Blick in den Tod - Jacky Herrmann - E-Book

Blick in den Tod E-Book

Jacky Herrmann

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Beschreibung

Valentina Adelsberger tritt ihren neuen Job in einem renommierten Schweizer Pharmaunternehmen in Frankfurt am Main an. Ihr Chef ist sehr umgänglich, die Kollegen sind sympathisch und die Aufgaben spannend. Wäre nur nicht dieser attraktive Tommy Evans, dessen Anziehungskraft sie schon nach kurzer Zeit um den Verstand bringt. Das ist längst nicht alles: Gegenüber von ihrem Büro wohnt eine junge Frau, die es darauf anlegt, beobachtet zu werden. Sie präsentiert sich halbnackt in ihrer Wohnung und hat regelmäßig Besuch von verschiedenen Männern. Valentina ist auf seltsame Weise von dieser Unbekannten fasziniert und beobachtet sie heimlich. Bis die Frau plötzlich tot in ihrer Wohnung liegt. Kommissar Martin Smeets von der Frankfurter Kripo ermittelt mit seinem Team in sämtliche Richtungen. Die Spur führt schnell zum Pharmaunternehmen und Valentina ist dem Täter näher als sie glaubt.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 534

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Jacky Herrmann

Blick in den Tod

Liebeskrimi

© 2021 Jacky Herrmann

Umschlaggestaltung: Tom Jay

Umschlagmotiv: © phoelixDE / office buildings in the evening sun, Frankfurt am Main, Germany / shutterstock

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback

978-3-7345-3412-6

Hardcover

978-3-7345-3413-3

e-Book

978-3-7345-3414-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1

Valentina schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf ihren neuen Schreibtischstuhl.

Das wäre geschafft, ging es ihr durch den Kopf.

Sie war heute Morgen sehr früh aufgestanden, um auf jeden Fall pünktlich zu sein. Schließlich konnte sie nicht gleich an ihrem ersten Arbeitstag riskieren, negativ aufzufallen.

Ihr neuer Chef, Sebastian Kronberg, hatte sie Punkt neun Uhr am Empfang abgeholt und freundlich begrüßt.

„Herzlich willkommen an Bord, Frau Adelsberger!“

Er hatte ihr die Hand gereicht und ihr gleich das Du angeboten. „Ich bin Sebastian. Ich denke, das ist einfacher, da wir viel miteinander zu tun haben werden.“

Sie waren anschließend mit dem Fahrstuhl nach unten in die fünfte Etage gefahren, er hatte sie herumgeführt und überall persönlich vorgestellt:

„Das ist Valentina Adelsberger. Sie wird unser Team in der Personalabteilung unterstützen.“

Alle hatten sie freundlich begrüßt, sich namentlich bei ihr vorgestellt und ihr einen guten Start gewünscht. Mehr als die Hälfte der Namen hatte Valentina allerdings längst wieder vergessen.

Auch ihr neues Team hatte sie kennengelernt – zumindest die Kollegen, die heute anwesend waren: Antonia Schumann, Patricia Schöne und Max Kroll. Zwei weitere Kollegen hatten Urlaub, Theodora von Weisenau und Tobias Wanitzek.

Nachdem sich Valentina einen Kaffee geholt hatte, wartete sie nun in ihrem neuen Büro auf Patricia, die ihr eine erste Einführung geben sollte.

Sie fuhr gerade ihren PC hoch und wählte sich ins System ein, als plötzlich die Tür aufging und Antonia vor ihr stand. Diese trug einen äußerst kurzen Rock und sehr hohe Stiefel. Für Valentinas Geschmack war das Outfit keineswegs bürotauglich, doch scheinbar wurde das hier sehr locker gesehen.

„Patricia ist etwas Wichtiges dazwischengekommen. Daher übernehme ich das jetzt“, erklärte Antonia.

Valentina arbeitete schon seit vielen Jahren im Personalbereich. Sie war sehr routiniert im Umgang mit sämtlichen Personalangelegenheiten. Ihr Spezialgebiet war das Arbeitsrecht. In der Vergangenheit hatte sie es mit einigen schwierigen Fällen von Mitarbeiterfreisetzungen und Arbeitsgerichtsprozessen zu tun gehabt. Es war nie schön, wenn es zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber so weit kam, aber gerade diese Herausforderungen machten ihr besonders Spaß und Valentina hatte immer das Beste für ihren Arbeitgeber herausgeholt. Doch in jeder Firma gab es eigene Strukturen und andere Abläufe und diese galt es nun auch bei Stina kennenzulernen.

Nach sechs Jahren in einer englischen Bank war es für sie an der Zeit gewesen, noch einmal etwas Neues auszuprobieren. Sie war sechsunddreißig und hatte Angst, irgendwann für einen beruflichen Neustart zu alt zu sein. Daher hatte sie vor etwa vier Monaten einen Headhunter kontaktiert. Nach nur zwei verschiedenen Bewerbungsgesprächen, das letzte mit Sebastian Kronberg, hatte sie ihre Entscheidung getroffen.

Ihre neue Aufgabe ähnelte ihrem vorherigen Job sehr: Sie beriet und betreute Führungskräfte und Mitarbeiter in allen personalrelevanten Themen. Von der Einstellung bis zur Kündigung wickelte sie den kompletten Lebenszyklus eines Mitarbeiters im Unternehmen ab. Es hatte nur ein einziges Gespräch mit Sebastian Kronberg gegeben; kurz darauf hatte sie ein Vertragsangebot erhalten. Die Konditionen waren so gut gewesen, dass sie nicht lange gezögert hatte. Außerdem lag das Büro zentral in der Frankfurter Innenstadt. Da sie in der Nähe wohnte, konnte sie sogar mit dem Rad zur Arbeit fahren. Das war ein weiterer Pluspunkt für sie gewesen.

Antonia hatte sich mittlerweile einen Stuhl geschnappt und sich an die Tastatur von Valentinas PCs gesetzt. „Gut, fangen wir an! Wie das E-Mail-Programm und das Internet funktionieren, muss ich dir sicherlich nicht erklären.“ Sie warf Valentina einen selbstgefälligen Blick zu und fuhr dann fort: „Hier ist der Link zu unserem Intranet. Da kannst du dich später in Ruhe durchklicken. Dort findest du jede Menge Infos über das Unternehmen, die Geschäftsleitung, die einzelnen Bereiche und sämtliche Neuigkeiten. Hier zum Beispiel wird verkündet, dass du und ein weiterer Mitarbeiter heute angefangen haben. Wie gesagt, schau dir das später allein an. Jetzt zu unserer Ordnerstruktur.“

Antonia öffnete das Laufwerk und drehte sich anschließend erneut zu Valentina, die ihr aufmerksam zuhörte. „Siehst du die ganzen Ordner hier? Das sind alle Geschäftsbereiche in Frankfurt. Alle Abteilungen haben nur auf ihren eigenen Bereich Zugriff. Wir haben den Ordner Personal. Du kannst dich auch hier später selbst durch die einzelnen Unterordner klicken. Ich denke, das muss ich dir nicht zeigen. Hier ist unser Organigramm. Das ist sehr hilfreich, vor allem zum Start. Später bekommst du noch eine E-Mail von unserer Compliance-Abteilung und musst ein paar Trainings absolvieren. Das kennst du garantiert. In Banken ist das schließlich Standard, soweit ich weiß.“

Valentina nickte zustimmend. Sie hatte das Gefühl, dass Antonia keine Lust hatte, ihr etwas zu erklären und alles nur schnell hinter sich bringen wollte. „Ja, das kenne ich. Das werden sicherlich ähnliche Trainings zu korrektem Geschäftsverhalten sein.“

In dem Moment klopfte es an der Tür.

„Herein!“, sagte Antonia vorschnell. Schließlich war es nicht ihr Büro.

Ein Mann betrat daraufhin den Raum.

„Hallo! Darf ich kurz stören? Sie sind sicherlich Valentina? Ich wollte mich gerne persönlich vorstellen. Heute Morgen war ich im Meeting, als Sie von Sebastian herumgeführt wurden.“ Er lief auf Valentina zu und reichte ihr die Hand. „Ich bin Tommy und arbeite in der Finanzabteilung.“

Valentina war zwischenzeitlich aufgestanden. „Hallo, Tommy! Danke für die persönliche Begrüßung! Ich bin Valentina.“ Sie drückte kurz seine Hand.

Er lächelte sie an. „Ich will euch nicht aufhalten, ihr seht beschäftigt aus.“

Valentina blickte zu Antonia, die immer noch unverändert auf ihrem Stuhl saß und auf den PC schaute. Offensichtlich wollte sie sich nicht an dem Gespräch beteiligen, dachte Valentina.

„Antonia gibt mir eine erste Einführung. Wir machen gleich weiter, denn ich möchte so schnell wie möglich anfangen zu arbeiten“, wandte sie sich wieder an Tommy und lächelte ihn ebenfalls an.

Er nickte ihr zu, verabschiedete sich und zog kurz darauf die Tür hinter sich ins Schloss.

„Dieser Spinner!“, schoss es gedankenlos aus Antonia heraus, während sie den Kopf schüttelte und nervös auf dem Stuhl hin und her wippte. „Pass bloß auf bei dem!“ Sie schaute zu Valentina, die sich in der Zwischenzeit wieder gesetzt hatte. „Der gräbt hier alles an, was nicht bei drei auf dem Baum ist!“

Wow! Was für eine Aussage, dachte Valentina überrascht. Es war doch nett von ihm gewesen, sich persönlich bei ihr vorzustellen.

„Okay“, antwortete sie knapp, denn sie würde sich sowieso ihr eigenes Bild von ihm machen.

„Hast du einen Freund?“, wollte Antonia wissen.

