Blinded by Sanctity - Francyne M. Foster - E-Book

Blinded by Sanctity E-Book

Francyne M. Foster

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Beschreibung

Düster. Verworren. Besonders! Willkommen am Sanctity College! Erlebe das aufregende Studentenleben hinter den Mauern dieser ehrbaren englischen Institution und des exklusiven Drake´s House, dem Stammhaus der Saints, Zutritt nur für Mitglieder. Die prestigeträchtige Gruppe der Saints hat ihre ganz eigenen, strengen Regeln. Als zukünftige Elite des Empire erwarten sie entsprechende Anerkennung und Respekt. Wer das Studium am Sanctity College erfolgreich zu Ende bringen will, sollte sich zwingend an diese Regeln halten. Doch am Sanctity ist nichts, wie es auf den ersten Blick scheint: Da haben wir die unnahbare Mia (Hermia), die sich nicht an gewisse Regeln hält. Colin, der Mia erobern möchte, aber eine Verlobte hat. Nathanael, der Mia das Leben schwer macht und nur darauf wartet, dass ihr ein Fehler unterläuft. Und dann sind da noch Blaisen und Payne, die eigentlich schon zu alt für das College sind! Aber warum sind sie dort? Zwar verbietet die College-Ordnung eindringlich nächtliche Besuche auf den Zimmern nach der Schließzeit, dennoch wird es eine abwechslungs- und vor allem lehrreiche Studienzeit werden... »Du bist die einzige Heilige hier, Hermia Hayworths.« »Nein, ich bin die größte Sünderin von uns allen.«

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Beliebtheit




Inhaltsverzeichnis

Trigger-Warnung

»Ich kriege dich schon rum, sture Nonne!«

Zwischen Gottesdienst, Halloween und dem ersten Kaffee

Doch, war ganz einfach.

Irene Adler und Sherlock Holmes

Arbeite an deinem Karma, Schnittchen!

Schon mal Sex auf dem Laufband gehabt?

Ich träume noch, oder?

Du bist nicht Romeo und ich nicht Julia!

Wirf sie vom Dach - Ende

Ich musste eine rauchen!

Ich werde in der Hölle landen!

Ach du heiliger Santa!

Auf den Geschmack gekommen

Schicksalspfad oder Pfad der Tugend?

Dämonische Elfe

Nur das zerwühlte Bett

Über die Autorin …

Trigger-Warnung

Willkommen am Sanctity College! Lasst euch nicht vom hellen Cover täuschen! Ja, es wird auch schöne, helle Momente geben. Aber im Laufe dieser Reihe steigen wir tiefer hinab in sämtliche Kreise, die die Hölle zu bieten hat. Missbrauch, explizite Sprache und Szenen warten auf euch. Mobbing und Suizidgedanken gehen damit einher.

Es empfiehlt sich, diese Reihe gar nicht erst zu beginnen, wenn ihr einige dieser Themen als verstörend oder nicht tragbar empfindet.

Bedenkt bitte, dass es sich um fiktive Geschichten handelt!

BEATA NOBIS GLORIA

DEDECUS AD DAMNATOS

INIMOCOS NOSTROS PERDERE

Ruhm uns Gesegneten

Ungnade den Verdammten

Verderben unseren Feinden

Wir waren die Saints.

Wir waren die Kinder von Saints.

Wir waren die Enkel von Saints.

Die Heiligen der Heiligkeit.

Tugendhaft, frei von Sünde, moralische Vorbilder.

Und doch waren wir nichts davon…

Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen

Stein auf sie.

Ja, das würden wir – ohne schlechtes Gewissen und

Reue.

Wir würden sie steinigen – mit der Gewissheit, dass wir

definitiv gesündigt haben und es auch weiterhin tun

werden.

Kapitel 1 »Ich kriege dich schon rum, sture Nonne!«

Ich war eine Saint. Eine Heilige. Gesegnet, beachtet und ein Vorbild. Dazu verdammt, ein Leben mit Ruhm und Ehre zu füllen. Nur war am Sanctity College niemand heilig und Vorbilder suchte man hier wohl vergeblich. Zumindest sollte man sich an denen kein Beispiel nehmen, wenn man nicht mit 25 Jahren im Knast landen wollte. Bis auf den Namen hatte dieses College nichts mit Heiligkeit zu tun. Ich glaubte weder an Gott noch an irgendetwas sonst. Ich wurde als Hermia Hayworths geboren und würde als ebendiese sterben. Daran war nichts Besonderes und mit Prestige hatte das ebenfalls nichts zu tun. Der Name meines Vaters hatte mich zur Heiligen gemacht. Und sein Name war durch Geld gemacht worden – Investitionen, Geldanlagen, strategische Käufe und Verkäufe und die Führung unseres Familienunternehmens Hays Inc. Mein Dad war ein gerissener Geschäftsmann, der manchmal ein Arschloch sein konnte und sein Unternehmen mit eisigem Kalkül leitete. Vielleicht sollte ich nicht meckern, immerhin ermöglichte es mir meinen Lebensstandard, auch wenn sich dieser noch deutlich von dem der anderen Saints unterschied. Mein Löffelchen im Hintern war zwar vergoldet, aber bei so manchen waren darin noch glitzernde Juwelen eingefasst. Für ein Studium am Sanctity College würden andere ihre Kinder verkaufen, nur um hier selbst noch einmal einen Hörsaal betreten zu dürfen. Das Leben war schon mehr als… bequem. Zumindest für uns Saints. Das waren nicht alle am College, sondern nur die mit den wichtigen Eltern und richtigen Nachnamen. Am College studierten um die 200 Studenten, davon waren ungefähr 30 Heilige – mich eingeschlossen. Wir Saints hatten unser eigenes kleines Anwesen – Drake’s House, das lag etwas abseits vom eigentlichen Campus. Der alte Kasten war im Winter kaum warm zu bekommen, dafür waren die Sommermonate wiederum recht angenehm kühl. Jeder hatte ein Einzelzimmer mit Bad – und nein, das war selbst an teuren Colleges kein Standard. Sonst war mein Zimmer ungefähr so groß wie ein Schuhkarton für Winterstiefel. Ich war in meinem vierten Trimester, also Anfang meines zweiten Studienjahres, und hatte keinen Schimmer, was ich mit meinem Leben anstellen sollte. Ich studierte – wie auch mein Vater und mein Bruder Liam vor mir – Wirtschaft und das genau aus dem Grund, weil sie es bereits studiert hatten. Außerdem lagen mir Zahlen ganz gut, weswegen Rechnungswesen auch das einfachste, zugleich aber langweiligste Studienfach für mich war und das, obwohl ich ein Studienjahr in dem Fach hatte überspringen dürfen. Mein Dozent Professor Brown wusste nie, was er mit mir anstellen sollte. Und bei ebendiesem hatte ich meine nächste Vorlesung, die in zehn Minuten beginnen sollte.

Unser Campus war recht komfortabel aufgebaut: Alle Hörsäle, Büros und der ganze Verwaltungstrakt waren in der Church untergebracht. Nein, damit war keine Kirche gemeint. Das Gebäude hieß so, weil tatsächlich in der Mitte eine Chapel stand, an die, über die Jahrhunderte hinweg, andere Trakte und Räume gebaut worden waren. Das sah zwar recht stylisch aus, kam aber für Neuankömmlinge einem Besuch in Hogwarts gleich. Alles war recht verwinkelt, mit zig Treppen, die scheinbar ab und an ins Nichts verliefen. Und da die Chapel wirklich noch als Kirche genutzt wurde, wie zum Beispiel für die täglichen Gottesdienste, durfte man natürlich nicht einfach durchlaufen, sondern musste immer außen entlang. Das hieß, dass man so einige Treppen hinauf und auch wieder hinunter musste, um vom Westflügel in den Ostflügel zu kommen. Der Irrgarten war aber manchmal gar nicht so verkehrt, wenn man jemanden hinter sich abschütteln wollte und dieser Jemand war bei mir meistens – nein, fast immer – Colin St. Patrick. Der Sohn von George St. Patrick war… tja, wie sage ich das am besten?

Colin war und blieb für die meisten Mädchen hier ein laufendes Sextoy. Für mich war und blieb Colin der Grund, warum mir schlecht wurde. Mal ernsthaft, am Sanctity studierten um die 80 bis 100 Mädchen. Von denen wiederum hatten mindestens 70 Weiber seinen Schwanz im Mund gehabt. Die restlichen waren entweder inoffiziell lesbisch, hässlich oder ich. Ob Colin gut aussah? Verflucht, ja, das tat er! Es war widerlich, wie gutaussehend er war. Nur wusste er das, auch dass er eine Granate im Bett war. Das konnte ich nicht bestätigen, schließlich habe ich nicht mit ihm verkehrt – zu seinem Bedauern.

