Bleich wie der Mond - Luca Ventura - E-Book
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Luca Ventura

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Beschreibung

In der Nacht spazierte er noch über die Insel, beglückt vom Pinienduft und von einer frohen Nachricht. Doch nun liegt er tot in einem Bottich seiner Molkerei. Nino Castaldo war berühmt für seinen handgezogenen Mozzarella aus reiner Büffelmilch. Niemand ahnte, welche Kämpfe er mit seinem Familienbetrieb und mit den kampanischen Tierschützern ausfocht. Doch im hellen Licht von Capri kommen Enrico Rizzi und Antonia Cirillo seinen Geheimnissen allmählich auf die Spur.

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Seitenzahl: 325

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Luca Ventura

Bleich wie der Mond

Der Capri-Krimi

Roman

Diogenes

1

Der Mond war bleich und schien so hell, dass er mit seinem Licht den Weg beleuchtete, die Scala Fenicia, die jahrhundertelang die einzige Verbindung zwischen den beiden Ortschaften Capri und Anacapri gewesen war. Die Luft schmeckte salzig, duftete nach Pinien, und das Rauschen des Meeres war nur ein Flüstern.

Er hatte nicht getrunken, bloß ein Gläschen auf den Schreck, den Stella ihm mit ihrer Nachricht beschert hatte. Er hatte sie bei den Schultern genommen, ihr in die Augen geschaut und mit den Tränen gekämpft. Und mit seiner Wut. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte, war kurz davor gewesen, sie zu schlagen.

Er lauschte in die Nacht. Die frische Luft tat ihm gut, aber es war auch verrückt, dass er hier mitten in der Nacht durch die Gegend stolperte. Er benutzte im Mondlicht die Steine wie Treppenstufen, und der furchterregende Schatten war bloß eine Pinie mit ihren ausladenden Ästen. Ein Windstoß fuhr in die Bäume, und der Mond verschwand hinter den Wolken. Von einer Sekunde auf die andere lag der Weg vor ihm im Dunkeln. Er sah keine Steine mehr und keine Stufen, kein Moos und keinen Boden und hatte nichts zum Festhalten. Er war wie blind und hörte nur ein Knacken, wie es entstand, wenn jemand auf trockene Äste trat.

»Ist da jemand?«, fragte er in die Dunkelheit.

Er ging schneller, hastete den Pfad hinunter, rannte fast und erreichte endlich die beleuchtete Straße.

Wenn er ehrlich war, hatte er es kommen sehen, aber er hatte die Zeichen nicht richtig gedeutet. Hätte er es verhindern können? Er war wahrscheinlich naiv, aber er war nicht bescheuert. Er musste sich beruhigen, musste eine Tablette nehmen und überlegen. Nein, er musste sich um den Mozzarella kümmern, und der Rest würde sich dann schon finden, wie sich in seinem Leben immer alles gefunden hatte. Er musste Vertrauen haben.

Eine Katze huschte vorbei, lief wie ein Schatten über die bunten Kacheln die Treppenstufen hinauf und verschwand. Er ließ den Schlüssel fallen, bückte sich, taumelte. Er schloss die Tür auf, trat über die Schwelle, und plötzlich war alles gut. Es roch säuerlich – der vertraute Duft von Molke und Ricotta, den er kaum noch wahrnahm. Aber da war noch etwas, eine andere, blumige Komponente, die nicht hierher passte und eine Erinnerung wachrief, die so vage war, dass sie gleich wieder verwehte.

Er stieg in seine Arbeitsschuhe, band sich die Schürze um und bemerkte, dass die Tür zum Büro offen stand.

»Diego?«, rief er, obwohl er wusste, dass der Mann ihn nicht hören konnte. Er spürte, wie die Wut wieder in ihm hochstieg. Hatte er sich denn nicht klar genug ausgedrückt?

»Versteckst du dich?«, rief Nino Castaldo. »Komm raus.« Ohne seine Arbeitsschuhe auszuziehen, ging er nach nebenan.

»Hallo?«, fragte er in den dunklen Raum.

In der Ecke, auf dem Stuhl, saß eine Gestalt, in sich zusammengesunken und gleichzeitig aufgeplustert. Die Gestalt rührte sich nicht. Eine Eule, dachte er. Eine riesenhafte Eule. Er knipste das Licht an.

»Was willst du?«, fragte er, aber die Eule antwortete nicht. Er trat näher.

»Mach den Mund auf«, sagte er, »und schau mich an. Habe ich dir nicht gesagt, dass du hier nichts zu suchen hast? Hau ab. Lass mich in Ruhe. Verschwinde. Was ist los? Warum sagst du nichts?«

Er streckte seine Hand aus. Als hätte die Eule nur darauf gewartet, machte sie ihre Augen auf. Nino Castaldo erschrak.

Die Augen waren groß und stumpf. Er sah darin nichts, nur Trauer und Tod.

2

Rizzi erwachte in der Minute, bevor der Wecker klingelte, als hätte er eine innere Uhr.

Rasch langte er nach seinem Telefon und stellte die Weckfunktion aus, bevor das Ding losging und Gina neben ihm oder Francesca im Kinderzimmer gegenüber aufschreckten. Dann lauschte er für ein paar Sekunden in die Stille und schlug vorsichtig die Decke zurück.

»Liebling«, murmelte Gina schlaf‌trunken, schlang ihren Arm um ihn und zog ihn zurück. »Bleib doch noch liegen.«

Rizzi löste sich aus der Umklammerung. »Schlaf weiter«, flüsterte er, beugte sich über sie und küsste sie zärtlich. Kurz darauf stieg er in seine Boxershorts, seine Hose, streif‌te ein T-Shirt und den Pullover über und hörte, wie es unten in der Wohnung seiner Eltern rumorte.

Im Flur band er die Schnürsenkel mit einem Doppelknoten, nahm seine Windjacke vom Haken und verließ die Wohnung – zeitgleich mit seinem Vater, der ein Stockwerk tiefer, mit der Aktentasche unter dem Arm, ebenso lautlos die Tür hinter sich ins Schloss zog.

»Buongiorno«, brummte Vito, als sie hintereinander die Treppe hinunterliefen und Rizzi seinem Vater zur Begrüßung eine Hand auf die Schulter legte.

