Der blaue Salamander - Luca Ventura - E-Book

Der blaue Salamander E-Book

Luca Ventura

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Beschreibung

Als Inselpolizist Rizzi an einem sonnigen Morgen die ersten Pfirsiche in seinen Gärten hoch über dem Meer pflückt, ahnt er nicht, was in der Nacht geschehen ist. Modedesignerin Rosalinda wurde ermordet, ihre Leiche soeben im Beichtstuhl der Kirche entdeckt. Nicht nur im Dorf, auch in der Villa von Signora de Lulla herrscht Aufregung. Rosalinda war hier oft zu Besuch, zuletzt hat sie noch die kostbare Handtasche aus Salamanderleder besichtigt. Warum nur musste sie sterben?

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Luca Ventura

Der blaue Salamander

Der Capri-Krimi

Roman

Diogenes

»Ich werde sie mit ins Grab nehmen.« Die alte Dame unterstrich mit dem Glas in der Hand die Endgültigkeit ihrer Aussage und verschüttete dabei den Portwein. »Es ist testamentarisch verfügt.«

Rosalinda war wie betäubt. »Sie wollen die Handtasche wirklich mit ins Grab nehmen?«, fragte sie ungläubig. »Warum?«

»Weil sie mir gehört«, antwortete Signora De Lulla. Ihre Lippen waren ein einziger Strich. »Die Blaue Salamander war von Anfang an nur für mich bestimmt, und für niemanden sonst. Giorgio wollte es so.«

»Aber dann ist sie doch für immer verschwunden«, flüsterte Rosalinda entsetzt. »Es wäre ein riesiger Verlust. Auch für die Welt. Jawohl. Es wäre für die Welt ein riesiger Verlust.«

»Genau so soll es sein.«

Rosalinda betrachtete die alte Frau, ihren voluminösen Körper, das Seidengewand mit den albernen Rüschen, die weiche Haut mit den Altersflecken und die Ohrläppchen, die im Laufe der Jahre mit all den Klunkern, die daran schon gehangen hatten und immer noch hingen, eine groteske Länge erreicht hatten.

»Aber«, versuchte es Rosalinda noch einmal, »die Blaue Salamander könnte eine wunderschöne Erinnerung sein. An Sie persönlich und an Ihre große Karriere.«

Signora De Lulla lächelte nachsichtig – und schüttelte den Kopf. Ihr gelbes Haar ergab mit den toupierten Wellen genau die gleiche Frisur wie auf den alten Fotos, die Rosalinda sich hier Abend für Abend angeschaut und dazu die alten Geschichten angehört hatte. Nun war es amtlich: alles umsonst.

Rosalinda stand vom Sofa auf und verabschiedete sich, und die Signora schaute erschrocken hoch, als ahnte sie, dass dies der letzte Besuch von Rosalinda gewesen war und es nun keine weiteren Begegnungen mehr geben würde.

Sie würde den Weg allein hinausfinden, erklärte Rosalinda und ging. Als sie durch die Schiebetür verschwand, drehte sie sich nicht noch einmal um.

Wie im Traum wanderte sie um den großen Esstisch und die vielen Stühle herum, an der klobigen Standuhr und dem Gemälde mit dem kitschigen Abbild von Giorgio De Lulla selig vorbei. In der Eingangshalle, beim Rollator, wo auch der Pelzmantel hing, blieb sie stehen. Die klassische Musik aus den Lautsprechern war weit weg und das Licht gedämpft.

Es wäre so einfach und eine echte Chance, vielleicht die einzige, die sie noch hatte. Aber sie hatte Skrupel. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen Diebstahl begangen.

Sie schaute sich um. Alles war still, nirgends regte sich etwas. Vor Angst schnürte es ihr die Kehle zu, doch sie fasste einen Entschluss.

Sie ging nicht zum Ausgang, sondern die Treppe hinauf in den ersten Stock, in die Privatgemächer von Signora De Lulla, als wäre es die normalste Sache der Welt. Das Herz klopf‌te ihr bis zum Hals, und ihre Knie zitterten.

Sie betrat ein Zimmer mit einem Messingbett. Die Fenster waren mit Gardinen verhängt und die Läden geschlossen. Sie wusste, dass die Signora die Tasche hier oben in einer Truhe aufbewahrte. Sie ging nach nebenan in einen Raum, der halb so groß war wie das Schlafzimmer, blieb stehen und orientierte sich.

Der Kasten unter dem Fenster war mit Lilien bemalt. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um den schweren Deckel zu öffnen. Ihre Wangen glühten, als sie die Blaue Salamander endlich in den Händen hielt.

Sie fühlte sich ganz anders an und sah noch spezieller aus, als Rosalinda sie in Erinnerung gehabt hatte, und war nicht zu vergleichen mit all den Taschen, mit denen sie in ihrem Leben schon gearbeitet hatte, in all den Lederwerkstätten, in denen sie die Kreationen anderer Designer realisierte.

Obwohl sie so schnell wie möglich von hier verschwinden sollte, betrachtete sie Vorder- und Rückseite, untersuchte den Überschlag, die Breite der Seitenböden und die Anordnung der Steckfächer. Die Handtasche war ein Meisterwerk.

Sie schloss den Deckel der Truhe und hörte im selben Moment ein Geräusch. Es war ein Knistern oder ein Rascheln. Nur ganz leise, und doch wusste Rosalinda im selben Moment, dass sie nicht alleine war.

Langsam drehte sie sich um. Im Gegenlicht sah sie eine schwarze Silhouette. Sie umklammerte die Tasche, presste die Blaue Salamander an sich. Sie wollte schreien, aber über ihre Lippen kam kein Laut.

1

Rizzi streckte sich und versuchte, ans Ende des Asts zu gelangen. Der Pfirsich leuchtete in der Morgensonne, wippte auf und nieder, dann hatte Rizzi ihn in der Hand. Mit einer kleinen Drehung löste er die Frucht vom Zweig.

Nachdem sein Vater schon zweimal von der Leiter gefallen und beide Male wie durch ein Wunder mit kleineren und größeren Prellungen davongekommen war, hatte er Vito schlichtweg verboten, in seinem Alter noch auf Bäume zu klettern. Ob er sich daran hielt, war die andere Frage. Umso gewissenhafter pflückte Rizzi in den Morgenstunden vor Dienstbeginn so viele Früchte, wie er konnte, und genoss dabei die Sicht über die Gärten und das satte Grün, das sich jenseits der terrassenartigen Anlage und der abschließenden Mauer in sanften Erhebungen fortsetzte und dort abbrach, wo das Meer begann.

»Genug für heute«, rief Vito. »Komm runter. Hast du gehört?«

Sie machten sich ans Verladen der Pfirsiche, Artischocken, Tomaten, Auberginen, Kartoffeln und Zucchini, und Vito zählte zufrieden die Transportkisten.

»Du weißt, was heute für ein Tag ist?«, fragte Vito, während er die Kisten auf der Ladefläche zurechtrückte und die Klappe einrasten ließ.

