Blöff - Bar Stenvik - E-Book

Blöff E-Book

Bar Stenvik

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  • Herausgeber: Riemann
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Gut geblöfft ist halb gewonnen!

Die Lüge zählt im Allgemeinen nicht zu den nobelsten menschlichen Eigenschaften. Und obwohl wir viel Aufwand treiben, uns vor Betrügern zu schützen, sind unsere Fähigkeiten, sie zu erkennen, überraschend gering ausgeprägt. Bar Stenvik zeigt, wie unser Wunsch nach Wahrheit und Authentizität geradezu einen Markt für ständig neue »Bluffs« schafft: Was ist echt, was ist Täuschung? Tischen uns die Politiker Lügen auf? Kann Liebe vorgespielt werden? Ist eine gelungene Fälschung Kunst? Der Autor hat bei Hirnforschern, Biologen, Kunstfälschern und anderen Experten Antworten auf die Frage gefunden, warum wir ohne die Lüge nicht leben können: Sie ist unauflösbar eng mit unserer Kreativität und unseren sozialen Fähigkeiten verknüpft.

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Seitenzahl: 559

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Bår Stenvik

BLÖFF

Die geheime Mechanik der Lüge

Aus dem Norwegischen von

Frank Zuber und Daniela Stilzebach

Die norwegische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »BLØFF« bei Cappelen Damm AS, Oslo.

Die Übersetzung dieses Werks aus dem Norwegischen wurde finanziell unterstützt von NORLA (Förderorganisation für Norwegische Literatur im Ausland). Der Verlag bedankt sich hierfür.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe

© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

Riemann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

© 2014 Cappelen Damm AS

Published by agreement with Hagen Agency, Oslo

Lektorat: Ralf Lay

Umschlaggestaltung: Martina Baldauf, herzblut02 GmbH, München

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-641-16440-9

www.riemann-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Tarnung

Sing mit deiner eigenen Stimme

Das Paradox des Betrugs

Militärische Forschung

Leere Drohungen

Der Tarnungskünstler

Schockmuster

Kampf und Ehre

»Feminine« List

Alliierte Illusionen

Die Grausamkeit der Natur

Militärische Magie

Camo Couture

Das Chamäleon-Muster

Kleidung für Diskretion und Kampf

Unredliche Methoden

Selbsttäuschungsmanöver

Selbstbetrug als Weg zum Erfolg

Zivilisation

Flatterhafte Vögel

Vertrauen und Misstrauen

Bluffdetektor

Tratsch

Sex, Lüge und Untreue

Das Altruismusproblem

Das Schmarotzerproblem

Big Brother is watching you

Ungefähr ehrlich

Jenseits von Gut und Böse

Kreative Lügner

Sprache und Wahrheit

Diplomatische Wahrheiten

Politisches Spiel

Pragmatische Wahrheiten

Lüge

Der Polizeiblick

Der menschliche Lügendetektor

Die Gedanken der anderen

Gute Lügner

Verborgene Zeichen

Etwas im Auge

Die wissende Maschine

Der geknackte Code

Vorurteile und Bestätigungsfehler

Die Schreckmaschine

Die soziale Wahrheit

Die Zauberer

Aufrichtige Lügner

Lügen überall

Kunst

Die Illusionskünstler

Durchblick im Rückspiegel

Körperkunst

Falsche Töne

Glätteisen für die Stimme

Der Fabrikarbeiter

Sieh nur, keine Hände!

Geschmack und Betrug

Das flüchtige Original

Dieses Gefühl

Identität

Die ganze Welt als Bühne

Große Erwartungen

Genug Ironie?

Das wahre Selbst

Die englische Patience

Spiel für die Galanterie

Bluffen macht stark

Theater des Selbst

Das Gehirn ist allein

Das wahre Ich

Vorsicht, Ameise!