Romeo kam aus der Waschküche gekrochen, wedelte freudig mit dem Schwanz, schüttelte erwartungsvoll sein Fell und sprang, als Vito die entsprechende Handbewegung machte, auf die Ladefläche der Ape. Rizzi stieß das Tor auf, und Vito startete den Motor.

Es war dunkel, als sie die Gasse hinunterfuhren. Die Insel lag noch in tiefem Schlaf, und niemand begegnete ihnen. Vito fuhr die Strecke nach vierzig Jahren im Schlaf, wie auch Rizzi jede Kurve, jedes Schlagloch und jeden kleinen Buckel kannte.

Im Süden ragte der Monte Cappello wie eine schwarze Wand empor, und der Mond schien matt hinter dünnen Wolken. Vom Meer wehte ein leichter Wind, der schon die Wärme des Sommers in sich trug und sich auf der Haut ganz weich anfühlte.

Rizzi auf dem Beifahrersitz, neben seinem Vater, ließ den Arm aus dem Seitenfenster baumeln und sah hoch oben auf der Via Provinciale das Scheinwerferlicht eines Wagens, der von Anacapri kommend nach Capri kroch, und fragte sich, wer um diese Zeit, vor fünf Uhr morgens, dort schon unterwegs war. Es war müßig, darüber nachzudenken, ein Reflex, den wahrscheinlich alle Einheimischen hatten, die sich untereinander kannten, nicht nur Rizzi als Polizist, selbst wenn er nicht im Dienst war.

Vito fuhr auf dem Feldweg Schlangenlinien, lenkte dabei einmal zu nachlässig um die Schlaglöcher herum. Das Fahrzeug hüpf‌te, und Rizzi und sein Vater stießen mit ihren Köpfen ans Dach der Fahrerkabine, während im Scheinwerferlicht vor ihnen die beiden Pfeiler auf‌tauchten, zwischen denen, etwas windschief, die verrostete Pforte in den Angeln hing.

Rizzi stieg aus, öffnete das Vorhängeschloss, zog die schwere Kette von den Gitterstäben und schob das Tor auf.

Auf dem abschüssigen Weg hinunter in die Gärten stellte Vito den Motor aus, holperte an den Weinstöcken entlang, den Hang abwärts, und kam mit einem Quietschen vor dem Schuppen zum Stillstand, neben Rizzis Motorroller, den er gestern Abend hier stehengelassen hatte.

Um diese Zeit, am frühen Morgen, war die Erde noch feucht und aufnahmebereit – ein Geschenk der Natur, das sie ausnutzen wollten. Der Regen der vergangenen Woche war kein wirklicher Regen gewesen und hatte bei Weitem nicht ausgereicht, um den Boden tiefer als ein paar Zentimeter zu durchdringen.

Vito stapf‌te zum Wasserhahn, der mit der Zisterne verbunden war, drehte ihn auf, und die Pumpe begann zu arbeiten. Der Wasserstrahl kam in rhythmischen Schüben aus dem Schlauch und plätscherte, von Vito geführt, in die Vertiefungen, die sie um die Stämme der Obstbäume herum gegraben hatten.

In der Ferne, kaum wahrnehmbar, begann der Morgen zu schimmern. Rizzi liebte es, in den Gärten zu arbeiten und das beginnende Tageslicht in den Stunden vor Dienstbeginn voll auszunutzen. Sein Plan war, den Streifen auf der Gartenrückseite, entlang der Mauer, wo kniehoch der Klee stand, freizumachen und eine neue Kartoffelsorte zu pflanzen. Genaugenommen war die neue Sorte eine alte, eine fast schon in Vergessenheit geratene bläulich-lilafarbene Knolle, die für Rizzi Teil seines Projekts war, in den Gärten verstärkt alte Sorten anzubauen und für Biodiversität zu sorgen, auch wenn Vito fand, das sei Kokolores: Sorten, die niemand kannte, und Kartoffeln, die schwarzlila waren, würden schwer verkäuf‌lich sein.

Rizzi stach mit dem Spaten in die Erde, lockerte den Boden und warf Stück für Stück die fetten Klumpen auf, fruchtbare Erde, mit der sie hier auf Capri gesegnet waren. Er arbeitete sich Meter für Meter an der Mauer entlang, und der Schweiß begann ihm den Rücken hinunterzulaufen, als Vito von den Pfirsichbäumen herüberrief: »Bist du taub?«

Rizzi schaute auf.

»Dein verdammtes Telefon!«

Das Klingeln kam aus seiner Windjacke, die er in den Walnussbaum gehängt hatte. Rizzi rammte den Spaten in die Erde – aber als er zur Stelle war und den Apparat aus der Jackentasche holte, hörte das Klingeln auf.

Ein verpasster Anruf. Es war die Nummer vom Polizeiposten. Rizzi drückte auf Rückruf.

»Danke, dass du dich meldest«, sagte der Kollege Tiziano Gatti am anderen Ende. »Ich wollte gerade Cirillo aus dem Bett klingeln.«

»Worum geht’s?«

»Hier hat ein Typ angerufen. Er hat zwar nicht gelallt, aber so seltsam gesprochen. Formaggi Castaldo, hat er gesagt.«

»Die Käserei in Anacapri? Piazza La Torre?«

»Exakt.«

»Und weiter?«

»Nichts. Aufgelegt.«

»Hast du eine Rückrufnummer?«

»Da geht keiner ran.« Gatti pustete in den Hörer.

Rizzi schaute auf die Uhr. Dienstag, der zehnte Mai, kurz vor halb sechs Uhr morgens. Eigentlich sollte die Sonne bald aufgehen, aber der Himmel hatte sich zugezogen. »Ich fahre schnell rüber«, sagte er.

»Soll ich Cirillo Bescheid sagen?«

»Lass sie schlafen«, sagte Rizzi. »Ich melde mich wieder.«

 

Fünfzehn Minuten später war er in Anacapri und bog von der Via Giuseppe Orlandi auf die Piazza La Torre, stellte den Motor ab und bockte den Roller auf.

Das bunte Keramikschild von Ernestos Blumen- und Samenhandlung war verschwunden, stattdessen gab es über den Fenstern eine gestreif‌te Markise mit dem Schriftzug Mozzarella e altre specialità di formaggio – Mozzarella und andere Käsespezialitäten. Er war seit Ewigkeiten nicht mehr hier gewesen – genau genommen, seit die Colasanti-Brüder sich entschieden hatten, den Laden ihres Vaters zu verkaufen und die Samenhandlung dichtzumachen.