Aber die Mädchen, die er ›beglückt‹ hat, schwärmten jedes Mal von ihm. Mir könnte man Colin nackt auf den Bauch binden, bis auf Sodbrennen würde sich bei mir nichts regen. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, mir ständig auf die Nerven zu gehen und zu betteln. Ja, wirklich, er war mittlerweile so weit, dass er bettelte.

»Mia!«, hörte ich es hinter mir. Beim Klang der Stimme wurde ich auf der Treppe hoch nicht langsamer, sondern schneller. Wenn man vom Teufel sprach! Colin war leider auch ein Saint, also hatte ich ihn automatisch an der Backe. Bei den Mahlzeiten, in einigen Vorlesungen und das gleiche House teilten wir uns selbstverständlich auch. Wie viele Mädchen wohl gern mit mir tauschen würden?! Die Ironie an der Geschichte war, dass er eigentlich bereits versprochen war – an Virginia Morgan. Das war seine Auserwählte – also die Wahl seiner Eltern, nicht seine. Ihre schon. Virginia hatte letztes Jahr mit mir hier angefangen, Colin war ein Jahr über uns und ja, ich war wirklich überrascht gewesen, als sie mir ihren Verlobten vorgestellt hatte. Wenn ich so zurückdachte, schien er ebenfalls sehr überrascht gewesen zu sein. Seltsam, oder? Virginia und ich waren gerade mal knappe 19. Da dachte ich ganz sicher nicht ans Heiraten und so einen Freak wie Colin erst recht nicht!

»Mia! Bleib doch mal stehen, verdammt!« Nope, würde ich sicher nicht. Colin hatte mit mir zusammen Rechnungswesen, ergo musste ich ihn bereits die nächsten anderthalb Stunden ertragen – das musste ich nicht unnötig verlängern. Ich stieg die letzten Stufen hoch, die Vorlesungen bei Prof. Brown waren im Nordflügel unterm Dach. Es roch hier immer alt und alles knarrte bei jedem Schritt, als hätte das Gebäude die Schnauze voll von den ganzen arroganten und verzogenen Studenten und würde deswegen sogar lieber einen Einsturz vorziehen. Colin erwischte mich doch noch auf der letzten Stufe, wirbelte mich einfach herum, sodass ich halb die Treppe wieder runtersegelte, aber – ach – da war ja der breite Colin, dem ich nun in die Arme flog.

Automatisch wollte ich die Luft anhalten, er trug immer so ein ekliges Parfum, nur war ich so überrascht, dass ich gar nicht so schnell reagieren konnte. Als ich dann jedoch seine Hände an meiner Taille fühlte, riss ich mich los und machte, dass ich ausreichend Abstand von ihm nahm. Bei seinem dämlichen schiefen Grinsen verdrehte ich die Augen.

»Colin, du bleibst ein Idiot!« Ich schob mein Kinn zurück und war erstaunt, weil er nicht so süß roch wie sonst, und von mir selbst noch erstaunter, weil ich den neuen Duft eigentlich recht lecker fand. Colin bleibt Colin! Es war definitiv kein Segen gewesen, dass ich bereits einen Kurs überspringen durfte.

»Mag sein. Dann bin ich halt ein Idiot«, erwiderte er gleichgültig.

Dem Kerl konnte man verbal alles an den Kopf werfen. Was er nicht hören wollte, überhörte er einfach. Er nahm die letzte Stufe nach oben und war mir schon wieder viel zu dicht. Aber ›zu dicht‹ war er mir überall auf dem Campus, selbst wenn er auf dem Parkplatz stehen würde und ich auf dem Glockenturm. »Nur bin ich dann ein Idiot, der dich noch immer nicht gefickt hat, Mia.« Ich starrte lustlos an die Decke. Er begriff es nicht! Einwände, warum er nicht mal eben über mich drüberrutschen durfte, sparte ich mir und ich drehte mich um.

»Fick dich, St. Patrick!« Sein Lachen folgte mir den schmalen Flur runter.

»Das sollst du doch übernehmen, Mia-Baby!« Jaja…

»Frag deine Verlobte!« Damit betrat ich den Raum, der Platz für circa 30 Leute bot. Rechnungswesen hatten viele in ihrem Studienplan.

Selbst Colin, der Sportwissenschaften studierte. Ich flitzte in den Raum, neben Elisa war leider kein Platz mehr, also wählte ich Fiona.

Sie war auch eine Saint, Jura-Studentin, süß wie ein saftiger Cupcake, nur giftig wie eine Viper. Hieß im Klartext: Ich konnte sie nicht ausstehen, aber sie war mir lieber als Colin. Allerdings war mir jeder lieber als Colin. Nein, obwohl… den Titel trugen andere noch weit vor ihm. Ich saß kaum neben ihr, als mich ihr ekliger Parfumgeruch die Nase rümpfen ließ. Ja, ich besaß eventuell ein sehr sensibles Näschen, was penetrante Gerüche anging. Dafür konnte ich die meisten bereits an ihrem Duft erkennen, bevor ich sie sah. Das war manchmal doch recht nützlich.

»Hi«, kam es gelangweilt von Fiona, die sehr konzentriert ihre künstlichen Nägel begutachtete. Ich zog mit einem ebenso gelangweilten ›Hi‹ mein Tablet aus meinem Rucksack und stellte ihn unter den Tisch. Ruby links vor mir saß am Fenster, ich stupste ihr unsanft meinen Finger in den Rücken.

»Mach mal das Fenster auf!« Sie drehte sich mit schmalen Lippen und Augen zu mir um.

»Bin ich dein Sklave, oder was?«, ranzte sie mich an.

»Nein, dann würdest du in meinem Keller versauern, nachdem ich dich ausgepeitscht habe. Mach einfach das Fenster auf!« Sonst würde ich bei Fionas ekligem Vanille-Cocktail noch Asthmatiker werden, verdammt! Mit einem sehr lauten Seufzer und einem leisen ›Verwöhnte Schlampe‹ tat sie mir also doch den Gefallen. Vielen Dank, Miststück! Sie war eine Damned – das waren alle Nicht-Saints. An den Farben ihrer kurzen Krawatte konnte man erkennen, dass sie zum House Natura gehörte. Also studierte sie irgendwas im Bereich Naturwissenschaften oder Medizin. Am Sanctity College gab es sechs Houses, die bis auf die Saints alle lateinische Namen trugen. Natura, eben Medizin und so weiter. Sports für Sportwissenschaften. Im House Artem studierte man Kunst und alles Kreative. Wirtschaftswissenschaften fanden im House Oeconomica ihren Platz und direkt daneben die Rechtswissenschaftler im House Lex. Um all die unterschiedlichen Studienbereiche erkennen zu können, hatten unsere Krawatten verschiedene Farben, aber die Erläuterung wäre jetzt zu langatmig. Nur so viel: Wir Saints trugen die Farben Schwarz und Weiß. Mehr sollte erstmal nicht wichtig sein. Ah, genau, eins noch:

Am Sanctity galt Uniform-Pflicht. Ohnehin ging es an diesem College noch sehr streng und konservativ oder gar sittsam zu. Alle Studenten ihrer einzelnen Studienzugehörigkeit waren zwar in ihren Houses untergebracht, aber Männchen und Weibchen wurden dabei getrennt.

Die beiden Geschlechter teilten sich nicht mal die gleichen Etagen.

Zufrieden nickte ich, als ich endlich frische Luft riechen konnte. Ruby saß kaum, als rechts von mir – sehr dicht an meinem Gesicht – Colins Profil auftauchte.

»Komm schon, Mia! Es ist doch nur ein Fick!« Herzlichen Dank für das ›nur‹!

»Geh sterben, Colin!«, sagte ich gedehnt und beugte mich nach links, damit ich ihn wenigstens etwas vom Hals bekam. Das interessierte nur Colin nicht, da er mir dreist einen Kuss auf die Wange drückte.

»Ich kriege dich schon noch rum, sture Nonne!« Sicher, Colin! Prof.