»Natürlich weiß ich es, Papà.« Rizzi wusch sich an der Pumpe Gesicht, Hände und Oberkörper.

»Gehst du zu ihm?«, fragte Vito.

»Klar. Wie jedes Jahr.« Rizzi trocknete sich ab und ging in den Schuppen, um seine Uniform anzuziehen.

Es war kurz nach halb neun Uhr, als Rizzi mit seinem Motorroller den Feldweg hinunterfuhr. Vito in der Ape vor ihm bog mit den Obst- und Gemüsekisten in die Via Corigliano ab und hob den Arm grüßend zum Seitenfenster heraus, während Rizzi hupte, beschleunigte und am Ende der Via Marucella um die Ecke in die Via Marina Grande fuhr.

Die Sonne stand bereits über dem Monte Tiberio, sammelte Kraft und ließ spüren, dass es heute wieder ein heißer Tag werden würde. Vom Meer wehte ein leichter Wind, und die Luft roch würzig nach Salz und Majoran, wie sie nur am Morgen duftete. In der Kurve, bevor es auf dem letzten Stück über den Kreisverkehr nach Capri-Stadt hinaufging, drosselte Rizzi das Tempo und hielt bei den großen Containern.

Das Friedhofstor stand offen, ein Gartenschlauch verlief in mehreren Windungen quer über den Parkplatz, und Gartenabfälle standen zum Abholen bereit. Rizzi nahm nicht den Hauptweg zur Treppe und der höhergelegenen Terrasse, sondern ging seitlich an der Mauer und den Urnengräbern entlang, grüßte die bucklige Annina, die hier erst vor zwei Monaten ihren Bruder beerdigt hatte, und machte einen Bogen um Giovanni, der seit Constanzas Tod seine ihm verbliebene Lebenszeit an ihrem Grab zu verbringen schien und nach Menschen Ausschau hielt, mit denen er schwatzen konnte.

Wo die Klappstühle lehnten, bog Rizzi in den Seitenweg mit den Rosensträuchern und blieb nach ein paar Schritten an der kleinen Grabplatte aus weißem Marmor mit der goldenen Inschrift stehen.

Er nahm seine Mütze ab, kniete nieder und wischte mit der flachen Hand Blätter, Sand und Staub beiseite. Der Stein fühlte sich warm an, und selbst aus dieser Perspektive war das Meer zu sehen, ein blauer Streifen, hier und da versetzt mit kleinen Schaumkronen.

Elf Jahre wäre Vito Marcello heute geworden. Sie hatten ihn nach Rizzis Vater und dem Vater von Matilda benannt und ihm die Hand gehalten, als sein Herz aufhörte zu schlagen. Das Organ war zu klein, zu schwach und nicht richtig entwickelt gewesen. Sein Sohn hatte nie das Meer gesehen, nie den Wind gespürt oder die Sonne. Er hatte nur die Hände seiner Eltern gefühlt, Rizzis und Matildas Hand, und ihre Tränen, die sie über ihm vergossen. Vielleicht hatte er in den letzten Minuten seines kurzen Lebens ihre Stimmen gehört, wie sie beruhigend, tröstend und voller Liebe auf ihn einsprachen. Das war alles, was sie für ihn hatten tun können, und das Gefühl der Ohnmacht hatte Rizzi fast umgebracht. Und doch waren die wenigen Tage eine klitzekleine Strecke gewesen, die er mit seinem Sohn hatte erleben dürfen. Diese Erinnerung empfand Rizzi mittlerweile als Trost.

Er faltete die Hände, als er aus den Augenwinkeln jemanden den Weg hinunterkommen sah, eine Gestalt in weißem Kleid mit schwarzen Punkten und rotem Gürtel. Ohne aufzuschauen, glaubte er, ihren Duft zu riechen, und spürte ihren Arm, der seinen streif‌te, als sie neben ihn trat. Dann fühlte er ihre Hand, die zögernd nach seiner fasste, und erwiderte den Druck ihrer Finger.

»Ciao«, sagte er.

»Ciao«, antwortete Matilda.

So standen sie nebeneinander und dachten an ihr gemeinsames Kind. Vito Marcello war ein Teil von ihnen, etwas Einzigartiges, das sie für immer miteinander verband.

Matilda ließ seine Hand los, nestelte in einem Beutel, den sie an der Grabplatte abgestellt hatte, und holte eine Thermoskanne hervor, kleine Becher und einen Teller. Sie nahm die Folie ab, und ein bunt dekorierter Kuchen kam zum Vorschein.

Sie setzten sich auf den Rand der Grabplatte, Rizzi in seiner Uniform, Matilda in ihrem weißen Kleid. Sie schnitt den Kuchen an, und er goss den Espresso in die kleinen Becher.

Sie aßen Kuchen, tranken Kaffee, und der Wind verwehte die Zuckerstreusel auf der Grabplatte, farbige Körner, die über den Marmor kullerten und sich in der goldenen Inschrift sammelten. Dass sie hier saßen wie eine Familie, war so seltsam wie selbstverständlich und vielleicht nur deshalb möglich, weil sie irgendwann aufgehört hatten, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen oder zu fragen, warum sie einander in der Trauer keine Stütze gewesen waren. Statt füreinander da zu sein, hatten sie sich voneinander entfernt, jeder gefangen in seinem Kummer. Er hatte oft darüber nachgedacht, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn Vito Marcello gesund zur Welt gekommen wäre und ein Leben gehabt hätte. Hätte er Geschwister bekommen, wären sie eine heile Familie gewesen? Matilda war nach der Trennung nach Procida gezogen, hatte einen Kapitän geheiratet und zwei gesunde Kinder bekommen. Und wenn sie jetzt, einmal im Jahr, auf dem Friedhof, am Grab von Vito Marcello, zusammenkamen, fragten sie einander nichts, als hätten sie eine Grenze gezogen, die nicht übertreten werden durf‌te. Sie waren dann wie in einem Kokon, in ihrer eigenen Zeitrechnung. Rizzi empfand es so und Matilda wohl auch. Oder nicht?

Sie hob fragend den Kopf, als hätte er etwas gesagt, und strich sich mit zwei Fingern eine Strähne hinters Ohr. Die Geste war ihm tief vertraut, und wie sie ihn dabei anschaute und um ihre Lippen ein Lächeln spielte, versetzte es ihm einen Stich ins Herz.

Wie jung sie damals gewesen waren. Er auf der Polizeischule und Matilda in der Ausbildung. Ahnungslos und voller Tatendrang, hatten sie sich stark und unverwundbar gefühlt. Sie waren füreinander die erste große Liebe gewesen, das Zentrum der Welt.

»Ich bin so froh, dich zu sehen«, sagte Rizzi.

Matilda reichte ihm den Teller mit dem Kuchenstück und sagte: »Ich freue mich auch.«

»Wie geht es dir?«

»Gut«, erwiderte Matilda. »Und dir?« Wieder dieser prüfende Blick.

