Blindwütiger Wahn: Thriller - Thomas West - E-Book

Blindwütiger Wahn: Thriller E-Book

Thomas West

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Beschreibung

Blindwütiger Wahn Thriller von Thomas West Der Umfang dieses Buchs entspricht 236 Taschenbuchseiten. Mickey Archer hält sich für auserwählt, die Welt von Dreck und Abschaum zu befreien – seit ihm diese weiße Gestalt erschien, die er Jefferson nennt. Der verlangt von ihm, die >Dreckschleudern< aus der Filmbranche zu beseitigen. Nach seinem ersten Opfer hatte sein Vater, der für die Präsidentschaft kandidiert, dafür gesorgt, dass die Sache vertuscht wurde. Stattdessen hatte man Mickey in einer psychiatrischen Anstalt mit Pillen vollgestopft; aber da die verhinderten, dass er Jefferson sah, nahm er sie nicht mehr. Seither versetzen die grausamen Morde des >Nagelkillers< in Kalifornien die Film- und Fernsehstars in Angst. Als der erste Mord in New York geschieht, werden die Special Agents Jesse Trevellian und Milo Tucker vom FBI auf den Serienmörder angesetzt ...

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Inhaltsverzeichnis

Blindwütiger Wahn

Copyright

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Blindwütiger Wahn

Thriller von Thomas West

Der Umfang dieses Buchs entspricht 236 Taschenbuchseiten.

Mickey Archer hält sich für auserwählt, die Welt von Dreck und Abschaum zu befreien – seit ihm diese weiße Gestalt erschien, die er Jefferson nennt. Der verlangt von ihm, die >Dreckschleudern< aus der Filmbranche zu beseitigen. Nach seinem ersten Opfer hatte sein Vater, der für die Präsidentschaft kandidiert, dafür gesorgt, dass die Sache vertuscht wurde. Stattdessen hatte man Mickey in einer psychiatrischen Anstalt mit Pillen vollgestopft; aber da die verhinderten, dass er Jefferson sah, nahm er sie nicht mehr. Seither versetzen die grausamen Morde des >Nagelkillers< in Kalifornien die Film- und Fernsehstars in Angst. Als der erste Mord in New York geschieht, werden die Special Agents Jesse Trevellian und Milo Tucker vom FBI auf den Serienmörder angesetzt ...

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author / Cover: Firuz Askin

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

[email protected]

Prolog

Manhattan, Ende Oktober 1999

Ein Dunstteppich lag auf dem Hudson. Als würde das Wasser kochen. Aber es kochte nicht. Es war kalt. Eiskalt.

Langsam glitten wir durch den nächtlichen Fluss. Keine heftigen Schwimmstöße, kein kraftvolles Rudern mit den Beinen - bloß nicht das Wasser allzu sehr bewegen, nur kein Plätschern verursachen. Die Konturen des Schiffrumpfes vor uns schälten sich immer deutlicher aus Dunkelheit und Dunst.

Es ging nicht nur darum, die Yacht möglichst schnell zu erreichen - es ging vor allem darum, sie unentdeckt zu erreichen. Jedes Geräusch konnte ein Todesurteil bedeuten. Ein Todesurteil für die Menschen im Rumpf des Schiffes ...

Milo schwamm an meiner rechten Seite. Die Kälte des Wassers kroch durch die Isolierschicht meines Tauchanzuges. Meine Fingerspitzen schienen sich bereits in Eiszapfen zu verwandeln. Dabei trugen wir Handschuhe und eine zweite Haut aus nicht leitendem Spezialkunststoff. Angeblich konnte man damit bei Wassertemperaturen knapp über dem Gefrierpunkt zwei Stunden lang überleben. Wir hatten nicht vor das zu testen.

Ich blickte mich um. Hinter uns, etwa vierzehnhundert Meter entfernt, ragte die nächtliche Skyline Manhattans in den dunklen Himmel. Ein Dschungel aus glitzernden Säulen unter einer matten Lichtkuppel. Keine Spur mehr von dem Kajak, der uns vom Battery Park aus bis auf dreihundert Meter an die Yacht herangebracht hatte. Dunst und Dunkelheit hatten seinen Schatten längst verschluckt.

Der Schiffsrumpf vor uns war jetzt deutlicher zu erkennen. Kein Motorengeräusch, kein aufschäumendes Wasser unterhalb des Hecks über der Schraube. Die Yacht trieb ohne Fahrt auf dem Hudson. Aber nicht ohne Besatzung. Das wussten wir.

Der Dunst kam uns entgegen. Mit ein bisschen Glück würden sie uns nicht entdecken. Den Kajak oder sonst ein Boot hätten sie längst gesichtet.

Vor mir schaukelte ein aufgeblasenes Kunststoffkissen. In ihm, geschützt vor der Nässe, ein Funkgerät, zwei Maschinenpistolen, ein Nylonseil und ein paar Blendgranaten.

Schweigend glitten wir durch Wasser und Dunst. Noch knapp fünfzig Meter bis zur Yacht. Wir steuerten ihr Heck an. Ein Lichtfleck schob sich aus ihrem Schatten in unser Blickfeld. Die Statue of Liberty im Licht der Strahler. Etwa anderthalb Kilometer entfernt. Und dahinter, im Dunst kaum noch wahrnehmbar, die Skyline von Jersey City.

Milos Arm hob sich aus dem Wasser. An der Yacht vorbei deutete er nach Süden in den Himmel. Ein Band verwaschener Lichtflecken schimmerte über der nächtlichen Upper Bay. Als würde ein Fackelzug dort oben flussaufwärts schweben. Mit ein bisschen Fantasie konnte man sich auch den Anflug einer Ufo-Flotte vorstellen. Oder noch exotischere Erscheinungen.