„Nein“, sagte Valentina. Sie kannte Antonia keine dreißig Minuten und hatte nicht vor, mit ihr über ihr Privatleben zu sprechen. „Wo waren wir stehengeblieben?“, lenkte sie das Thema wieder in eine andere Richtung.

Die Kurzeinführung war etwa zehn Minuten später beendet gewesen. Im Anschluss war Valentina die wesentlichen Arbeitsrichtlinien durchgegangen. Sebastian wollte halb eins mit ihr essen gehen, um ihr endlich mitzuteilen, welche Bereiche sie zukünftig betreuen würde. Kurz vorher ging sie noch einmal zur Toilette und traf auf dem Rückweg ausgerechnet erneut auf Tommy.

„Und, bist du schon eingearbeitet?“, sprach er sie an.

Valentina lachte. „Ich denke, da muss ich mich noch etwas gedulden. Was genau machst du in der Finanzabteilung?“, wollte sie wissen.

„Ich bin Controller. Bei mir geht es also nur um langweilige Zahlen und Reports.“

„Spannend!“ Valentina bemerkte selbst die Ironie in ihrer Stimme. Sie wollte Tommy gegenüber nicht voreingenommen sein, nur, weil Antonia schlecht über ihn geredet hatte. Er sah in jedem Fall – das musste sie zugeben – sehr attraktiv aus. Er war groß und wirkte sehr durchtrainiert, hatte schwarze Haare und blaue Augen. Der dunkelblaue Anzug stand ihm hervorragend.

„Personalbetreuung mag da sicherlich aufregender und abwechslungsreicher sein, aber ich liebe die Routine: immer dieselben Berechnungen und die Vorhersehbarkeit von Zahlen und Rechenergebnissen. Das gefällt mir“, erklärte Tommy ihr.

„Interessant! Mir gefällt eher das Unvorhersehbare und das Unberechenbare“, bemerkte Valentina.

Im Flur hörten sie, wie sich Schritte näherten.

„Da bist du ja, Valentina!“, rief Sebastian, weit, bevor er die beiden erreicht hatte. „Bist du startklar? Ich habe uns einen Tisch im Steakhouse um die Ecke reserviert.“

„Hallo, Sebastian! Ich hole nur noch meine Sachen.“

Sebastian und Tommy blieben stehen und unterhielten sich, während Valentina in ihr Büro zurückging. Sie hörte noch ein paar Brocken des Gesprächs. Scheinbar ging es um bestimmte Unternehmenskennzahlen, die Sebastian von Tommy brauchte. Die Personalabteilung arbeitete offensichtlich auch hier eng mit der Finanzabteilung zusammen. Allein aus diesem Grund sollte sie versuchen, gut mit Tommy klarzukommen, unabhängig davon, welche Einstellung er gegenüber Frauen haben mochte.

„Ich bin so weit!“, meldete sich Valentina wenig später zurück.

Tommy musterte sie, als sie in ihrem Blazer und mit ihrer Handtasche wieder vor ihnen stand.

„Lasst es euch schmecken! Vielleicht gehen wir demnächst auch mal zusammen Mittagessen?“, schlug er Valentina vor.

Sie nickte nur und machte sich anschließend mit Sebastian auf den Weg zu den Fahrstühlen.

Ist er immer so direkt?, fragte sie sich. Ein bisschen seltsam fand sie das schon. Immerhin war es gerade ihr allererster Arbeitstag.

***

„Welchen Eindruck habt ihr von ihr?“, fragte Antonia in die Runde. Sie teilte sich ein Büro mit Patricia und Max. Aufgrund eines wichtigen Projekts hatten sie sich zum Mittag etwas liefern lassen und aßen ihre Pizzen nun am Schreibtisch.

„Ich kann noch nichts sagen. Auf den ersten Eindruck ist sie mir aber sehr sympathisch“, begann Patricia. „Wir werden erst bei der Arbeit feststellen, wie sie wirklich ist.“ Sie nahm ein weiteres Stück Pizza und biss genüsslich hinein. Die Extraportion Käse, die sie bestellt hatte, hinterließ fettige Spuren an ihren Mundwinkeln. Patricia war klein und hatte ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen, was daran lag, dass sie sich kaum bewegte und täglich teilweise bis zu zehn Stunden vorm PC hockte. Erschwerend kam hinzu, dass sie stressbedingt permanent Lust auf Süßigkeiten hatte und immer wieder Schokolade, Kuchen oder Gummibärchen in sich hineinstopfte.

„Ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll! Sie kommt mir eingebildet vor.“ Antonia nahm einen Schluck von ihrer Diät-Cola.

„Bitte nicht schon wieder lästern! Ich finde sie nett. Sie scheint sehr motiviert zu sein und packt sicher gerne mit an“, mischte sich Max ein, der die Hälfte seiner Salamipizza bereits verdrückt hatte.

„Ich bin gespannt, was Theodora sagt. Ich glaube, sie wird nicht begeistert von ihr sein“, entgegnete Antonia.

„Theodora ist auch speziell“, bemerkte Max. „Ich könnte gut nachvollziehen, wenn sich Valentina nicht mit ihr versteht. Wer außer dir tut das schon?“

Patricia grinste Max daraufhin an, um ihm zu signalisieren, dass sie ganz seiner Meinung war. Die beiden verstanden sich, ohne ein Wort miteinander zu sprechen.

Antonia, der das nicht entgangen war, lehnte sich beleidigt auf ihrem Stuhl zurück. „Ich bin satt! Die Pizza schmeckt scheiße!“ Sie schloss den Karton und warf ihn in den Mülleimer.

„Was zum Teufel machst du da? Wieso wirfst du die gute Pizza weg? Hättest du vorher nicht fragen können? Ich hätte sie mit nach Hause genommen und heute Abend gegessen“, sagte Patricia enttäuscht.

„Besser nicht! Du solltest langsam aufpassen!“, warf Antonia ihr ungehalten vor.

Typisch Antonia, dachte Patricia. Sie war beleidigt und benahm sich wie ein eingeschnapptes Kind. Doch sie hatte keine Lust, mit ihr zu streiten. Sie ging Konfrontationen lieber aus dem Weg. Gut, Antonia hatte nicht Unrecht, gestand sie sich ein. Sie wurde tatsächlich von Jahr zu Jahr dicker und glücklich war sie darüber nicht, aber was sollte sie denn machen? Sie konnte diesen verlockenden Süßigkeiten nicht widerstehen. Patricia seufzte, beschloss dann aber, sich durch Antonia nicht den Appetit verderben zu lassen. Die leckere Pizza konnte weiß Gott nichts dafür und es wäre zu schade, sie nicht aufzuessen.

„Hat Valentina vorhin noch etwas von sich erzählt?“, durchbrach Max die Stille, die kurz entstanden war.

Antonia war gerade dabei, im Internet zu surfen und schaute daher nur kurz zu Max, dessen Arbeitsplatz schräg gegenüber von ihr lag. „Nicht besonders viel. Tommy kam rein und hat sich persönlich bei ihr vorgestellt“, sagte sie schnippisch. Eigentlich hatte sie das überhaupt nicht erwähnen wollen, denn sie wusste genau, was Max und Patricia über dieses Thema dachten.

„Und deshalb bist du schlecht gelaunt?“, fragte Max.

„Quatsch! Ich bin nur genervt wegen des blöden Projekts. Ich habe keinen Bock, heute Abend schon wieder so lange hier abzuhängen!“

„Nur noch heute“, versuchte Patricia, sie zu motivieren. Sie hatte gerade ihr letztes Stück Pizza verschlungen und schaute traurig in den leeren Karton, in dem sich nur noch wenige Krümel tummelten. Mit dem Zeigefinger versuchte sie, auch diese noch aufzupicken.

Antonia, die sie dabei beobachtet hatte, schüttelte verächtlich den Kopf. Sie verstand nicht, wie man sich so gehen lassen konnte. Sie selbst legte großen Wert auf ihr Äußeres und hatte die Pizza nur ausnahmsweise bestellt. Normalerweise ernährte sie sich ausschließlich gesund und kalorienarm. „Ich habe trotzdem keine Lust! Es wird Zeit, dass Valentina Aufgaben von uns übernimmt, damit wir entlastet werden. Auf Dauer mache ich das nicht mehr mit!“, meckerte Antonia weiter herum.

„Entspann dich, Antonia! Deshalb wurde sie eingestellt. Es braucht logischerweise nur etwas Zeit, bis sie eingearbeitet ist“, entgegnete Patricia.

Max stand auf. „Wollt ihr auch einen Kaffee?“

Die beiden nickten und er verließ daraufhin das Büro. Patricia griff in ihre Schublade und holte sich einen Schokoriegel heraus. Während sie die Schokolade auf der Zunge zergehen ließ, blätterte sie einige Unterlagen durch. „Das müssen wir unbedingt noch in den Report aufnehmen.“ Sie schob einen Zettel auf Antonias Tisch.

„Wie ekelhaft! Da sind Schokoflecken drauf! Kannst du nicht aufpassen, bevor du die ganzen Unterlagen mit deinen dreckigen Fingern anfasst?“

„Tut mir leid, das war keine Absicht!“ Patricia verließ das Büro, um sich die Hände waschen zu gehen.

Antonia nutzte die Gelegenheit und schnappte sich ihr Smartphone. Sie begann, mit einer Freundin zu chatten. Wenn die anderen nicht arbeiteten, warum sollte sie es dann tun?

Plötzlich stand Sebastian in der Tür. „Hey, Antonia! Ganz allein hier?“ Valentina war direkt hinter ihm.

„Ja, äh, wir haben gerade gegessen und machen uns gleich wieder an die Arbeit“, stotterte sie.