Rizzi schaute über die Gräber hinweg zu dem hauchdünnen Strich zwischen Himmel und Meer. Noch nie hatten sie einander in den zehn Jahren, die seit ihrer Trennung vergangen waren, diese simple Frage gestellt. Was sollte er antworten? Er rang nach Worten, doch es tauchten Fragen auf, die er Matilda stellen wollte, viele Fragen.

Den leeren Kuchenteller in der Hand, brachte er noch immer keinen Satz hervor, als sich sein Telefon in der Hosentasche bemerkbar machte. Ohne zu zögern, fast erleichtert, nahm er das Gespräch an.

Es war Teresa Villa vom Polizeiposten. Er lauschte ihren Worten. »Beichtstuhl?«, fragte er ungläubig. »Bist du dir sicher, dass du dich nicht verhört hast?«

»Bitte fahr hin«, antwortete Teresa am anderen Ende. »Beeil dich.«

Rizzi legte auf. »Entschuldige, ich muss gehen«, sagte er, während er hastig das Telefon wegsteckte. Er gab Matilda einen Kuss auf die Wange. Bevor er hinter den Rosenbüschen um die Ecke verschwand, blieb er stehen, wandte sich noch einmal um und winkte. Dann rannte er los.

2

Als Rizzi die schwere Kirchentür hinter sich zuzog, umfingen ihn in der Dunkelheit kühle Luft und eine Ruhe, die nach dem Trubel draußen, der Hitze und dem gleißenden Licht wohltuend war. Er nahm seine Sonnenbrille ab und sah, wie durch die Fenster oben in der Kuppel das Tageslicht ins Hauptschiff fiel. Der blumengeschmückte Hauptaltar war bedeckt von einer purpurfarbenen Decke mit goldenen Fransen, dahinter thronte die Orgel. Es war totenstill, abgesehen vom Quietschen, das Rizzis Schuhsohlen auf dem glatten Marmorboden verursachten.

Der Beichtstuhl stand an der Nordseite, zwischen zwei Nebenaltären, halb verdeckt von Säulen und einem Tischchen für die Gesangbücher. Die zotteligen Vorhänge waren zugezogen, links und rechts lugten darunter die Holzbänkchen der Kabinen hervor, auf denen man während der Beichte niederzuknien hatte. Das Törchen zum Teil des Pfarrers war halb geöffnet. Man musste schon nähertreten und dabei in einem bestimmten Winkel in den Beichtstuhl hineinschauen, um die Turnschuhe zu sehen, die in einem sauberen Weiß strahlten. Rizzi öffnete entschlossen das Törchen – und prallte zurück.

Zu sagen, dass die Leiche dort saß, traf es nicht, vielmehr war sie dort abgelegt worden wie ein Gegenstand, den man hatte beiseiteschaffen wollen. Der Kopf mit dem kurzgeschorenen Haar war zur Seite gefallen, und die blauen Augen, die Rizzi mit leerem Blick anschauten, quollen ein wenig hervor. Rizzi kannte sie. Es waren die Augen von Rosalinda Fervidi, die normalerweise blitzten – meistens übermütig, manchmal wütend und immer sehr lebendig.

An Rosalindas Hals war eine rötliche Spur zu erkennen, die an den Rändern ins Violettfarbene überging. Jemand musste sie voller Hass gewürgt haben, mit einer Kraft, die man sich kaum vorstellen konnte.

Als hätte er einen Schlag in die Kniekehlen bekommen, sank Rizzi erschüttert nieder und nahm betroffen seine Mütze ab.

In diesem Moment erhob sich vor dem Altar eine schwere Gestalt vom Boden. Es folgte ein Ächzen. Der Stoff seiner Soutane schwang hin und her, während Padre Ivano sich näherte und im Gehen das Kreuz schlug.

Rizzi stand auf. »Padre«, begann er und kämpf‌te mit den Tränen, während der Pfarrer ihm seine Hand aufs Haupt legte, was die Sache für Rizzi nicht leichter machte. »Was ist hier passiert?«

Der Pfarrer starrte seltsam entrückt in die toten Augen von Rosalinda. »Sie muss dort schon während der Morgenandacht gelegen haben«, sagte er in einem Ton, wie Rizzi ihn von Padre Ivano normalerweise gar nicht kannte. Er klang ehrlich erschüttert und seltsam menschlich. »Als ich die Morgenandacht hielt«, wiederholte er ungläubig, »muss sie dort schon gelegen haben.«

»Wann haben Sie sie entdeckt, Padre?«

Padre Ivano kratzte sich am kahlen Kopf und rückte das altmodische Brillengestell auf seiner spitzen Nase zurecht. »Ich war in der Sakristei, als ich Salvatores Schreie gehört habe«, sagte er. »Wie am Spieß hat er geschrien.«

Hinter ihnen war die Kirchentür zu hören, und für wenige Sekunden brandeten laute Stimmen von draußen ins Innere der Kirche. Dann klappte die Tür zu, und es wurde wieder still.

Im prächtigen Portal mit den goldenen Ornamenten erschien Rizzis Kollegin Antonia Cirillo und kam in schnellen Schritten näher. »Buongiorno«, grüßte sie – und blieb abrupt stehen, als sie die Leiche im Beichtstuhl sah.

»Rosalinda Fervidi«, erklärte Rizzi und fügte hinzu: »Sie ist die Enkelin von Dino Fervidi aus der Via Lo Capo, drüben aus Moneta.«

Cirillo trat vor, nahm ihre Mütze ab, und die dunkelblonden Haare fielen ihr auf die Schulter. Sie beugte sich zu der Toten hinab, schien sie mit ihrem Blick zu scannen, ohne sie dabei zu berühren. »Sie wurde erwürgt«, stellte Cirillo fest. »Oder stranguliert. Sieht nach einem breiten Kabel aus.«

Padre Ivano murmelte ein Gebet und bekreuzigte sich, und auch Rizzi schlug reflexartig das Kreuz.

»Ist die Mordkommission benachrichtigt?«, fragte Cirillo und zückte ihr Telefon, als Rizzi verneinte. Sie entfernte sich, um mit gedämpf‌ter Stimme Teresa Villa am Polizeiposten zu beauf‌tragen, die Kriminalpolizei in Neapel zu informieren.

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Hochwürden«, wandte Rizzi sich an Padre Ivano, »haben also nicht Sie Rosalinda gefunden, sondern Salvatore.«

Padre Ivano berichtete, er sei sofort aus der Sakristei herbeigeeilt, als er Salvatore so hatte schreien hören, und beim Anblick der toten Rosalinda habe er, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, den Polizeiposten angerufen. Padre Ivano faltete die Hände. »Dein Kollege, Matteo Savio, war zum Glück sofort hier. Er hat die Leute aus der Kirche gescheucht und das Portal geschlossen. Ich habe eine Weile gebraucht, um mich zu sammeln, und mich dann zum Altar begeben, um für Rosalinda zu beten.«

»Ich schlage vor, wir holen Salvatore jetzt herein. Ich habe ihn gesehen, er wartet draußen«, sagte Cirillo, während sie ihr Telefon in der Brusttasche ihrer Uniformbluse verschwinden ließ, und schaute Padre Ivano herausfordernd an – ein Blick, den der Pfarrer nicht gewohnt war und irritiert quittierte.

