollte nur überprüfen, ob das echt ist.«
»Wir wollten unsichtbar bleiben, schon vergessen?« Er schüttelt den Kopf, blickt sich dann im Saal um und fragt: »Sag mal, da drüben, ist das nicht ein Fotomat?«
»Ein Fotomat?«
Wir steuern sofort darauf zu und verbringen eine Weile damit, Fotos von uns zu machen. Danach schieben wir uns durch die Menge zum Büfett, um uns was zum Essen zu besorgen. Sam strahlt, als er die in Schokolade getunkten Erdbeeren entdeckt. Er legt sich eine davon auf seinen Teller und sagt: »Alles sieht so köstlich aus!«
»Ich hab dir doch gesagt, dass das eine gute Idee ist!«
»Könntest du dir so eine Hochzeit vorstellen?«
»Ich find’s etwas zu protzig.«
»Aber heiraten willst du schon, oder?«
»Vielleicht. Und du?«
»Na klar. Das heißt, wenn ich den richtigen Menschen finde.« Seine Blicke wandern durch den Saal, als würde er sich vorstellen, es wäre seine eigene Hochzeit. »Aber so bombastisch muss es nicht sein.«
»Ist vielleicht so ein Trick, um einmal im Leben ganz viele Blumen geschenkt zu bekommen«, sage ich.
Lachend dreht Sam sich wieder zum Dessertbüfett. Bestimmt erinnert er sich. Ich wünschte, ich könnte ihm sagen, wie wahnsinnig hübsch er an diesem Abend aussieht. Wie perfekt ihm die Haare in die Stirn fallen, wie unglaublich die Saalbeleuchtung seine dunkelbraunen Augen glänzen lässt. Wir finden einen Tisch und genießen unsere Nachspeisen. Danach machen wir uns zur Tanzfläche auf, um uns die Band näher anzusehen. Während wir der Musik zuhören, nähert sich uns ein Mann.
»Verzeihung«, sagt er. »Ich glaube, euch Jungs hab ich bisher noch gar nicht gesehen.«
Sam und ich tauschen einen nervösen Blick. Doch bevor einer von uns darauf etwas antworten kann, deutet der Mann auf einen Kameramann hinter ihm.
»Vielleicht ein paar Sätze für das wunderschöne Brautpaar?«
Wir starren uns an. Sam schubst mich mit dem Ellenbogen, dass ich darauf etwas sagen soll.
»Ähm … natürlich … gerne«, stottere ich. Dann lege ich den Arm um Sam und lächle in die Kamera, gebe mein Bestes, möglichst natürlich zu wirken. »Danke, dass wir mit euch diesen wunder-wunder-wunderbaren Abend teilen dürfen. Bestimmt spreche ich auch allen anderen aus dem Herzen, wenn ich sage: Ihr seid einfach füreinander geschaffen. Über die Jahre mitzuverfolgen, wie ihr Jungs euch so richtig ineinander verliebt habt, war für uns alle eine große Freude. Deshalb herzlichen Glückwunsch … ähm … euch beiden …« Mir wird klar, dass ich nicht einmal die Namen weiß.
»Ihr Turteltäubchen!«, kommt Sam mir zu Hilfe.
»Stopp, mir kommen die Tränen«, füge ich hinzu und bedecke die Augen.
Als der Kameramann sich wegdreht, packt mich Sam am Arm. Ich kriege einen Lachanfall, während er mich beiseitezieht. Er blickt auf einmal ernst drein. »Oliver, es ist höchste Zeit, dass wir gehen«, sagt er.
»Aber sie haben noch nicht mal die Hochzeitstorte angeschnitten!«
»Ich will nicht, dass wir auffliegen.«
»Entspann dich, keiner hat was bemerkt.«
Sam schüttelt den Kopf. »Wir sind jetzt lange genug geblieben. Ich hol nur schnell meine Jacke und dann treffen wir uns an der Tür.«
»Echt jetzt?«
Ich rede auf ihn ein, dass wir noch länger bleiben sollen. Aber er geht. Wir sind noch nicht mal eine Stunde auf der Feier. Als ich dastehe und noch keine Lust habe zu gehen, kommt mir eine Idee. Ich gehe vor zur Band und habe Glück. Der Gitarrist kennt den Song, um den ich bitte. Während ich darauf warte, dass sie ihn spielen, kehrt Sam zurück und sagt: »Warum stehst du immer noch hier rum? Wir wollten uns doch an der Tür treffen.«
»Nur noch ein Song«, schlage ich vor.
»Du kannst noch für einen weiteren Song bleiben«, antwortet er. »Ich warte im Auto.«
»Komm schon, Sammy.« Ich packe ihn am Arm.
Er zieht ihn weg. »Bis gleich. Ich bin draußen.«
Dann geht er und ich bleibe. In diesem Moment setzt der vertraute Beat des Schlagzeugs ein. Es gibt nur einen Song, der ihn dazu bringen kann, zu bleiben. Escape von Rupert Holmes, besser bekannt als »The Piña Colada Song.« Die Nummer eins auf Sams privater Liste der besten Songs aller Zeiten. Ohne Witz. Er bleibt stehen und erkennt den Rhythmus sofort. Im Auto hat er mich bereits tausendmal gezwungen, mir das Lied anzuhören. Bei der Silberhochzeitsfeier seiner Eltern vor ein paar Jahren haben wir dazu eigens einen Tanz erfunden.