„Das klingt gut! Tommy lässt uns die Zahlen schnellstmöglich zukommen. Ich denke, es macht Sinn, wenn Valentina den Rest des Tages bei euch sitzt und euch über die Schulter schaut. Vielleicht kann sie ein paar Verbesserungsvorschläge beisteuern. Ihr wisst selbst, wie schnell man betriebsblind wird. Da Valentina aus einer anderen Arbeitswelt kommt, kann sie sicherlich für etwas frischen Wind bei uns sorgen.“

Er blickte zu Valentina und bedeutete ihr mit der Hand, ins Büro einzutreten. „Setz dich am besten zu Antonia, damit sie dir die Hintergründe erklären kann.“

Antonia verdrehte innerlich die Augen. Ihre Stimmung war sowieso schon auf dem absoluten Tiefpunkt gewesen. Jetzt sollte ausgerechnet noch diese Valentina die ganze Zeit neben ihr sitzen und sie bei ihrer Arbeit beobachten. Sie wusste selbst, dass sie nicht die Schnellste war und sich oft nur die einfachen Arbeiten herauspickte. Anders als Max und Patricia, die in der Regel den größeren Brocken freiwillig übernahmen.

Gerade als Valentina Platz genommen hatte, erschienen auch Max und Patricia wieder im Zimmer.

Max hatte eine große Kanne Kaffee dabei. „Hallo, Valentina“, begrüßte er sie freundlich. „Magst du auch eine Tasse Kaffee?“

Valentina lehnte ab. „Nein, vielen Dank! Ich habe gerade einen Espresso getrunken. Das deckt meinen Koffeinbedarf für die nächsten Stunden.“

Max ging zurück zu seinem Schreibtisch und schenkte sich ein.

Auch Patricia nahm wieder Platz. „Und, wie war das Essen? Ich finde, sie haben dort die besten Steaks in ganz Frankfurt“, wandte sie sich an Valentina.

Schon wieder denkt sie nur ans Essen, dachte Antonia verächtlich.

„Valentina wird euch unterstützen. Das habe ich Antonia bereits erklärt. Falls ihr Fragen habt, ihr wisst ja, wo ihr mich findet.“ Sebastian Kronberg verließ das Büro, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Valentina schaute ihm kurz hinterher. Sie fand ihn bisher sehr sympathisch und der Eindruck, den sie in ihrem Vorstellungsgespräch von ihm gewonnen hatte, bestätigte sich zunehmend. Er schien ein sehr umgänglicher Chef zu sein, mit dem man über alles reden konnte. Bliebe nur abzuwarten, wie er sich in Stresssituationen und unter Druck verhielt. Menschen konnten sich dann um einhundertachtzig Grad drehen.

„Ich erkläre dir, worum es in diesem Projekt genau geht“, begann Max nun. „Unsere Zentrale in der Schweiz will bis morgen einen sehr umfangreichen Bericht über die Entwicklung der deutschen Stina-Gesellschaft in den letzten fünf Jahren. Sie wollen sämtliche Zahlen aufbereitet: Personalbestand, Betriebszugehörigkeit, Akademikeranteil, Frauenquote, Fluktuation in den einzelnen Bereichen, Beschäftigungsarten und so weiter. Wir müssen dazu diverse Grafiken erstellen und alles anschaulich aufbereiten. Hast du bereits Erfahrung mit so etwas?“

„Ja, wir mussten solche Reports quartalsweise liefern. Zeigt mir doch mal, was ihr bisher auf die Beine gestellt habt“, schlug Valentina vor.

„Gute Idee! Dann komm am besten zu mir rüber!“

Antonia war erleichtert, dass Max ihr diese unsägliche Aufgabe abgenommen hatte. Er hatte das schon öfter getan, allerdings nie aus Rücksicht auf Antonia, sondern weil er gerne eine führende Rolle im Team einnahm. Antonia war das recht und auch Patricia hatte damit kein Problem, denn sie wiederum hatte die Einstellung, dass es Häuptlinge und Indianer geben musste und sie der geborene Indianer war, der sich gerne im Hintergrund hielt.

Als Valentina den Platz wechselte, verfolgte Antonia sie mit kritischem Blick. Sie betrachtete ihre Figur und musterte den Hosenanzug, den sie trug. Immerhin scheint sie mehr auf sich zu achten als Patricia, stellte sie fest. Valentina war mittelgroß. Ihre dunkelblonden Haare hatte sie zu einem strengen Zopf gebunden. Aber sie ist trotzdem eine langweilige Frau, dachte Antonia. Der mausgraue Anzug und Valentinas Frisur waren überhaupt nicht nach ihrem Geschmack. Sie war froh darüber, denn dann würde sie weiterhin als Einzige auf dieser Etage die Blicke der Männer auf sich ziehen.

***

Kurz nach zwanzig Uhr verließ Valentina das Büro. Es war bereits dunkel und kühl geworden. Nachdem sie ihre Handtasche verstaut und das Licht am Fahrrad angeschaltet hatte, fuhr sie los. Der Wind wehte ihr ins Gesicht. Es war ein angenehmes Gefühl, nachdem die letzten Stunden hitzig zugegangen waren. Sie hatte viele Ideen eingebracht, von denen Max und Patricia sofort begeistert gewesen waren. Nur in Bezug auf Antonia hatte Valentina ein ungutes Gefühl. Ich glaube, sie kann mich nicht leiden, vermutete sie.

Sie schob den Gedanken wieder beiseite. Es war schließlich ihr allererster Tag gewesen. Die vielen Eindrücke, die sie gewonnen hatte, musste sie erst noch in Ruhe verarbeiten. Vielleicht brauchte Antonia nur mehr Zeit, um auf neue Menschen zuzugehen.

Auf jeden Fall war sie auf den Rest der Truppe gespannt, vor allem auf Theodora von Weisenau. Was für ein Name! Tobias Wanitzek würde sie erst am Freitag kennenlernen. Mit den beiden sollte sie idealerweise gut klarkommen, da sie mindestens acht Stunden am Tag im selben Raum sitzen würden. Sie hoffte das Beste.

Sebastian hatte ihr beim Mittagessen mehr über den Aufbau des Unternehmens erzählt. Einiges davon wusste sie bereits, da sie sich für ihr damaliges Bewerbungsgespräch intensiv mit der Stina-Unternehmensgruppe befasst hatte. Es war spannend, eine neue Branche kennenzulernen, mit der sie bisher überhaupt keine Berührungspunkte gehabt hatte. Der Mutterkonzern wurde 1967 in der Schweiz gegründet und beschäftigte mittlerweile europaweit mehr als fünfzehntausend Mitarbeiter in neunzehn Ländern. Die deutsche Stina Pharma GmbH hatte ihre Zentrale in Frankfurt am Main. Ein weiteres Tochterunternehmen, die Nupralex GmbH, war im benachbarten Neu-Isenburg ansässig. Stina entwickelte innovative Arzneimittel zur Behandlung verschiedener chronischer Erkrankungen. Die Schwerpunkte lagen dabei auf den Therapiegebieten Neurologie und Psychiatrie. Während die Stina Pharma GmbH neue Produkte entwickelte, konzentrierte sich die Nupralex GmbH auf die Herstellung von Generika, also Nachahmerpräparate, die in Bezug auf Wirksamkeit und Sicherheit dem Originalpräparat entsprachen.

Valentina hatte sich im Vorfeld intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, ob sie in der Pharmaindustrie arbeiten wollte. In den Medien hatte sie immer wieder von Skandalen gehört. Die Stina Pharma GmbH schien jedoch großen Wert auf höchste ethische und moralische Standards zu legen.

Der Großteil der Mitarbeiter arbeitete im Industriepark in Frankfurt Höchst in der Forschung, Entwicklung, Produktion und Fertigung. Die Geschäftsleitung, die Bereiche Vermarktung, Vertrieb, Customer Care und die unternehmensinternen Verwaltungsbereiche, wozu auch die Personalabteilung zählte, saßen hingegen zentral in der Frankfurter Innenstadt.

Valentina wollte noch viel mehr erfahren, nicht nur, weil es sie persönlich sehr interessierte, sondern auch, weil das wichtig für ihre tägliche Arbeit war. Sie musste die Branche und den Markt genau kennen, um die richtigen Mitarbeiter finden zu können. Die zu besetzenden Positionen im Kerngeschäft waren sehr vielfältig: Biowissenschaftler, Chemiker, Ingenieure, Mediziner, Pharmazeuten und Wirtschaftswissenschaftler.

Sebastian hatte ihr mitgeteilt, dass sie zum Einstieg zunächst nur einen Bereich übernehmen würde und das sollte aufgrund ihrer Erfahrung im Bankenbereich die Finanzabteilung sein, in der auch Tommy arbeitete.

Ausgerechnet! Mit ihm werde ich also öfter zu tun haben, war es Valentina unmittelbar durch den Kopf gegangen. Wie oft das sein würde, war ihr kurz darauf klargeworden, als sie erfahren hatte, dass Tommy kein einfacher Controller, sondern der Teamleiter der gesamten Abteilung und damit ihr erster Ansprechpartner war.

Sebastian hatte ihr auch tiefere Einblicke und Informationen über die Probleme in diesem Bereich gegeben.