Rizzi ging zum Hintereingang und zwängte sich an einer Schubkarre und Zementsäcken vorbei. Am Himmel hingen dunkle Wolken, und in der Ferne war ein Gewittergrollen zu hören. Die Tür war nur angelehnt. Auf dem Boden lagen feine Splitter, die aussahen wie Lackfarbe.

»Polizei!« Rizzi klopf‌te. Und öffnete die Tür.

Im Vorraum standen Gummistiefel, schwarze Halbschuhe und graue Filzpantoffeln. Rechts ging es in den Laden, und neben der Treppe in den oberen Stock lag ein kleiner fensterloser Büroraum. Rizzi öffnete links die Tür, und ein säuerlicher Geruch schlug ihm entgegen, Molke wahrscheinlich. Der Raum, der früher Ernestos Reich für Samen, Pflanzen und Gartenbedarf gewesen war, lag im Halbdunkel und war jetzt eine Käserei, der Boden weiß gekachelt und die Wand bis auf halbe Höhe mit Isolierfarbe gestrichen. Strom- und Wasserleitungen verliefen über Putz, und überall im Raum standen Wannen, Bottiche und Töpfe. Zu sehen war niemand.

»Hallo?«, rief Rizzi. »Ist hier jemand?«

Er ließ seinen Blick über Holzlöffel und Schöpfkellen schweifen. Alles war aufgeräumt und ordentlich. Der Raum hatte etwas Steriles. Nur die Madonna auf dem kleinen Regal über dem Metallschrank, das Foto von Padre Pio und der Krimskrams, den man dort abgelegt hatte, deuteten auf etwas Persönliches hin und befolgten keine Hygieneregeln. Irgendetwas irritierte Rizzi.

»Hallo!«, rief er noch einmal und lauschte in die Stille.

Vielleicht war es der gelbe Gummischlauch, der am Wasserhahn über dem Waschbecken angeschlossen war und nicht, wie alles andere, ordentlich aufgeräumt war. Statt über der Vorrichtung an der Wand zu hängen, wand er sich wie eine Schlange durch den Raum. Rizzi folgte ihm um Wannen und Tische herum und gelangte um die Ecke in einen Anbau mit bodentiefen Fenstern und Blick in einen kleinen Garten.

Der Schlauch endete vor einem Bottich aus Chromstahl. Drum herum war der Boden nass, eine riesige Pfütze. Hatte der Behälter ein Leck? Rizzi schaute sich um. Außer dem Bottich gab es einen Schemel und eine Glastür in den Garten, die einen Spaltbreit offen stand. War der Mann, der sich am Polizeiposten gemeldet hatte, hinausgegangen? Aber was in der Dunkelheit auf den ersten Blick da draußen wie eine gedrungene Gestalt aussah, war bloß eine Palme mit vertrockneten Blättern.

Rizzi holte sein Telefon aus der Hosentasche, um bei Gatti im Polizeiposten anzurufen und den Einsatz abzublasen. Falscher Alarm. Dann war er eben für nichts und wieder nichts die ganze verdammte Strecke nach Anacapri gefahren.

Plötzlich war es in der Käserei ganz hell, nur für einen kurzen Moment, ein Blitz am Himmel vielleicht, der für eine Sekunde durch die Wolken brach. Rizzi legte den Kopf in den Nacken und starrte nach oben durch die Scheibe.

Das Fenster im Glasdach war zur Belüftung hochgestellt, und in der Scheibe spiegelte sich etwas, unklare Schatten und Schemen, die sich auch bei genauerem Hinsehen zu nichts Konkretem zusammensetzen wollten. Es musste etwas sein, das sich – wenn es keine Einbildung oder eine optische Täuschung war – schräg darunter im Bottich befand. Rizzi ließ sein Telefon wieder in der Hosentasche verschwinden und schob in der Pfütze den Schemel beiseite.

Der Bottich war mit Wasser gefüllt und die Oberfläche spiegelglatt. Der Mann darin hatte den Kopf in den Nacken gelegt und durchstach mit der Nase die Wasseroberfläche. Die Spitze ragte um wenige Millimeter bis zu den Nasenlöchern heraus. Die Augen waren geschlossen, die Lippen farblos, und die weißen Haare schwammen, wie vom kahlen Schädel losgelöst, um die hohe Stirn herum. So ruhig und friedlich lag der Mann da, und so unwirklich war das Bild, dass Rizzi für einen Moment dachte, er würde das alles hier träumen.

Ein Donnerschlag brachte die Scheiben im Glasdach zum Klirren, und Rizzi bemerkte hinter sich, im Augenwinkel, einen Schatten und – bevor er sich umdrehen konnte – ein dumpfes Geräusch, einen Schlag, aber keinen Schmerz. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

3

Antonia Cirillo tat, was sie manchmal tat, wenn sie früh aufwachte und nicht mehr schlafen konnte: Sie schaute Filmchen im Internet. Auf Pfaden, die sich nicht mehr rekonstruieren ließen, war sie bei den Pinguinen gelandet, diesen seltsamen Vögeln im Frack mit den großen Füßen, kleinen Köpfen und dem unbeholfenen Gang, die, wie Cirillo lernte, in Gemeinschaft so gut klarkamen wie alleine und außerdem in festen Paarbeziehungen lebten. Mit anderen Worten: Sie konnten alles, was Cirillo versuchte, aber ums Verrecken nicht hinbekam. Sie konnte nicht gut alleine sein, aber eine feste Beziehung war auch nichts für sie. Ihre Ehe war grandios gescheitert, und in Gemeinschaft funktionierte sie erst recht nicht.

Der Pinguin warf sich auf den Bauch, rutschte den Abhang hinunter und tauchte elegant ins Wasser, wie auch sie manchmal davon träumte, sich einfach von der nächsten Klippe hinunter ins Wasser zu stürzen und dann einfach davonzuschwimmen und diese verdammte Insel hinter sich zu lassen.

Cirillo goss sich aus der Weinflasche den Rest ins Glas, als sich ihr Telefon auf dem Nachtschrank bemerkbar machte.

Ihr erster Gedanke: Davide. Auch er war ein Nachtmensch, vergaß gerne mal die Zeit und verzehrte sich vielleicht gerade vor Sehnsucht nach ihr. Schön wär’s. Ein Blick auf das Display belehrte sie eines Besseren. Es war die Nummer vom Polizeiposten.