Sam dreht sich langsam um. Lächelnd gehe ich auf ihn zu, wippe zu dem Beat mit. Sam schaut mich an, klopft dazu widerwillig den Rhythmus mit, als würde etwas von ihm Besitz ergreifen. Als der Chor einsetzt, gibt er seinen Widerstand schließlich auf und kommt auf mich zu, um mit mir zu tanzen. Zu meiner großen Überraschung erinnern wir uns beide noch sehr gut an die Tanzschritte. Welche Freude, Sam so zu sehen, wie er tanzt und mitsingt, als wären wir allein auf der Tanzfläche.
Dunstschwaden hüllen uns ein, die von einer Nebelmaschine auf der Bühne herunterwallen. Sam bewegt sich rückwärts hinein und ich folge ihm. Die Musik verklingt, wir verschwinden durch den Nebel, und eine andere Erinnerung taucht auf …
Der Nebel verwandelt sich in Abenddämmerung. Ich steige aus dem Bus aus und mustere die Umgebung. Es ist Samstagabend halb acht. Eineinhalb Stunden Fahrt von Ellensburg aus liegen hinter mir. Zach und ich haben uns jetzt drei Monate geschrieben und beschlossen, uns endlich zu treffen. Eine solche Verabredung hatte ich noch nie. Mein erstes Date mit einem anderen. Als Ort dafür habe ich ein italienisches Restaurant vorgeschlagen, weil er einmal erwähnt hat, dass er am liebsten Pasta oder Fisch isst. Ich setze mich schon mal an einen Tisch und warte dort auf ihn.
Zach verspätet sich etwas. Ich schreibe ihm noch einmal eine Nachricht.
Hi! Bin schon da
Sitze am Tisch hinten links
Hoffentlich kommt er bald. Die Kellnerin taucht auf, um meine Bestellung aufzunehmen.
»Ich warte noch auf meinen Freund«, sage ich.
Aber eine halbe Stunde vergeht. Warum hat er noch nicht geantwortet? Ich schaue aus dem Fenster, hoffe, dass er jetzt gleich aufkreuzt. Schließlich erscheint die Kellnerin wieder.
»Er kommt gleich«, versichere ich.
»Glaub ich dir ja, Schätzchen. Aber es ist Samstag und deshalb warten bereits viele andere auf einen Tisch.«
Immer noch keine Antwort von Zach. Hoffentlich ist ihm auf dem Weg hierher nichts passiert. Nach weiteren zwanzig Minuten kann ich den Tisch nicht mehr halten und warte draußen auf ihn. Es fängt an zu regnen. Ich hoffe, dass meine Haare nicht nass werden. Da vibriert mein Handy.
Eine Nachricht von Zach. Endlich.
Tut mir leid. Kann nicht kommen.
Eine Sekunde lang glaube ich, er macht nur Spaß.
Wie meinst du das? Ist irgendwas passiert?
Ich kann einfach nicht. Hätt ich dir früher sagen sollen.
Aber ich bin deinetwegen extra hergekommen.
Ich weiß, tut mir leid. Es fühlt sich einfach nicht richtig an.
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Wir haben schon so viel Pläne für die Zukunft geschmiedet.
Ich: Wollen wir uns an einem anderen Tag treffen?
Aber die Nachricht geht nicht durch. Zuerst denke ich, es liegt an meinem Handynetz. Dann checke ich die App, auf der wir uns auch schon geschrieben haben, und stelle fest, dass ich sein Profil nicht mehr aufrufen kann. Ich suche nach unseren Chats, aber sie sind auch verschwunden. Das muss ein Versehen sein. Wie kann ich ihn jetzt noch erreichen? Es regnet immer stärker. Der nächste Bus kommt erst in ein paar Stunden. Nie hätte ich gedacht, diesen Abend allein zu verbringen. Ich starre auf das schwarze Display. Dann schicke ich noch eine Nachricht, halte Ausschau nach einer Bank und setze mich.
Die Zeit vergeht unendlich langsam, wenn du dich einsam und verlassen fühlst. Irgendwann taucht jemand neben mir auf und hält seinen Regenschirm über mich. Ich muss nicht einmal aufschauen, um zu wissen, wer es ist.
»Was machst du denn hier im Regen?«
Sam hält weiter den Regenschirm über mich. Ich hebe den Kopf. Er muss vorzeitig sein Fußballtraining abgebrochen haben, um mich zu holen.
»Ach weißt du, mir war nach frischer Luft«, sage ich.
»Und deswegen bist du bis nach Redmond gefahren?«
Ich antworte nicht.
»Erzähl mir, was los ist.«
Vielleicht sollte ich ihm einfach die Wahrheit sagen. Schließlich ist er ja den ganzen Weg hergefahren. »Ich wollte Zach zum ersten Mal treffen. Aber er ist nicht aufgekreuzt.«
»Wusste er, dass du kommst?«
»Wir hatten das schon seit einer Weile geplant.« Ich deute auf das Restaurant in einiger Entfernung. »Dort waren wir verabredet. Dann hat er es sich plötzlich anders überlegt.«
»Tut mir leid, Oliver«, sagt Sam.