»Ich kümmere mich darum«, sagte Rizzi.

Während er zwischen den Bänken hindurch zum Ausgang ging, hörte er, wie Cirillo den Padre mit gezielten Fragen ins Kreuzverhör nahm, und hatte dabei kein gutes Gefühl. Auch wenn es unprofessionell war, als Polizist so zu denken, war Padre Ivano für Rizzi doch irgendwie unantastbar und eigentlich immer mit Samthandschuhen anzufassen.

Als er die Kirchentür öffnete, trat draußen unter der versammelten Menge eine gespenstische Ruhe ein. Die Leute hatten von dem Vorfall in der Kirche gehört, waren herbeigeeilt und standen nun hier, um zu erfahren, ob es wirklich wahr war: Rosalinda – tot? Ermordet? Wer hatte es getan? Im Türspalt stehend, zog Rizzi die Aufmerksamkeit der Leute auf sich und schaute in die fragenden und bestürzten Gesichter, als erwarteten sie von ihm eine Ansage. Er kümmerte sich nicht darum, setzte im gleißenden Licht seine Sonnenbrille auf und sah, wie Agente Tiziano Gatti, von der Piazzetta kommend, die Stufen hinaufsprang und sich einen Weg durch die Menge bahnte, um das Polizeiteam zu verstärken.

Salvatore kauerte in seiner leuchtenden Straßenkehrer-Weste vor der Kirche am Boden. Das Haar hing ihm wirr ins unrasierte, tränenüberströmte Gesicht. Agente Savio stand bei ihm, aber auch Blumenhändler Giuseppe Ruf‌f‌ini und Marco Sasso, Besitzer diverser Lebensmittelgeschäfte und des Feinkostladens um die Ecke. Die drei Männer schirmten Salvatore, so gut es ging, gegen die Leute ab, von denen nun einzelne wieder aufgeregt zu murmeln begannen. Edoardo Caruso, der pensionierte Finanzbeamte, rief: »Erri! Was geht hier vor? Stimmt es, was Salvatore sagt, oder hat er Halluzinationen?«

Rizzi antwortete nicht, sondern hob nur die Hand, winkte Salvatore heran und sagte: »Komm zu mir.«

Der Straßenkehrer rappelte sich hoch und gehorchte mit gesenktem Kopf, obwohl seine Beine ihm fast den Dienst versagten und er wohl umgefallen wäre, wenn Giuseppe Ruf‌f‌ini und Marco Sasso nicht zur Stelle gewesen wären, um ihn zu stützen.

»Keine Sorge.« Rizzi legte Salvatore einen Arm um die Schultern und schob ihn durchs Portal in die Kirche hinein, schloss sogleich die Tür zu und sagte in die Stille: »Wir brauchen nur ein paar Informationen von dir.«

Salvatore stand da, steif wie ein Brett, mit weit aufgerissenen Augen, als würde er gleich mit dem Leibhaftigen konfrontiert werden, und Rizzi fragte sich, ob es wirklich eine gute Idee war, den Mann hier, am Ort des Verbrechens und im Angesicht der Toten, zu vernehmen, statt ihn später in Ruhe auf ein Gläschen in seinem Zuhause, der kleinen Kammer an der Via Madre Seraf‌ina, aufzusuchen. Dass Salvatore sich halb um den Verstand gesoffen hatte, war kein Geheimnis und das Ergebnis einer langen Kette von freudlosen Ereignissen in einem freudlosen Leben.

»Kommen Sie.« Cirillo winkte Salvatore mit derselben Handbewegung heran, mit der sie am Engpass in der Via Marina Grande den Verkehr zu regeln pflegte.

Rizzi ging einen halben Schritt hinter Salvatore, während Padre Ivano wieder das Kreuz zu schlagen begann.

»Keine Angst«, sagte Cirillo.

Salvatore blieb stehen, hielt zum Beichtstuhl einen Sicherheitsabstand von mehreren Metern und starrte unverwandt auf Rosalinda, von der in diesem Winkel nicht viel mehr als die weißen Turnschuhe zu sehen waren.

»Bitte erzählen Sie«, begann Cirillo. »Was haben Sie hier heute Morgen gesehen?«

Fragend schaute Salvatore zu Rizzi, der ihm aufmunternd zunickte. Dann öffnete er den Mund, zeigte die wenigen Zähne, die ihm noch geblieben waren – und schloss ihn wieder.

»Was hast du in der Kirche gemacht, Salvatore«, fragte Rizzi, »hier hinten beim Beichtstuhl? Ich nehme an, du wolltest nicht beichten. Oder doch? Sprich mit uns, Salvatore.«

»Ich habe draußen gefegt«, brach es aus dem Straßenkehrer heraus. »Nur gefegt«, wiederholte er und stammelte: »Das ist die Wahrheit, Erri, nichts als die Wahrheit. Bitte, ihr müsst mir glauben.«

Rizzi legte Salvatore eine Hand auf die bebende Schulter. »Und dann?«, fragte er. »Hast du dich ausgeruht, stimmt’s?«

Salvatore nickte und äugte schuldbewusst zu Padre Ivano hinüber.

»Bist rein in die Kirche, hast dich hingesetzt und wolltest ein kleines Schläfchen machen. Richtig?«, fragte Rizzi.

Salvatore nickte wieder, breitete hilf‌los die Arme aus, zeigte verzweifelt in Richtung Beichtstuhl, stammelte etwas – und brach wieder in Tränen aus.

»Schau ihn dir an«, sagte Rizzi zu Cirillo. »Er ist völlig fertig mit den Nerven. Das bringt jetzt nichts.«

»Es wäre besser, wenn der Mann seine Aussage selbst macht und du ihm nicht die Antworten in den Mund legst«, entgegnete Cirillo leise – und wandte sich an Padre Ivano, der seltsam unbeteiligt die Ringe an seinen wulstigen Fingern betrachtete.

»Padre«, begann Cirillo, »wann schließen Sie abends die Kirche ab, und wann wird sie morgens wieder aufgeschlossen?«

»Nun.« Padre Ivano schaute an Cirillo vorbei zum Beichtstuhl, dann hinüber zur Kanzel, zum Kruzifix, legte den Kopf ein wenig schief und sagte: »Es hat sich in der letzten Zeit eingespielt, dass ich mich nicht selbst ums Absperren und Aufsperren kümmere, sondern ein hilfreicher Geist, der immer um die Kirche herum ist.«

»Von wem sprechen Sie?«, fragte Rizzi.

»Nun«, wiederholte Padre Ivano und lächelte hilf‌los. »Ich spreche von Salvatore.«

»Salvatore hat einen Schlüssel für die Kirche?«, fragte Cirillo überrascht.