»Sie sind wach?«, fragte Tiziano Gatti am anderen Ende.

Sie unterließ es, ihren jungen Kollegen darauf hinzuweisen, wie unsinnig seine Frage war. Der arme Kerl hatte die Nachtschicht fast hinter sich, war mit Sicherheit hundemüde und wollte wahrscheinlich nur noch nach Hause.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Agente Rizzi hatte gemeint, ich solle Sie schlafen lassen. Er würde das alleine regeln.« Gatti gab sich Mühe, souverän zu klingen, aber seine Stimme zitterte. »Daran habe ich mich gehalten«, fuhr er fort, »obwohl ich natürlich weiß, dass es, streng genommen, gegen die Dienstvorschriften verstößt, einen Kollegen alleine auf einen Einsatz zu schicken.«

»Gatti, kommen Sie zum Punkt«, unterbrach Cirillo. »Um was für einen Einsatz handelt es sich?«

Gatti berichtete, gegen Viertel nach fünf, also vor einer guten halben Stunde, habe sich ein Typ am Telefon gemeldet, bei dem er im ersten Moment dachte, es würde sich um einen Betrunkenen handeln. »Polizei«, habe der Kerl in den Hörer gebellt, »Piazza La Torre, Formaggi Castaldo« – aber alles in einer seltsamen Ausdrucksweise, und dann aufgelegt.

»Und was ist mit Rizzi?«, fragte Cirillo.

»Die Situation ist folgende.« Gatti räusperte sich. »Kollege Rizzi ist hingefahren, aber jetzt meldet er sich nicht mehr und geht auch nicht an sein Telefon.«

Cirillo schaute auf die Uhr. Es war jetzt fünf vor sechs. »Piazza La Torre«, wiederholte sie und griff nach ihrer Uniformhose.

»Formaggi Castaldo.«

»Bin unterwegs.«

Auf der Via Tommaso, der Hauptverkehrsstraße, war um diese Zeit niemand unterwegs. Cirillo drehte auf der geraden Strecke voll auf, setzte an der Piazza Vittoria links den Blinker und bog in die Via Giuseppe Orlandi, die tagsüber für den normalen Verkehr gesperrt war. Ein Müllmann nahm die Säcke am Straßenrand und warf sie nacheinander, als wären sie federleicht, auf die Ladefläche seines Transporters. Tauben flatterten auf.

Cirillo parkte vor dem Gebäude mit der gestreif‌ten Markise, neben den Töpfen mit Geranien und Basilikum. Sie kannte den kleinen Laden und hatte hier vor nicht allzu langer Zeit einen Mozzarella entdeckt, wie sie ihn noch nie zuvor gegessen hatte, von der Konsistenz weich und trotzdem fest, im Geschmack salzig und gleichzeitig nussig. »Der beste Mozzarella der Welt«, sagte sogar ihre Vermieterin, Signora Spirelli, die alte Hexe.

Cirillo schaltete den Motor ab und sah die Vespa von ihrem Kollegen Rizzi, die unschwer an den zerschrammten Kotflügeln zu erkennen war. In diesem Moment ertönte ein Donnern. Ohne den Helm abzunehmen, legte Cirillo den Kopf in den Nacken und schaute in den dunklen Himmel, aus dem jedoch kein einziger Regentropfen fiel.

Wieder ein Knall. Cirillo fuhr herum. Eine Gestalt rannte wie von Sinnen die Via Timpone hinunter.

»Halt!«, rief Cirillo. »Stehen bleiben!« Ohne weiter nachzudenken, drehte sie den Schlüssel im Zündschloss. Der Motor sprang sofort an, und Cirillo gab Gas.

Die schmalen Gassen waren kaum breiter als ihr Lenker. Rechts und links Mauern, Steine, Vorsprünge, Madonnenkästen mit elektrischen Kerzen. Sie konzentrierte sich auf den Lichtkegel ihres Scheinwerfers und die schlanke Gestalt in Turnschuhen, Jeans und Hoodie, die vor ihr wie ein Karnickel rannte. Sie kam dem Mann näher, hatte ihn fast eingeholt, als sie das Tempo drosseln und stark abbremsen musste, weil die Gasse eine scharfe Kurve machte, die sie nur im Schritttempo nehmen konnte, während der Typ mit einem Satz um die Ecke verschwand.

Sie sah ihn gerade noch im Laufschritt um die nächste Ecke biegen und gab erneut Gas. Der Motor brummte laut, sie umklammerte den Lenker, hielt auf die nächste Kurve zu, als der Roller plötzlich einen Satz machte. Mit einer Vollbremsung würgte sie den Motor ab und kam mitten auf einer Treppe mit vielen kleinen Stufen zum Halten. Fluchend bockte sie das Fahrzeug auf, nahm den Helm ab, hängte ihn hastig an den Lenker und rannte los, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, bog um die nächste Hausecke – und blieb keuchend stehen.

Vor ihr, im bläulichen Licht der Morgendämmerung, lagen grüne Hänge, Bäume, Buschwerk und kleine Gebäude, bei denen es sich wohl eher um Schuppen als um Wohnhäuser handelte. Zäune unterteilten die Ebene in Grundstücke unterschiedlicher Größen, und Vögel zwitscherten laut. Von dem Mann – keine Spur.

Sie folgte dem schmalen Weg, der in Serpentinen den Hang hinunterführte, und blieb bei der ersten Biegung stehen, wo sich ein Plateau befand und sie den Rest der Strecke überblicken konnte. Nicht mal ein Hund streunte hier entlang.

Weit konnte der Mann nicht sein. Er war wahrscheinlich über den Zaun gesprungen und hielt sich irgendwo im Dickicht versteckt.

Cirillo formte mit ihren Händen einen Trichter und rief: »Kommen Sie heraus.«

Für einen Moment war alles still. Cirillo fasste an den Maschendraht, doch die Umzäunung war zu instabil, als dass jemand darüber hätte hinwegklettern können. Der Typ konnte den Zaun nur ein Stück weiter überwunden haben, wo es eine Eisenpforte gab.

Das Gitter war an den Spitzen verrostet, die Pforte selbst unverschlossen und wohl erst vor kurzer Zeit geöffnet und aufgeschoben worden – wie an der Spur der Blätter am Boden deutlich zu erkennen war.