»Schon okay«, meine ich achselzuckend. »Hätte schlimmer kommen können, oder?«
»Vergiss ihn«, antwortet Sam kopfschüttelnd. »Er hat dich definitiv nicht verdient.«
»Du bist mein bester Freund«, erwidere ich. »Du musst so was sagen.«
»Ich meine es ernst«, sagt er. »Du verdienst was Besseres. Du verdienst jemanden, der dir Blumen schenkt.«
Ich schaue ihn an. Wenn du nur diese Person sein könntest. Natürlich behalte ich diesen Gedanken für mich, während ich von der Bank aufstehe und den Kopf an seine Schulter lehne. »Danke, dass du gekommen bist. Lass uns nach Hause fahren.«
»Aber jetzt, da wir schon hier sind …«, antwortet Sam mit einem Grinsen. Er blickt zum Restaurant und dann zu mir. »Wir zwei können doch da reingehen und was essen, wenn du willst.«
»Da geh ich nicht noch mal rein.«
Sam lacht. »Okay, dann holen wir uns einfach irgendwo eine Pizza.«
»Klingt perfekt.«
Sam legt mir seinen Arm um die Schultern und wir gehen ein Stück die Straße entlang. Auf der anderen Seite entdecken wir einen Pizzaservice. Sam macht die Tür auf, lässt mich zuerst hineingehen. Während ich den Raum betrete, verwandelt sich die Erinnerung wieder, ein neuer Ort taucht auf …
Sonnenlicht strömt durch die geöffnete Tür in das Café herein. Es ist mitten am Nachmittag und fast alle Tische sind besetzt. Sam steht hinter der Theke und kassiert gerade eine Kundin ab. Seine erste Woche in diesem Job. Ich dachte mir, ich komme einfach mal vorbei und überrasche ihn. Vielleicht spendiert er mir ja auch ein Getränk. Ich gehe zur Theke, tue so, als wäre ich eine normale Kundschaft.
»Entschuldigung«, sage ich mit lauter Stimme. »Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Caffè Latte und einem Cappuccino? Würde ich gern mal wissen. Und die Muffins, sind die frisch?«
»Also erstens sind das Scones«, antwortet Sam. »Und zweitens trinkst du überhaupt keinen Kaffee.«
Ich hebe abwehrend die Hand. »So spricht man nicht mit einem Kunden«, erwidere ich und gebe mich beleidigt. »Wer ist in dem Laden hier der Geschäftsführer?«
»Ich schmeiß dich gleich raus.«
Wir lachen beide. Dann lehne ich mich lässig an die Theke und frage mit meiner normalen Stimme: »Okay, Sam. Und jetzt sag mir, wie läuft’s hier in deiner ersten Woche?«
»Geht so«, meint er achselzuckend. »Aber den großen Ansturm heute Mittag hättest du erleben sollen. Die Leute haben mich angebrüllt.« Er dreht sich um und holt von hinten etwas.
»Und wie ist’s mit Gratisgetränken?«
»Ich mach gerade eins.«
Er stellt eine große Tasse vor sich auf die Theke. Ich beuge mich vor. Der Milchschaum ist mit lila eingefärbtem Puderzucker bestäubt.
»Irgend so ein Modegetränk?«, frage ich.
»Ein Honig-Lavendel-Latte. Aber nicht für mich.« Eine Sekunde lang denke ich, er hat ihn für mich gemacht. Dann deutet er hinter mich auf einen der Tische. »Für das Mädchen da hinten.«
»Oh …«
»Das hat sie das letzte Mal bestellt. Sie heißt Julie.«
Ein Mädchen mit schokobraunen Haaren sitzt im hinteren Teil des Cafés allein an einem Tisch und schreibt etwas in ein Heft. An unserer Schule habe ich sie noch nie gesehen.
»Den bring ich ihr gleich. Bin echt nervös«, sagt Sam.
»Habt ihr schon miteinander gequatscht?«
»Nicht wirklich«, sagt Sam. »Aber sie ist in einem meiner Kurse. Ist gerade erst hergezogen. Glaubst du, ich soll ihn ihr einfach bringen? Oder wäre das seltsam? Vielleicht lieber nicht … Was meinst du? Bist du dafür?«
Ich denke kurz nach. Vielleicht lieber nicht. Aber es wirkt so, als würde er sie unbedingt kennenlernen wollen. Da will ich es ihm nicht ausreden. »Dann mal los. Mach’s. Was soll dir denn passieren?«
»Sie könnte mich für einen merkwürdigen Typen halten.«
»Du bist ein bisschen merkwürdig«, sage ich. »Aber was ist daran falsch? Vielleicht mag sie ja solche Typen.«
»Du hast recht«, sagt Sam. Er holt tief Luft. »Okay, ich mach’s.«
Er greift nach der Tasse und geht damit um die Theke herum.
Ich beobachte, wie er an ihren Tisch tritt und die Tasse vor ihr abstellt. Leider kann ich nicht hören, was er zu ihr sagt. Aber es scheint für ihn gut zu laufen, denn ich sehe, wie sie lächelt. Dann zieht er einen Stuhl heraus und setzt sich neben sie. Ich hatte gehofft, dass er mir auch ein Getränk spendiert. Aber ich will sie nicht stören. Ich warte noch einen Moment, dann gehe ich, ohne mich zu verabschieden. Wahrscheinlich hat er sowieso vergessen, dass ich auch da bin.
Als ich durch die Tür gehe, verwandelt sich die Erinnerung erneut …
Musik dröhnt durch die Wände, als ich aus der Toilettenkabine komme. Es ist der Abend des großen Schulballs im zweiten Highschooljahr. Ich trage ein schwarzes Hemd und meine Haare sind vom Nieselregen feucht. Während ich mir die Hände wasche, geht die Tür zum Flur auf und Sam kommt herein. Er hat nach mir gesucht.