Brown bewies perfektes Timing, als er schwungvoll mit wehender schwarzer Robe den Raum betrat. Auch das gab es hier noch – Dozenten in Roben. Die sechs Master of House trugen zudem Binder in ihren House-Farben. Prof. Brown war der Master der Oeconomica, der Wirtschaftswissenschaftler. Der Typ wäre mir lieber als der Drecksack, der den Saints vorstand – Prof. Dr. Dr. Powells, Lieblingsgolfpartner meines Dads. Was mein Dad an diesem Sport fand, wusste ich nicht. Er war eigentlich mehr für derbere Sachen zu haben, Rugby oder sowas.

»Guten Tag, alle zusammen! Wie ich sehe, haben einige mal wieder ein recht anstrengendes Wochenende hinter sich.« Ja, der eine oder andere sah noch etwas angeschlagen von der Freshers-Party am Wochenende aus. Selbstverständlich gab es sowas nicht offiziell am Campus. Inoffiziell allerdings… »Mr. St. Patrick, wollen Sie heute im Stehen meiner Vorlesung lauschen oder warten Sie darauf, dass Ihnen Miss Hayworths ihren Schoß anbietet?« Pahaha! Sehr witzig. Colin richtete sich neben mir auf, steckte seine Hände in die Hosentaschen und zeigte den anwesenden Weibern mal wieder sein Eine-Million-Pfund-Lächeln.

»Ach, wenn Sie mich so fragen…«, setzte Colin an, ließ das Satzende allerdings offen. Prof. Brown verdrehte die Augen und trat kopfschüttelnd hinter sein Pult.

»Setzen Sie sich einfach!« Colin tat das zwar, nur setzte er sich hinter mich, sodass ich die ganze Zeit ganz leicht seinen Duft in der Nase hatte. Der war mir an sich lieber als Fionas Vanille-Cocktail, aber… verdammt, ich wollte nicht, dass Colin plötzlich so traumhaft nach Sandelholz und Leder roch. Nein, Shit, dadurch würde ich ihn mit etwas Positivem assoziieren und das ging nicht. Zumal er immer noch verlobt blieb. Virginia könnte mir fast leidtun. Schließlich machte ihr Zukünftiger keinen Hehl daraus, dass er sie nicht heiraten wollte und deswegen alles fickte, was ihm vor die Eichel lief. Und Virginia konnte nichts dagegen tun. Wäre sie nicht so ein verwöhntes und dummes Miststück, würde sie mir leidtun, aber so… sorry, ihr Pech! Während Brown den Beamer anwarf und nebenbei seinen Laptop anschloss, warf ich einen Blick durch den Raum. Colin in meinem Nacken ignorierte ich, die zwei neuen Typen rechts außen allerdings nicht. Ich kannte die beiden nicht, ich wusste nur, dass sie definitiv keine Saints waren und in den ersten zwei Wochen nicht an dieser Vorlesung teilgenommen hatten. Hm, seltsam. Sie hatten erst in diesem Trimester angefangen und waren trotzdem in Colins Studienjahr. Der Blonde war vom Typ Colin. Babyface, gebräunter Teint, die seitlich gescheitelten blonden Haare waren irgendwas zwischen glatt und gelockt. So breit wie Colin… Verfickte Scheiße… was wollte mir mein Unterbewusstsein heute sagen? Okay, er war zwar sportlich, aber nicht so breit wie ein anderer blonder Rugby-Spieler, den ich kannte. So! Der Typ neben ihm war das komplette Gegenteil. Dunkle Aura, glatte schwarze Haare… trug der da einen Zopf? Okay, besonders lang waren seine Haare aber nicht. Von seinem Profil erkannte ich nicht viel, schade aber auch. Meine Nase kräuselte sich neugierig. Hm, ich musste jetzt irgendwie an die Bibel denken, damit könnte ich ja glatt Pluspunkte bei unserem Pater sammeln. Der Erzengel Gabriel neben dem Lichtbringer Luzifer. Eigenartige Kombi. Aber nicht verkehrt, die Optik war wirklich nicht verkehrt. Ich spürte einen Piks in meinem Rücken, meine Mundwinkel verzogen sich nach unten, aber ich reagierte erst gar nicht.

»Hey Hayworths! Hör auf, andere Kerle so sabbernd blickzuficken!«

Über meine linke Schulter zeigte ich Colin meinen Mittelfinger. Was nahm dieser Depp sich eigentlich heraus? Außerdem sabberte ich nicht, trotzdem waren die zwei gegensätzlichen Engelchen schon recht ansehnlich.

»Ob mir Dunkelblond stehen würde?« Elisa Adams zupfte an ihren dunkelblonden Locken herum und hing lümmelnd auf einem der Sofas in unserem Wohnzimmer im Drake’s House, in dem sich tatsächlich beide Geschlechter aufhalten durften, zumindest bis acht Uhr abends. Ich lag auf der Couch gegenüber und versuchte, aus dieser Fallstudie schlau zu werden, die uns mein Marketing-Dozent als Aufgabe geschickt hatte. Sie war vor einer halben Stunde per Mail gekommen, Abgabe: morgen! Das Studienjahr war ohnehin so vollgepackt, dass wir bereits im ersten Trimester kaum Luft hatten. Und im dritten Trimester lag die Verteidigung unserer Assistentenarbeit an, das hieß, dass man uns bis dahin noch mehr Input in die Schädel drücken würde.

»Deine Haare sind dunkelblond, Elisa«, gab ich knapp zurück und las weiter in der Studie, zu der wir einen Haufen Fragen beantworten sollten.

»Sie sind aschblond mit einer Spur Buttercremeblond.« Ah, wie konnte ich das nur verwechseln?! Buttercremeblond? Ernsthaft?

Okay, Elisa nannte meine dunkelbraunen Haare auch edelbitterbraun. Fragt mich nicht. Ich war schon eitel und achtete auf mein Äußeres, aber so extrem dann nun doch nicht.

»Ah«, kam es nur von mir.

»Dass du für sowas auch keinen Blick hast, Mia!«

Ich sah vom Bildschirm auf und warf ihr einen seitlichen Blick zu.

»Sag mal, hast du nichts zu tun?!« Sie studierte ebenfalls Wirtschaft, war jedoch ein Jahr über mir und sollte an sich das Gleiche wie ich zu erledigen haben. Schließlich lag im dritten Jahr die Bachelorarbeit an.

»Ja, bestimmt irgendwas. Sag mal, wer sind eigentlich die zwei Typen in unserem Rechnungswesen-Kurs, hm? Waren die von Anfang an schon da?« Ja, das fragte ich mich zwar auch, nur nicht gerade jetzt.

Schnaufend blickte ich wieder aufs Display.

»Keine Ahnung«, nuschelte ich abwesend. Scheiße, ich hasste Aufgabenstellungen, die mit ›Begründen Sie Ihre Entscheidung!‹ endeten.

Für den Quark würde ich heute Überstunden machen dürfen und es war bereits kurz vor acht. Oh, kurz vor acht! Das bedeutete, dass wir gleich unsere Smartphones ausgehändigt bekommen würden! Unsere Telefone mussten wir morgens bei unserem hauseigenen Porter abgeben und wir bekamen sie abends entweder vom alten Powells wieder oder von seinem Vertreter. Das wiederum war immer ein Student aus dem letzten Jahr. In diesem war das der Drecksack Dean Montague.

Der Kerl teilte sich zusammen mit Pater Vaughn den ersten Platz in meiner ›Würde mich nicht stören, wenn sie vom Lastwagen überrollt werden‹-Liste. Er war ein absoluter Widerling, der einem sein Smartphone auch gern mal nicht wiedergab, wenn man nicht ›nett genug‹ war. Da ich nie nett zu ihm war, bekam ich meins auch selten ausgehändigt. Wieso war das hier eigentlich so ungewohnt still im Raum? Normalerweise war um die Uhrzeit doch abends die Hölle… Die breite Flügeltür in unserem Rücken ging auf, Elisa und ich drehten uns um, und Colin kam mit einer Horde in den Raum gestürmt. Er trug seine Rugby-Montur. War heute ein Spiel gewesen? Nein, Blödsinn, es war Mittwoch. Training vielleicht? Was kümmerte mich das… Colin kam schnurstracks zu mir und warf sich auf die Couch. Scott McTavish – auch so ein Draufgänger – marschierte nach hinten durch und warf sich schwunghaft auf einen Ohrensessel. Kaum dass Colins Arsch das Polster berührt hatte, legte er seine linke Pranke oben auf die Rückenlehne und beugte sich seitlich zu mir.