Der Garten dahinter mit Orangen- und Zitronenbäumen schien von der Welt vergessen zu sein. Das abschüssige Gelände endete, und im Meer, dem Golf von Neapel, lagen, lang ausgestreckt, die Insel Procida und ein Stück weiter, graublau und schemenhaft, Ischia.

Cirillo blieb stehen und lauschte. Aus dem Gebüsch kam eine Eidechse geschossen, huschte im Zickzack über den Weg und verschwand im Laub. Schmetterlinge tanzten über bunten Blüten wilder Nelken, und Cirillo hatte das Gefühl, von irgendwoher angestarrt und beobachtet zu werden. Sie spürte die Anwesenheit des anderen so stark, dass ihr Herz zu hämmern begann.

»Kommen Sie heraus!«, rief sie. »Los. Zeigen Sie sich!«

Doch als Antwort fuhr nur der Wind in die Blätter des Feigenbaums und in den Bambus, ein dichter Wald, der meterhoch in den Himmel ragte, und Cirillo versuchte zu erkennen, ob zwischen den Rohren ein Mensch stand. Der Weg vor ihr und zu den Seiten war abgeschnitten, sie war in eine Sackgasse geraten. Cirillo drehte sich um und versuchte abzuschätzen, wie weit der Weg zurück zur Pforte war. Aber die Pforte war verschwunden. Stattdessen stand dort plötzlich ein knorriger Baum, ein verkrüppelter Riese – so groß, dass sie nicht verstand, warum sie ihn nicht schon vorher gesehen hatte.

Sie ging zurück, in dieselbe Richtung, aus der sie glaubte, gekommen zu sein. Als sie unter dem knorrigen Riesen und seiner ausladenden Baumkrone stand, sah sie die Pforte. Sie lugte in einer ganz anderen Richtung zwischen den Büschen hervor – und war verschlossen. Obwohl Cirillo sich nicht erinnern konnte, sie hinter sich zugezogen zu haben.

4

Rizzi vernahm Cirillos Stimme, aber ganz weit weg, während der Raum um ihn herum langsam Konturen annahm. Wannen und Bottiche, Kellen, Kannen und andere seltsame Behältnisse kamen zum Vorschein.

»Rizzi? Hörst du mich? Enrico! Antworte!«

Dann sah er Cirillo – so nah, wie er sie vielleicht noch nie gesehen hatte, ihr dunkelblondes Haar, das so hübsch unter der Polizeimütze hervorquoll und ihr Gesicht umrahmte. Hatte sie schon immer so schöne Lippen gehabt? Und waren ihre Augen schon immer so blau gewesen? So blau wie der Himmel an einem besonders schönen Tag.

»Erkennst du mich?« Sie klatschte ihm mit der flachen Hand rechts und links ins Gesicht. »Ich bin’s, Antonia. Deine Kollegin. Antonia Cirillo.«

Sein Hosenboden war nass, und sein T-Shirt klebte am Rücken. Er lag in einer Pfütze, hatte Kopfschmerzen und betastete seinen Hinterkopf, während die Erinnerung langsam zurückkam. »Im Bottich«, murmelte er und versuchte, sich aufzurichten.

»Bottich?«, wiederholte Cirillo und schaute hinüber ins Halbdunkel, zum Chromstahlbehälter. »Was ist damit?«

»Im Wasser«, ächzte er, »liegt ein Toter.«

Cirillo erhob sich aus der Hocke, ging am Schemel vorbei und starrte mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck in den Behälter.

»Kennst du ihn?«, fragte Rizzi.

»Er arbeitet hier«, antwortete Cirillo. »Zusammen mit seiner Frau. Ich kenne seinen Mozzarella.«

»Dann ist es Nino Castaldo. Mozzarella-Nino.« Rizzi erhob sich mühsam. »Sag beim Polizeiposten Bescheid.« Ihm war schwindlig. »Gatti soll Ispettore Lombardi informieren und Dottor Rossetti. Und die Kriminalpolizei in Neapel. Und Savio soll herkommen. Wir müssen absperren.«

Cirillo schwieg betroffen und rührte sich nicht von der Stelle. Dann zückte sie ihr Telefon.

Während sie am Polizeiposten Meldung machte, rappelte Rizzi sich hoch, schüttelte sein rechtes und sein linkes Bein und ließ vorsichtig seine Arme und Schultern kreisen.

Mit dem Telefon am Ohr blieb Cirillo vor ihm stehen. »Brauchst du einen Arzt?«, fragte sie.

Er winkte ab.

»Alles okay«, sagte sie in den Hörer. »Er sieht schon wieder einigermaßen normal aus. Bitte informier Commissario Serra in Neapel. Wir brauchen die Spurensicherung. Er soll seine Leute rüberschicken.« Sie beendete das Gespräch und sagte zu Rizzi: »Bist du wirklich in Ordnung? Dann erzähl. Was ist passiert?«

Mit dem Rücken an einen Pfeiler gelehnt, berichtete Rizzi, wie er hier so gegen sechs Uhr angekommen war. Die Tür war nur angelehnt und niemand zu sehen. Alles schien normal, nur die Sache mit dem Schlauch kam ihm merkwürdig vor. Dann entdeckte er den Toten. Schluss, Ende. An mehr erinnerte er sich nicht.

»Warum trägst du keine Uniform?«, fragte Cirillo.

Er hob die Hände. »Ich war in den Gärten, als der Anruf kam«, sagte er. »Ich wollte nicht extra wegen der Uniform nach Hause fahren. Ich hätte nur Zeit verloren.«

»Du hättest mir vor allem Bescheid sagen müssen.« Cirillo steckte ihr Telefon ein. »Statt Gatti anzustiften, die Dienstvorschriften zu verletzen, und dann selbst hier den Helden zu spielen. Tu nicht so, als ob du nicht wüsstest, wovon ich rede.« Sie wandte sich ab und pustete sich wütend eine Strähne aus dem Gesicht.

»Beruhig dich«, sagte Rizzi, »und erzähl, was du vorgefunden hast, als du hier angekommen bist.«

Cirillo stemmte die Hände in die Hüften, schloss kurz die Augen und berichtete von dem Mann im Hoodie und ihrer Verfolgungsjagd.

»Das war wahrscheinlich der Kerl, der Nino Castaldo umgebracht hat.« Rizzi schnippte mit dem Finger. »Bevor er mir eins übergezogen hat.«

»Kann sein«, sagte Cirillo. »Aber wer hat dann die Polizei gerufen?« Sie reichte ihm ein Paar Einweghandschuhe und erklärte, dass sie sich vorne im Laden umschauen wollte.