„Die Fluktuation war dort in der letzten Zeit sehr hoch. An die Mitarbeiter werden hohe Anforderungen gestellt. Einigen scheint das nicht klar zu sein, andere wiederum packen das nicht. Die Geschäftsleitung erwartet, dass sie aktiv das Management unterstützen. Sie müssen die Finanzziele festlegen, die Unternehmensentwicklung mitplanen und dabei immer die größtmögliche Effizienz im Blick behalten. Sie tragen damit zum nachhaltigen Erfolg des gesamten Unternehmens bei. Es ist viel passiert in der letzten Zeit, es war ein regelrechtes Kommen und Gehen, und das muss sich dringend ändern! Wir als Personalabteilung können dazu einen großen Beitrag leisten, indem wir die richtigen Mitarbeiter auswählen und natürlich auch die Mitarbeiter mit Potential entsprechend fördern. Valentina, das war einer der Gründe, warum ich dich eingestellt habe. Mit deiner Erfahrung wirst du das auf einen guten Weg bringen!“

Damit hatte Sebastian eine hohe Anforderung an sie gestellt. Sie war nicht sicher, ob sie dieser gerecht werden würde. Doch sie drückte sich nicht vor Herausforderungen. Im Gegenteil, das trieb ihren Ehrgeiz erst recht an. Sie wollte sich und allen anderen beweisen, dass sie keine Fehlbesetzung war. Sie hatte in der Bank sehr viele Buchhalter und Controller rekrutiert, weshalb sie einen geschulten Blick hatte.

Morgen wollte Sebastian einen Termin zusammen mit ihr und Tommy ansetzen. Sie war gespannt, ob Tommy auf geschäftlicher Ebene genauso locker auftreten würde, wie sie ihn heute kennengelernt hatte. Sie fragte sich erneut, was an Antonias Vorwurf dran war.

Nach etwa fünfzehn Minuten Fahrtzeit kam Valentina zuhause an. Sie trug ihr Fahrrad in den Keller und lief danach die fünf Etagen zu ihrer Wohnung hoch.

2

„Ich bin Theodora von Weisenau.“ Sie war fast einen Kopf größer als Valentina und schaute nicht nur deshalb auf sie herab. Sie schien auch sehr selbstbewusst zu sein.

„Guten Morgen! Ich bin Valentina.“

„Du bist spät dran“, warf Theodora ihr vor.

Valentina war tatsächlich schon am zweiten Tag zu spät gewesen, weil ihr Fahrrad unerwartet einen Platten gehabt hatte. Ausgerechnet, wo sie sich sowieso schon mit ihrer Zeit verzettelt hatte. Auf der gestrigen Heimfahrt hatte sie nichts Ungewöhnliches bemerkt. Sie hatte den Reifen schnell aufgepumpt und die Fahrt ins Büro war reibungslos verlaufen. Damit hatte sie nun aber einen schlechten ersten Eindruck bei Theodora hinterlassen.

„Mein Fahrrad hatte einen Platten.“ Sie merkte selbst, dass es nach einer dummen Ausrede klang und vertiefte das Thema daher nicht weiter. Ihr entging nicht, wie Theodora sie von oben bis unten musterte, als sie zu ihrem Schreibtisch lief. Theodora schien selbst gerade erst gekommen zu sein, dachte Valentina, denn ihr PC war noch nicht angeschaltet.

„Macht ja nichts!“, sagte Theodora schließlich. „Dann auf jeden Fall herzlich willkommen bei uns!“

Valentina wunderte sich über Theodoras Aussprache. Sie war nicht sicher, ob sie ein Problem mit ihrer Nase hatte oder ob sie so sprach, weil es ihr gefiel. Sie bedankte sich für die persönliche Begrüßung und legte ihre Jacke ab. Sie hatte sich heute Morgen für eine schwarze Stoffhose und eine helle Bluse entschieden, nachdem sie sich gestern im Vergleich zu den anderen etwas ‚overdressed‘ gefühlt hatte.

Theodora verließ kommentarlos das Büro, wahrscheinlich um sich einen Kaffee zu holen.

Sie hätte wenigstens fragen können, ob ich mitgehen möchte, dachte Valentina enttäuscht. Was soll’s! Sie meldete sich am PC an und öffnete das Mailprogramm. Neunundzwanzig Nachrichten, stellte sie mit Erschrecken fest. Wie ist das möglich? Eigentlich wollte sie sich auch einen Kaffee holen, den sie unbedingt brauchte, um ihre Restmüdigkeit loszuwerden, doch nun setzte sie sich erstmal. Ich will nur alles überfliegen. Eine Mail von Sebastian. Das ist der Termin für das Gespräch mit Tommy. Gleich heute Vormittag.

Sie schaute auf die Uhr. Es war zwanzig nach neun.

„Bitte schau dir Seite fünf bis zwölf in der Präsentation an, damit wir uns dazu austauschen können. Gruß Sebastian“

Okay, das sollte ich hinkriegen. Was ist das alles? Newsletter, Newsletter und noch mehr Newsletter. Mitarbeitereintrittsblatt, Gehaltsdatenblatt, Mitarbeiteraustrittsblatt – was zum Teufel ist das? Das muss ich mir später erklären lassen. Jetzt erstmal einen Kaffee holen!

Sie stellte die Tastensperre ein und begab sich auf den Weg zur Küche. Unterwegs kam ihr Theodora entgegen.

„Es wäre gut, wenn du dich beeilst. Ich möchte, dass du gleich bei einem wichtigen Call dabei bist“, rief sie ihr im Vorbeilaufen zu.

Valentina wollte Theodora erklären, dass sie dafür keine Zeit hatte, da sie sich auf den Termin mit Sebastian und Tommy vorbereiten musste, hielt dann aber inne, denn der Gang war nicht der passende Ort, um das näher mit ihr zu besprechen.

Kaffee. Kaffee. Kaffee. Dann sieht die Welt gleich wieder besser aus!

In der Küche war niemand. Umso besser, dann kann ich nicht aufgehalten werden. Sie wollte unbedingt vermeiden, völlig unvorbereitet in das Meeting zu gehen und sich bis auf die Knochen zu blamieren. Aus dem Regal holte sie sich eine Tasse, ging zur großen Pumpkanne und drückte fest. Plötzlich knirschte es.

Das darf doch nicht wahr sein! Theodora scheint eine besonders nette Kollegin zu sein, die einfach die leere Kanne stehen lässt und keinen neuen Kaffee aufsetzt! Ausgerechnet jetzt, fluchte Valentina innerlich. Okay, es nützt nichts. Ich koche neuen…

Sie bückte sich, um alle Schubladen nach Kaffeepulver und Filtertüten zu durchsuchen. In dem Moment öffnete sich die Küchentür, was Valentina nicht bemerkte. Sie wühlte weiter in sämtlichen Schränken herum. Als sie unerwartet eine Berührung an ihrem Rücken spürte, schrak sie zusammen und ließ die Teepackung fallen, die sie gerade in der Hand gehalten hatte.

„Verdammter Mist“, stieß sie laut hervor. Im selben Moment fasste sie sich wieder und ruderte zurück. „Tut mir leid! Ich bin nur so schreckhaft und hatte nicht gehört, dass jemand hereingekommen ist.“

„Ich wollte Sie nicht erschrecken. Sie sind die Neue in der Personalabteilung, richtig? Mein Name ist Falk Sonnenberg.“

„Hallo! Ich bin Valentina Adelsberger. Angenehm.“ Sie wollte ihm die Hand geben, doch Falk bückte sich bereits, um die Teebeutel aufzusammeln, die aus der Packung gefallen waren. „Das ist nett! Vielen Dank!“

Als er sich aufrichtete, kam er ihr nah. Für ihren Geschmack eindeutig zu nah. Sie wich automatisch einen Schritt zurück.

„Können Sie mir sagen, wo die Filtertüten und das Kaffeepulver sind?“

„Wollen wir uns nicht lieber duzen?“

Erneut ging er näher auf Valentina zu. Sie wollte deshalb noch einen Schritt zurück gehen, doch bemerkte plötzlich den Schrank hinter sich.

In dem Moment ging die Tür auf und Tommy trat ein. Er blieb für einen Augenblick stehen und schaute die beiden irritiert an.

„Guten Morgen, Tommy! Alles klar? Der Kaffee ist leider leer. Wir kochen gerade neuen“, sagte Falk mit einem schmierigen Grinsen.

Valentina tat so, als wäre nichts vorgefallen. Das war aus ihrer Sicht die beste Taktik in dieser unangenehmen Situation.

„Wo ist denn nun das Kaffeepulver?“, wollte sie erneut wissen.

„Das steht dort oben neben den Gläsern.“ Tommy zeigte in die Richtung.

Hätte ich das nicht gleich sehen können? Dann wäre mir diese Situation erspart geblieben! Sie versuchte, weiterhin cool zu bleiben.

Der Tag hatte bescheiden angefangen und sich nun so fortgesetzt. Valentina blickte auf ihre Uhr. „Was? Es ist schon viertel vor zehn!“, stellte sie mit Erschrecken laut fest. Hatte jemand an der Uhr gedreht?

„Wir haben gleich den Termin zusammen“, bemerkte Tommy. „Sebastian hat ihn gerade um eine Dreiviertelstunde vorverlegt.“

Wie bitte? Vorverlegt? Sie hatte noch nicht einmal in die Unterlagen geschaut. Sie erinnerte sich zwar, dass es nur wenige Seiten der Präsentation waren, die sie sich ansehen sollte, aber sie hatte überhaupt keinen Schimmer, wie umfangreich vielleicht jeweils eine einzelne Seite war. Sie hatte keine Zeit, hier länger herumzustehen und Kaffee zu kochen, zumal ihr dieser schmierige, unangenehme Falk schon jetzt auf die Nerven ging. Sie hoffte, mit ihm keine weiteren Berührungspunkte zu haben. Wer war er überhaupt und in welcher Abteilung arbeitete er? Das zu fragen, wäre jetzt äußert ungünstig.

Tommy schien zu bemerken, dass Valentina unruhig wurde. Er nahm ihr daraufhin das Kaffeepulver aus der Hand. „Du gehst jetzt zurück an deinen Platz und bereitest dich vor! Ich koche den Kaffee und bringe dir auf dem Rückweg eine Tasse vorbei. Okay?“

Ein sinnvoller Vorschlag und das von einem Mann, schoss es ihr durch den Kopf. Sie nickte nur.

„Schwarz, weiß oder süß?“, fragte er.