»Na, Mia!«, schnurrte er. Er sah ekelhaft durchgeschwitzt aus. Ich würde gern sagen, dass er auch so roch, aber nein, tat er nicht. Dafür aber andere, die sich nun ebenfalls im Raum verteilten. Das Wohnzimmer, die Bibliothek dahinter und unser eigener kleiner Speisesaal waren die einzigen Räume, die wir gemeinsam nutzen durften. Russell schob Elisa gerade seine Zunge in den Hals, sie schob ihn quiekend weg.

»Iiiih, du bist ja ganz nassgeschwitzt!« Und er roch definitiv auch so!

»Stell dich nicht so an, Zicke! Beim Ficken stört dich das auch nicht!«

Ja, Russell war richtig charmant. Er und Elisa waren offiziell ein Paar und bereits verlobt.

»Apropos Ficken…«, setzte Colin an.

»Nope, noch immer keinen Bedarf, St. Patrick!« Etwas gekränkt und untypisch kleinlaut schob er ein paar nasse Strähnen aus der Stirn zu den anderen blonden Haaren zurück.

»Du machst mich fertig…«, murmelte er. Was stimmte mit dem denn heute nicht?

»Stumm und blind wäre mir lieber.« Nein, das war nicht ironisch gemeint. Ah, ›hässlich‹ sollte ich vielleicht noch ergänzen. Er sollte wirklich hässlich sein. Nur war er das nicht und leider war auch sein Grübchen am Kinn nicht so abstoßend wie Russells haariger Hintern.

Ob ich mich von ihm besteigen lassen würde, wenn Colin nicht Colin wäre? Hm, schwierig, aber die Chance wäre höher als jetzt – das ganz sicher.

»Wieso denn, verdammt?« Wollte er darauf jetzt ernsthaft eine Antwort? So miesepetrig, wie er mich ansah, wollte er die wirklich. Allerdings kam Montague nun ins Wohnzimmer. Eindeutig musste der Typ irgendwelche Komplexe aus seiner Jugend kompensieren. Anders konnte ich mir sein großspuriges Verhalten bei seinem schmalspurigen Körper nicht vorstellen. Denn der schrie nach Loser und nach ›Ich möchte im Fitnessstudio nicht nur neben den Geräten stehen‹.

Ja, okay, das sagte nicht viel über die Persönlichkeit eines Menschen aus, aber Montague warf mit einem Selbstvertrauen um sich, das er einfach nicht besaß. Sorry!

»Ah, da sind meine braven Schäfchen ja…« Er grinste selbstgefällig in die Runde, leckte sich bei meinem Anblick über die Lippen und klapperte noch fix die anderen Mädels im Raum ab. Shit, ich würde mein Telefon heute nicht bekommen. Colin knurrte ungeduldig.

»Kannst du die Scheißleier mal lassen?! Gib uns die Telefone und verpiss dich, Tarzan!« Oh, da sammelte der große blonde Rugby-Player ja heute mal unerwartete Pluspunkte bei mir! Montague zog einen Flunsch und kam mit seinem Körbchen zu mir. Er musste sich nicht die ganzen Namen zu den Telefonen merken, denn die waren eingetütet und beschriftet. Von oben – ja, der Blickwinkel gefiel ihm bestimmt – sah er auf mich hinab. »Denk nicht mal dran!«, raunte Colin.

Was hatte er denn? Augenrollend reichte mir Montague mein eingepacktes Smartphone, das ich mit Daumen und Zeigefinger in die Hand nahm. Mit vor Ekel verzogenen Mundwinkeln stand ich auf, als er zu Colin wechselte.

»Igitt, Montague-Keime!«, trällerte ich gehässig und schnappte mir meinen Laptop, ich war bereit zu verschwinden.

»Gehst du schon?«, nuschelte Elisa, die nun auf Russells Schoß saß.

»Äh, ja? Ich habe noch zu tun.« Außerdem wollte ich mein Telefon von Montagues ekligen Fingerspuren entfernt wissen, denn daran rumgetatscht hatte er mit Sicherheit. Nur war jeder so clever, sein Telefon auszustellen. Widerliche kleine Echse! Zudem würde mein Bruder bestimmt noch anrufen. Mittwochs ging er mir meistens auf die Nerven. Und da er die Abläufe, als ehemaliger Saint, kannte, wusste er, wann er mich erreichen konnte. Er hat vor vier Jahren sein Studium hier beendet und war dank seiner anziehenden Art bei den meisten Dozenten noch so präsent im Kopf, als wäre er erst gestern mit seinem Master fertig geworden. Liam konnte so ein Arschkriecher sein! Die Kehrseite war jedoch, dass er dich für immer mit Verachtung strafen würde, wenn du bei ihm verschissen hast oder er dich nicht leiden kann – aus welchen Gründen auch immer. Ich peilte in der Eingangshalle die Treppe an und verdrehte die Augen, als mir Étienne mit schiefem Lächeln entgegenkam.

»Ah, die kleine Mia hat heute ausnahmsweise ihr Telefon bekommen, ja?« Ich nickte genervt. Er blieb mit den Händen in den Hosentaschen vor mir stehen. Étienne war ein unnormal attraktiver Mann. Allerdings war er in seinem letzten Jahr und hielt sich bei ›unverbindlichen‹ Treffen eher zurück. So ein Dilemma! Denn ihn würde ich ganz gewiss nicht abweisen. Nur Interesse gezeigt hatte er an mir zumindest bisher nicht und betteln würde ich nicht. »Was ziehst du für ein Gesicht?«

»Wir haben vorhin noch eine Fallstudie zum Überarbeiten per Mail bekommen und die Abgabe ist morgen, also kann ich heute Überstunden machen.« Und mein Telefon-Tütchen hielt ich noch immer umständlich in den Fingern. Er musterte mich aus seinen traumhaften blauen Augen und legte den Kopf schief.

»Für welches Fach?« Ich fragte mich zwar, warum er neuerdings so ein Interesse daran hatte, aber erzählte es ihm trotzdem. »Ah ja, der alte Knochen Wilkens steht auf Fallstudien, davon wirst du noch so einige bekommen.« Mhm, das hatte ich befürchtet. Marketing war eigentlich schon ein cooles Fach, aber mit Wilkens? Étienne beugte sich mir etwas entgegen und sprach leiser weiter: »Nur benutzt er meistens die gleichen. Schick mir deine, dann sehe ich nach, ob ich die Antworten noch irgendwo gespeichert habe.« Ach, tat er das?

»Aha, wieso?« Ich hatte mit Étienne in meiner ganzen Zeit nicht mehr Wörter gewechselt als jetzt in diesem kurzen Dialog. Warum bot er mir nun also seine Hilfe an? Ja, vielleicht war ich ein misstrauischer Mensch.

»Wieso nicht, Mia?« Ja, wieso nicht, Mia, zischte es in meinen Kopf.

Weil es seltsam war. Punkt! Ich schüttelte den Mist aus meinem Schädel. Ich war müde und spann mir vielleicht nur irgendwas zusammen.

»Meine Mailadresse ist [email protected]. Wie man meinen Namen schreibt, weißt du sicher.« Hm, logisch wusste ich das!

Trotzdem klang es bei ihm mehr nach einer Frage am Ende.

»Für wen hältst du mich?«, fragte ich pikiert. Er lachte und fuhr sich durch seine dunklen, fast schulterlangen Löckchen. Hach ja, hörte ich es in meinem Kopf seufzen. Ich stand schon etwas drauf, wenn er das tat und sein Scheitel dadurch auf der anderen Seite lag. Der Kerl kitzelte andauernd das gefühlsdumme Mädchen in mir hervor. Schreckliche Angewohnheit, aber er war entsetzlich süß! Mit diesen niedlichen Grübchen, wenn er lächelte, den tollen geraden und weißen Zähnen, dem sportlichen Körp… Moment mal!

»Schick es mir einfach, okay, fleuron?« Ich klebte an seinen Lippen und verstand erst einige Sekunden später, wie er mich genannt hatte.

Blümchen? Hatte es heute irgendwo Testosteron gratis gegeben?

Meine Lippen spitzten sich nachdenklich. Bedarf daran, ihn zu fragen, warum er mich so nannte, hatte ich nicht mehr. Ich gab ihm also mein Okay und ging mit etwas vernebeltem Köpfchen hoch ins Obergeschoss. Oben auf der Galerie sah ich mich trotzdem noch einmal um und wäre fast gegen die Scheißvase auf dem Sockel gelaufen, weil Étienne mir hinterhersah. Ja, irgendwas lag wirklich in der Luft.