Die peinliche Wahrheit

Die innere Kraft

Unzuverlässig ich

Die notwendige Lüge

Status

Turbo und Testosteron

Der Klang von Qualität

Das zornige Lächeln

Falsche Ferraris

Raubkapital

Keeping it fake

U(h)rvertrauen

Unsichtbare Tinte

Authentizität

Es geht nicht nur ums Geld (Ehrenwort)

Natürliche Gelüste

Veredelte Rohstoffe

Die verlorene Welt

Newton hinterm Schirm

Data Morgana

Liebe

Die Anziehung der Unsicherheit

Ritterliche Fantasien

Verhaltensregeln

Widerstreitende Impulse

Tierische Anziehung

Die Chemie der Liebe

Die angelehnte Tür

Charmante Eigenarten

Abkürzungen zur Begierde

Dunkle Absichten

Die Konstruktion der Liebe

Positive Illusionen

Quellen, Kommentare und weitere Lesetipps

Personenregister

Vorwort

Vor wenigen Jahren kursierte in den Internetmedien und Fernsehkanälen die Geschichte des Chinesen Jian Feng, dem ein Gericht 75000 Dollar Schadensersatz von seiner Ehefrau zugesprochen haben soll, weil sie ihm ein »schrecklich hässliches« Kind geboren habe. Als der Mann das Kind zum ersten Mal gesehen hätte, habe er seine Frau der Untreue bezichtigt, doch deren »Betrug« sei von ganz anderer Art gewesen. Bevor die beiden sich kennengelernt hätten, habe sie in Südkorea 100000 Dollar für Schönheitsoperationen investiert. Der Mann soll sie verklagt haben, weil sie ihn »unter Vorspiegelung falscher Tatsachen« geheiratet habe.

Die Meldung war mit Vorher-nachher-Bildern der Frau illustriert, das erste mit schmalen Augen, breiter Nase, halboffenem Mund und hässlichen Zähnen – das zweite mit großen Rehaugen, schmaler Nase und Puppenmund. Die meisten Kommentare schmähten den herzlosen Mann und bemitleideten das arme Kind, doch einige fanden die Reaktion und das Urteil des Gerichts berechtigt, denn schließlich war der Mann trotz allem an der Nase herumgeführt worden.

Je mehr man über den Fall nachdenkt, desto komplizierter wird er. Ist es Betrug, sein Aussehen zu verbessern, oder nicht? Wenn plastische Chirurgie als Betrug abgestempelt wird, müsste dies nicht auch auf Kosmetik zutreffen? Doch wenn schon Blondieren als Schwindel gälte, gäbe es auch in Europa Millionen männlicher Betrugsopfer. Und wer die Redlichkeit der betroffenen Chinesin infrage stellt, sollte umso mehr an der Ehrlichkeit des Mannes zweifeln. Wie konnte seine Liebe echt sein, wenn er seine Frau so leichtfertig verstößt?

Die vielleicht interessanteste Frage an diesem Fall ist, wie eine private Angelegenheit so viel Aufmerksamkeit in aller Welt erregen konnte. Aus irgendeinem Grund spitzen wir die Ohren, wenn das Wort »Betrug« fällt, sich jemand für einen anderen ausgibt oder eine Sache als etwas anderes teuer verkauft. Wörter wie »echt«, »falsch«, »authentisch«, »oberflächlich«, »Fassade«, »Kopie« und »Original« provozieren unser Engagement, sie polarisieren und bewirken sowohl ästhetische als auch ethische Urteile und Vorurteile.

Ich fragte mich, warum das so ist, und so entstand die Idee zu diesem Buch. Warum ist uns der Unterschied zwischen »echt« und »falsch« so wichtig? Warum gibt es so viel Streit über »Wahrheit« und »Lüge«? Jede dieser Fragen warf neue auf. Ist unser Interesse am Bluff angeboren oder kulturbedingt? Welche Rolle spielten Lüge und Betrug beim Entstehen unserer Zivilisation? Gibt es so etwas wie einen »ehrlichen Krieg«? Wo liegt die Grenze zwischen Verschönerung und Täuschung? Haben wir ein realistisches Bild von uns selbst? Was ist echte Liebe?