Sie verschwand, und Rizzi ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Beim Eingang hing eine Windjacke am Haken. Er durchsuchte die Taschen, fand einen Geldbeutel mit mehreren Kredit- und Bankkarten, fast zweihundert Euro Bargeld, und betrachtete das Foto auf dem Personalausweis.

Nino Castaldo, der berühmte Mozzarella-Nino aus Neapel. Dass er Stella Apicella aus Capri-Stadt geheiratet hatte, die rund vierzig Jahre jünger war, hatte für ziemlich viel Gesprächsstoff auf der Insel gesorgt. Ebenso Castaldos Entschluss, eine neue Käserei hier im verschlafenen Anacapri zu eröffnen, statt, wie man hätte erwarten können, in Capri-Stadt, wo ihm der Bürgermeister persönlich eine schöne Immobilie an der mondänen Via Camerelle angeboten hatte. Doch Nino Castaldo war bei seiner Entscheidung geblieben – was man ihm in Capri-Stadt bis heute nicht verziehen hatte und ihm wahrscheinlich auch über seinen Tod hinaus noch übelnehmen würde.

Rizzi betrachtete das Arrangement auf der Fensterbank, das Marienbild, die künstlichen Blumen, Blütenblätter, die Kerze und die Gipsfigur von Padre Pio. Irgendetwas stimmte daran nicht, er wusste nur nicht, was.

Er machte davon ein Foto, als Cirillo zurückkam und meldete: keine Einbruchspuren im Laden. Die Kasse sei verschlossen, Fenster und Türen allesamt verrammelt.

Sie verschwand im Büro, während Rizzi die Treppe hinauf in den ersten Stock ging. Er kannte die Wohnung über dem Laden noch aus der Zeit, als Ernesto Colasanti hier seine Pflanzen- und Samenhandlung betrieben hatte. Aber die Ecke, wo er so oft mit Ernesto gesessen und so manches Bier getrunken hatte, gab es nicht mehr, wie es eben auch Ernesto nicht mehr gab.

Nino Castaldo und Stella Apicella hatten alle Wände und sogar die Zwischendecke herausreißen lassen und einen einzigen großen, hohen Raum geschaffen, der bis unter das spitz zulaufende Dach reichte. Im vorderen Teil war eine offene Küche mit Espressomaschine, Thermomix, Mikrowelle und allen Schikanen. Auf dem Herd stand ein Topf Minestrone und eine Pfanne, in der anscheinend Brot geröstet worden war. Die Geschirrspülmaschine war halb gefüllt. Im Mittelteil des Raumes befand sich zwischen zwei Beistelltischchen mit Lampe ein großes Sofa, übersät mit weißen Kissen, mit Blick auf einen riesigen Fernseher. Auf einem Glastisch lagen mehrere Fernbedienungen, ein Tablet und ein veraltetes Mobiltelefon. An den Wänden hing moderne Kunst, Bilder von nackten Frauen und Männern, wenn Rizzi das Gepinsel richtig interpretierte.

Das Schlafzimmer dahinter war kein abgeschlossener Raum, sondern ein offener Bereich hinter einem Mauervorsprung, der eigentlich nur aus Bett bestand. Das Dach war an dieser Stelle verglast, sodass man nachts in die Sterne sehen konnte. Dafür würde es im Hochsommer, wenn die Sonne richtig knallte, unerträglich heiß hier drinnen werden. Das Bett mit den aufgeschüttelten Kissen und dem glattgezogenen Betttuch sah nicht aus, als hätte in der Nacht jemand darin geschlafen, oder es war nach dem Aufstehen gleich gerichtet worden. Auf dem Boden lagen Hanteln, Auf‌ladegeräte und Kabel.

Im angrenzenden Bad standen auf der Konsole zwei elektrische Zahnbürsten und die üblichen Toilettenartikel, ebenso auf dem Rand der Badewanne. Nichts Auf‌fälliges. Alles sah aus, als würden hier zwei Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben, wären nur mal kurz verschwunden und würden gleich wiederkommen.

Rizzi inspizierte den Wandschrank mit Hemden und Kleidern, aber auch hier sah nichts nach Einbruch oder einem überstürzten Aufbruch aus oder dass hier jemand etwas gesucht hätte. Er zog die Nachttischschublade auf, die voller Medikamente war, als im Erdgeschoss eine schrille Frauenstimme zu hören war: »Wo ist er?«

Cirillos Stimme sagte etwas im beruhigenden Ton, dann schepperte es, und ein lang gezogener Schrei ertönte, der in ein tiefes Schluchzen überging.

»Nino! Mein Nino!«

Rizzi machte die Schublade zu und eilte die Treppe hinunter.

Die Frau mit den brünetten Haaren trug ein langes, geblümtes Kleid, das beinahe festlich wirkte und die gebräunten Schultern frei ließ. Stella Apicella war über den Rand des Bottichs gebeugt und versuchte, den leblosen Körper darin bei den Schultern zu packen. Wasser schwappte auf den Boden, während sie wie von Sinnen die bleichen Wangen des Toten mit der flachen Hand schlug, immer wieder, als könnte sie ihn damit zum Leben erwecken.

»Nino!«, schrie sie. »Wach auf!«

Der Typ, der mit Stella gekommen war, legte den Arm um sie und zog sie behutsam weg vom Bottich und dem Toten. Während sie in seinen Armen von einem Weinkrampf geschüttelt wurde, wiegte sie der Mann stumm hin und her. Er hatte die schwarzen Haare zu einem Knoten gebunden. Seine Schuhe waren verdreckt, dazu trug er ein weißes T-Shirt, das so sauber war, als hätte er es gerade erst aus dem Schrank geholt.

Vielleicht, schoss es Rizzi durch den Kopf, hatte der Mann eben noch ein anderes Kleidungsstück über dem T-Shirt getragen, einen Hoodie, zum Beispiel, wie Cirillo ihn an dem Typen, den sie auf der Vespa verfolgte, beschrieben hatte.

Cirillo schien dasselbe zu denken, wechselte mit Rizzi wortlos einen Blick, trat vor und sagte zu dem Mann: »Dürf‌te ich Sie kurz sprechen?«

Der Typ wich einen Schritt zurück, und Cirillo packte ihn reflexartig am Arm.