»Stimmt das, Salvatore?«, wandte Rizzi sich an den Straßenkehrer. »Du schließt abends die Kirche ab?«

»So ist es«, stotterte Salvatore und richtete sich ein wenig auf, bevor er wieder in sich zusammensank, anfing zu weinen und sagte: »Aber gestern hab ich’s nicht gemacht.«

»Warum nicht?«, fragte Cirillo.

»Weil …« Salvatore verstummte, schaute auf seine Schuhspitzen und schwieg betreten.

»Weil du besoffen warst«, stellte Rizzi fest.

»Erri«, erklärte Salvatore im flehenden Ton und knetete dabei die Ränder seiner orangefarbenen Weste. »Es war eine Ausnahme. Padre, das müssen Sie mir glauben. Normalerweise schließe ich ab. Ich schließe immer ab. Sie können sich auf mich verlassen!«

Rizzi konnte sich vorstellen, wie das aussah. Wenn Salvatore betrunken war, schloss er »ausnahmsweise« die Kirche nicht ab, und weil Salvatore ziemlich oft betrunken war, weil sich – gerade abends – immer jemand fand, der ihm einen ausgab, und Salvatore nicht viel brauchte, um sich die Kante zu geben, war die Kirche vermutlich ziemlich oft über Nacht nicht zugesperrt.

»Ich fürchte«, erklärte Padre Ivano langsam und feierlich, »hier liegt doch einiges im Argen.«

»Allerdings«, erwiderte Cirillo und wandte sich an Salvatore. »Haben Sie gestern Nacht Rosalinda Fervidi gesehen? Oder eine Person, die Ihnen im Nachhinein verdächtig vorkommt? Bitte denken Sie nach. Die Person könnte mit dem Mord zu tun haben oder selbst der Täter oder die Täterin sein. Sie könnte auch für andere eine große Gefahr darstellen. Haben Sie mich verstanden, Salvatore?«

Aber Salvatore heulte nur, er habe niemanden gesehen, was Cirillo sage, mache ihm Angst, und schnäuzte sich in das Taschentuch, das Rizzi ihm reichte.

 

Als Rizzi, mit Salvatore am Arm, gefolgt von Cirillo, vor die Kirche trat, war der Platz vor dem Portal mit einem Flatterband abgesperrt, unter dem jetzt der Inseljournalist Michele Pellicano hindurchtauchte und für alle vernehmlich fragte: »Führst du Salvatore ab? Hast du ihn vorübergehend festgenommen? Ist er tatverdächtig?«

»Blödsinn«, sagte Rizzi im Vorbeigehen. »Davon kann keine Rede sein.«

»Was hat er getan?« Michele blieb ihm auf den Fersen und hielt sein Smartphone am ausgestreckten Arm wie ein Aufnahmegerät.

»Aus dem Weg.« Rizzi schob Michele beiseite. »Du behinderst die Ermittlungen.«

»Dann gib mir wenigstens ein paar Infos«, rief Michele, der seine weiße Schirmmütze verkehrt herum aufgesetzt hatte. »Komm schon, Erri«, drängte er. »Sonst schnappt mir noch die Festlandpresse die Geschichte vor der Nase weg und schreibt einen Haufen dummes Zeug.«

Bevor Rizzi anfangen konnte, die Situation wenigstens in groben Zügen zu schildern, schaltete Cirillo sich ein und erklärte knapp: »Halten Sie sich an die Polizeipressestelle in Neapel wie alle anderen auch.«

Rizzi wandte sich, mit Salvatore am Arm, an den Kollegen Gatti und bat ihn, in der Kirche, beim Beichtstuhl, Posten zu beziehen und den Bereich nicht aus den Augen zu lassen, bis die Kriminalpolizei aus Neapel und die Beamten von der Spurensicherung eingetroffen waren. »Alles in Ordnung?«, fragte er, mit Blick auf den unerfahrenen Gatti, dem Jüngsten im Team, und den Schweißperlen unter dessen dunklem Haaransatz.

»Kein Problem«, behauptete Gatti, klimperte mit seinen langen Wimpern, legte die Hand auf die Klinke der Kirchentür, zögerte kurz, bevor er sie öffnete – und verschwand.

Rizzi wies unterdessen den Kollegen Savio an, der gewohnt breitbeinig dastand, weiter dafür zu sorgen, dass niemand in den abgesperrten Bereich oder in die Kirche eindrang, als plötzlich die Schaulustigen auf der anderen Seite des Flatterbands auseinandertraten und für jemanden eine Gasse bildeten.

Ispettore Luigi Lombardi kam in gemessenem Schritt die Treppe zur Kirche hinauf. Der Chef der Capri-Polizei trug die gebügelte Uniform mit allen Abzeichen und goldenen Epauletten. Seine Miene mit dem gefärbten Oberlippenbart war ehrlich bestürzt.

»Ist es wirklich wahr, Agenti?«, fragte er, als er in einem Abstand von einem halben Meter vor Rizzi und Cirillo stehen blieb. »Unsere Rosalinda Fervidi?« Als Rizzi stumm nickte, murmelte der Ispettore bestürzt: »Ich kann es nicht glauben.«

Rizzi nahm ihn beiseite und berichtete halblaut, dass Salvatore derjenige war, der Rosalinda tot im Beichtstuhl entdeckt hatte, und der Pfarrer sofort den Polizeiposten angerufen hatte. Als Todesursache müsse man davon ausgehen, dass Rosalinda Fervidi erwürgt oder stranguliert worden war.

Während Ispettore Lombardi aufmerksam zuhörte, musterte er Salvatore, der, von Cirillo festgehalten, mit glasigen Augen und leise schwankend in der Sonne stand.

»Ispettore«, erklärte Rizzi eindringlich. »Salvatore ist, neben Padre Ivano, unser Hauptzeuge und verständlicherweise völlig aufgelöst. Ich schlage vor, ihn vollständig abzuschirmen, bis die Kriminalpolizei eintrifft.«

»Genau das wollte ich auch gerade vorschlagen«, antwortete Ispettore Lombardi und drückte Salvatore mitfühlend die Hand. »Teresa soll sich darum kümmern.«

»Einverstanden«, lobte Rizzi und fuhr fort: »Außerdem sollten wir so schnell wie möglich die Angehörigen benachrichtigen, bevor sie es von anderer Seite hören.«

»Dass wir Dino Fervidi das nicht ersparen können, bricht mir das Herz.« Lombardi legte den Kopf in den Nacken, schaute bekümmert in den blauen Himmel und dachte wohl, wie Rizzi, an die enge Beziehung zwischen dem alten Fischer Dino und seiner Enkeltochter Rosalinda, die schon als Kind mit ihm aufs Meer hinausgefahren und als Erwachsene zu ihm gezogen war, damit er nach dem Tod der Großmutter nicht allein leben musste. »Auch wenn er es vielleicht schon erfahren hat, möchte ich ihm die Nachricht persönlich überbringen«, erklärte Rizzi.

»Tun Sie das.« Lombardi nickte zustimmend in die Runde, straffte sich und fragte: »Meinen Sie, Agenti, dass ich die Leiche von Rosalinda persönlich in Augenschein nehmen sollte, bevor die Kriminalpolizei eintrifft?« Er schaute fragend von Rizzi zu Cirillo und wieder zurück.