»Oliver! Da bist du ja!« Er lächelt mich an. »Seit wann bist du hier?«
»Bin grade erst gekommen. Musste mich erst etwas abtrocknen.«
Ich drehe mich weg und greife nach einem weiteren Papierhandtuch. Sam nähert sich mir und schaut mich an. »Was ist los?«
»Nichts.«
»Sicher?«
Ich versuche, es mit einem Lächeln zu überdecken. Aber Sam weiß immer, wenn bei mir irgendwas nicht stimmt. »Keine große Sache«, sage ich. »Mein Stiefvater hat mal wieder Ärger wegen seinem Pick-up gemacht. Deshalb bin ich mit dem Fahrrad gekommen.« Natürlich steckt viel mehr dahinter. Aber ich habe keine Lust, jetzt darüber zu reden.
»Warum hast du es mir nicht gesagt? Dann hätte ich dich abgeholt.«
»Ach was. Nicht der Rede wert. Mein Wet-Look ist doch super.«
»Schön, dass du noch gekommen bist«, sagt er und klopft mir auf die Schulter. »Ich hab auch was für dich.«
»Für mich? Was denn?«
An sein Hemd ist eine weiße Rose gesteckt. Vorsichtig entfernt er sie und befestigt sie dann auf meiner Brust. »Hier, das dürfte die perfekte Stelle dafür sein.«
»Warum machst du das?«
»Weil ich finde, dass sie dir besser steht.«
Was er damit sagen will, ist mir nicht klar. Aber ich erlaube ihm, mir die weiße Rose ans Hemd zu stecken. Es ist das erste Mal, dass mir jemand eine Blume schenkt. »Danke«, sage ich.
Sam lächelt. »Freut mich, dass sie dir gefällt. Und jetzt lass uns zurück zu den anderen.«
Lichter wirbeln durch die Turnhalle, als wir gemeinsam auf die Tanzfläche gehen. Die anderen tanzen in einem Pulk in der Nähe des DJs zu The Weeknd. Wir sind beide allein gekommen, ohne Begleitungen. Als der Song ausklingt, stehen wir einfach nur nebeneinander da. Er hat sich die Haare zur Seite gekämmt, was unglaublich toll aussieht. In einer anderen Welt würde ich ihn jetzt fragen, ob er mit mir tanzen will. Vielleicht würde er Ja sagen, vielleicht auch nicht. Wer weiß.
Während eines langsamen Songs tippt mir unsere gemeinsame Freundin Sara auf die Schulter. »Hi, Oliver. Würdest du gern mit mir tanzen?«
»Na klar«, sage ich.
Locker umarmt, wiegen wir uns zur Musik. Als ich kurz den Kopf wende, sehe ich, dass Taylor, eine andere Freundin von uns, inzwischen mit Sam tanzt. Wir bilden häufig zwei Paare, sie und wir, auch bei Gruppenarbeiten im Geschichtsunterricht. Ein paar Songs tanzen Sara und ich miteinander, dann beschließen wir, uns etwas zu trinken zu holen. Als wir auf die Tanzfläche zurückkehren, ist Sam verschwunden. Ich schiebe mich durch die Menge, kann ihn aber nirgendwo finden. Als ich einen aus unserer Gruppe treffe, frage ich ihn, ob er Sam gesehen hat.
»Ich glaub, er ist nach draußen gegangen.«
»Warum das denn?«
Der andere zuckt mit den Achseln und tanzt weiter. Sam hätte es mir gesagt, wenn er früher hätte gehen wollen. Vielleicht ist er nur etwas frische Luft schnappen. Ich schiebe mich durch die Turnhalle und schaffe es in die Eingangshalle, halte Ausschau nach ihm. Als ich die Tür nach draußen aufstoße, sehe ich ihn sofort. Er ist auf dem Parkplatz und tanzt dort mit Julie. Traurigkeit sickert in mich ein, als ich dastehe und die beiden beobachte. Ich hatte keine Ahnung, dass sie auch da ist. Als sie ihren Kopf an seine Schulter legt, greift er nach ihrer Hand.
Ich berühre die Rose an meinem Hemd. Vielleicht hätte ich nicht nach ihm suchen sollen. Hastig trete ich ins Gebäude zurück. Alles um mich verblasst und wieder taucht eine andere Erinnerung auf.
Bevor ich mich unter die Partygäste mische, setze ich meine schwarze Augenmaske auf. Es ist Halloween unseres Juniorjahrs und das Thema lautet »Dynamisches Doppel«. Sam und ich haben mit mehreren Ideen gespielt, aber uns schließlich für Batman und Robin entschieden. Ich hätte nichts dagegen, Robin zu sein, erklärte ich Sam, denn insgeheim zog ich den goldenen Umhang vor. Außerdem ist Grün meine Farbe, wie man mir gesagt hat.
Sam ist in der Küche und quatscht mit Taylor und Sara. Sie hocken beide auf der Theke, als Velma und Daphne verkleidet. Als ich mich dazustelle, reicht Sam mir eine Dose Cola.
»Batman und Robin?«, fragt Taylor. »Wie originell Jungs doch sind …«
Ich mustere sie mit hochgezogener Augenbraue. »Velma und Daphne? Wenigstens werden wir nicht von einem Hund in den Schatten gestellt.«
»Und hat Daphne nicht rote Haare?«, fragt Sam.
Taylor verdreht die Augen und wirft ihre blonden Haare über die Schulter zurück. »Für eine Party färbe ich mir doch nicht die Haare.«
»Dann könntest du genauso gut Fred sein«, erwidere ich.