Es war natürlich kein Fackelzug. Und schon gar keine Ufo-Flotte. Es war das Ergebnis eines organisatorischen Meisterstücks der Zentrale. Dort, in der Federal Plaza, saßen Orry Medina und Clive Caravaggio. Und Jonathan McKee, unser Chef. Sie leiteten den Einsatz. Und sie legten ein perfektes Timing hin. Das Lichtband am Himmel war der Beweis.

Wir erreichten das Schiff. Eine Hochsee-Yacht von gut dreißig Meter Länge. Ich schob das Lastkissen an den Schiffsrumpf, Milo griff nach dem Nylonseil und legte den Kopf in den Nacken. Anderthalb Meter über uns die Heckreling der Yacht.

Wir lauschten. Eine Stimme drang aus der Dunkelheit. Eine Männerstimme. Irgendwo am Bug des Schiffes redete jemand. Und zwar ziemlich laut. Wir wussten nicht, mit wem der Mann sprach.

Die erste größere Klippe unseres Einsatzes lag vor uns. Mein Partner nahm den Widerhaken am Ende des Seils und wog ihn in der Hand. Eine dicke Gummischicht überzog das faustgroße, stachlige Teil. Ganz würden sich Geräusche nicht vermeiden lassen.

Milo warf den Widerhaken zur Reling hinauf. Er fiel über den Brüstungsholm der Reling, schlug dumpf gegen das Gestänge und pendelte hin und her. Atemlos lauschten wir. Keine Schritte, nichts. Noch immer die Stimme von der anderen Seite der Yacht. Irgendjemand schien am Bug zu stehen und die Lichter am Himmel zu betrachten.

Milo zog am Seil, bis sich der Widerhaken in der Reling verfing. Ich kletterte als erster an Bord. Meine klammen Finger schlossen sich um die Reling. Ohne die genoppten Innenflächen der Handschuhe wäre ich abgerutscht. Ich zog mich hoch, schwang mich über die Reling und drückte mich flach aufs Deck.

Wieder lauschen, wieder nach allen Seiten sichern. Keine Schritte näherten sich. Rechts die glitzernden Konturen des Big Apples, links, undeutlich, die Statue of Liberty im Scheinwerferlicht. Und über dem Hudson waberte der Dunst. Nacheinander reichte Milo mir die Ausrüstungsstücke hinauf.

Es passierte in dem Augenblick, in dem Milo über die Brüstung kletterte - ein seltsames Fauchen vom Bug her, ein dumpfer Knall, und plötzlich lag flackernder Lichtglanz über dem Dunst rechts und links des Schiffes.

Wir rollten uns dicht an die Deckaufbauten. Die Maschinenpistolen im Anschlag spähten wir zum Bug. Von dort kam das Licht. Wir sahen seine lodernde Korona, aber den Blick auf die Feuerquelle selbst verstellten uns noch die Deckaufbauten. Ich fröstelte.

Milo deutete hinauf zum Kajütendach. Wir kletterten hoch. Meter um Meter arbeiteten wir uns Richtung Bug voran. Es stank nach Benzin und verbranntem Haar. Behutsam schoben wir uns am Rettungsboot vorbei bis auf das Dach des Navigationsraums.

Und dann sahen wir das Feuer. Zwischen dem spitzen Winkel der Bugreling brannte es auf einer Art Tisch oder Podest. Es sah aus wie ein Scheiterhaufen. Grelle Flammen loderten über ihrem Fraß und schickten schwarzen Qualm in den Nachthimmel. In ihnen ein undefinierbarer Haufen brennbaren Materials. Nur eines erkannte ich genau - die Umrisse eines menschlichen Körpers ...

Eine Frostschicht überzog mein Zwerchfell und das Innere meines Brustkorbes. Der Atem stockte mir. Ein menschlicher Körper, ohne Zweifel - aus seinem Kopf ragte ein langer Gegenstand.

Ein Mann stand unter uns auf dem Vorderdeck zwischen Feuer und Navigationsraum. Wir konnten keine Waffe in seinen Händen erkennen. Er trug einen hellen Trenchcoat, blickte in den Himmel der heranschwebenden Lichterkette entgegen und breitete die Arme aus. Unverständliche Worte stieß er aus, beschwörend, flehend. Worte, die ich nicht begriff ...

Wir wussten, dass wir keinen gewöhnlichen Verbrecher jagten. Wir wussten, dass wir dem Wahnsinn auf der Spur waren. Ja, dem Wahnsinn. Aber etwas mit dem Kopf zu wissen, und etwas mit allen Sinnen zu erleben - das sind zwei Paar Stiefel...

Als hätte der Mann in dem hellen Trenchcoat meine Gedanken gespürt, drehte er sich um ...

*

Ein paar Tage später in der Federal Plaza. Schneeregen klatschte gegen die Fensterscheiben. Ich saß allein in unserem Büro. Der Sessel hinter Milos Schreibtisch war leer. Ich starrte in den bleigrauen Herbsthimmel. Die Spitzen der Hochhaustürme vor meinem Fenster verschwanden in dichten Wolken.

In allen Knochen hing mir die Erschöpfung. Und die Trauer. Vor mir auf dem Schreibtisch stapelten sich Papiere: Verhörprotokolle, Laborberichte, Aktennotizen, Personendossiers, Berichte des Erkennungsdienstes, und so weiter und so weiter.

Die Unterlagen mussten gesichtet und in eine sinnvolle Ordnung gebracht werden. Die Staatsanwaltschaft wartete auf unseren Bericht. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Und alles in mir sträubte sich dagegen überhaupt anzufangen.