Die Meldung aus China erwies sich nach der Untersuchung durch kritische Blogger als Ente. Allem Anschein nach ist sie zu 100 Prozent erfunden – was unser Augenmerk auf einen weiteren Aspekt der Lüge richtet, nämlich ihre enge Verbundenheit mit Kreativität und Erzählkunst. Dass anerkannte Medien in aller Welt eine solche Lügengeschichte veröffentlichten, zeugt durchaus vom guten Gespür ihrer Urheber. Als moderne Fabel greift sie aktuelle Fragen einer Welt auf, in der es immer leichter wird, unser Umfeld und uns selbst zu manipulieren. Viele Eltern lassen ihre Sehschwäche operativ korrigieren, während ihre Kinder Brillen tragen müssen. Täglich begegnen wir Reklamebildern voller manipulierter Schönheit. Vielleicht war die Geschichte einfach zu gut, um wahr zu sein, aber das große Interesse an ihr scheint Pablo Picassos berühmte Worte zu bestätigen: »Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt.«

Dieses Buch handelt nicht nur von Wahrheit und Lüge. Es handelt auch von Krieg, Politik, Autodesign, Film, Biologie, Hirnforschung, Verführung, Kunst und Musik. Eine allumfassende Übersicht über alle Spielarten von Lug und Trug ist hier weder möglich noch beabsichtigt. Stattdessen bin ich vor allem der eigenen Nase gefolgt. Ich behandle Themen, Menschen und Orte, die das komplexe Phänomen aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Ein Polizist verriet mir, wie man Lügner erkennt, Kunstexperten erklärten mir das Dilemma der Fälschungen. Ich besuchte eine strenge Etiketteschule in London, um Manieren zu lernen und meine Auffassung von Integrität auf die Probe zu stellen. In Oslo bin ich mit einem Flirttrainer ausgegangen, um herauszufinden, ob einstudierte Verführungskünste Schwindel sind oder nicht. Nicht zuletzt habe ich versucht, mich in die Studien und Ideen einzulesen, die es auf diesen Gebieten schon gibt, um eine Auswahl daraus zu präsentieren.

Populärwissenschaftliche Bücher, die viele Exempel zu einem Thema behandeln, nennen sich gern big idea books. Dem Historiker Marshall Poe zufolge bauen solche Bücher auf einer enthusiastisch formulierten These vom Typus »Dieses Buch wird Ihr Leben verändern und Sie reich, glücklich und schön machen« auf. Solchen Werken stehe ich grundsätzlich skeptisch gegenüber. Wer alles mit einer großen Theorie erklären will, schreibt vorhersehbar und bereitet wenig Lesefreude. Ich möchte die Leser lieber auf meine Entdeckungsreise mitnehmen, interessante und unterhaltsame Fälle von Bluff, Schummelei und Betrug erzählen, überraschende Parallelen finden und die Grundlagen unserer Auffassung von »echt« und »falsch« hinterfragen.

Anstatt die Fäden zu entwirren, begebe ich mich mitten ins Gewirr. Wie die Überschriften andeuten, werden die Etappen der Reise auf dem Rücken mehrerer »großer Ideen« ausgetragen und präsentieren auch widersprüchliche Perspektiven. Ich habe bewusst Themen gewählt, die mir neu waren, die Grenzen zwischen Human-, Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften ignoriert und mich frei aus wahren Begebenheiten, Literatur, Kunst und Wissenschaft bedient. Zusammen ergeben diese Eindrücke eine hoffentlich spannende Erzählung.

Seit Jahrtausenden suchen die Menschen nach der Wahrheit und drücken dies in sozialen Normen, Kunst und Selbstdarstellung aus. Doch die Grenze zwischen Bluff und Wahrheit ist ständig in Bewegung. Manchmal variiert sie je nach Betrachter, denn der allergrößte Bluff ist die Behauptung, man könne die Wahrheit ein für alle Mal festlegen. Wenn dieses Buch eine big idea hochhält, dann die, dass man keiner solchen trauen soll.