Sie lächelte ihn an und antwortete: „Weiß und vielen Dank!“, bevor sie die Küche verließ. Falk würdigte sie keines weiteren Blickes.

Schon von weitem sah sie Sebastian in ihrem Büro stehen. Er wartete hoffentlich nicht auf sie. Sie kannte Theodora zwar noch nicht, aber sie hatte ihm bestimmt brühwarm erzählt, dass sie seit einer gefühlten Ewigkeit in der Küche verschwunden war und das, obwohl ihr Theodora vorher ausdrücklich gesagt hatte, dass sie sich beeilen sollte.

Mist. Mist. Mist.

„Hallo, Sebastian! Tut mir leid! Irgendwie läuft heute alles schief.“

Er schaute sie fragend an. Hatte Theodora doch nichts gesagt? Sie war direkt in eine Rechtfertigungshaltung gesprungen.

„Was ist denn los?“, wollte er nun von ihr wissen.

„Ach, ich will nicht herumlamentieren. Es gab ein kleines Malheur in der Küche und eigentlich wollte ich längst die Unterlagen durchgesehen haben. Das mache ich jetzt sofort. Theodora, es tut mir leid, wir haben gleich einen Termin, weshalb ich leider nicht an dem Call teilnehmen kann.“ Manchmal war es besser, in die Offensive zu gehen und die Dinge selbst anzusprechen.

„Der Call ist sowieso schon vorbei. Es wäre gut gewesen, aber scheinbar kannst du nicht die richtigen Prioritäten setzen“, antwortete Theodora ihr schnippisch.

Oh. Oh. Oh. Jetzt geht es aber los! Darauf werde ich mich nicht einlassen! Jedes weitere Gespräch kostet mich wertvolle Zeit.

„Theodora, reiß dich bitte zusammen!“, griff Sebastian ein. „Die Calls finden wöchentlich statt und dauern keine fünfzehn Minuten. Valentina hat sicher nichts verpasst und wird ab nächster Woche daran teilnehmen. Wir haben gleich ein wichtiges Meeting. Daher lass sie jetzt bitte in Ruhe!“ Er drehte sich um und verließ das Büro.

Valentina entsperrte ihren Bildschirm und ging wieder in ihr E-Mail-Postfach.

Oh, schon wieder zehn neue Mails. Was ist denn hier los? Schnell alles durchklicken. Das Meeting wurde tatsächlich verlegt.

Sie blickte auf die rechte Ecke ihres Computers, um sich noch einmal die Uhrzeit vor Augen zu führen. Noch zwanzig Minuten. Gibt es sonst noch Mails, die mit dem Meeting zu tun haben? Oh ja, da ist noch etwas! Wieder eine Mail von Sebastian. Clemens Wolkert wird am Meeting teilnehmen. Auch das noch! Einer der Geschäftsführer. Noch ein Grund mehr, dass das auf keinen Fall in die Hose gehen darf!

Plötzlich stand Tommy mit einer Tasse Kaffee an der Tür. Valentina ging zu ihm und nahm sie entgegen. „Vielen lieben Dank!“ Sie deutete in Richtung ihres PCs. „Ich muss weitermachen. Wir sehen uns gleich! Danke nochmal!“

Sie ignorierte den Spruch, den Theodora vor sich hin genuschelt hatte, etwas in der Art wie: „Zeit für einen Kaffee hast du also noch…“

Improvisieren! Das war das Einzige, was ihr übrigblieb. Das hatte sie schon öfter tun müssen und es war immer glimpflich ausgegangen. Sie konnte sich gut verkaufen und selbst, wenn sie über etwas nicht gut Bescheid wusste, konnte sie zumindest so tun, als ob sie voll im Thema war.

Sie öffnete endlich die Präsentation und erschrak. Ihr Horrorszenario hatte sich tatsächlich bewahrheitet. Das war keine Präsentation im klassischen Sinne, wo man versuchte, das Publikum durch möglichst wenig Text davon abzuhalten, alles mitzulesen. Nein, im Gegenteil: Es war ein riesiger Roman in der kleinsten Schriftgröße, die es gab. Sie würde es niemals schaffen, das alles noch zu lesen. Die vielen kleinen Tabellen, die unzähligen Fußnoten und Verweise…

Wieso war das alles so verdammt unübersichtlich? Wer hatte sich das bloß ausgedacht?

***

Theodora lehnte an der Wand und schaute zu Antonia, die sich mit ihrem Stuhl zu ihr gedreht hatte. Max und Patricia waren in der Marketingabteilung, um den Report, den sie gestern am späten Abend schließlich final mit Sebastian abgestimmt hatten, nun auch noch optisch verschönern zu lassen. Theodora war, nachdem sich Valentina zu ihrem Termin aufgemacht hatte, zu Antonia ins Büro nebenan gegangen.

„Ich finde sie komisch“, begann Antonia sofort. Sie überschlug ihre langen Beine und betrachtete ihre knallroten Fingernägel. An einer Stelle war etwas vom Nagellack abgeblättert. Das musste vorhin passiert sein, als sie an einem der Ordner zugange gewesen war. Mist! Wie sieht das denn aus?, fragte sie sich besorgt.

„Ich glaube, sie hält sich für etwas Besseres“, begann nun auch Theodora. „Heute Morgen habe ich ihr gesagt, dass sie sich beeilen soll, damit sie an dem Call teilnehmen kann. Aber was hat die feine Dame gemacht? Sie war ewig in der Küche verschwunden und dann kam Tommy zu ihr und hat ihr eine Tasse Kaffee gebracht! Was hältst du davon?“

Antonia blickte von ihren Nägeln nach oben und kniff die Augen zusammen. „Wie bitte? Tommy hat ihr einen Kaffee gebracht?“

Theodora nickte zustimmend. „Bestimmt denkt sie, dass sie hier besonders schnell vorankommt, wenn sie sich diesen Evans krallt!“

Antonia war für einen Moment sprachlos. Das konnte nicht wahr sein. Tommy hatte ihr noch nie einen Kaffee gebracht. „Diese Schlampe!“ Sie war entsetzt und hatte deshalb auch nicht bemerkt, dass Patricia und Max bereits zurückgekommen waren.

„Was ist denn hier schon wieder los?“, wollte Max wissen.

Theodora stieß sich mit ihrem Fuß von der Wand ab, um wieder aufrecht zu stehen. „Das geht dich überhaupt nichts an! Misch dich nicht in unsere Angelegenheiten ein!“ Sie wandte sich wieder an Antonia: „Bis nachher, Süße! Wir sehen uns in der Pause.“

***

Valentina stand vor der Tür des Konferenzraums ‚Maintower‘. Sie blickte sich um und las ‚Trianon‘, ‚Pollux‘, ‚Tower 185‘ und ‚Nextower‘. Alle Räume waren nach Frankfurter Hochhäusern benannt. Auf dem Maintower gab es eine wunderschöne Aussichtsplattform in der sechsundfünfzigsten Etage, dachte sie. Dort hatte sie schon öfter ihre Sonntagnachmittage verbracht, aber das spielte jetzt überhaupt keine Rolle.

Sie wollte das Meeting endlich hinter sich bringen. Vielleicht würde es gar nicht so schlimm werden. Sebastian hatte sie gerade angerufen, um ihr zu sagen, dass er sich verspätete. Sie hatte sich deshalb allein zu den Konferenzräumen in der elften Etage begeben. Sie holte noch einmal tief Luft, bevor sie an die Tür klopfte. Kurz darauf trat sie ein. Sie war erleichtert, denn es war noch niemand da. Sie legte ihre Sachen ab und schaute sich um. Durch die riesigen Glasfenster, die bis zum Boden reichten, hatte sie eine traumhafte Sicht über die Stadt.

Als wenig später die Tür aufging, schrak sie kurz zusammen. Ein grauhaariger, älterer Mann kam herein. Er telefonierte, weshalb er Valentina nur freundlich zunickte. Clemens Wolkert.

Valentina holte Getränke und Gläser von einem Sideboard. Sie überlegte, noch einen Kaffee zu trinken, entschied sich aber dagegen. Koffein machte sie zwar munter, aber bei zu hoher Dosierung auch nervös und das war das Letzte, das sie jetzt gebrauchen konnte. Schließlich nahm sie Platz und ging noch einmal die Unterlagen durch. Im Groben hatte sie verstanden, worum es ging. Ab und zu warf sie einen unauffälligen Blick zu Clemens Wolkert. Er sah genauso aus wie auf dem Foto, das auf der Stina-Homepage veröffentlicht war.

Es klopfte an der Tür. Kurz darauf trat Tommy ein, begrüßte Wolkert mit einem Kopfnicken und steuerte auf den Tisch zu, an dem Valentina saß.

„Sebastian verspätet sich noch etwas. Ich habe ihn gerade unten getroffen.“ Er griff nach einem Glas. „Magst du auch ein Wasser?“

„Ja, gerne. Hat er gesagt, wie lange es ungefähr noch dauert?“

Tommy befüllte zwei Gläser, drehte die Flasche wieder zu und reichte Valentina ein Glas. „Wir sollen ohne ihn anfangen. Das schaffen wir schon!“

Ohne Sebastian anfangen? Er hat kein einziges Mal mit mir darüber gesprochen. Natürlich hatte er gestern gesagt, dass es darum ginge, dass sie den Finanzbereich übernehmen soll und dass es daher Sinn machen würde, ein Meeting mit Tommy, dem Teamleiter, anzusetzen, damit man sich kennenlernen und ein paar Dinge besprechen könnte. Heute Morgen hieß es plötzlich, dass unverhofft auch Clemens Wolkert am Meeting teilnehmen würde, um sich ein aktuelles Bild zu machen. Sebastian hatte ihr eine Präsentation geschickt, die sie sich anschauen sollte und die, wie sie danach festgestellt hatte, wenig mit dem ursprünglichen Gedanken, man trifft sich unverbindlich und tauscht sich aus, zu tun hatte. Denn es ging in der Präsentation um eine neue Software, die kurzfristig eingeführt werden sollte.