Beide schüttelten den Kopf.

»Gut.« Lombardi schien erleichtert. »Dann werde ich mich jetzt zum Hafen begeben, um die Kollegen aus Neapel in Empfang zu nehmen«, erklärte er, »und mich um unseren Kronzeugen kümmern.« Er nahm Salvatore am Arm und rief über seine Schulter zu Rizzi und Cirillo: »Gute Arbeit, Agenti!«

Als Ispettore Lombardi und Salvatore in eine Richtung davongingen und Rizzi und Cirillo in die andere, entstand eine Verwirrung auf dem Platz, da die Schaulustigen nicht wussten, wem sie ihre Aufmerksamkeit schenken und folgen sollten. Am Ende waren es Ispettore Lombardi in seiner prächtigen Uniform und Salvatore in der leuchtenden Weste des Straßenkehrers, die als ungleiches Paar die meisten Leute hinter sich herzogen, während Rizzi und Cirillo um die Ecke bogen und Savio, die Arme vor der Brust verschränkt, mit Sonnenbrille und undurchdringlicher Miene vor dem geschlossenen Kirchenportal Stellung bezog.

3

Wo die Gasse breit genug war, gingen Rizzi und Cirillo nebeneinander, und wenn ihnen Leute entgegenkamen oder es in einem Durchgang so eng wurde, dass sie einander mit den Armen oder Schultern berührten, ließ der eine dem anderen den Vortritt. Sie schwiegen, als würden sie, jeder für sich, die Ereignisse der vergangenen neunzig Minuten verarbeiten.

Nach dem Rummel in der Via Le Botteghe mit all den Tagesgästen wurde es im Bereich der Via Croce ruhiger. Spatzen schimpf‌ten in den Oleanderbüschen, und irgendwo war ein carrello zu hören, der kleine, schmale Elektrotransporter mit dem Blinklicht auf dem Dach, der beinahe lautlos, mit einem leisen Surren, durch die Gassen fuhr und Waren in die entlegenen Geschäfte und Hotels transportierte. Aber Rizzi bekam das Fahrzeug nicht zu Gesicht, sonst hätte er, wie man es als Einheimischer tat, um eine Mitfahrgelegenheit für sich und seine Kollegin gebeten.

Sie hatten noch nicht einmal ein Drittel des Weges zurückgelegt, und Rizzi spürte, wie ihm in der Hitze das Hemd am Leib klebte, als Cirillo fragte: »Was hat Rosalinda Fervidi ausgemacht? Hatte sie irgendeinen besonderen Charakterzug?«

»Sie hat sich in den Augen der Leute benommen wie ein Junge und ist als Kind auch als ein solcher durchgegangen«, erzählte Rizzi und rupf‌te im Vorbeigehen eine vertrocknete Mandarine vom Ast. »Sie hat Fußball gespielt, ist von Klippen gesprungen, hat Mutproben bestanden, solche Dinge.«

Beim großen Kaktus verließen sie den Weg und nahmen den Abzweig über einen steinigen Trampelpfad, der sachte durch die Macchia bergauf führte. Hibiskus und Jasmin wucherten durch den Maschendrahtzaun hindurch, und vernachlässigte Orangenbäume trugen noch die Früchte vom vergangenen Jahr. Für Capri war es das Ende der Welt, und viel mehr als das Meer konnte nicht mehr kommen.

Als Rizzi schon dachte, er hätte sich bei der Abzweigung geirrt, und wieder umdrehen wollte, entdeckte er den Zitronenbaum, über den – nicht besonders professionell – ein schwarzes Netz geworfen war. Ein Stück weiter war eine Pforte, die aus einem Bettgestell mit verrosteten Sprungfedern bestand. Anstelle von Scharnieren war um den Pfosten herum ein Seil gespannt, wie Rizzi es bei der Ape zum Festzurren der Transportkisten benutzte. Typisch Dino. Der Mann behalf sich mit allem, was gerade da war oder was er irgendwo fand, und wenn niemand aufpasste, würde der Ort hier draußen irgendwann zu einem Schrottplatz verkommen. Zum Schrottplatz mit dem schönsten Ausblick der Welt.

Rizzi schirmte seine Augen mit der flachen Hand gegen die Sonne ab und sah plötzlich eine Gestalt im Gegenlicht, die ihnen entgegenkam, ein Mann, der den Pfad entlangrannte, um Pinien, Sträucher und Pfennigbäume herum, als wäre der Teufel hinter ihm her. Er hatte dunkelblonde krause Haare, war nur mit Shorts bekleidet und hielt in der Hand ein Stück Stoff, wahrscheinlich sein T-Shirt.

»Wo ist sie?«, schrie er. »Was haben sie mit ihr gemacht?«

Rizzi breitete die Arme aus und fragte: »Wer sind Sie?«

Das Gesicht des Mannes war tränenüberströmt. »Ich will zu Rosalinda! Sie ist meine Schwester. Ich will zu ihr!«

Cirillo trat vor, nahm ihre Mütze ab und sagte: »Es tut uns aufrichtig leid. Aber Sie können nichts mehr für Rosalinda tun.«

Der Mann heulte auf, sackte zusammen und wäre vornüber auf seine Knie gefallen, wenn Rizzi ihn nicht festgehalten hätte. Er legte ihm den Arm um die Schultern, die von einem Tattoo verziert waren, einem Salamander, der mit dem Schwanz die Achselhöhle des Mannes berührte und mit seiner Zungenspitze fast ans Ohrläppchen reichte.

»Wie heißt du?«, fragte Rizzi.

»Umberto Fervidi.«

»Wo ist dein Großvater? Ist er zu Hause?«

Rosalindas Bruder stammelte weinend unverständliches Zeug und versuchte sich loszureißen, aber Rizzi hielt ihn fest. »Bring uns zu deinem Großvater«, bat er. »Komm. Wir gehen zu Dino.«

»Ich will wissen, was passiert ist!«, schrie der Mann aus Leibeskräften. »Ich will sie sehen!«

»Du kannst jetzt nicht zu ihr«, sagte Rizzi. »Hast du gehört? Die Kirche ist abgesperrt. Die Kriminalpolizei ermittelt.«

»Lass ihn«, sagte Cirillo mit einer Handbewegung. »Lass ihn gehen.«

In diesem Moment riss der Mann sich los, stolperte, stürzte, rappelte sich auf und rannte mit dem T-Shirt in der Hand davon.

Sie gingen weiter durch die flirrende Hitze, bis ein zweistöckiges Haus auf‌tauchte, das über einem felsigen Hang thronte. Daneben lugte ein Anbau hervor, den es hier früher nicht gegeben hatte. Vielleicht handelte es sich um den ehemaligen Schweine- oder Hühnerstall, dessen Bretterwände irgendwann durch Mauern ersetzt und schließlich dem Haus angegliedert worden waren – natürlich illegal und ohne Genehmigungen, wie man es hier so handhabte. Rizzi nahm sich vor, das eventuell mal zu überprüfen, wenn die Trauerzeit abgelaufen war.