Weniger, weil ich die Arbeit für sinnlos hielt - nach meiner Einschätzung würde es nie zum Prozess kommen. Aber das war es nicht - ich wollte mit dem Fall einfach nichts mehr zu tun haben. Das war es. Ich wollte ihn so schnell wie möglich vergessen. Aber die erschütternden Bilder und Eindrücke hatten sich in den letzten Wochen zu einem klebrigen Netz verdichtet - wie eine Krake lag es auf meinem Hirn, sonderte Erinnerungen ab und raubte mir den Frieden.

Den Bericht für den Staatsanwalt zusammenstellen und dabei noch einmal alles mit meinem Partner durchsprechen - vielleicht hätte mir das geholfen. Vielleicht. Aber Milos Stuhl war leer, wie gesagt. Ich hatte Sehnsucht nach ihm.

Ich schaltete meinen PC ein. Das Laufwerk tickte, der Bildschirm flammte auf. Aus der untersten Schublade meines Schreibtisches fischte ich eine Schachtel Camel ohne Filter. Ich griff selten zu ihr. Aber das war eine von den Stunden, in denen ich eine Zigarette brauchte.

Ich zündete sie an und blies den Rauch gegen den Aktenstapel auf meinem Schreibtisch. Zuoberst lag ein umfangreiches Dossier über den Mann, der uns so viele schlaflose Nächte bereitet hatte. Vor allem Krankenberichte.

Ich griff danach und schlug sie auf. Eine üble Geschichte. Vermutlich hatte sie schon vor vielen Jahren angefangen. Aber wenn man den Akten glaubte, begann sie erst vor wenigen Monaten ...

1

Manhattan, SoHo, 27. April 1999

Ein Mädchen kletterte die Feuertreppe hinauf. Mickey zog den Vorhang noch ein Stück weiter zurück. Das Mädchen hatte hellblondes, langes Haar.

Er blinzelte über die Green Street in die gusseiserne Fassade auf der anderen Straßenseite. Das Mädchen kletterte auf die Gitterrostplattform des dritten Stockwerks. Es trug ein ärmelloses, weißes Kleid, das ihm bis zu den Knöcheln reichte.

Normalerweise hätte Mickey sich darüber gewundert. Immerhin war es Ende April - ein nasskalter Wind fegte seit Tagen durch Manhattan. Aber Mickey wunderte sich nicht. Fast war ihm, als hätte er nichts anderes zu sehen erwartet, als er sich wenige Augenblicke zuvor aus dem Bett geschoben und zum Fenster geschleppt hatte. Nichts anderes, als dieses Wesen in dem ärmellosen Kleid und mit dem blonden Langhaar.

Das Mädchen trat an die Brüstung. Seine Hände schlossen sich um die Aluminiumholme der Rettungsplattform. Es stützte sich auf und sah zu Mickey herüber.

Mickeys Apartment lag ebenfalls im dritten Stock. Sie befanden sich also auf gleicher Höhe. Er winkte. Das Mädchen reagierte nicht. Eine Windböe wehte ihm das Langhaar ins Gesicht. Das Mädchen machte nicht einmal Anstalten, sich die Strähnen aus Augen und Stirn zu streichen.

Mickey schob das Fenster hoch. Er beugte sich heraus. Es stank nach Abgasen und Ozean. Unten auf der Green Street wälzte sich eine Blechschlange vorbei. Lauter Pendler, die versuchten den Stau auf dem Broadway zu umfahren. Die abendliche Rushhour hatte die Stadt bereits im Griff. Mickey hatte lange geschlafen.

"Hi!" Er winkte noch einmal. "Wie geht's so!?" Das Mädchen reagierte nicht. Reglos stand es an der Brüstung und sah zu ihm herüber. Mickey kniff die Augen zusammen. Er hatte bis gegen Morgen gearbeitet, dabei viel zu viel Gras geraucht, und sich danach schlaflos auf der Matratze gewälzt. Sein Kopf dröhnte, das Bild des Mädchens verschwamm vor seinen Augen. Er hätte gern sein Gesicht gesehen.

"Moment - nicht weglaufen!" Er ruderte mit beiden Armen. "Ich komm' gleich zurück!" Über Bücher, Magazine, leere Flaschen, Kleider, Schuhe und CD-Hüllen hinweg stolperte er zu seinem Kleiderschrank. Er riss die rechte Tür auf. Seine Rechte tastete sich durch das Chaos im obersten Schrankfach. Zwischen Tabaksdosen, Pistolen, Wasserpfeifen, und Camping-Ausrüstung fand er endlich seinen Feldstecher. Er stürzte zurück ans Fenster, setzte die Gläser an die Augen und spähte hinüber in die gusseiserne Fassade. Das Mädchen war weg.

So begann der Tag, an dessen Ende Michael Jefferson Archer begreifen würde, dass er dazu ausersehen war die Welt zu retten.

Bis zu dieser Einsicht war es noch ein Weilchen hin. Noch begriff Mickey gar nichts. Vor allem begriff er nicht, wo das Mädchen geblieben war.

Jedes einzelne Fenster der gegenüberliegenden Hausfassade suchte er mit dem Feldstecher ab, jede Treppe des Feuerleitersystems, jede Plattform, die Dachkante, auch den Bürgersteig vor dem Haus. Nichts.

Ratlos blickte er noch ein Weilchen hinüber. Dann warf er seinen Feldstecher auf die Matratze und zog das Fenster herunter. "Schade", murmelte er.