»Diego kann Sie nicht hören«, schluchzte die Frau. »Er hat nichts getan. Er hat mir Bescheid gesagt. Was ist passiert? Wieso ist Nino tot?« Fassungslos schaute sie von Cirillo zu Rizzi und wieder zurück und warf sich wieder an die Brust des Mannes, der sie tröstend an sich drückte.

»Haben Sie die Polizei gerufen?«, wandte Rizzi sich an den Mann. »Verstehen Sie, was ich sage?«

»Nein!«, schluchzte Stella Apicella. »Ich habe es Ihnen doch gerade erklärt, er ist gehörlos.«

Rizzi holte sein Smartphone heraus, tippte seine Frage ins Textfeld und zeigte dem Mann das Display.

Er las die Frage auf Rizzis Smartphone, nickte und stieß ein »Ja« hervor, er habe die Polizei verständigt. Er zog sein eigenes Telefon aus der Tasche, tippte darauf herum und hielt es dann Rizzi hin.

Ich habe Sie bewusstlos geschlagen, las Rizzi. Mir war nicht klar, dass Sie von der Polizei sind. Entschuldigung.

Er schlug die Hände vors Gesicht, während Stella, ohne Vorwarnung, zurück zum Bottich stürzte, sich über den Rand beugte und wie irre versuchte, den Leichnam herauszuziehen.

Cirillo hielt die Frau zurück, nahm sie bei den Schultern und erklärte eindringlich: »Es tut mir schrecklich leid, was passiert ist. Aber Ihr Mann ist tot. Sie können nichts mehr für ihn tun.«

Stella heulte und ließ sich von Cirillo widerstrebend, aber ohne Widerstand zu leisten, vom Bottich weg die Treppe hinauf nach oben in die Wohnung führen, während Rizzi sich von dem Mann den Ausweis zeigen ließ und ihn mit einer Handbewegung bat, auf einem der Klappstühle Platz zu nehmen.

Diego Bocci, geboren in Caserta, sechsundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in Anacapri, Via Linaro.

Rizzi führte das Gespräch mit dem Mann auf die Weise weiter, wie sie es begonnen hatten: Er schrieb seine Fragen in sein Smartphone, und Diego Bocci tippte seine Antworten.

Daraus ergab sich der folgende Ablauf: Diego Bocci sei, wie gewohnt, um fünf Uhr morgens zur Arbeit gekommen, um die Vorbereitungen für den Arbeitstag zu treffen. Die Tür zur Käserei war nicht abgeschlossen gewesen und Nino Castaldo nicht da. Diego dachte sich nichts dabei. Misstrauisch wurde er erst, als er das Wasser um den Bottich herum sah.

Als er seinen Chef entdeckte, lief er panisch in den ersten Stock, in der Hoffnung, dort Stella zu finden. Aber da war niemand. Die Angst packte ihn, und er musste sich zwingen, ruhig zu bleiben und zu überlegen, was zu tun war. Er versuchte, Stella mobil zu erreichen, und schickte ihr, als das nicht gelang, eine Nachricht. Erst dann meldete er sich bei der Polizei, konnte nur, um eine deutliche Artikulation bemüht, die wichtigsten Informationen hervorstoßen und legte wieder auf. Auf Rückfragen habe er nicht reagieren können, weil er sie ja nicht hörte und durch das Telefon auch nicht von den Lippen ablesen konnte.

Minutenlang sei er oben in der Wohnung gesessen, habe auf sein Telefon gestarrt, in der Hoffnung, Stella würde sich melden. Er versuchte zu verstehen, was nicht zu verstehen war. Als er runterging und, völlig irrsinnig, hoffte, sich das Ganze vielleicht nur eingebildet zu haben, traf er auf einen Mann, den er noch nie gesehen hatte. In Panik griff er nach dem erstbesten Gegenstand und zog Rizzi mit der Rührstange eins über. Dann floh er aus dem Haus. Als er zur Besinnung kam, wollte er sich vergewissern, was er getan hatte, kam zurück, sah die Polizistin – und rannte wieder davon.

Rizzi tippte in sein Smartphone: Hatte Nino Castaldo mit jemandem Streit? Hatte er Feinde?

Diego Bocci las die Frage und starrte sekundenlang auf das Display. Rizzi beobachtete, wie sich seine Augenbrauen ein wenig zusammenzogen, als wagte er einen Gedanken nicht zuzulassen oder auszusprechen.

Dann nahm Diego Bocci entschlossen den Apparat, tippte seine Antwort, löschte und schrieb neu, während hinter ihm Matteo Savio, der Kollege vom Polizeiposten, eintrat, gefolgt von Dottor Rossetti mit der Arzttasche.

Savio nahm respektvoll seine Mütze ab, als er das Gesicht des Toten unter Wasser sah, und Dottor Rossetti bekreuzigte sich und fragte, was er tun könne.

Rizzi erklärte, die Witwe des Toten, Stella Apicella, habe einen Nervenzusammenbruch und sei oben in der Wohnung, zusammen mit Agente Cirillo.

Dottor Rossetti verschwand über die Treppe, und Savio fragte: »Soll ich absperren?«

Rizzi nickte – während er Diegos Antwort auf dem Display seines Smartphones las: Viele Menschen waren auf Ninos Leben mit Stella eifersüchtig. Eigentlich alle. Auch wenn es nie jemand laut gesagt hat.

Rizzi ließ das Telefon sinken und sah Diego Bocci hinterher, der mit gesenktem Kopf hinter Dottor Rossetti die Treppe hinaufging, mit schwerem Schritt, Stufe für Stufe, wie ein alter Mann.

5

Cirillo hatte auf den Beistelltischchen die Lampen angeknipst, damit Dottor Rossetti mehr Licht hatte, als er die Spritze mit dem Beruhigungsmittel aufzog. Bevor er ging, ordnete er noch an, dass Stella Apicella auf keinen Fall alleine gelassen werden durf‌te.

Die junge Frau lag auf dem Sofa und starrte in die Luft. Im Tageslicht, das durch die schrägen Fenster über dem Fernseher fiel, tanzten die Staubkörnchen.