Sebastian hätte wenigstens heute Morgen, als er in meinem Büro stand, kurz mit mir darüber sprechen können, ärgerte sich Valentina. Obwohl sie nun ein paar Zahlen und Fakten aus der Präsentation kannte, würde sie nicht viel dazu beitragen können. Dann hörte sie eben nur zu und würde Tommy das Reden überlassen.

„Guten Morgen zusammen“, riss Wolkert sie aus ihren Gedanken. „Sorry für die Verzögerung! Das war ein wichtiger Anruf. Ich bin Clemens Wolkert.“

Valentina war aufgestanden und er war um den Tisch herum auf sie zugegangen, um ihr die Hand zu geben. „Herzlich willkommen bei Stina, Frau Adelsberger!“

„Guten Tag, Herr Wolkert! Vielen Dank!“, antwortete Valentina kurz.

„Wo ist Sebastian?“, wollte Wolkert wissen.

„Ihm ist etwas Wichtiges dazwischengekommen. Wir sollen schon anfangen. Er kommt später nach“, antwortete Tommy.

Wolkert lief zum Sideboard und schenkte sich einen Kaffee ein. Mit seiner gefüllten Tasse kam er anschließend zurück. „Gut, kein Problem! Frau Adelsberger wird seinen Teil übernehmen.“

Valentina wurde immer nervöser. Welchen Teil sollte sie übernehmen? Sie wusste doch selbst nicht genau, worum es hier ging.

Improvisieren. Improvisieren. Improvisieren, rief sie sich erneut ins Gedächtnis. Sie packte das, redete sie sich gut zu.

„Dann fangen wir an! Wollen Sie direkt loslegen, Frau Adelsberger?“

Valentina schaute ihn irritiert an. Sie fühlte sich wie in einem falschen Film.

„Ich fange besser an“, hörte sie Tommys rettende Worte. „Frau Adelsberger hatte gestern ihren ersten Arbeitstag. Sie hatte noch keine Gelegenheit, so viel über uns zu erfahren.“

„In einem Tag kann man viel lernen, wenn man effizient arbeitet. Aber gut, dann fangen Sie an, Herr Evans.“

„Wir haben uns folgenden zeitlichen Ablaufplan für die Einführung der neuen Software überlegt.“ Tommy stand auf und ging auf das Flipchart zu. „Offizieller Start ist der erste Mai. Wir werden bis dahin sämtliche Analysen abschließen. Ich muss zugeben, dass das sehr knapp wird. Mit der aktuellen Besetzung und dem sowieso bereits sehr hohen Arbeitsumfang wird das kaum zu schaffen sein, aber dafür ist ja nun Frau Adelsberger hier.“ Er lächelte sie kurz an.

Okay, ich soll also neues Personal für die Umsetzung dieses Projektes rekrutieren. Es ist Anfang März, das kann ich rechtzeitig schaffen.

„Mit Stand heute kann ich sagen, dass wir alles aus unserem alten System auch in der neuen Software abbilden können. Das neue Finanzmodul verfügt darüber hinaus über unzählige Berichtsfunktionen, die wir bisher nicht hatten und die uns sehr nützlich sein werden. Wir werden einen großen Sprung in den Bereichen Kreditoren und Reisekosten machen und die aktuellen Prozesse deutlich verbessern und beschleunigen können. Uns wird eine Testdatenbank zur Verfügung gestellt. Diese sollte dann von einem ausgewählten Mitarbeiterkreis bis ins kleinste Detail geprüft werden. Zum einen schulen wir diese Mitarbeiter damit bereits im Umgang mit der neuen Software und zum anderen können wir die letzten Fehlerquellen ausräumen und vor allem die Praktikabilität testen. Das sollte bis Ende Juni abgeschlossen sein.“

Tommy zog mit einem blauen Flipchartmarker eine Linie, markierte am Anfang der Linie einen dicken Punkt, über den er den 1.5. schrieb. Einen zweiten Punkt betitelte er mit dem 30.6.

„Danach werden alle bestehenden Daten konvertiert und in die neue Software übertragen. Im Anschluss müssen erneut Tests gemacht werden. Ich bin mir sicher, dass das nicht reibungslos ablaufen wird. Das ist unmöglich, denke ich! Die offizielle Live-Schaltung sollte zum ersten August erfolgen. Ein Großteil der Außendienstmitarbeiter muss anschließend geschult werden, damit sie wissen, wie sie zukünftig ihre Spesen abrechnen können. Und meine Mitarbeiter müssen wiederum in der Bearbeitung der Eingangsrechnungen geschult werden. Das Ganze muss bis Ende September erfolgt sein, also unbedingt vor Beginn der Geschäftsplanung für 2020 und vorm Jahresabschluss.“

Er ergänzte die beiden Daten, den 1.8. und 30.9., schloss den Marker und drehte sich zu Valentina und Clemens Wolkert um. Sie hatten ihm aufmerksam zugehört.

„Das ist ein straffes Programm, Herr Evans! Sie müssen bedenken, dass jede Softwareeinführung mit unerwarteten und vor allem nicht immer sofort lösbaren Problemen verbunden ist. Glauben Sie mir, ich habe schon einige Einführungen begleitet. Der Zeitplan klingt aber erstmal vernünftig. Feinheiten müssten wir gegebenenfalls nochmals abstimmen. Letztendlich bleibt uns aber sowieso nichts anderes übrig, denn die Entscheidung ist längst gefallen und es geht nur noch um die Umsetzung. Allerdings darf der Jahresabschluss auf keinen Fall gefährdet werden! Sie wissen, Herr Evans, was das für uns sonst bedeuten würde! Frau Adelsberger, nun sind Sie gefragt! Ich würde gerne das Konzept der Personalabteilung hören, was geplant ist, wie wir Engpässe überbrücken und das Bestandspersonal mit weiteren Fachkräften aufstocken, welche Kosten auf uns zukommen und wie die Umsetzung erfolgen soll.“

Valentina schluckte. Hatte sie gestern irgendwann einen wichtigen Teil verpasst? Wann hatte Sebastian auch nur eine einzige Silbe hiervon erwähnt? Sie verstand die Welt nicht mehr. Sebastian hatte mit Sicherheit bereits ein Konzept ausgearbeitet. Sie konnte sich nicht irgendetwas aus den Fingern saugen, wovon Sebastian gar nichts wusste. Doch sie wollte Clemens Wolkert auch nicht antworten, dass sie völlig umsonst hier gesessen und von all dem keine Ahnung hatte. Das wäre ihr auch vor Tommy unangenehm. Sie musste sich daher zusammenreißen und versuchen, so pragmatisch wie möglich an die Sache heranzugehen. Sie holte noch einmal tief Luft, bevor sie schließlich loslegte.

„Als allererstes würde ich mir gerne einen Überblick darüber verschaffen, welche Mitarbeiter in welchen Teilbereichen arbeiten und wie die tatsächlichen Kapazitäten sind. Im Anschluss daran sollten wir Mitarbeitergespräche führen und die Karten gegebenenfalls neu mischen, das heißt, manche Mitarbeiter vielleicht in anderen Bereichen einsetzen, unter Berücksichtigung ihrer Qualifikationen und Präferenzen. Dann sollten wir die besten Mitarbeiter auswählen, die das Kernteam bilden, von dem Herr Evans gesprochen hat. Ich denke, dass wir uns hierbei nicht nur auf die fachlichen Qualifikationen stützen, sondern eventuell auch eignungsdiagnostische Verfahren in Betracht ziehen sollten, um die Mitarbeiter mit den idealen Verhaltenstendenzen herauszufiltern.“

Valentina bemerkte die fragenden Blicke der beiden und reagierte prompt mit einer Erklärung. „Jede Position ist anders und nicht jeder Mitarbeiter ist für jede Tätigkeit geeignet. Das ist völlig normal. Ich glaube, dass wir für dieses Projekt Mitarbeiter benötigen, die sachlich an Aufgaben herangehen, ganz klare Strukturen zum Arbeiten brauchen, gerne Vorgegebenes akkurat abarbeiten und sich an Regeln halten. Was wir für dieses Projekt nicht brauchen, sind Mitarbeiter, die lieber im Mittelpunkt stehen und ihre Ziele über die Steuerung und Beeinflussung anderer oder über ihre Dominanz erreichen wollen. Das sind Menschen, die zum Beispiel für Vertriebs- oder Verkaufspositionen geeignet sind, aber eben nicht für die Einführung einer standardisierten Software. Mit einem bestimmten Testverfahren können wir die geeigneten Mitarbeiter aus dem Team dafür herausfiltern.“

Sie blickte zu Clemens Wolkert, der nun nickte. Er schien verstanden zu haben, worauf sie hinauswollte. Auch Tommy sah so aus, als ob er keine Fragen dazu hatte. Valentina war während des Redens aufgestanden und hatte sich ans Flipchart gestellt. Eigentlich mochte sie es nicht, zu sehr im Mittelpunkt zu stehen, aber sie hatte es für angebracht gehalten, wie Tommy nach vorne zu gehen. Sie bemerkte, wie er sie die ganze Zeit konzentriert anschaute.