Das Ticken seines altmodischen Weckers drang in sein Bewusstsein. Ein golden glänzendes Ding mit römischen Ziffern und zwei Glocken rechts und links des Bügels. Mickey bückte sich und fischte ihn aus dem Durcheinander von Büchern und Kleidern neben seiner Matratze. Kurz nach vier. Um fünf hatte er ein Date im >Actor's Studio< am Washington Square. Fechtunterricht war angesagt.

Er nahm ein paar Äpfel und eine Flasche Wasser mit ins Badezimmer. Während das heiße Wasser in die Wanne strömte, betrachtete er sich im Spiegel. "Morgen, Mickey. Alles klar?"

Er drückte die Zahncreme auf seine Zahnbürste. Die Zahnbürste war schwarz, genau wie die Kacheln des Badezimmers und das Kunststoffregal hinter der Badewanne. Hingebungsvoll putzte er sich die Zähne. Dabei beobachtete er sein Spiegelbild. Etwas daran verwirrte ihn. Etwas war anders als sonst. Er zog die Zahnbürste aus dem Mund und beugte sich über das Waschbecken dem runden Spiegel entgegen.

Ein schmales, hohlwangiges Gesicht blickte ihm entgegen. Große, leicht gebogene Nase, breiter Mund mit farblosen, rissigen Lippen, ein kleines Kinn mit einem kurzen Ziegenbärtchen. Das Gesicht eines Halbwüchsigen. Dabei stand Mickeys sechsundzwanzigster Geburtstag ins Haus. Am zweiten Mai. Er hatte eine Fete geplant.

Als wollte er die Wirklichkeit des Spiegelbildes überprüfen, strich er sich über sein dunkles Stoppelhaar. Die Hand, die im Spiegel das Gleiche tat, kam ihm fremd vor. Hatte er schon immer solch große, langgliedrigen Hände gehabt?

Neben Mickey plätscherte das Wasser in die Wanne. Wasserdampf stieg auf. Der Spiegel beschlug sich. Das Gesicht darin verschwand hinter einer Nebelwand. Mit der flachen Hand wischte Mickey über die feuchte Schicht auf dem Spiegelglas. Ein bogenförmiger, breiter Streifen entstand. Braune Augen blickten ihm daraus entgegen. Braune Augen unter schwarzen Brauen und einer hohen Stirn.

Die Augen waren es. Der gehetzte Ausdruck war aus ihnen verschwunden. Seit Wochen gehörte dieser Ausdruck zu Mickey wie die Krümmung seines Nasenrückens oder sein kurz geschorenes Haar zu ihm gehörte. Jetzt war er verschwunden.

Sanft und ruhig lächelten ihm die Augen aus dem wasserdampffreien Streifen im Spiegel entgegen. Fast friedlich. Genau – friedlich ... Wie die Augen eines Menschen, der ganz und gar in sich selbst ruhte.

Selten hatte Mickey so etwas wie Frieden empfunden. Und schon gar nicht ruhte er in sich selbst. Noch nie. Sein ganzes Leben lang nicht. Staunendes Lächeln flog über das Gesicht im Spiegel. "Hey, Mickey", murmelte er, "du bist ja tierisch gut drauf heute ..."

Noch etwa zwei Stunden trennten ihn von der Schwelle zu seiner wahren Existenz.

Später in der Badewanne - Mickey nahm täglich ein heißes Bad, selbst im Hochsommer - versuchte er sich an seine Träume zu erinnern. Irgendetwas war da gewesen, während der wenigen Stunden Schlaf. Irgendetwas Bedeutungsvolles. Ein Bild, ein Gesicht, Bruchstücke eines Satzes. Das Bild des Mädchens auf der Feuerleiter drängte sich in seine Grübeleien.

Je länger er grübelte, desto gewisser glaubte er sich zu erinnern, von dem Mädchen geträumt zu haben.

Er trank Wasser und aß drei Äpfel. Seit sieben Tagen ernährte Mickey sich nur von Obst. Ohne besonderen Grund, einfach so. Seine Gedanken kreisten um das Mädchen. Er fragte sich, ob der ungewohnte Ausdruck in seinen Augen mit dem weißgekleideten, blonden Wesen zusammenhing.

Nach dem Bad zog er sich an. Schwarze Polycotton-Hosen, schwarzes Muskelshirt, schwarzes Leinenhemd, schwarzes Jackett, dunkelrote, knöchelhohe Turnschuhe. Mickey liebte Schwarz.

Während er in seine Kleider stieg, wanderte sein Blick zum Fenster. Wieder und wieder. Über die Green Street zur gusseisernen Fassade auf der anderen Straßenseite. Keine Spur mehr von dem Mädchen. Aber es war da, Mickey spürte es, irgendwo, ganz in seiner Nähe ...

Der Wecker - Mickey fragte sich, ob er nicht gestern noch leiser getickt hatte. Kurz vor fünf, es wurde knapp. Yoshiro, sein Fechtlehrer, verabscheute Unpünktlichkeit. Mickey warf sich seinen schwarzen Wildlederrucksack über die Schulter, verließ sein Apartment und lief die Treppe hinunter.

Vor den Briefkästen stand Larry Plymouth, der Freak, der seit zwei Monaten über ihm wohnte. Ein Afro, er grüßte und lächelte dabei sogar. Das hatte er noch nie gebracht.

Zwei Briefe im Briefkasten. Einer von seinem Vater, und einer vom >Actor's Studio<. Vor dem Haus blieb Mickey einen Augenblick stehen und schaute noch einmal hinüber auf die andere Straßenseite. Das Mädchen war nirgends zu sehen.