»Buongiorno«, rief er mit lauter Stimme, als sie sich dem Haus näherten.

Zwischen zwei Pfosten war eine Leine gespannt, an der verwaschene Unterhosen und T-Shirts hingen. Nicht weit davon entfernt standen ein quadratischer Tisch und verschiedene Stühle, die früher einmal im Haus gestanden haben mussten und schon bessere Zeiten gesehen hatten. Ergänzt wurde die Sitzgruppe von einem verrosteten Grill, in dem Brennnesseln und Löwenzahn wucherten.

»Ich bin’s, Enrico!« Rizzi klopf‌te an die Haustür, die nur angelehnt war und sich lautlos öffnen ließ.

Drinnen war der Boden mit orange geblümten Fliesen gekachelt, und an Cirillos Reaktion bemerkte er, dass sie so etwas nicht erwartet hatte. Es sah sauber und aufgeräumt aus, wenn man mal vom Tisch absah, der übersät war mit Unterlagen und Papieren.

»Dino?« Rizzi schaute die schmale Stiege hinauf, die ins Halbdunkel führte, und spürte einen Stoß in die Rippen.

Cirillo zeigte mit dem Bügel ihrer Sonnenbrille zum Fenster hinaus. Zwischen dem Grün war ein blau schimmernder Streifen zu sehen, das Meer. Davor, unter den Zypressen, schaukelte sachte eine Hängematte.

Rizzi räumte Aschenbecher, Feuerzeug und eine Blumenvase von der Fensterbank, öffnete das Fenster und sprang über die Laibung nach draußen.

»Hallo«, rief er, während er durchs kniehohe Gras zur Hängematte ging. »Dino?«

Der alte Mann antwortete nicht, und Rizzi blieb stehen.

Was ausgesehen hatte wie ein zusammengerollter Körper in einer dunklen Daunenjacke, entpuppte sich als leerer Schlafsack.

»Hast du eine Idee, wo er sein könnte?«, fragte Cirillo, die hinterhergekommen war.

Rizzi überlegte. Den Pfad über die Felsen hinunter zum Wasser kannten nur Eingeweihte, und die Stufen in den Felsvorsprüngen, die hier und da den Abstieg erleichterten, hatte wahrscheinlich Dino oder einer seiner Vorfahren in den Stein gehauen. Rizzi ging los, und Cirillo folgte ihm. »Pass auf, wo du hintrittst«, warnte er.

Cirillo antwortete nicht, setzte ihre Schritte aber exakt so, wie er es tat, nur langsamer und vorsichtiger.

Ginster, Kakteen und dornige Büsche versperrten die Sicht, und das war gut so, denn der Abgrund war schwindelerregend.

»Wo gehen wir hin?«, fragte Cirillo. »Ich bin keine Bergziege. Das ist lebensgefährlich. «

»Bleib, wo du bist«, befahl Rizzi, tastete sich am Felsen entlang und dachte, dass es wohl tatsächlich besser wäre umzukehren, als er zwischen den Felsen das Meer auf‌leuchten sah. Sie waren dem Ziel viel näher, als er vermutet hätte. Vor ihm, ein paar Sprünge entfernt, lag jetzt Geröll, eine Rampe, die zwischen zwei Felsen geradewegs ans Wasser führte. Dort, zwischen den Klippen, wo es schattig und dunkel war, lag in der Spalte ein Fischerboot. Aber von Dino keine Spur.

Rizzi legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief: »Dino!«

»Was willst du?«, hörte er eine Stimme, die gar nicht so weit weg war. »Willst du mir sagen, dass Rosalinda tot ist?«

Rizzi drehte sich um, aber er musste erst seine Sonnenbrille abnehmen, bis er den Mann zwischen den Felsen entdeckte. Dino hockte wie ein Habicht auf einem Vorsprung und passte sich mit seiner braunen Haut perfekt seiner Umgebung an. Wenn nicht die hellblaue Hose gewesen wäre.

»Ich muss mit dir reden«, sagte Rizzi.

»Lass mich in Ruhe.«

»Ich komme jetzt zu dir«, sagte Rizzi, ohne zu wissen, wie er das anstellen sollte. Cirillo tauchte neben dem Felsen auf, nicht weit entfernt, auf einer Höhe mit Dino.

»Wozu machst du dir die Mühe?«, fragte Dino, als Rizzi sich hochstemmte und der alte Mann ihm seine Hand entgegenstreckte.

»Es tut mir unendlich leid«, keuchte Rizzi. »Ich kann es selbst gar nicht glauben.« Er ließ sich neben Dino auf dem Stein nieder. In einer Felsspalte steckte eine Flasche und hinter Dinos Ohr eine Zigarette. Rizzi legte dem alten Mann seine Hand auf den Arm: »Die Kriminalpolizei kommt aus Neapel und nimmt die Ermittlungen auf.«

»Danke, dass du hergekommen bist«, sagte Dino mit rauer Stimme. »Ich weiß es zu schätzen. Aber es ändert nichts.« Er lachte bitter. »Als Umberto es mir gesagt hat, dachte ich, er hat den Verstand verloren. Und jetzt steht das Telefon nicht mehr still. Ich hab’s ausgeschaltet. Ich will niemanden sprechen. Ich will nur wissen, was passiert ist. Wer es war und warum. Unsere Rosalinda war herzensgut. Sie hat niemanden etwas zuleide getan.«

»Wir werden das alles herausfinden«, sagte Rizzi. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Aber was ich nicht verstehe, Dino« – er saß so dicht bei dem Mann, dass es ihm schwerfiel, ihn anzugucken –, »warum hast du dich nicht bei der Polizei gemeldet, als du es erfahren hast? Warum kommst du nicht an den Tatort, um dich mit eigenen Augen davon zu überzeugen und zu hören, was passiert ist? Dino, schau mich an. Warum versteckst du dich hier vor der Welt?« Rizzi verstummte erschrocken. Die Schultern von Dino zuckten, sein ganzer Körper bebte. Der Mann weinte lautlos und begann erst zu schluchzen, als Rizzi ihn in seine Arme schloss.

»Hast du sie gesehen?«, presste Dino hervor.

Rizzi nickte, während er Dino festhielt.

»Ich will sie nicht sehen und auch mit niemandem sprechen.«

»Aber ich muss dir jetzt trotzdem ein paar Fragen stellen.«

Nachdem Dino sich geschnäuzt hatte, fragte Rizzi: »Weißt du, ob Rosalinda Probleme hatte?« Und als Dino nicht antwortete, schob er hinterher: »Oder ob sie in Schwierigkeiten steckte.«

Dino schüttelte den Kopf. »Ich weiß von keinen Schwierigkeiten. Aber eins weiß ich: Rosalinda hat sich verändert. Erinnerst du dich, wie sie früher, als sie klein war, die Jungs in der Gasse angeschrien und heruntergeputzt hat? Wie unerschrocken und furchtlos sie war.«

Rizzi nickte – und lächelte. Rosalinda hatte sich mit ihrer Stimme oft Respekt verschafft. Sie wollte ernst genommen werden und sich nicht wegducken, wenn ihr jemand dumm kam. Oder wenn sie irgendwo eine Ungerechtigkeit witterte.