Kapitel 2 Zwischen Gottesdienst, Halloween und dem ersten Kaffee

Mia

Dank Étienne hatte ich die verdammten Aufgaben recht flott erledigen können. Kaum war ich mit Liam am Telefon fertig geworden, hatte ich bereits die Antworten per Mail erhalten, fix noch alles etwas umgeschrieben und fertig war ich! Trotzdem stand ich morgens müde auf, was daran liegen könnte, dass mein Wecker mich täglich viel zu früh aus dem Schlaf zerrte. Das wiederum war der Tatsache geschuldet, dass ich zwar nicht viel Wert auf Make-up legte, dafür sehr wohl auf meine Haare. Ich hatte, aus unerfindlichen Gründen, den südländischen Touch meiner Grandma mütterlicherseits geerbt und ihre unbändigen dunklen Haare dazu. Ergo hatte ich morgens mit ebendiesen und meinem Glätteisen zu kämpfen. Mal gewann ich und manchmal siegten die Haare. Da das eben ein wenig Zeit in Anspruch nahm, durfte ich morgens früher aufstehen als der Rest. Nein, Virginia und Co. brauchten sicherlich noch länger, da sie ja erst noch ihre Makeup-Schichten aufs Gesicht spachteln mussten. Um halb acht durften wir jeden Tag zum Gottesdienst in der Chapel antanzen. Das waren im Studienalltag so in etwa die schlimmsten 15 Minuten meines Tages.

Okay, der sonntägliche Gottesdienst war noch furchtbarer. Der Padre predigte täglich das Gleiche. Vom unschuldigen Leben der Männer, die ständig durch Frauen zu sündhaften Taten verleitet wurden. Dass sie den Versuchungen widerstehen mussten und so weiter… Dabei predigte er mit einer solchen Leidenschaft, dass ich jedes Mal an mich halten musste, um ihn nicht mit meiner ›Inbrunst‹ von der Kanzel zu zerren. Denn ich wusste, was Mädchen bevorstehen könnte, wenn man bei ihm nachsitzen musste. Manch eine von uns tat das freiwillig, um ihre Note in Latein oder Ethik zu verbessern, andere musste er erst überreden. Es war ekelhaft! Auch dass es an einer privaten Universität überhaupt noch Pflichtfächer wie Ethik gab. Der Padre laberte immer wieder von Sünden, Tugenden und seine Texte in Latein handelten ebenfalls davon. Von Maria Magdalena, Ketzerinnen und selbst davon, wie man eine Hexe erkennen konnte. Der Malleus maleficarum war seine neue Bibel! Lächerlich! Viele der weiblichen Freshers fielen auf ihn rein, weil er optisch nicht so hässlich wie innerlich war. Anziehend fand ich ihn nicht, aber von schlechtaussehend war er leider meilenweit entfernt. Es gab definitiv Weiber, die ihn zu gern in ihre Höllenkreise ziehen wollten, nur um zu sehen, ob er standhalten würde. Das tat er, offiziell zumindest. Inoffiziell wollte ich es eigentlich nicht wissen, wusste es durch ein paar Kommilitoninnen trotzdem. Alicia war so ein Luder, das zu gern mit ihm spielte und keinen Hehl daraus machte, dass sie eine Schlampe war. Sie war auch die Erste, die mir jetzt über den Weg lief, als ich mein Zimmer verließ und auf den Flur trat. Meine Haare haben heute den Kampf gewonnen, weswegen ich sie, nach einigen sehr kreativen Flüchen, fix hochgebunden hatte. Alicia trug wie immer ihren Faltenrock viel zu kurz. Ordnungsgemäß ging dieser eigentlich bis über die Knie, aber sie krempelte den Bund um, sodass man halb ihre Strumpfhalter erkennen konnte. Ich tat das zwar auch, weil es sonst einfach scheußlich aussah, nur wartete ich bis nach dem Gottesdienst. Denn im Gegensatz zu anderen legte ich keinen Wert auf eine Nachhilfestunde beim Padre.

»Ausgeschlafen, Mimi-Mia?«, säuselte sie sarkastisch und kaute wie stets einen ihrer scheußlichen Kaugummis mit Wassermelonen-Geschmack. Alicia war mit Abstand das unsympathischste Mädchen hier und verscherzen sollte man es sich eigentlich nicht mit ihr, aber das hatte ich bereits am zweiten Tag am Sanctity getan. Wir hatten direkt festgestellt, dass wir definitiv keine besten Freundinnen werden würden. Ich wandte mich ohne Kommentar nach rechts den Flur runter. »Mimimi! Wieder eine unbefriedigte Nacht, Herzchen?«, warf sie mir in den Rücken und folgte mir.

»Wenigstens muss ich nicht so oft zum HIV-Test, Miststück!« Okay, im Vergleich zu Alicia hatte jedes Mädchen wenig Sex – selbst Colin vermutlich. Und ja, vielleicht trieb ich es nicht mit dem halben Rugby-Team, aber ich wollte auch nicht als Schlampe des Jahrhunderts in die College-Geschichte eingehen.

»Nie trifft es vielleicht besser!« Ich ließ sie links liegen und machte mich lieber daran, am Flurende die Tür aufzustoßen und von der Galerie die Haupttreppe runter zu nehmen. Frühstück, und somit auch den ersten Kaffee, würde es erst nach dem Gottesdienst geben. Wir hatten hier zwar unser eigenes Esszimmer, aber Frühstück gab es dort nur am Wochenende. Wieso hatte ich nicht auf ein stinknormales College gehen können, irgendwo in Cambridge, Oxford, London? Meine flachen Absätze bohrten sich in den schweren Teppich auf den Stufen, als ich am Treppenende Colin mit Noah quatschen sah. Noah war ebenfalls im Rugby-Team und studierte… äh, Englische Literatur – glaubte ich zumindest. Sein Name klang zwar ganz niedlich und er sah auch recht harmlos aus, aber er war ein waschechtes Arschloch! Ein Wichser, der mächtig Spaß daran hatte, andere Verdammte daran zu erinnern, dass wir die Saints waren. Das war vollkommener Bullshit!

An der Sanctity gab es nur wohlhabende Studenten. Okay, es gab auch ein paar mit Stipendien, aber die College-Leitung passte immer auf, dass die Namen nicht durchsickerten, was den Studenten ungefähr eine Woche Welpenschutz brachte, bevor es Leute wie Noah, Nathanael oder Alicia trotzdem herausfanden. Wir Saints – nein, wohl eher unsere Eltern – waren wohlhabend, sehr einflussreich und mächtig.

Das brachte uns eben den Status ein. Einige Saints sahen das allerdings als Freifahrtschein dafür, andere Kommilitonen drangsalieren oder schikanieren zu können. Ich beteiligte mich an solchen Aktionen nicht, ging aber auch nicht dazwischen. Noah und Colin sahen noch recht vernünftig aus, die Krawatten saßen akkurat und die weißen Hemden hingen nirgends über dem Hosenbund. Spätestens zur Mittagspause würde das anders aussehen. Colin lächelte breit, als er mich sah. Ich machte dicke Backen und hoffte, dass er heute wieder normal im Kopf war. Alicia stupste mich unsanft auf der Treppe an.

»Denk an dein Halloween-Outfit. Wir gehen als geschlossene Einheit, Hayworths!«

»Und als was?« Scheiße, Halloween war ja schon in zwei Wochen.

Hoffentlich war das Thema besser als letztes Jahr. Da hatten wir nämlich als Cupcakes rumlaufen dürfen.

»Schurken und Bösewichte! Ich gehe als Catwoman.« Klar, was sonst.

»Also, denk nicht mal dran, ebenfalls im Catsuit aufzutauchen.« Ich räusperte mich.

»Oh, das Outfit gehört ganz dir«, raunte ich zurück. Tolles Thema by the way, einige würden sich nicht verkleiden müssen. Meine braunen Augen blieben bei Noah hängen, der mich sehr komisch anlächelte – à la ›Ich weiß was, das du nicht weißt‹. Ich zeigte ihm meinen Mittelfinger. Für eine weitere sinnlose Konversation fehlte mir ganz klar der Kaffee intus.

»Geh doch als das Horrormädchen aus The Ring, dann musst du dich nicht verkleiden«, feixte Alicia herzallerliebst. Ich seufzte nur und betete, dass es heute gewittern und sie zufällig ein Ast erschlagen würde.