Alle lachen.
»Wo ist eigentlich Julie?«, fragt Sarah.
»Besucht ihren Vater in Seattle«, antwortet Sam.
Die Leute drängen ins Wohnzimmer, wo alles für eine Runde Beerpong vorbereitet ist. Als Sam und ich den anderen folgen, um dabei zuzuschauen, vibriert mein Handy. Eine lange Textnachricht von Mom. Ich bleibe stehen, um sie zu lesen. Leider ist es zu Hause gerade mal wieder richtig schlimm. Als ich gegangen bin, hatte ich schon ein ungutes Gefühl. Die Zwischenfälle mit meinem Stiefvater haben sich in letzter Zeit gehäuft. Ich hoffte immer, es würde irgendwann besser werden. Aber das ist nicht der Fall, und schon gar nicht heute Abend. Mom bittet mich, zu kommen und sie zu holen. Ich schreibe ihr, dass ich mich gleich auf den Weg mache. Dann drehe ich mich zu Sam. »Was dagegen, wenn ich mir mal kurz dein Auto leihe?«
»Wofür?«
»Ich muss mal zu Hause vorbei.«
»Irgendwas los?«
Ich habe keine Lust zu großen Erklärungen. Aber Sam weiß genug, um zu wissen, worum es geht. »Ich muss einfach kurz nach Hause«, sage ich.
»Ich komme mit.«
»Musst du aber nicht …«
»Trotzdem, ich komme mit.«
Sam zieht seinen Autoschlüssel aus der Tasche. Wir schubsen und drängeln uns zur Tür und eilen zu seinem Wagen. Im Gehen nehme ich meinen Umhang ab, schmeiße ihn auf den Rücksitz. Sam fährt los. Zum Glück ist es bis zu mir nach Hause nicht weit. Als wir in die Einfahrt einbiegen, halte ich kurz die Luft an. Der Pick-up meines Stiefvaters steht in der Garage, was bedeutet, dass er noch da ist. Zu Sam sage ich, dass er im Auto warten soll. Aber er beharrt darauf, mitzukommen.
»Warte einfach hier auf mich.«
»Nein, ich gehe mit«, sagt er immer wieder.
Ich hole tief Luft, dann öffne ich die Haustür. Ein paar Kleidungsstücke liegen herum, aber nichts, was anders als sonst wäre. Dann bemerke ich auf dem Boden einen zerbrochenen Porzellanteller.
»Mom? Bist du da?«
Nach einer Weile geht die Schlafzimmertür auf. Mom kommt heraus, in der Hand eine kleine Reisetasche. Mein Stiefvater brüllt ihr von drinnen etwas hinterher.
»Was ist los?«, frage ich.
Mit einem Kopfschütteln antwortet Mom leise: »Nichts, Oliver.« Sie stellt die Tasche auf das Sideboard und legt ihren Geldbeutel hinein.
»Warum brüllt er dann so rum?«
»Achte nicht darauf. Hilf mir lieber, meine Sachen zu packen.«
Da erst verstehe ich. Es muss wieder einen schlimmen Streit gegeben haben. Und jetzt versucht er sie davon abzuhalten, dass sie ihn verlässt. Sam und ich blicken uns an. Auf einmal bin ich froh, dass er da ist. »Na klar, wir helfen dir«, sage ich.
Miteinander gehen wir ins Schlafzimmer, wo mein Stiefvater auf dem Bett sitzt und in den Fernseher starrt. Als wir das Zimmer betreten, dreht er den Kopf. Über ihm brummt der Deckenventilator. Wenn er da ist, komm ich fast nie da rein.
»He, könnt ihr nicht klopfen?«, fährt er Sam und mich an.
Ich antworte darauf nicht. Und auch Mom sagt kein Wort, während sie den Raum durchquert und noch eine größere Tasche aus dem Schrank holt.
»Wo willst du damit hin?«
Sie beachtet ihn nicht, greift nach mehreren Kleidungsstücken.
»Hallo? Ich rede mit dir.«
Ich kann den Klang seiner Stimme nicht ertragen. Und auch nicht die Art und Weise, wie er sie anschaut. Ich weiß noch nicht mal, worüber sie gestritten haben. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Als er aufsteht, krampft sich mir der Magen zusammen. Er ist nicht groß, nicht kräftig. Deshalb nutzt er die Stimme, um den Raum zu füllen.
»Antworte mir, wenn ich dir eine Frage stelle.«
»Sprich nicht so mit ihr!«
Es ist das erste Mal, dass ich ihn so anfahre.
»Oliver«, ermahnt mich Mom.
»Du musst den Jungen besser im Griff haben. Und du gehst nirgendwohin.« Als er nach ihrer Tasche greifen will, kann ich mich nicht mehr beherrschen. Ich mache einen Schritt nach vorn und stoße ihn mit aller Kraft weg. Er stürzt und reißt dabei die Lampe mit sich. Schockiert blickt er vom Boden zu mir hoch.
Als er aufgestanden ist, schiebt sich Sam zwischen uns und legt mir die Hände auf die Schultern. »Lass uns deiner Mutter dabei helfen, ihre Sachen zu packen«, sagt er ruhig.
Mein Stiefvater rast vor Wut. Er greift nach der Lampe und schleudert sie gegen den Spiegel, der in tausend Scherben zersplittert.
»Glaubst du, dass das ein Zeichen von Stärke ist?«, brülle ich ihn an.