„Wichtig dabei ist, dass diese Mitarbeiter klare Ansagen und eine starke Führung bekommen. Menschen mit den beschriebenen Verhaltenstendenzen brauchen das, um gut arbeiten zu können. Außerdem müssen wir sie unterstützen, sei es mithilfe von Unterlagen oder Sonstigem. Da wir den Test sowieso mit allen Mitarbeitern machen müssten, können wir die Ergebnisse daraus auch gleichzeitig für eine Neuausrichtung des Teams nutzen, um alle Mitarbeiter mittelfristig effizienter einzusetzen. Je nachdem, wo dann Vakanzen entstehen, können wir später entscheiden, ob wir das Team dauerhaft durch feste Neueinstellungen erweitern oder über Interimsmanagement eine Übergangslösung schaffen.“

Valentina war damit für ihren Teil fertig. Sie hatte versucht, so allgemeingültige Aussagen wie möglich zu treffen, um nicht Sebastians Konzept, sollte er überhaupt eines haben, in irgendeiner Weise zu widersprechen.

Clemens Wolkert kratzte sich am Kinn, während Valentina zurück an ihren Platz ging. „Das hört sich sehr durchdacht an, Frau Adelsberger! Ihr Konzept gefällt mir! Sie sind gerade erst einen Tag an Bord und können daher sicher noch keine konkreten Zahlen vorlegen, aber Sie werden diese in den nächsten Tagen mit Herrn Evans ausarbeiten und mir bitte zukommen lassen.“

Tommy schaute zu Valentina und zwinkerte ihr zu.

„Das sollten wir hinbekommen, Herr Wolkert“, antwortete er ihm darauf.

***

„Es war gut, dass du dich an mich gewandt hast. Ich werde der Sache auf jeden Fall nachgehen!“

„Danke, Sebastian! Normalerweise ist es nicht meine Art, Kollegen zu verpfeifen, aber das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Holger tut mir in der Hinsicht einfach leid!“

„Du brauchst dir keine Gedanken zu machen! Wir dulden kein Mobbing in unserer Firma. Das ist ganz klar und ich werde daher auch unsere Compliance-Abteilung involvieren.“

Sebastian schaute auf seine Uhr. Es war viertel nach elf. Das Meeting lief seit knapp einer Stunde. Er dachte an Valentina und hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sie so unvorbereitet dorthin geschickt hatte. Das konnte nicht gut für sie gelaufen sein, war er sich sicher. Sie hatte schließlich nur einen Blick auf die Präsentation werfen können und von ihm keine weiteren Infos erhalten. Kein guter Start für sie. Und daran war allein er schuld.

Das war nicht so geplant gewesen, aber Alexander Reindl aus der Abteilung Customer Care hatte unverhofft ein Gespräch mit ihm erbeten. Da es wichtig geklungen hatte, hatte er es kurzfristig dazwischengeschoben. Dummerweise hatte es sich nun in die Länge gezogen, denn es waren dabei einige unschöne Erkenntnisse zum Vorschein gekommen. Ein richtiger Compliance-Fall, den Sebastian nicht so hinnehmen durfte und der weitere Untersuchungen erforderte. Holger Baumann, der seit vielen Jahren als Aushilfe in Alexanders Abteilung arbeitete, wurde scheinbar permanent von ein paar Kollegen vorgeführt und schikaniert. Falk Sonnenberg aus der Finanzabteilung schien dafür verantwortlich zu sein, da er ständig andere dazu ermunterte und anstachelte.

„Vielen Dank für deine offenen Worte! Ich habe jetzt einen Termin.“ Sebastian stand auf und suchte seine Unterlagen auf dem Schreibtisch zusammen.

Auch Alexander erhob sich, stellte seinen Stuhl zurück an den Tisch und ging auf die Tür zu. „Holger ist in der Tat ein komischer Kauz, aber es ist nicht fair, ihn so zu behandeln. Er hat es schon schwer genug im Leben.“

Sebastian nickte zustimmend. Er kannte Holger Baumann nicht persönlich, war ihm aber des Öfteren über den Weg gelaufen. Auch Sebastian war es nicht entgangen, dass Holger Baumann neben seinem ungewöhnlichen Kleidungsstil ein seltsames Verhalten an den Tag legte. Er war immer für sich allein, grüßte nie und versuchte, den Kontakt zu anderen möglichst zu meiden.

Wenig später fuhr Sebastian mit dem Fahrstuhl nach oben. Vielleicht konnte er das Ganze noch retten.

Am Konferenzraum angekommen, las er den Schriftzug ‚Maintower‘, klopfte und öffnete die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Hallo zusammen! Bitte entschuldigt, dass ich mich derart verspäte, aber es gab eine wichtige Angelegenheit, die ich nicht schneller lösen konnte. Ein Compliance-Fall“, erklärte er, um seine Entschuldigung glaubhafter zu machen. Er traute sich nicht, Valentina direkt anzuschauen. In seiner Rolle als Chef fühlte er sich ihr gegenüber sehr mies.

„Hallo, Sebastian“, begrüßte ihn Wolkert herzlich. „Schön, dass du noch dazukommst! Ich denke, dass wir so weit alles besprochen haben und auch ein gutes Stück vorangekommen sind. Ich kann dir auf jeden Fall gratulieren! Du hast mal wieder deine Kompetenz unter Beweis gestellt!“

Sebastian wusste nicht, was Wolkert meinte. Das musste er ironisch und mit Sicherheit in Bezug auf Valentina gemeint haben. Nun wagte er es doch, sie anzuschauen. Aus seiner Sicht sah sie nicht mitgenommen aus. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm gewesen. „Was meinst du, Clemens?“, hakte er zögerlich nach.

„Die Einstellung von Frau Adelsberger – ein echter Glücksgriff! Sie hat gute Ideen und uns sogar etwas zum Thema Eignungsdiagnostik geschult. Sehr spannend alles! Vielleicht hätte ich mich in meiner eigenen Laufbahn mehr mit Personalthemen beschäftigen sollen“, sagte er scherzhaft.

Sebastian verstand nach wie vor nicht, wovon er sprach, war aber erleichtert, denn scheinbar hatte Valentina die Kurve gekriegt. Eigentlich hätte er sich das auch denken können. Schließlich war er damals selbst nach nur wenigen Minuten in ihrem Vorstellungsgespräch von ihr überzeugt gewesen. Ihm hatte besonders gut gefallen, dass sie sehr professionell auftrat und auf alle Fragen eine Antwort fand. Ihm war klar gewesen, dass man sie gut für Projekte und Präsentationen einsetzen konnte und sie genau die Richtige war, um andere von neuen Ideen zu überzeugen. Wolkert schien das genauso zu sehen und Sebastian war in dem Moment richtig stolz.

„Das kann ich nur bestätigen!“, sagte Sebastian. „Ich bin mir sicher, dass wir mit Valentina einen guten Sprung nach vorne machen werden.“ Nun schaute er erneut zu ihr und lächelte sie an.

Valentina erwiderte sein Lächeln, obwohl sie nicht begeistert war, dass er sie mehr oder weniger ins offene Messer laufen lassen hatte. Sie wollte nicht nachtragend sein. Es war sicherlich keine Absicht gewesen.

„Gut, ich verabschiede mich jetzt. Ich muss zu meinem nächsten Termin.“ Clemens Wolkert schaute zuerst zu Tommy und anschließend zu Valentina. „Wir machen das wie besprochen. Sie stellen bis spätestens Mitte nächster Woche alle Informationen zusammen.“

Sebastian nutzte diesen Moment, um sich eine Tasse Kaffee zu holen.

„Dann wünsche ich allen noch einen schönen Tag! Sebastian, wir telefonieren?“

Sebastian drehte sich zu ihm um, nachdem er gerade drei Würfelzucker in seinen Kaffee geworfen hatte. „Ja klar! Ich melde mich.“

Wolkert verließ daraufhin den Raum und Sebastian kehrte zum Tisch zurück. Es war Zeit für eine Entschuldigung.

„Tut mir leid, Valentina! Das war nicht meine Absicht gewesen, dich so ins kalte Wasser zu werfen.“ Er zog einen Stuhl hervor und nahm Platz.

„Ich habe davon überhaupt nichts gemerkt und Herr Wolkert genauso wenig. Valentina war unglaublich professionell und sie hätte es nicht besser machen können“, lobte Tommy ihre Leistung.

Valentina lächelte. Sie war stolz auf sich, denn anders als ursprünglich vermutet, war das Meeting nun tatsächlich ein voller Erfolg geworden.

„Es war nicht halb so schlimm wie ich am Anfang vermutet hatte, aber es wäre trotzdem super, wenn wir beim nächsten Mal vorher ein paar Dinge besprechen könnten.“

Sebastian war von Valentina beeindruckt. Er dachte an seine anderen Mitarbeiter und hätte es keinem der anderen zugetraut, so etwas heil zu überstehen.

„Wow, du hast alle beeindruckt, Valentina! Das freut mich sehr, denn ich hatte ein ganz schlechtes Gewissen, als ich in dem anderen Termin festgesteckt habe. Wie hast du das gemacht? Ich meine, alles was du zur Verfügung hattest, war die Präsentation und darin waren nicht viele Infos enthalten, eigentlich nur Zahlen.“

Valentina zögerte einen Moment, bevor sie darauf antwortete. „Ich habe einfach das gesagt, was ich aus meiner Sicht für das Beste halte. Jetzt werden wir sehen müssen, was dein eigentliches Konzept beinhaltet und inwiefern das zu meinen Aussagen passt.“

„Darüber brauchst du dir keine Gedanken machen! Ich muss zugeben, dass mein Konzept noch nicht ausgereift war. Von daher freue ich mich, dass du mir die Arbeit abgenommen hast. Könnt ihr mir eine Kurzzusammenfassung geben, was ihr besprochen habt? Ach ja, Tommy, und dann muss ich mit dir über Falk Sonnenberg sprechen. Alexander aus der Customer-Care-Abteilung war bei mir und hat mir nichts Gutes über ihn erzählt.“

Tommy verdrehte die Augen. „Schon wieder Ärger mit ihm? Ich bin gespannt, was er diesmal angestellt hat.“

***

Kurz nach zwölf Uhr kam Valentina in ihr Büro zurück. Theodora war nicht da. Wahrscheinlich war sie bereits in der Pause. Sie ging kurz zur Toilette und schaute anschließend im Nachbarbüro vorbei, aber auch Antonia, Max und Patricia waren nicht da.