Im Dauerlauf lief er die Green Street bis zur Spring Street hinunter. Und dann die Spring Street bis zur Sixth Avenue. Dort hinunter in die Metro-Station. Die Bahn fuhr in dem Augenblick ein, als er den Bahnsteig erreichte. Mickey hielt das für ein gutes Zeichen. Auch dass er einen freien Platz fand, hielt er für ein gutes Zeichen.

Die Bahn fuhr an. Mickey dachte über die merkwürdige Häufung guter Zeichen an diesem Tag nach. Erst das blonde Wesen auf der Feuerleiter, dann seine Augen im Spiegel, dann Plymouth so freundlich, und jetzt die Bahn und der freie Platz. Das musste etwas zu bedeuten haben, ganz sicher hatte es etwas zu bedeuten. Mickey vermutete, dass es mit dem Mädchen zusammenhing. Ganz stark vermutete er das. Warum sonst spürte er die Gegenwart des Mädchens, obwohl der Zug ihn längst aus SoHo heraustrug?

Er blickte sich um. Das blonde Wesen in Weiß saß nirgends. Fast war er enttäuscht.

Blicke trafen ihn. Er glaubte zu sehen, dass einige Fahrgäste rasch die Köpfe drehten oder senkten oder hinter Zeitungen verschwinden ließen. Als hätten sie ihn zuvor die ganze Zeit beobachtet. Sie schauen mich an, dachte er, sie beobachten mich ... irgendwas ist an mir, das sie fasziniert, das sie beeindruckt ...

Noch knapp vierzig Minuten trennten ihn von seinem wahren Leben.

Er öffnete den Brief von der Schauspielschule. Sie wollten Geld von ihm. Auf über neunhundert Dollar waren seine Schulden bei der Schule inzwischen gewachsen.

Mickey finanzierte seine Ausbildung als Schauspieler hauptsächlich durch Thekenjobs. Seit Anfang des Jahres bediente er hinter der Theke des >Substages<, einer Discothek in der White Street. In letzter Zeit häuften sich auch die Anfragen kleinerer Theater. Obwohl er seine Ausbildung erst im Sommer abschließen würde. Mickey war einfach gut. Und so etwas sprach sich herum.

Während er den Brief von seinem Vater öffnete, wunderte er sich über die Ruhe, die ihn ausfüllte. Kein Knoten im Bauch, keine Enge in der Brust wie sonst, wenn er Post von seinem Vater bekam oder gar mit ihm telefonierte. Ganz entspannt fühlte er sich. Mickey entfaltete den Brief. Wie immer benutzte sein Vater auch diesmal den offiziellen Briefkopf des Senats. Mickey las:

Lieber Jefferson,

danke für deinen Brief. Schade, dass du nur dann schreibst, wenn du Geld brauchst. Du weißt, dass ich dir nicht nur das Studium, sondern auch das Leben in Boston oder Washington finanziert hätte. Für die Ausbildung in New York City musst du selbst aufkommen. Du kennst mein Prinzip - wer sich gegen besseren Ratschlag für einen Weg entscheidet, muss auch die Konsequenzen allein tragen.

Mum geht es gut. Mir auch. Wir melden uns an deinem Geburtstag.

Gruß. Dein Vater.

Mickey blickte in die dunkle Scheibe des Zugfensters. Dein Vater ... Die Tunnelwände rauschten vorbei. Jefferson ...

Sein Vater war der einzige Mensch auf der Welt, der ihn noch immer >Jefferson< nannte. Selbst seine Mutter hatte in der vorletzten Highschool-Klasse angefangen, ihn Mickey zu nennen. So wie seine Freunde ihn nannten.

Die Finger seiner Rechten zupften kleine Schnipsel aus dem Brief. Sie schwebten an seinen schwarzen Hosen entlang und landeten zwischen seinen Turnschuhen auf dem Boden.

Mickeys Vater hätte gern gesehen, dass Mickey Jura oder Volkswirtschaft studierte. Die Schauspielerei war ihm suspekt. Er verachtete sie sogar. Mickey glaubte nicht, dass es an der Schauspielerei lag. Er glaubte, dass es an ihm lag. Sein Vater verachtete ihn, glaubte er. Er glaubte das schon lange.

Der Zug bremste ab, Mickey stand auf. Sein Blick fiel auf den Boden. Lauter kleine Papierfetzen. Nur noch die Hälfte des Briefes hielt er in der Hand. Er faltete ihn zusammen und steckte ihn in sein Jackett.

Im Laufschritt jagte er die Treppe hoch. Und dann am Washington Square Park entlang. Das >Actor's Studio< lag zwischen der New York University und dem Washington Square Village. Er lief in das Grundstück hinein und vorbei an der großen Jugendstil-Villa in den Hof, wo die kleine flache Sporthalle der Schule stand.

Er kam fast zehn Minuten zu spät. Sechs meist junge Männer und Frauen hockten in einem weiten Kreis am Boden um den Fechtlehrer herum. Yoshiro Obaiyoshi, ein drahtiger, knapp vierzigjähriger Japaner, bedachte ihn mit einem finsteren Blick. Mickey nickte nur stumm. Obwohl er wusste, dass Yoshiro eine Entschuldigung erwartete.

Er zog Jacke und Hemd aus und setzte sich wortlos in den Kreis. Yoshiro räusperte sich, bevor er den Faden wieder aufnahm. "Also weiter - beim Sportfechten kommt es darauf an, den Gegner zu treffen. Anders gesagt, du musst dir Bewegungsabläufe und Schlag- und Stoßtechniken aneignen, mit denen du den Gegner überraschen kannst. Du musst seine Reaktionszeit unterschreiten, du muss ihn täuschen."