»Deine Sprüche waren auch schon mal kreativer.« Ich kam unten zwischen Noah und Colin an und selbstverständlich ließ Letzterer mich nicht einfach so durchtreten, stattdessen legte er mir seinen Arm um die Schultern. Er roch schon wieder so lecker.

»Mia-Baby…«, schnurrte er und schob mich einfach mit zur breiten Haustür, durch die bereits andere Saints rausgingen. Ich riss mich von ihm los.

»Lass diesen Schwachsinn!« Er starrte mich an, als hätte er die Nacht etwas verpasst und nicht ich. Ich runzelte die Stirn und kam nicht dahinter, was hier vor sich ging. Stattdessen trat nun Étienne dazu. Immer wenn ich ihn irgendwo sah, hörte ich leise ein schmachtendes ›Hach ja!‹ in meinem Kopf. Sehr lästig. Auch wenn alle männlichen Studenten grundlegend den gleichen Anzug trugen, gefiel er mir an Étienne ganz besonders. Jaja, Colin war auch nicht verkehrt. Jesus, was dachte ich nur! Es lag am Duft, eindeutig. Dabei roch Étienne auch nicht übel. So herrlich nach scharfen Gewürzen, Meer und Paradies auf einer einsamen Inseeee… Halt, stopp, nun reicht es aber!

»Morgen, Étienne! Du hast mir die Nacht gerettet.« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, fiel mir auf, dass man die Aussage auch falsch verstehen könnte, und Colin tat das offenbar. Ich verdrehte bei seinem Schnaufen die Augen.

»Warte mal, was?!«, meckerte Colin und blickte finster zu mir und dann zu Étienne. Er reagierte leicht über, dafür, dass wir kein Paar… Hä? Wir waren kein Paar, warum plusterte der sich jetzt so auf?

»Sag mal, bist du nicht ganz dicht?!«, motzte ich zurück, während Étienne ein eindeutiges Lächeln hinter seiner Hand vorm Mund versteckte.

»Es ist nicht so, wie du denkst, St. Patrick«, musste Étienne noch nachsetzen. In so einer Situation war dieser Standardsatz so gut wie immer eine Lüge. Ich setzte zum Sprechen an, wurde aber von Colin beiseitegeschoben, damit er sich vor Étienne aufbauen konnte.

»So, Durand? Was denke ich denn, hm?«

Elisa tauchte neben mir auf. Offenbar hatte sie die Nacht mit Russell verbracht, denn sie sah sehr, sehr müde aus. Es war natürlich nicht unmöglich, sich nachts in die anderen Trakte zu mogeln, und das tat Russell regelmäßig. Elisa rieb sich leicht über die Augen und fragte:

»Nanu, was ist denn hier los?« Ich hob seufzend die Schultern.

»Keine Ahnung, vorm ersten Kaffee interessiert mich das nicht.«

Okay, danach an sich auch nicht viel mehr. Ich musterte Elisa, deren Gesicht eigenartig leuchtete. »Weshalb glitzerst du überall im Gesicht?« Sie fuhr ganz vorsichtig über ihre Wange und lächelte dann freudig.

»Oh, das ist meine ›Shine like a Star‹-Creme. Super, oder?« Hm, klang für mich nach einer Silberpolitur, die mir Dexter, unser Butler, aufgeregt aus den Fingern reißen würde.

»Ganz super.« Wir ließen die anderen hinter uns, warfen vorn bei der Porter’s Lodge unsere wieder eingepackten Telefone ins Körbchen, der zuständige Porter würde sie dann in unseren eigenen Postfächern aufbewahren. Über den Kiesweg gingen wir Richtung Church. Mir fiel wieder Halloween ein und im Kopf ging ich ein paar weibliche Bösewichte durch, bis Elisa mich genau auf dieses Thema ansprach. Elisa Adams war unter den Saints noch halbwegs vernünftig, vielleicht etwas naiv und manchmal echt hohl. Sie war immer so schrecklich lieb.

»Wie wäre es mit Maleficent?« Ich sah mit gehobener Braue zu ihr, sie winkte ab. »Ach, nein, Zoe geht bereits als die dunkle Fee. Harley Quinn?« Nope, sagte mein Gesicht. Ich sah zum Himmel. Es würde ein sonniger Tag werden, war vielleicht ein gutes Zeichen. Das war wirklich gut, denn heute stand Ethik mit dem Padre auf dem Plan. Elisa plapperte mich auf dem Weg voll, erwähnte immer wieder Kostümmöglichkeiten und verwarf sie im nächsten Augenblick wieder.

Mir würde schon was einfallen, irgendwann. »Es gibt auch eine Liste mit Infos dazu, wer sich von uns als was verkleidet, damit kein Outfit doppelt auftaucht.« Aha? Die hatte ich bisher dann wohl ignoriert.

Und selbstverständlich gab es eine Übersicht, etwas anderes hätte ich bei den Saints auch nicht erwartet. Wir hatten das kleine Wäldchen hinter uns gelassen und den Campus bis zur Church überquert. Vorm Chapel-Eingang hatte sich bereits eine Schlange aus Studenten gebildet, an der wir uns nun anstellten. Alicia und Noah hinter uns interessierten sich für die anstehenden Studenten nicht und marschierten einfach mittendurch. Das Privileg hatte ich zwar auch, nur hatte ich es nie eilig, in die gottverdammte Chapel zu kommen. Dort drin roch es immer so heftig nach Weihrauch. Eine Hand fasste meine und zog mich mit. Mir fiel beinahe mein Rucksack von der Schulter und ich stolperte hinterher, ohne im ersten Augenblick zu erkennen, wer mich hier durch die Menge zerrte wie eine Katze, die bei Regen definitiv nicht vor die Tür wollte. Ich sah einen männlichen Rücken und dunkle Haare vor mir. Okay, das sagte mir jetzt nicht genau, um wen es sich handelte. Dafür allerdings der Duft, der leicht an ihm haftete. Als ich den Geruch erkannte, wäre ich beinahe nochmal gestolpert. Nathanael Henry Magmer. Der Sohn von Lord Ethan Magmer und offizieller Anführer der Saints. Was hatte das zu bedeuten? Bisher war ich für ihn Luft gewesen und ehrlich gesagt wollte ich auch, dass das so blieb. Im Inneren ließ er meine Hand so abrupt los, als wäre ihm jetzt erst bewusst geworden, wen er da hinter sich herzog. Ich reckte mein Kinn und marschierte hinter ihm durch den Mittelgang. Normalerweise taten wir das immer zu zweit nebeneinander wie eine artige Kindergartengruppe und normalerweise legte Nathanael sehr viel Wert auf Ordnung und war extrem penibel. Genau so sah er auch aus: Immer adrett, sehr gepflegt und er achtete stets auf seine Außenwirkung. Bei ihm war jeder Schritt geplant, berechnend und präzise. Er sah sensationell aus, wirklich und wahrhaftig, aber trotzdem fand ich ihn etwas gruselig. Ich hasste dieses In-Szene-Setzen, wenn wir morgens zwischen den vielen Damned liefen, als würde uns die Welt gehören. Wir Saints saßen nicht mit der Allgemeinheit zusammen in der Chapel, sondern hatten weiter hinten unsere eigenen Bankreihen. Dabei wurden wir Mädchen natürlich von den Jungs separat untergebracht. Die Saints besaßen insgesamt drei Reihen, wir Mädels saßen in der untersten und die Jungs hinter bzw. über uns. Ich setzte mich an meinen Sitzplatz, denn selbstverständlich gab es eine feste Sitzordnung und diese band mir Alicia an mein rechtes Bein. Und leider Gottes war Nathanael schräg links hinter mir. Colin saß am anderen Ende und zumindest vor ihm hatte ich hier meine Ruhe. Alicia beugte sich zu mir, automatisch lehnte ich mich nach links, zur Not würde ich mich auch auf Elisas Schoß setzen, damit ich definitiv nicht mit der Schlampe rechts in Berührung kommen musste.

»Denk an dein Outfit, Hayworths! Am Samstag geht’s in die Stadt!«

Es war nur Halloween, verdammt! Was machte sie da für einen Aufriss? Die Orgeln setzten ein und ich hörte den Rest von Alicias Gezicke nicht mehr. Sie wusste, dass ich sie partout nicht ausstehen konnte, und dennoch ließ sie mich nicht in Ruhe. Alle Dozenten nahmen uns gegenüber in den Reihen Platz. Bei Powells Anblick bekam ich glatt Sodbrennen! Unter all den Lehrenden gab es exakt eine Frau und die hieß Dr. Lee Ann Nyuong. Sie war ein wirklich sehr liebenswerter Mensch, nur an dieser Universität absolut fehl am Platz. Ihr Durchsetzungsvermögen lag unter null, was in dieser von Männern beherrschten Domäne kein Wunder war. Der Provost – also der Dekan – kam als Letztes und saß in der untersten Reihe ganz rechts oder von mir aus links – mehr Nähe zu Gott und so einen Bullshit. Prof. Dr.