»Verschwinde!«, brüllt er zurück.
»Mit Vergnügen! Glaubst du, ich wohne gern hier?«
»Und nimm deine Mutter mit. Ihr braucht nie mehr zurückzukommen.« Dann an sie gewandt: »Siehst du, was du angerichtet hast? Nur weil du immer vor dem Fernseher hin und her gehen musst.«
»Also darum ging es wieder? Um den verdammten Fernseher?« Es wäre nicht das erste Mal, dass er sie wegen des verdammten Fernsehers anfährt, weil sie ihm die Sicht versperrt oder einen anderen Sender eingestellt hat. Einmal hat er sogar mit einem Teller nach ihr geworfen. Mom hat es abgestritten, aber ich habe in meinem Zimmer gehört, wie er gegen die Wand knallte.
»Pass auf, mit wem du redest!«, sagt er.
»Mit einem Arschloch, ich rede mit einem Arschloch!«
»Raus mit euch!«
Sam stellt sich wieder zwischen uns, damit nichts Schlimmes passiert. Kurz darauf hat Mom alles gepackt.
»Lass uns gehen, Oliver«, sagt sie. Sam greift nach ihrer Tasche und begleitet sie zur Tür.
»Viel Spaß auf der Straße«, brüllt er ihr hinterher.
In mir kocht es hoch. Ich beuge mich zu Sam und flüstere: »Bring Mom ins Auto.«
»Oliver …«
»Tu’s einfach.«
Sam presst die Lippen aufeinander, greift im Flur noch nach der anderen Tasche und geht mit ihr zur Haustür. Ich weiß, dass ich für das, was ich jetzt tue, noch Ärger kriegen werde. Aber die Wut, die sich über vier Jahre in mir angestaut hat, bricht mit aller Macht aus mir heraus. Ich greife nach dem Golfschläger, der neben der Tür lehnt, hole einmal weit aus und lasse ihn gegen den Fernseher krachen. Dann lasse ich ihn auf den Boden fallen und sage: »So. Problem gelöst. Jetzt musst du keine Angst mehr haben, dass dir jemand ins Bild läuft.«
Mit hochrotem Kopf schreit er mich an. Aber bevor er mir etwas antun kann, bin ich schon aus dem Zimmer. Sam ruft von draußen meinen Namen. Die Nachtluft umhüllt mich, als ich aus dem Haus trete, und ein letztes Mal wandelt sich die Erinnerung …
Einen Augenblick lang wird alles schwarz. Dann erhellt ein knisterndes, Funken sprühendes Feuer den Nachthimmel. Es ist der letzte Abend unserer Partywoche und wir feiern am Strand. Wir haben die Highschool jetzt hinter uns. Ich stehe ein Stück von den anderen entfernt und schaue aufs Meer hinaus. Eine Brise ist aufgekommen und weht mir die Haare aus dem Gesicht. Als ich den Kopf wende, steht Sam neben mir. Wir schauen uns einen Augenblick lang an. Die anderen sitzen alle hinter uns ums Lagerfeuer, trinken und lachen.
»Du bist heute so still«, sagt er.
»Du kennst mich doch. Mir geht so vieles durch den Kopf.«
»Was?«
»Das Universum. Der Sinn des Lebens. Dass das wahrscheinlich das letzte Mal sein wird.« Ich stecke die Hände in die Hosentaschen, schaue wehmütig in die Ferne. »Weil du fortgehen wirst.«
»Jetzt übertreib mal nicht. Sind mit dem Auto doch nur ein paar Stunden.«
»Könnte genauso gut im Ausland sein.«
Sam seufzt. Er wird mit Julie zum Studieren nach Portland ziehen. Sie sind jetzt fast drei Jahre zusammen. Mir kommt es vor, als sei es gestern gewesen, dass ich sie das erste Mal miteinander reden sah. »Ich werde ganz oft hier sein, das weißt du«, sagt er. »Und wir haben noch den ganzen Sommer zusammen. Wir könnten sogar eine kleine Reise miteinander machen. Nur du und ich.«
»Echt? Versprochen?«
Sam lächelt. »Versprochen. Wohin du willst.«
Bei dieser Vorstellung geht es mir gleich besser. Wir beide, wie wir miteinander eine Reise machen. Seit er mit Julie zusammen ist, hat sich zwischen uns vieles geändert. Gerade verbringt sie eine Woche in Seattle, bei ihrem Vater. Als er mir erzählt hat, dass sie heute Abend nicht dabei sein würde, war ich erleichtert. Weil ich mir nämlich vorgenommen hatte, ihm zu erzählen, wie es mir geht. All meine Gefühle. Mit welchen Worten ich es ihm sagen will, weiß ich noch nicht, obwohl ich mir die Szene schon zigfach ausgemalt habe. Ich vertraue darauf, dass mir schon das Richtige einfallen wird, wenn es so weit ist.
Sam blickt zum Feuer und dann wieder zu mir. Ich glaube, er will zu den anderen zurück. Wenn ich es ihm wirklich sagen will, muss ich es jetzt tun. Denn bis zur Abschlussfeier ist nicht mehr viel Zeit. Wer weiß, ob ich vorher noch einmal den Mut dazu aufbringe. Ich hole tief Luft und sage: »Es gibt etwas, das ich dir gerne mitteilen möchte, Sam.«
»Ja?«
»Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll. Denn ich will nicht, dass sich zwischen uns etwas verändert. Aber …« Ich zögere, bin unsicher.