»Es geht mir schon besser«, erklärte sie matt, ohne Cirillo anzusehen. »Ich meine bloß. Sie müssen hier nicht sitzen wie eine Krankenschwester. Diego kann raufkommen. Er kann sich um mich kümmern.« Ihre Wimperntusche war verschmiert, das brünette, etwas rotstichige Haar umrahmte Hals und Schultern. Unter dem runden Kinn begann sich ein zweites abzuzeichnen, was ihrem weichen, fast durchsichtigen Gesicht ein kindliches Aussehen verlieh. Cirillo empfand für die junge Witwe keine besondere Sympathie. Sie wusste nicht, woran es lag. Vielleicht war es bloß die professionelle Distanz, die sie automatisch aufbaute, wenn es um Ermittlungen ging.

Cirillo blätterte, auf der Sofakante sitzend, in ihrem Notizbuch. »Nino Castaldo muss ein fantastischer Mensch gewesen sein. Und auch wenn Sie es wahrscheinlich schon hundertmal gehört haben« – Cirillo schaute auf –, »ich muss es Ihnen einfach sagen: Ihr Mozzarella ist ganz und gar einzigartig. Ich kann es fast nicht glauben, dass es so was ausgerechnet hier auf Capri gibt, praktisch vor meiner Haustür …«

»Er muss weinen«, sagte Stella.

»Wie bitte?«

»Der Mozzarella. Wenn Sie draufdrücken, muss er weinen. Er darf nur ein klein wenig nachgeben und muss den Druck damit beantworten, dass er Wasser abgibt. Tränen, sozusagen. Danach nimmt er wieder seine ursprüngliche Form an.«

»Verstehe«, sagte Cirillo und fragte vorsichtig: »Sind Sie in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?«

Stella reagierte nicht, und Cirillo beschloss, es als Ja zu werten. »Wie alt sind Sie?«, fragte sie.

»Wie alt?«, wiederholte Stella, ohne die Augen aufzumachen. »Fünfundzwanzig.«

»Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?«

»Wir haben gestern Abend den Geburtstag meines Vaters gefeiert«, sagte Stella leise, mit fast ersterbender Stimme. »Bei meinen Eltern. Nino war so glücklich. Sie hätten ihn sehen sollen. Er war so jung. Und hatte eine so starke Ausstrahlung. Verstehen Sie, was ich meine? Er hat alle in seinen Bann gezogen. Ja, das hat er.«

»Wann hat er das Fest verlassen?«

Stella überlegte. »Um Mitternacht haben wir angestoßen, haben für Papà gesungen, er hat Kerzen ausgeblasen, und wenn Nino hätte bleiben können, hätten wir getanzt. Ich bin mir sicher. Nino und ich hätten getanzt, wie früher.«

»Aber er musste fort«, sagte Cirillo. »Wohin?«

»Nach Hause, natürlich.« Stella Apicella schaute erstaunt auf. »Er wollte sich vor der Arbeit noch ein Stündchen hinlegen.«

»Hat er sich ein Taxi genommen?«

»Er wollte zu Fuß gehen.«

»Mitten in der Nacht? Von Capri nach Anacapri?«

»Ja.«

Cirillo blätterte in ihrem Notizbuch eine Seite um. »Warum?«, fragte sie. »Ich meine, es ist ja eine ganz schöne Strecke.«

»Nino liebte die Natur, deshalb war er auch von Capri so begeistert. Nachts, hat er behauptet, könne er das Meer hören.« Stella schlug die Augen auf, als würde sie aus einem Traum erwachen, und schaute zur Decke, wo Spotlights hingen, die auf die Bilder an der Wand gerichtet waren. »Wenn ich mir vorstelle: Wir haben gefeiert, während er –« Sie schlug die Hände vors Gesicht.

»Wir werden alles tun, um den Tod Ihres Mannes aufzuklären«, sagte Cirillo, als wäre das ein Trost oder die Lösung des Problems. »Und zwar so schnell wie möglich«, fügte sie hinzu.

»Aber wie?«, schluchzte Stella. »Wie wollen Sie seinen Tod aufklären? Sie sind eine einfache Polizistin. Das haben Sie selbst neulich an der Käsetheke erzählt. Und jetzt wollen Sie herausfinden, was mit Nino passiert ist? Als wären Sie der Commissario persönlich? Ich verstehe das nicht. Ich verstehe überhaupt nichts!«

»Beruhigen Sie sich«, bat Cirillo.

»Nein, ich beruhige mich nicht!«

Cirillo schaute in das runde, verheulte Gesicht und fühlte sich hilf‌los. Stella Apicella hatte ja vollkommen recht. Was sollte sie als Polizistin, zuständig für Falschparker und anonyme Nachbarschaftsanzeigen, ohne eigenen Ermittlungsapparat bei einem solchen Verbrechen ausrichten können? Sie würde sich gedulden müssen und abwarten, was die Kriminalpolizei in Neapel anordnete – wenn sie überhaupt etwas anordnete und nicht lieber vollständig ihr eigenes Ding machte.

»Entschuldigung«, schnief‌te Stella. »Es tut mir leid. Sie sind Polizistin, und Sie wissen natürlich, was Sie tun.«

»Ihnen braucht gar nichts leidzutun«, sagte Cirillo. »Ich werde Sie jetzt in Ruhe lassen.« Sie erhob sich.

»Nein«, flüsterte Stella und griff nach ihrer Hand. »Bitte nicht. Bleiben Sie. Und fragen Sie mich.«

»Sie sollten sich erst mal ausruhen«, sagte Cirillo.

»Fragen Sie alles, was Sie wollen. Na los. Machen Sie schon. Was wollen Sie wissen?«

Cirillo zögerte. »Also gut.« Sie setzte sich wieder. »Wenn Sie morgens mit der Mozzarella-Produktion beginnen – wie gehen Sie vor? Was ist der erste Schritt?«

»Der erste Schritt?«, wiederholte Stella.

»Wo kommt die Büffelmilch her?«

»Aus Paestum. Diego nimmt sie jeden Morgen gegen fünf Uhr am Hafen in Empfang.«

»Das hat er auch heute Morgen gemacht?«

»Selbstverständlich.« Stella nickte, und zum ersten Mal breitete sich auf ihrem Gesicht ein Ausdruck von Ruhe und Zufriedenheit aus. »Die Büffelmilch wird zuerst mit dem Lab-Enzym versetzt und muss dann ziehen. Drei bis vier Stunden. Bis sich die Käserohmasse auf dem Boden absetzt.«

»Erzählen Sie weiter.«