Keatings war ›ein Mann von Integrität‹, offen, sehr herzlich, nur strunzdumm und blind. Er war ganz vernarrt in den Padre und klebte ihm immer an den Lippen, wobei ich davon ausging, dass er den Quark mit der Züchtigung von Frauen und all den anderen Müll einfach überhörte. Ich tippte mal, dass er keine Ahnung davon hatte, was der Padre alles so trieb oder mit wem. Genau dieser betrat nun die Bühne und kam den Mittelgang entlangstolziert, als hätte er die Chapel zwar nicht gebaut, dafür aber als Grund gedient. Alicia neben mir gurrte leise und überschlug ihre Beine. Ich wusste nicht, was mich mehr anwiderte:

dass sie sich freiwillig von ihm ficken ließ oder dass er mal fix seine eigene Tugend vergaß, um sie zu besteigen. Zweifelsohne sah er gut aus – sportlich, groß, volles dunkles Haar, markante Gesichtszüge.

Nur seine Nase war mir zu lang und zu spitz, zudem hatte sie einen sehr ausgeprägten Höcker, den ich nicht übersehen konnte. Ich hatte keine Ahnung, wie alt er eigentlich war, aber er musste die 40 bereits hinter sich gelassen haben. Während er zu seiner Kanzel schritt, raunte ich Alicia fragend zu, ob sie sich heute wieder von ihm bekehren lassen würde.

»Hermia, schweig bitte!«, hörte ich es hinter mir und ballte automatisch die Fäuste. Denn die tadelnde Zurechtweisung kam von niemand anderem als Nathanael, der ja ständig darauf bedacht war, dass man ihn mit seinem vollen Vornamen ansprach. Nicht etwa Nat oder Naely – nein, immer Nathanael. Ergo tat er das auch mit anderen, also nannte er mich immer Hermia! Ich hasste es, wenn man mich so ansprach.

Meine Mutter hatte ein Faible für Shakespeare und hätte meinen Bruder am liebsten Lysander genannt, aber mein Vater war dagegen gewesen, weshalb er nun Liam hieß. Ich reagierte nicht auf Nathanaels Rüge und sobald die ersten Worte den Mund des Padres verließen, begann ich im Kopf zu singen. Ich beobachtete den Wichser in der schwarzen Soutane, wie er voller Elan – wie stets – halb übers Kanzelgeländer fiel, weil er sich – mal wieder – in seiner Predigt verlor. Alicia rutschte unruhig auf ihrem Sitz herum und Elisa, die vor dem Padre wahrhaftige Angst hatte, knetete ihre Finger wund. In solchen Momenten wollte ich ihre Hand nehmen und ihr sagen, dass sie keine Angst haben musste, aber das konnte und durfte ich nicht. An diesem College blieb nichts geheim. Nichts. Nur war ich wohl eine von wenigen, die wusste, dass Elisa mal bei ihm hatte nachsitzen müssen und dass sie dieses Ereignis geprägt hat, und zwar nicht im positiven Sinn.

Ich brummte, weil der geistliche Schwachkopf mal wieder kein Ende fand, und betete, dass ich mir vor seiner heutigen Lehrveranstaltung noch irgendeinen Knochen brach. Der Unterricht war an sich bereits furchtbar, aber noch dazu war er exklusiv für uns Saints angedacht.

Das hieß, ich durfte anderthalb Stunden mit 29 Menschen verbringen, von denen ich die meisten nicht ausstehen konnte, und tatsächlich war Colin dabei der Harmloseste. Die Orgel sprang endlich zum Ende an.

Wir trällerten noch fix ein Liedchen aus dem Gesangbuch und durch waren wir. Dem Herrn sei Dank! Amen! Unser Provost schüttelte begeistert die Hand des Padres, während wir aufstanden und nun zum Frühstück in die Dining Hall gehen konnten. Mir knurrte auch langsam echt der Magen. Elisa beäugte den Padre argwöhnisch, gepaart mit einer gewissen Nervosität und Angespanntheit.

»Ich bin wirklich kein gehässiger Mensch, aber der Mann soll tot umfallen«, flüsterte sie mir leise zu. Ich schnaubte nur.

»Oh, da bin ich ganz bei dir.«

Also, mit Colin stimmte irgendwas nicht. Das würde mir ja sonst am Arsch vorbeigehen, aber so grimmig, wie er mich heute die ganze Zeit ansah, schien sein Stimmungswandel mit mir zusammenzuhängen.

Höchst unprofessionell. Ich war doch an sich ein recht langweiliger Mensch, trotzdem wurde ich Colins Interesse nicht los.

»Und Gott sprach…«, setzte der Padre zu einer neuen Tirade an. Ich stellte meine Ohren sofort auf Durchzug und hörte den Rest nicht mehr. Stattdessen malte ich in der Ethik-Vorlesung heimlich in meinem Schreibblock vor mir herum. »Deswegen müssen Sie der Sünde widerstehen! Das ewige Fegefeuer…« Heilige Mutter Gottes! Glaubte er diesen ganzen Unsinn wirklich?! Eigentlich sollte er uns in den Vorlesungen auch über weitere Religionen aufklären, aber letztlich nannte er diese nur und verklickerte uns, warum sie scheiße waren. In diesem Hörsaal saßen wir nicht zu zweit an Tischen, sondern wie in einem alten Atrium. Ich blickte mich gelangweilt in den geschwungenen Reihen um und blieb an einem stirnrunzelnden Nathanael hängen, der offenbar in der Reihe über mir etwas Spannendes beobachtete. Dort hockte wie immer Colin. Ich blickte zum Padre, der war gerade abgelenkt vom Overheadprojektor. So linste ich fix über die Schulter und hob überrascht die Brauen, weil Colin offenbar pennte.

Was er die Nacht wohl wieder angestellt hatte…

»Miss Hayworths!«, hörte ich es vor mir und ahnte nichts Gutes. Colin wurde ruckartig wach, wobei ihm sein aufgestellter Arm die gleichzeitige Stütze für den Kopf nahm. Konfus drehte ich mich widerwillig um und hatte einen sehr böse guckenden Padre vor mir, der sich sichtlich um Haltung bemühte. Wo kam der denn so plötzlich her, eben war er doch noch beschäftigt gewesen?

»Ja, bitte?«, fragte ich patzig.

»Miss Hayworths, ich bin mir sehr sicher, dass Sie mir am ehesten zuhören sollten, wenn es um die menschlichen Tugenden geht, denn dort weisen Sie einige Defizite auf.« Ach, tat ich das? Ich zählte gedanklich bis zehn und schluckte seine Bemerkung runter.

»Tatsächlich?« Ich heuchelte Interesse vor und stützte mein Kinn auf meine Handinnenfläche. Der Padre kreuzte seine Finger vor sich und ich war mir sicher, dass ihm bei dieser kleinen Zurechtweisung bereits einer abging.

»In der Tat. Ihnen würden einige Nachhilfestunden unter meiner Führung…« Mir fiel es schwer, meine Mimik im Griff zu behalten. Auf gar keinen Fall würde ich bei ihm Nachhilfe nehmen! Ich sah zwar, dass er etwas sagte, aber der Gedanke von ihm und mir allein in einem Raum ließ mich taub werden.

»Pater Vaughn, könnten wir vielleicht fortfahren? Ihre Ausführungen über die Wiederkehr des Antichristen waren so interessant«, kam es von rechts. Wer redete denn so einen Unsinn? Der Padre und ich blickten beide zur Stimme und ich hob baff die Brauen, denn die Aussage war von Étienne gekommen. Der Padre räusperte sich und nuschelte ein ›Ja, sicher‹, als er sich von mir wegdrehte und zurück zum Pult ging. Étienne zwinkerte mir zu. Sehr eigenartig, normalerweise war sich hier jeder der Nächste. Aber okay, das Gegenteil hatte er ja bereits gestern bewiesen. In meinem Rücken hörte ich ein eingeschnapptes Schnaufen. Gott, wie lächerlich! Es war ja nicht so, als hätte Colin eine angehende Ehefrau an seiner Seite, oder? Am Ende der Vorlesung gaben wir unsere Hausarbeiten ab und ich hoffte wirklich, dass Elisa ihre Antworten so weit abgeändert hatte, dass es nicht auffiel, woher sie diese hatte – nämlich von mir. Einen Nachmittag mit dem Padre würde ich nicht überstehen, er allerdings auch nicht. Bei dem Blick, den sie mir bei ihrer Abgabe zuwarf, wurde ich skeptisch, aber ich hoffte jetzt trotzdem mal das Beste.