»Erzähl’s mir einfach …«, sagt Sam.
»Okay, was ich sagen will, ist …«, fange ich noch einmal an.
In diesem Moment vibriert in Sams Hosentasche sein Handy. Er sieht auf das Display und ruft: »So ein Mist.«
»Was ist denn?«
»Ich habe zehn Anrufe von Julie verpasst. Ich hätte sie vor über einer Stunde vom Bus abholen sollen! Wahrscheinlich geht sie jetzt zu Fuß nach Hause.« Er versucht, sie anzurufen, landet aber auf ihrer Mailbox. »Sie wird mir eine Riesenszene machen. Ich muss sofort los …« Als er bereits im Gehen ist, dreht er sich noch einmal zu mir um. »Worüber wolltest du denn mit mir reden?«
Der Augenblick ist vorbei. Ich lächle und sage: »Ach, nicht weiter wichtig. Ich erzähl’s dir ein anderes Mal.«
»Tut mir echt leid. Ich schreib dir, wenn ich zu Hause bin, okay?«
»Kommst du nicht mehr zurück?«
»Wahrscheinlich nicht. Ist über eine Stunde Fahrt.«
»Echt blöd.«
»Ja, finde ich auch. Wir sehen uns bald!«
Als wir uns zum Abschied umarmen, ist mir ganz merkwürdig zumute. Ich weiß nicht, wie ich dieses seltsame Gefühl erklären soll. Aber es führt dazu, dass ich ihn etwas länger als sonst umarme. Die eigenartige Traurigkeit bleibt. Als er geht, blicke ich ihm lange nach.
Ich wusste nicht, dass es das letzte Mal war. Das letzte Mal, dass ich ihn sah. Es würde für uns kein anderes Mal mehr geben. Die ganze Nacht würde ich auf eine Nachricht von ihm warten, die nie kam.
Ich habe noch darauf gewartet, als ich dich bereits für immer verloren hatte.
Aber das wusste ich ja nicht.
Fast schon ein Jahr ohne dich
Ich kann immer noch nicht glauben, dass du tot bist
Eine Kirschblüte aus Papier fällt vom Regal, wird vom Luftzug des Fensters über den Teppich geweht. Julie bückt sich, um sie aufzuheben, und legt sie mit zärtlicher Geste auf den Schreibtisch. Dann dreht sie sich um, greift nach einem Umzugskarton auf dem Boden und sagt: »Kannst du den anderen mitnehmen, Oliver?«
»Ich versteh nicht, warum du so viel packst.«
»Vier Monate sind eine lange Zeit.«
»Genau deshalb solltest du lieber nicht weg.«
Julie seufzt. »Du könntest wenigstens so tun, als würdest du dich für mich freuen.«
Es ist der letzte Tag, den wir hier gemeinsam verbringen, bevor sie nach Kopenhagen fliegt. Sie geht für eine Weile zum Studium ins Ausland und lässt mich die nächsten Monate allein. Es ist Frühjahr, unser erstes Jahr am College. Julie und ich gehen beide auf die Central Washington University. Zu wem kann ich mich jetzt retten, wenn ich mich um zwei Uhr morgens aus meinem Wohnheim ausgesperrt habe? Wen kann ich überreden, mit mir am Morgen einen Kurs zu schwänzen und stattdessen im vierten Stock der Bibliothek kostenlos Bagel zu frühstücken?
Julie hält mir eine Duftkerze hin. »Willst du die?«
»Geht leider nicht.« Ich schüttle den Kopf. »Mein neuer Mitbewohner hat erklärt, dass er feminine Düfte hasst.« Ethan ist einer von der Sorte Standard-Hetero-Baseballspieler, ich habe wirklich überhaupt nichts gemeinsam mit ihm. Aber im Grunde ist er ein netter Kerl.
»Wie willst du es mit dem denn aushalten?«
»Zumindest schläft er nicht mit meinem Ex«, erinnere ich sie.
»Wir hatten doch vereinbart, Nolan nicht mehr zu erwähnen.« Sie wirft mir einen strengen Blick zu. »Dass du ihm ja keine Nachricht schreibst, wenn ich weg bin.«
»Und was sollte ich ihm deiner Meinung nach schreiben nach allem, was er getan hat?«, frage ich. »Dass ich ihm verzeihe, mich mit meinem Mitbewohner betrogen zu haben?«
Julie seufzt. »Ich dachte, du bist allmählich drüber weg.«
Ich schaue aus dem Fenster. »Ich bin drüber weg, wenn es so weit ist.«
Leider studiert Nolan wie wir an der Central Washington University. Kennengelernt habe ich ihn im letzten Sommer, als ich bei einer Führung von ihm über den Campus dabei war. Wir saßen nebeneinander im selben Informatikkurs, den ich nach zwei Wochen geschmissen habe. Er hat mich dann zu meiner ersten Collegeparty eingeladen. Um es abzukürzen: Er war mein erster richtiger Freund. Wir haben praktisch jeden Tag gemeinsam verbracht. Wir waren unzertrennlich. Fünf großartige Monate lang, bis ich dahinterkam, dass er mit Connor, meinem damaligen Zimmergenossen, eine Affäre hatte. Seither herrscht Funkstille zwischen uns. Wir reden nicht mehr miteinander. Deshalb bin ich auch so traurig, dass Julie für eine Weile ins Ausland geht. Sie ist einer der wenigen Menschen, die ich noch habe.