Zwei Jahre lang stand 'Bühnenfechten' auf dem Unterrichtsplan der vierjährigen Ausbildung. Mickey nahm seit einem halbem Jahr an dem Kurs teil. Zweimal in der Woche fand er sich mit den sechs anderen hier in der Halle zusammen, um bühnen- und filmreifes Fechten zu lernen.

"Ganz anders das Bühnenfechten - ich kann's euch nicht oft genug sagen", fuhr Yoshiro fort. "Hier kommt es genau auf das Gegenteil an: Dein Partner muss deine Bewegungsabläufe und deine Hiebe kennen und vorausahnen. Es ist ein Tanz, den ihr beide auf der Bühne oder vor der Kamera tanzt. Ein Tanz bei dem jede Schrittfolge festgelegt ist. Ein Tanz mit dem Degen!"

Der japanische Fechtlehrer sprach schnell. Er spuckte die Worte geradezu aus. Seine Miene aber und sein Körper blieben dabei vollkommen unbewegt. Mickey betrachtete das breite, harte Gesicht des Mannes. Wie eine Maske kam es ihm vor. Wie eine steinerne Maske, hinter der sich ein Unbekannter verbarg.

Zum ersten Mal kam Mickey der Gedanke Yoshiro wäre womöglich gar nicht Yoshiro.

Der Japaner bückte sich nach einem der acht Kurzdegen, die in einem Halbkreis zu seinen Füßen lagen. Zweimal ließ er die Klinge durch die Luft sausen. Das pfeifende Geräusch ließ Mickey erschauern.

"Ihr versteht", sagte der Japaner. "Ihr kämpft nicht wirklich. Aber wenn ihr kämpft, müsst ihr dem Zuschauer die Illusion vorgaukeln, ihr würdet kämpfen. Der Zuschauer muss davon überzeugt sein, dass ihr um euer Leben kämpft. Oder dass ihr um jeden Preis töten wollt ..."

Mit einer herrischen Handbewegung wies Yoshiro Obaiyoshi auf die Degen vor ihm am Boden. Die Schüler standen auf. Jeder griff sich eine Waffe. "Ihr habt inzwischen gelernt den Schwerpunkt eures Körpers stabil über der Standfläche eurer Füße zu halten und euch gemeinsam mit dem Partner auf einer gemeinsamen Gefechtslinie zu bewegen."

Das Mädchen von der Feuertreppe tauchte auf Mickeys innerer Bühne auf. Er glaubte, ihre Nähe zu spüren. Unwillkürlich sah er sich um.

"Bist du bei der Sache, Mickey?", schnarrte Yoshiro. Mickey nickte. Der Japaner winkte ihn zu sich. Breitbeinig nahmen sie zwei Schritte voneinander entfernt Aufstellung. Die Degen gezückt, die Oberkörper leicht nach vorn gebeugt standen sie sich gegenüber. Ohne Vorwarnung ging Yoshiro auf Mickey los. Leichtfüßig tänzelte der zur Seite, zog die Klinge hoch, fing den Hieb des anderen ab, und griff selbst an. Yoshiro parierte, die Degen klirrten aufeinander.

So ging das ein Weilchen hin und her, der eine griff an, der andere wehrte ab, und so weiter. Alles mit genau einstudierten Schrittfolgen, und alles von einer geraden Gefechtslinie aus. Meistens war es Mickey, mit dem der Fechtlehrer die Paraden und Schritte demonstrierte. Auch im Fechtunterricht war Mickey der Beste.

Yoshiro ließ den Degen sinken. "Und nun ihr", befahl er. Paare bildeten sich, Degen prallten aufeinander, die einstudierten Paraden wurden geübt. Der Japaner, mit ausdrucksloser Miene, ging von einem Paar zum anderen, kritisierte, zeigte, wie man es besser machte. Er lobte nie.

Wer ist dieser Mann wirklich?, fragte sich Mickey.

"Letzte Woche haben wir gelernt, die Gefechtslinie zu verlassen!", sagte Yoshiro. "Drehungen, ausweichen, antäuschen, unter den gegnerischen Hieben wegtauchen." Wieder demonstrierte Yoshiro die Schlag- und Schrittkombinationen und die Bewegungsabläufe zusammen mit Mickey. "Und jetzt alle!", rief der Fechtlehrer ohne von Mickey abzulassen.

Vier Kampfpaare bewegten sich durch die Halle. Die Klingen zischten durch die Luft, metallenes Klirren, Funkensprühen und Kampfgeschrei.

Wie immer schrie Yoshiro am lautesten. Viel lauter als sonst, fand Mickey. Es ging ihm durch Mark und Bein. Er parierte die Hiebe des Lehrers, drehte sich, tanzte vor und zurück, duckte sich, sprang hoch, schlug zu und wehrte die gegnerische Klinge ab.

Das steinerne Gesicht des Japaners verschwamm plötzlich vor Mickeys Augen. Mickey drosch auf seine Deckung ein, dass die Degen sich bogen. Was ist das für ein Gesicht? Yoshiros Miene verzerrte sich zur grimmigen Maske. Wer ist dieser Mann? Mickey wich zurück, drehte sich, tanzte auf die linke Seite des Japaners. Wie ein Dämon sieht er aus, wie ein Teufel, wie ein Alien ... Yoshiro griff an, Mickey riss den Degen hoch, drückte die Klinge des Gegner zur Seite - und dann fiel sein Blick auf die Tür der Sporthalle.

Dort sah er eine weißgekleidete Gestalt mit blondem Haar. Das Mädchen von der Feuertreppe. Wie eine Statue stand es vor der verschlossenen Tür und deutete mit ausgestrecktem Arm auf Yoshiro Obaiyoshi ...