Am Mittagstisch saß mir niemand Geringeres als Lance Woodgrove gegenüber. Er war der Enkel von Lady Woodgrove und das Wort ›exzentrisch‹ genügte nicht einmal ansatzweise, um Lance zu beschreiben. Sein Teint erinnerte mich an die Karamellfüllung meiner Lieblingsschokolade. Für einen Afroamerikaner war er irgendwie zu hell und für einen typischen Europäer zu dunkel. Seine Gesichtszüge waren genauso schwer einzuordnen, die vollen Lippen sprachen wieder für seine ursprünglichen Wurzeln, die großen blauen Augen wiederum nicht. Er war ein vollkommener Gegensatz! Er war gepierct an Ohren und Nase und tätowiert an den Händen – wo noch überall wollte ich nicht wissen. Das stand für sein exzentrisches Wesen, gleichzeitig war er unser IT-Nerd und diese Typen waren ja häufig sozial nicht sonderlich begabt und fielen ungern auf, aber genau das tat Lance: auffallen, immer und überall, wo er auftauchte, und trotzdem ging ihm alles am Arsch vorbei. Ich mochte ihn auf eine widerwillige Art und Weise, auch wenn ich nicht recht schlau aus ihm wurde. Erst recht nicht, wenn man wusste, wie Lady Woodgrove aussah – nämlich wie eine verstaubte Queen Victoria. Er hing hinter seinem Tablet, mit überkreuzten Beinen und in seinem Stuhl zurückgelehnt, dabei strahlte er so viel Eleganz aus, dass ich nur verquer mit der Stirn runzeln konnte.

»Als was gehst du zu Halloween?« Er sah nicht auf, weswegen ich ein paar Sekunden brauchte, um zu verstehen, dass er mit mir sprach.

»Mia?«, fragte er erneut und blickte mich nun direkt an.

»Keine Ahnung. Ich weiß noch nicht, was die anderen tragen.« Ich würde also eher danach gehen, was an Möglichkeiten noch frei war, falls ich mal einen Blick auf die Liste werfen würde, die mir sicher irgendwann einmal zugeschickt werden würde. Bisher hatte sie mich nicht interessiert und wo sie in meinem Mailpostfach abgeblieben war, wusste ich auch nicht. Falls Alicia die Mail geschickt hatte… tja, dann hatte ich sie mit Sicherheit ungelesen gelöscht.

»Hast du die Liste nicht?« Ich sparte mir die pampige Antwort, dass mich die Scheißliste eigentlich nicht interessierte, und sagte ihm stattdessen, dass ich sie nicht mehr hatte. Er reichte mir sein Tablet über den Tisch. Ich überflog sie knapp und verblüfft erkannte ich recht schnell, dass ich die Einzige war, die noch kein Kostüm hatte. Ja, ganz super! Mein Mund verzog sich grübelnd von links nach rechts im Wechsel, während ich die Kostüme und Namen der Mädels durchging. Hmm, alle, die mir bisher eingefallen waren, waren schon belegt.

Die der Jungs interessierten mich nicht sonderlich, da ich mich nach ihnen wenigstens nicht richten musste.

»Als was gehst du?«, fragte ich also erstmal, um mich zu sammeln.

Lance lächelte schief, das hieß bei ihm nie was Gutes.

»Pennywise.« Als bösen Clown konnte ich mir hier so einige vorstellen.

»Aha«, murmelte ich und rätselte weiter. Mit einem genervten Seufzer legte ich das Pad zurück auf den Tisch. »Ach, was weiß ich!«

»Vielleicht fällt dir im Laden noch was ein.« Jaja, sagte mein Nicken.

Elisa setzte sich mit einem ›Uff‹ zu uns und erkannte die noch offene Liste auf dem Tablet.

»Ach je, hast du noch immer keine Idee?«

»Nein. Wo kommst du jetzt her?« Mit dem Mittagessen waren wir eigentlich so gut wie durch. Elisa nahm fix die Speisekarte von heute und überflog sie eilig.

»Meine Mutter hat in der Verwaltung angerufen und musste unbedingt mit mir sprechen.« Ach ja, die gute Mrs. Adams! Ich hatte sie auf dem letzten Winterball im Januar kennenlernen dürfen, war eine Erfahrung wert.

»Worum gingʼs?«, hakte ich nach und sah eine Servicekraft auf uns zukommen, die Elisas Bestellung aufnahm. Sie wählte die Gemüselasagne. Hoffentlich hatte sie mehr Glück, mein Curry war nicht der Knaller gewesen. Natürlich hatten wir in unserem eigenen Essensbereich Tischservice und kein Buffet wie die Damned vorn. Das wäre mir persönlich lieber gewesen.

»Sie wollte mich nur daran erinnern, dass ich zu ihrem Geburtstag bitte nach Hause kommen soll und ich dafür noch den Antrag ausfüllen muss. Also nicht wichtig.« Wir durften nicht jedes Wochenende das College verlassen, um zum Beispiel über Nacht nach Hause zu fahren, sondern nur in den Ferien und einmal im Monat. Dorfbesuche oder Ausflüge in die nächstgrößere Stadt Silloth waren okay, aber ansonsten brauchten wir eine Ausnahmegenehmigung, die von unseren Eltern abgesegnet sein musste. »Geh doch als irgendwer von Harry Potter, Mia«, nuschelte sie und wartete gespannt auf ihr Essen. Perfekter Themenübergang.

»Als Lord Voldemort, oder was?«, fragte ich pampig.

»Der ist schon weg, Mia. Und ich meinte auch eine Hexe«, kam es leicht genervt von ihr zurück. Nach einem Gespräch mit ihrer Mom war sie immer etwas ›erregt‹. Mrs. Adams konnte ab und an recht schwierig sein. Moment mal, was hatte sie davor gesagt? Ich hakte nach:

»Warte mal, wer geht denn bitte als Lord Voldemort?« Elisa verzog gequält das Gesicht. »Russell???«, tippte ich mal.

»Mhm, genau. Passt ja perfekt zu meinem Kostüm.« Mit ihrem Kostümnamen hatte ich auf der Liste nichts anfangen können, das erkannte sie auch an meiner Mimik. »Ich gehe als Sarah Sanderson, die blonde Hexe aus Hocus Pocus.« Aaaah, da klingelte was.

»Na ja, Hexer seid ihr ja dann beide zumindest. Ihr hättet doch als die Malfoys gehen können.« Dann erzählte sie mir lang und breit, dass das ja nicht ginge, weil sie sich sonst die Haare färben müsste. Lance war zwischenzeitlich abgehauen und hatte mich mit der buttercremeblonden Elisa allein gelassen. Ihr Essen war zwischenzeitlich gekommen und die Lasagne sah wirklich nicht verkehrt aus.

»Hey! Geh doch als Bellatrix Lestrack«, kam es dann mit halb vollem Mund von ihr.

»Du meinst Bellatrix Lestrange?« Meine Korrektur gefiel ihr zwar nicht, aber artig segnete sie das trotzdem ab.

»Jaja, dann halt die!« Ich dachte darüber nach. Na ja, dunkelhaarig war die Hexe ja zumindest. Die Idee war nicht so dumm, da ich auch keinen riesigen Aufwand betreiben wollte. Ja, Halloween war schon ganz cool, aber für mich nicht das Highlight des Jahres, auf das ich mich Monate vorher vorbereitete. »Außerdem sind die Malfoys bereits weg.« Hä? Wie kam sie jetzt darauf? Manchmal konnte ich ihr nicht folgen.

»Lass mich raten…« Ich tippte mir gespielt an die Lippen. Denn auf sowas würde nur eine von uns kommen.

»Genau, Virginia und der arme Colin.« Pah, armer Colin??? Missmutig stand ich auf, da mein Rechtskurs gleich anfangen würde, und nahm meinen Rucksack.

»Sicher. Die zwei sind perfekt füreinander, warum sollten sie nicht auch als Halloween-Paar zusammen gehen?«, fragte ich trocken. Sie sah mich irritiert an.