Sie sind bestimmt gemeinsam essen gegangen. Sie hätten mich ruhig fragen können, ob ich mitkommen möchte, dachte sie enttäuscht.

Sie verließ daraufhin ebenfalls das Büro, um sich eine Kleinigkeit zu Essen zu besorgen. Großen Hunger hatte sie nicht. Im Foyer des Gebäudes gab es ein paar Geschäfte. In der Bäckerei kaufte sie sich einen Salat. Kurze Zeit später saß sie wieder an ihrem Schreibtisch. Sie wollte am Platz essen und sich währenddessen ihren E-Mails widmen.

Nach etwa zehn Minuten lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, schob den Salat beiseite und ließ ihren Blick nach draußen schweifen. Ihr Schreibtisch stand direkt am Fenster. Das Wetter war heute größtenteils sonnig und der Ausblick von hier war sehr schön. Nur wenige Meter entfernt stand ein Wohnhaus. Valentina konnte von ihrem Platz aus direkt in die oberste Wohnung schauen. Diese schien sehr groß zu sein und musste sich über die gesamte Etage erstrecken. Die Fassade des Hauses, der Baustil und die bodenlangen Fenster ließen auf eine gewisse Exklusivität schließen.

Irgendwie seltsam, so zu wohnen, dachte sie. Sie würde sich dort vermutlich nicht wohlfühlen, denn Privatsphäre gab es in dieser Wohnung offensichtlich nur, wenn man die Rollläden oder Vorhänge komplett zuzog.

Valentina spähte in die einzelnen Räume. Über mehrere Fenster hinweg erstreckte sich ein sehr geräumiges Wohnzimmer, das in eine offene Küche überging. Die Einrichtung sah ebenfalls sehr hochwertig aus. Wer sich mitten in der Frankfurter Innenstadt eine Wohnung leisten konnte, musste auch Geld haben, schlussfolgerte sie.

Plötzlich tauchte eine Frau auf. Valentina wich sofort zurück. Sie fühlte sich nicht wohl dabei, in die Privatsphäre eines anderen Menschen einzudringen. Es reichte schon, dass sie ihrer Neugier nachgegangen war und sich die Wohnung genauestens angeschaut hatte. Andererseits musste die Bewohnerin damit rechnen, beobachtet zu werden. Schließlich lag es auf der Hand, dass man von mehreren Etagen des Bürogebäudes aus in ihre Wohnung blicken konnte. Und scheinbar hatte sie das nicht daran gehindert, trotzdem dort einzuziehen.

Valentina zögerte einen Moment, rückte dann mit ihrem Stuhl wieder näher ans Fenster und betrachtete die Frau genauer. Diese war groß, schlank und hatte lange blonde Locken. Sie war sehr hübsch, stellte Valentina fest. Die Unbekannte lief hin und her und schien dabei zu telefonieren. Mit ihrer freien Hand fuhr sie sich mehrmals durchs Haar.

Es vergingen ein paar Minuten. Valentina rührte sich nicht von der Stelle und starrte wie gebannt in die Wohnung. Als ob sie erwartete, dass gleich etwas passierte. Auf einmal blieb die Frau am Fenster stehen und schaute direkt in Valentinas Büro. Hatte diese etwa bemerkt, dass sie von ihr beobachtet wurde? Valentina rollte abrupt mit ihrem Stuhl zurück. Sie wollte auf keinen Fall gesehen werden.

Sie nahm ihren Salat und aß noch etwas davon, bevor sie die Schachtel schloss und in den Mülleimer warf. Ihre Mittagspause war damit beendet.

3

Der Wind fauchte heftig. Valentina hatte sich nach dem Losfahren geärgert, wieder das Fahrrad genommen zu haben, denn sie kam durch den starken Gegenwind nur langsam voran und musste ordentlich in die Pedale treten.

Egal, schob sie ihre negativen Gedanken beiseite, denn es war Freitag, sie hatte ihre erste Arbeitswoche fast überstanden und das Wochenende nahte.

Heute würde sie endlich Tobias Wanitzek kennenlernen. Sie hoffte, dass die Stimmung mit ihm endlich besser werden würde. Theodora hatte ihr die letzten Tage zwar immer wieder etwas gezeigt und erklärt, aber so richtig warm waren sie nicht miteinander geworden. Sie wusste nicht, woran das lag, denn sie ging offen auf Theodora zu, zeigte Taktgefühl und stellte sich nie zu sehr in den Vordergrund. Bisher war sie immer schnell mit neuen Menschen zurechtgekommen, aber mit Theodora und Antonia gelang ihr das nicht. Antonia schaute sie schon die ganze Woche bei jeder Gelegenheit schief an – zumindest kam es bei Valentina so an. Sie hatte immer noch das Gefühl, dass das mit Tommy zu tun haben musste. Sie konnte es sich nicht erklären.

Ist sie eifersüchtig, weil ich mit ihm zusammenarbeite?

Für sie war das ein Job – nicht mehr und nicht weniger. Man hätte ihr auch eine andere Abteilung übertragen können. Sie würde das genauso professionell machen, wie sie jetzt dieses IT-Projekt bearbeitete. Sie hatte sich vorgenommen, Theodora und Antonia noch etwas Zeit zu geben, damit sie sich an sie gewöhnen konnten. Wenn das alles nichts half, wollte sie sich die beiden in einer ruhigen Minute schnappen und sie offen darauf ansprechen. Valentina hatte es nicht nötig, sich bei anderen einzuschleimen, aber sie wollte zumindest auf professioneller Ebene mit allen gut klarkommen. Immerhin verbrachte man die meiste Zeit gemeinsam im Büro.

Heute würde sie sich erneut mit Tommy zusammensetzen und die ersten Ergebnisse mit ihm besprechen. Sie hatte es in den letzten Tagen tatsächlich geschafft, alle Lebensläufe durchzugehen und die Qualifikationen der Mitarbeiter mit den einzelnen Stellenprofilen abzugleichen. Die Finanzabteilung hatte insgesamt sechsunddreißig Mitarbeiter. Es gab die Bereiche Kreditoren, Debitoren, Reisekosten, Steuern und Controlling. Tommy war Direktor und gleichzeitig Teamleiter. Über ihm gab es hierarchisch gesehen noch den CFO, den Chief Financial Officer, Wolfgang Habig, den sie vor zwei Tagen auch persönlich kennengelernt hatte. Dieser beschäftigte sich jedoch nicht mit Personalthemen, weshalb Tommy die gesamte Verantwortung dafür trug. Valentina hatte sich immer wieder bei dem Gedanken ertappt, auch einen Blick in Tommys Personalakte zu werfen – Zugang dazu hatte sie schließlich – doch sie hatte sich zurückgehalten, denn sie wollte das Privileg, dass sie vom Geburtsdatum über das Gehalt bis zum Familienstand alles über ihn einsehen konnte, nicht für die Befriedigung ihrer Neugier ausnutzen. Sie argumentierte innerlich zwar damit, dass es auch einen Vorteil für ihre Zusammenarbeit hätte, wenn sie mehr über ihn wüsste, aber letztlich war ihr klar, dass das nur eine Ausrede war und sie eher aus persönlichem Interesse mehr über ihn erfahren wollte. Sie wollte nicht unfair sein, denn er konnte sich schließlich auch keine Informationen über sie besorgen. Sie ging zumindest stark davon aus.

Nach etwa zwanzig Minuten Fahrtzeit erreichte Valentina ihr Ziel. Sie stieg vom Fahrrad ab und versuchte, es so fest wie möglich anzuketten, damit es im Laufe des Tages nicht von dem heftigen Wind umgestoßen werden konnte. Sie beugte sich nach unten und warf einen prüfenden Blick auf den Reifen. Seit Dienstag hatte dieser zum Glück nicht mehr aufgemuckt. Auf ihrer Schulter spürte sie plötzlich eine Hand. Sie drehte sich um.

„Oh, guten Morgen, Tommy!“

„Guten Morgen, Valentina! Ich habe dich hoffentlich nicht erschreckt?“

„Nein, keine Sorge!“ Sie lächelte ihn kurz an und machte anschließend ihren Fahrradkorb ab, um ihn mit ins Büro zu nehmen.

„Ist mit deinem Rad alles in Ordnung?“ Er deutete auf den Reifen.

„Ich hatte an meinem zweiten Arbeitstag morgens einen Platten und kam daraufhin direkt zu spät. Jetzt ist aber wieder alles in Ordnung, denke ich.“

„Dann war dein zweiter Arbeitstag eine echte Herausforderung! An dem Tag hatten wir doch das Meeting mit Clemens Wolkert“, stellte er fest.

Die beiden liefen gemeinsam auf den Eingang des Bürogebäudes zu.

„So schlimm war es nicht“, sagte Valentina nüchtern.

Sie liefen durch das Foyer und fuhren anschließend mit der Rolltreppe eine Etage nach oben, um zu den Aufzügen zu gelangen.

„Es bleibt bei unserem Termin heute um vierzehn Uhr, oder?“, wollte Tommy wissen.

„Ja, klar! Ich habe auch schon erste Ergebnisse, die ich mit dir besprechen möchte. Ich denke, da gibt es wirklich Optimierungspotenzial.“

„Ich bin gespannt! Und ich bin übrigens sehr froh, dass du da bist!“ Er lächelte sie an. „Lass uns doch mal essen gehen! Ich sehe dich zur Mittagszeit meist allein in deinem Büro.“

Valentina hielt ihre Chipkarte an das Lesegerät, um den Fahrstuhl zu rufen. Mittagessen mit ihm?