"Schlaf nicht ein!", fauchte Yoshiro. Er stach nach Mickey Bauch. Die Klinge berührte den schwarzen Stoff seines Muskelshirts. "Abwehren, drehen, angreifen!", schrie der Japaner.

Er will mich töten ... Mickey sprang zurück, drehte sich einmal um seine Achse, legte eine Angriffsparade hin, und führte drei heftige Hiebe gegen Yoshiros Degen. Er will mich töten ... Wieder und wieder schlug er zu. Noch immer die weiße Gestalt an der Tür, ihr blondes Haar, ihr ausgestreckter Arm. Etwas Böses beherrscht ihn, etwas, das dein dein Feind ist, etwas, das dich töten will ...

Yoshiro brüllte und riss den Degen hoch, doch statt auf die Deckung zu schlagen, führte Mickey einen Stoß unter der Deckung des Lehrers hindurch. Mit aller Kraft stach er zu.

Yoshiros Schrei gellte durch die Halle. Die anderen sechs fuhren herum. Mit aufgerissenen Augen und offenen Mündern sahen sie ihren Fechtlehrer rückwärts durch die Halle taumeln.

Sein Schrei ging in röchelndes Gurgeln über. Er strauchelte und schlug lang hin. Ein paar Sekunden hielt er noch die gespreizten Hände über seinen Kopf, bevor sie leblos neben seinen Körper fielen. Mickeys Degen ragte aus seinem linken Auge.

Für Sekunden herrschte Totenstille in der Halle. Dann ließ eine der Schauspielschülerinnen ihren Degen fallen, schlug die Hände vor den Mund und schrie hysterisch ...

*

Washington, D.C., 29. April 1999

"Gute Nachricht, Billy!" Der hagere Mann trug dunkelblauen Nadelstreifen-Zwirn und eine breite, bordeauxrote Krawatte. Sein braungebranntes, jugendliches Gesicht strahlte, als er in das Büro des Senators stürmte. "Der Termin mit Giuliani steht!" Triumphierend schwenkte er einen Briefbogen über dem Kopf. "Eben kam das Fax mit der Bestätigung."

"Prächtig, Tom, prächtig!" Senator William Archer erhob sich aus seinem ledernen Schreibtischsessel. Er wies auf die Sitzgruppe um den Konferenztisch. "Wann?"

"Ende September." Thomas Barnfield ließ sich auf einen der Armlehnen-Stühle fallen und legte das Fax auf den ovalen Tisch. Er organisierte den bevorstehenden Wahlkampf des Senators. William Archer hatte es sich in den Kopf gesetzt im nächsten Jahr Präsident der Vereinigten Staaten zu werden.

"In fünf Monaten also", knurrte er und setzte sich Barnfield gegenüber. "Zeit genug, um die Wahlschlacht vorzubereiten."

"Ein genialer Zug, in New York City zu beginnen." Der knapp vierzigjährige Barnfield machte ein zufriedenes Gesicht. "Giuliani hält große Stücke auf dich. Er wird ein paar Zweifler unter den Wahlmännern von dir überzeugen."

"Ich weiß, Tom, ich weiß." Der Bürgermeister von New York City war ein alter Freund von Archer. Ein Law-and-Order-Mann, aus dem gleichen Holz geschnitzt wie er selbst.

Der Senator zog die Konsole der Gegensprechanlage zu sich heran und drückte auf einen Knopf. "Bringen Sie uns doch einen Kaffee, Rita."

William >Billy< Archer war einen halben Kopf größer als sein Wahlkampfmanager Barnfield. Und er wog vermutlich vierzig bis fünfzig Pfund mehr. Der Stoff seines anthrazitfarbenen Dreiteilers spannte sich über Schultern und Brustkorb. Silbergraues Haar bedeckte seinen großen Schädel, kurzgeschnitten und akkurat frisiert. Er hatte breite, sinnliche Lippen und eine große Hakennase. Hinter vorgehaltener Hand nannten ihn seine Gegner >Geier<. Man munkelte, dass Archer sich diesen Spitznamen nicht nur wegen seiner krumme Nase eingehandelt hatte.

Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Für seine achtundfünfzig Jahre sah er erstaunlich gut aus. Auch wenn sich unübersehbar ein Bauchansatz unter seiner Weste wölbte. "Ist die Kriegskasse gefüllt?", erkundigte er sich.

"Wir nähern uns der Zwanzig-Millionen-Grenze", verkündete Barnfield stolz. Archer nickte zufrieden. Er wusste, dass er die hohe Summe zum größten Teil seinem rührigen Manager zu verdanken hatte. Nur dreißig Prozent des Geldes stammten aus dem persönlichen Vermögen des Senators. Barnfield scheute keine Mühe bei Konzernen und Prominenten um Spenden zu bitten.

"Fast so viel wie Mercury", sagte Barnfield. "Und zehn Millionen mehr als Baker."

Henry Mercury und Frederick Baker gehörten zur Republikanischen Partei. Genau wie Billy Archer. Und genau wie er wollten beide als Präsidentschaftskandidat der Republikaner im nächsten Herbst gegen den Kandidaten der Demokraten antreten.

"Na prächtig", brummte der Senator. "Dann kann der Krieg ja losgehen."

Die Vorwahlen würden im September beginnen. Ein Marathon von zahllosen Terminen und öffentlichen Auftritten. Zwei würden auf der Strecke bleiben. Den Industriellen Frederick Baker fürchtete Archer nicht. Doch Henry Mercury war Gouverneur von Texas. Er hatte viele Freunde in der Partei. Trotzdem war der Senator zuversichtlich ihn bei den Vorwahlen schlagen zu können.