Während sie Bücher in einen Karton packt, trete ich an ihren Schreibtisch und mustere den Inhalt einer der Schachteln, die daraufsteht. Ich nehme ein gerahmtes Foto heraus und hänge es wieder an die Wand. Dann nehme ich noch ein paar andere Dinge heraus und stelle sie zurück an ihren Platz.
Als Julie merkt, was ich da mache, dreht sie sich zu mir. »Oliver, hör auf damit!« Sie legt alles wieder zurück in die Schachtel. »Warum fängst du an, meine Sachen wieder auszupacken?«
Ich blicke zu Boden. »Weil ich nicht will, dass du gehst.«
»Ich bin doch nicht für immer weg. Wir telefonieren jeden Tag, okay?«
»Aber das ist nicht dasselbe. Ich habe hier nur noch dich.«
»Jetzt übertreib mal nicht«, antwortet sie mit einem Kopfschütteln. »Alle mögen dich. Du brauchst nur noch etwas Zeit, um dich einzugewöhnen.«
Als sie die Schachtel von ihrem Schreibtisch wegstellt, fällt etwas auf den Boden.
Ich bücke mich, um es aufzuheben.
Es ist ein Plektrum. Für eine Gitarre.
Ich brauche nicht zu fragen, wo sie es herhat. Ich kann seine Finger über die Saiten gleiten hören. Ich drehe es in meiner Hand und beobachte, wie das Licht sich auf dem Plastik spiegelt.
»Du kannst es behalten, wenn du magst«, sagt Julie.
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie mich beobachtet hat. Ich schüttle den Kopf und sage: »Nein, schon okay. Es gehört dir.« Sie hat mir bereits viele Sachen von ihm geschenkt. Ich gebe ihr das Plektrum zurück. Ich weiß, dass es ihr viel bedeutet.
»Danke.«
Zwischen uns herrscht eine Weile Schweigen. Wir haben jetzt schon länger nicht mehr über ihn geredet. Vielleicht denkt Julie ja gerade dasselbe wie ich. »Es ist jetzt fast ein Jahr her«, sage ich. Sam ist letztes Frühjahr gestorben. In der Nacht, als wir die Party mit dem Lagerfeuer gefeiert haben. Als er Julie abholen wollte, ist ein entgegenkommendes Auto offensichtlich von der Spur abgekommen und frontal in seins gekracht. Ich habe es erst am nächsten Vormittag erfahren, nachdem sie ihn am Straßenrand gefunden hatten.
»Ich weiß«, flüstert sie.
»Denkst du immer noch viel an ihn?«
»Jeden Tag.«
»Ich auch.«
Wieder ein Schweigen. Dann ergreift sie meine Hände und sagt: »Er hätte gewollt, dass wir unser Leben weiterleben, da bin ich mir sicher. Und es hätte ihn bestimmt gefreut, dass wir beide uns so angefreundet haben. Dass ich jetzt ein paar Monate weg bin, ändert daran gar nichts.«
Ich antworte darauf nicht. Obwohl Julie und ich uns kennen, seit sie hierhergezogen ist, haben wir uns erst in den letzten Monaten so richtig angefreundet. Merkwürdig, wie geteiltes Leid Menschen einander nahebringen kann. Ich weiß, dass sie Ende des Sommers wiederkommt. Aber sie wird im Herbst ans Reed College wechseln. Vor ein paar Wochen hat sie die Zusage erhalten. Es war für sie klar, dass sie aus Ellensburg wegwollte. Sam und sie wollten ursprünglich gemeinsam weggehen. »Ich glaube, ich schaue später mal bei ihm vorbei«, sage ich. »Ihm ein paar Blumen bringen und so. Vielleicht magst du ja mitkommen? Unterwegs könnten wir uns irgendwo was zum Essen holen.«
»Würde ich echt gerne, das weiß du«, sagt sie. »Aber ich muss noch packen. Und außerdem sollte ich noch ein bisschen Zeit mit meiner Mom einplanen.«
»Leuchtet ein.«
»Jetzt guck nicht so traurig«, sagt sie. »Alles wird gut. So ein paar Monate vergehen schnell. Und wir können uns jederzeit schreiben oder einen Videocall machen.«
»Alles in Ordnung … Ich will dir kein schlechtes Gewissen machen.«
»Gut. Denn ich fliege auf alle Fälle. Vielleicht sehen wir uns davor noch?«
»Falls ich so früh aus dem Bett komme …«
Julie lächelt. Dann blickt sie auf die Uhr. Auf ihrem Bett liegt noch ein großer Haufen Kleidungsstücke. »Ich muss jetzt weiterpacken.«
»Brauchst du noch Hilfe?«
»Danke, Oliver, du hast mir heute schon genug geholfen.«
»Hört sich an, als sei das mein Stichwort zum Gehen.«
Ich umarme sie zum Abschied und gehe. Als ich durch die Stadt marschiere, fröstelt mich in der immer noch kühlen Frühjahrsluft. Normalerweise höre ich auf solchen einsamen Spaziergängen meine Sad-Boy-Playlist. Aber ich habe meine Ohrstöpsel in meinem Wohnheimzimmer vergessen. Mein neuer Mitbewohner ist wahrscheinlich da und hat seine Country Music dröhnend laut aufgedreht.
Ich ziehe mein Handy heraus und schreibe ihm.
Julie fliegt morgen.
Ich weiß nicht, was ich ohne euch beide anfangen soll
Es tröstet mich, im Chatverlauf immer wieder seinen Namen zu lesen: Sam Obayashi