»Sie ist so still geworden.« Dino starrte an Rizzi vorbei in die Ferne. »Wann genau es angefangen hat, kann ich dir nicht sagen. Nicht von heute auf morgen. Es war ein schleichender Prozess.«

Stumm saßen sie da. Nur die Wellen, die unten an die Felsen schlugen, waren zu hören.

»Hat Rosalinda bei dir gewohnt?«, fragte Rizzi. »Hat sie sich um dich gekümmert?«

»Das hat sie schon lange nicht mehr.«

»Was ist passiert?«

»Sie war in der letzten Zeit meistens in Anacapri, bei Alessandra. Stattdessen ist Umberto hier eingezogen. Ich liebe Umberto, er ist mein Enkel, aber meine Rosalinda kann er mir nicht ersetzen. Rosalinda und ich« – Dino breitete die Arme aus, als wollte er sie umarmen –, »wir waren beide sonderbar auf unsere ganz eigene Art.« Er sah in diesem Moment so verzweifelt aus, so am Boden zerstört, dass es Rizzi fast das Herz brach. Er erhob sich und streckte seine Hand aus.

»Musst du zurück?«, fragte Dino, schaute zu Rizzi auf und ergriff seine Hand.

»Ich bin im Dienst«, sagte Rizzi. »Wir müssen die Kollegen aus Neapel bei ihrer Arbeit unterstützen. Ohne uns sind sie aufgeschmissen. Aber ich verspreche dir, dass wir alles tun, was in unserer Macht steht, um den Menschen zu finden, der Rosalinda das angetan hat.«

Dino erhob sich. »Ich bringe dich mit dem Boot rüber. Dich und deine Kollegin. Dann habt ihr nicht den weiten Fußmarsch. Was hältst du davon?«

Rizzi schaute sich suchend um. Cirillo hatte sich ein paar Meter weiter auf einem Stein niedergelassen, saß in Hörweite und hatte ihr Notizbuch auf den Knien. »Antonia«, rief Rizzi. »Was hältst du von einer Fahrt mit dem Wassertaxi?«

»Klingt gut«, antwortete Cirillo und klappte ihr Notizbuch zu.

Dino ging voraus, Cirillo folgte, und Rizzi bildete die Nachhut. Bei den Sprüngen von einem Felsen zum nächsten reichte Dino Cirillo die Hand, bis sie unten am Boot angelangt waren.

Cirillo nahm vorne am Bug Platz, legte den Kopf in den Nacken und schaute mit ihren blauen Augen die Klippen hinauf, als könnte sie kaum glauben, dass sie eben dort oben entlanggekraxelt waren.

Dino am Heck warf den Motor an und übernahm das Ruder, und Rizzi, in der Mitte stehend, die Arme zu den Steinwänden ausgestreckt, half, den Kahn aus der engen Felsspalte zu manövrieren – was wahrscheinlich gar nicht nötig gewesen wäre. Wie beim Abstieg über die Felsen hinunter zum Meer kannte Dino auch hier jeden Stein und jede Tücke.

Sie schipperten mit halber Kraft an den Felsen entlang, die hier, an der Nordseite, im Schatten lagen. Wilde Pistazien, Rosmarin und andere Sträucher bildeten auf dem Kalksandstein und an den Hängen einen dichten immergrünen Teppich und rundeten das Zerklüftete und Karge zu etwas Harmonischem und Fruchtbarem. Boote mit bunten Sonnensegeln, voll besetzt, passierten, und aus den Lautsprechern drangen Wortfetzen herüber, Jahreszahlen, Meterangaben und die Namen der Grotten Ricotta und Bove Marino. Als wäre alles wie immer und nichts geschehen.

»Ich werde Alessandra befragen«, sagte Dino, als hätte er sich zu etwas durchgerungen und einen Entschluss gefasst. »Sie wird mehr darüber wissen, was passiert ist und auch ob Rosalinda in Schwierigkeiten gesteckt hat.«

»Nur zur Erinnerung«, meldete sich Cirillo von ihrem Platz am Bug, »die Ermittlungen überlassen Sie bitte uns.«

»Aber ich muss mit ihr sprechen«, protestierte Dino. »Sie ist wie eine zweite Tochter für mich.« Hilfe suchend wandte er sich an Rizzi. »Du weißt, dass sie und Rosalinda ein Paar waren?«

»Ja«, antwortete Rizzi. »Das wissen alle. Und natürlich sollst du mit ihr sprechen. Aber du sollst nicht ermitteln. Hast du verstanden? Meine Kollegin hat recht. Die Ermittlungen überlässt du uns.«

Das Boot nahm an Fahrt auf. »Rosalinda hat einiges einstecken müssen in ihrem Leben«, berichtete Dino. »Sie hat nie darüber gesprochen, jedenfalls nicht mit mir. Aber da waren viele Verletzungen. Ich weiß, dass Alessandra davon nichts wissen wollte. Für sie war immer alles in schönster Ordnung.«

»Sie müssen verstehen«, rief Cirillo in den Fahrtwind und beugte sich zu Dino hinüber, »dass wir alles, was Ihnen im Zusammenhang mit Rosalinda und ihrem gewaltsamen Tod durch den Kopf geht, erfahren müssen. Auch die kleinsten Details, von denen Sie vielleicht denken, dass sie überhaupt keine Rolle spielen.«

Dino fixierte die Bugwelle, den kleinen schaumigen Kamm auf dem Wasser, und es war nicht ersichtlich, ob er zuhörte oder mit seinen Gedanken ganz woanders war. Zwei Polizeiboote kreuzten – eines hielt auf Capri und den Hafen Marina Grande zu, ein zweites fuhr von dort weg und nahm Kurs auf Neapel.

»Hat Rosalinda in letzter Zeit irgendetwas erwähnt, was Sie gewundert hat, einen Namen oder eine Begebenheit?«, fragte Cirillo, ihre Mütze zwischen die Knie geklemmt, eine Hand an der Reling.

»Wenn ich es mir recht überlege«, sagte Dino und klang dabei ganz bitter, »hat Rosa so gut wie gar nicht mehr mit mir gesprochen. Sie war still und schweigsam, wie ein Mäuschen, und ich Dummkopf habe es nicht bemerkt. Habe einfach nicht so genau hingesehen.« Er drehte am Griff des Außenbordmotors, drosselte das Tempo und nahm Kurs auf die Hafeneinfahrt und die korinthische Säule.

»Was könnte der Grund für Rosalindas Zurückhaltung sein?«, fragte Cirillo.

Dino presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Er wusste es nicht.

Eine Jacht mit Radaranlage blockierte die Hafeneinfahrt und zwang ein aliscafo zu warten, während dahinter schon das nächste und übernächste Tragflächenboot angefahren