Billy Archer erkundigte sich nach den Kontakten zu Presse und Fernsehen, ließ sich Wahlwerbekonzepte präsentieren und beriet mit Barnfield personelle Fragen. Das Wahlkampfteam war noch nicht vollständig.

Seine Sekretärin brachte ein Tablett mit Tassen und einer Kanne Kaffee. Rita Narrow war eine blasse, unscheinbare Endvierzigerin. Ziemlich dürr und mit dunklen Ringen unter den Augen wirkte sie erschöpft und kränklich. Insgeheim rechnete Archer damit, dass sie bald kündigen würde. Er hielt schon Ausschau nach Ersatz für seine langjährige Sekretärin.

"Danke, Rita." Er bedachte sie mit einem gönnerhaften Lächeln. "Eine Bitte noch - Anfang Mai hat mein ältester Sohn Geburtstag. Der Termin müsste im Kalender stehen. Erinnern Sie mich einen Tag zuvor daran, damit ich ihm rechtzeitig schreibe." Sie nickte und verließ das Büro.

Tom Barnfield zog den Entwurf der Rede aus der Tasche, die der Senator ab Herbst bei seinen Wahlkampfauftritten halten wollte. Nur Stichpunkte standen auf dem Blatt Papier, das Barnfield auf den Tisch legte. Statements zur Familien- und Steuerpolitik, Thesen zu Todesstrafe, Außenpolitik und Abtreibung und ein paar Formulierungen über William Archer als Privatmann.

Barnfield hatte vorgeschlagen die robuste Gesundheit, das kirchliche Engagement, die harmonische Ehe und die Kriegserfahrungen des Senators in den Mittelpunkt zu stellen. Archer war vollkommen einverstanden. Natürlich brauchte ein künftiger Präsident ein Image, mit dem sich der durchschnittliche amerikanische Wähler identifizieren konnte.

Ein Redenschreiber würde die Rede im Laufe der nächsten Monate schreiben. Eine Art Wahlprogramm und persönliche Propaganda. Die Munition gewissermaßen, die Billy Archer auf den vor ihm liegenden Auftritten zu verschießen gedachte.

Sie stimmten ein paar Einzelheiten ab, sprachen einige Pressetermine durch und berieten über eine Autobiographie, die Barnfield in groben Zügen skizziert hatte. Archer beauftragte ihn einen Ghostwriter zu finden, der das Werk bis zum Frühsommer zu Papier brachte. Danach verabschiedeten sie sich.

Archer sah auf die Uhr. Kurz vor sechs. Er griff zum Telefon und rief seine Frau an. "Ich bin's, Billy - wie geht's, Darling?"

"Gut, Billy, wann kommst du?" Edith Archers Stimme klang kühl und sachlich. Und das war sie auch. Sie hatte das Hauspersonal und den Haushalt tadellos im Griff, sie konnte repräsentieren wie sonst niemand, sie konnte Ausstellungen, Hauskonzerte und Sektpartys auf die Beine stellen, von denen die Leute noch wochenlang sprachen. Aber Wärme und Geborgenheit zu vermitteln, das war nicht ihre Stärke.

Am Anfang ihrer Ehe hatte Billy Archer das vermisst. Aber jetzt nicht mehr. Schon Jahre lang nicht mehr.

"Kann sich hinziehen, Darling." Er schlug einen gestressten Ton an. "Wir müssen noch ein paar Sachen wegen des Wahlprogramms abstimmen. Tom hat nur heute Abend Zeit - es kann also spät werden."

"Schade." Es klang nicht so, als würde sie es wirklich schade finden. "John und Miriam haben sich für heute angemeldet. Sie hätten dich sicher gern gesehen. Aber wir werden wohl mit dem Essen nicht auf dich warten."

Billy Archer war einverstanden, natürlich. Er legte auf und wunderte sich, dass zwei seiner drei Kinder heute Abend zum Essen kommen wollten. John und Miriam studierten beide hier in Washington. Trotzdem kamen sie nicht öfter als höchstens einmal im Monat zu Hause vorbei. Sein ältester Sohn Jefferson sogar noch seltener. Zuletzt hatte er sich zu Silvester blicken lassen.

Archer glaubte, dass es an seiner Frau lag. Ihre gefühlskalte Art stieß die Kinder ab. Davon war er überzeugt. Er wählte eine zweite Nummer. Wieder meldete sich eine Frauenstimme, tiefer und rauer, als die seiner Frau. "Ich komm vorbei, Julia. In etwa anderthalb Stunden. Ist das okay?"

Es war okay, und eine Stunde später saß Billy Archer hinter dem Steuer seines dunkelgrauen Buick Park Avenues. Die abendliche Rushhour hatte Washington D.C. längst wieder aus ihrer Umklammerung entlassen, und der Senator konnte seine zweihundertdreißig-PS-starke Luxuslimousine über die Pennsylvania Avenue Richtung Südosten jagen.

Kurz nach halb acht hielt er in einem Parkhaus in Boulevard Heights. Über Handy bestellte er ein Taxi. Das chauffierte ihn zu einem achtstöckigen Apartmenthaus am Rande der Vorstadt. Seine Geliebte wohnte in der siebten Etage.

Während er mit dem Aufzug zu Julias Apartment hinauffuhr, fragte er sich, was er während der heißen Phase des Wahlkampfes mit seiner Geliebten anstellen sollte. Das Risiko auf die Titelseiten der Skandalblätter zu kommen, war ihm zu hoch. Der politische Gegner lauerte auf jeden noch so geringfügigen Fehltritt.