Unsere Vorstellungen vom wahren Wert der Dinge sind kontextabhängig, und Kontexte variieren je nach Zeit und Ort, wie die anfangs erwähnte Story zeigt. Betrachtet man die Ehe als rein geschäftliche Transaktion, ist es nur natürlich, dass Jian Feng seine Frau anklagt. Er bekam nicht die »Ware«, die er erworben zu haben glaubte. Unser heutiges westliches Ideal von Liebe jedoch stellt andere, meist innere Werte in den Vordergrund.

Eine weitere Dimension der Wahrheit liegt im Genre. Die Story des »betrogenen« Chinesen ist ein moderner Mythos – oder auch Klatsch. Geschichten dieser Art erfüllen eine gesellschaftliche Funktion. Sie vermitteln Normen und warnen die Menschen, wovor sie sich in Acht nehmen müssen. Sie zeigen allgemeine Probleme in überspitzter Form auf. Allerdings wurde dieser Mythos in »Nachrichten«form übermittelt, ein Genre, das wieder andere Ansprüche an den Wahrheitsgehalt stellt.

Auch die historische Dimension der Wahrheit wird angesprochen. Die technologische Entwicklung hat unser Verständnis »echter« Schönheit nachhaltig beeinflusst. Sie hat unsere ästhetischen Vorlieben geprägt und bestimmt mit, was wir als »Mogelei« oder als »künstlich« empfinden.

Während ich dieses Buch schrieb, habe ich viel über das Bluffen gelernt. Zum Beispiel, dass es sich lohnt, skeptisch zu sein und alle Darstellungen und Quellen zu prüfen. Nicht zuletzt auch, dass wir uns bisweilen systematisch selbst hereinlegen, und zwar mithilfe von Spekulationen, illusorischen Denkweisen und schlimmeren Formen des Selbstbetrugs. Unsere Schwäche für gute Geschichten überlagert den nüchternen Blick auf die Welt und hilft Lügengeschichten wie der chinesischen »Rechtssache« auf den Weg. Tief sitzendes Schubladendenken kann unser Urteil über andere prägen. So entsteht zum Beispiel der sogenannte Nimbus-Effekt: Je schöner wir einen Menschen finden, desto eher halten wir ihn auch für gut und klug. Wir halten uns selbst für konsequenter, ehrlicher und attraktiver, als wir wirklich sind.

Henrik Ibsens Drama Die Wildente handelt von dem, was der Autor als »Lebenslüge« bezeichnet: falsche Geschichten, die wir uns selbst erzählen, um dem Leben einen Sinn zu geben. Die Fähigkeit, Geschichten zu erfinden, und die Neigung zur Sinnsuche sind grundlegende menschliche Eigenschaften. Sie haben uns Zivilisation und Kultur beschert, aber sie machen uns auch zu Lügnern und Betrugsopfern. In unserer komplexen Welt kann es von Vorteil sein, Informationen zu vereinfachen, um sie besser zu begreifen. Gesteigertes Selbstvertrauen gibt uns die Kraft, das Leben zu bewältigen, und verzerrte Realitätsbilder erfüllen einen Zweck, aber gleichzeitig kann man tief stürzen, wenn man ihnen zu viel Wert beimisst.

Die wichtigste Lehre aus diesem Buch lautet vielleicht, dass ich meinen subjektiven Urteilen stärker misstrauen sollte, besonders wenn sie mir Vorteile bringen. Wie realistisch ist zum Beispiel das Gefühl, dass ich in letzter Zeit mehr Hausarbeit als mein Partner erledigt habe? Wie weit bin ich selbst für meinen Lebensstil und meine Ansichten verantwortlich? Bei Recherchen für dieses Buch stieß ich auf die Aussage eines Hirnforschers, dass wir uns nie mehr als 60 Prozent sicher sein sollten, recht zu haben. Eine schöne Schlussfolgerung aus diesem Vorwort. Vielleicht.

Tarnung

Versteckte Kanonen – Beyoncés Stimme – Militärische Forschung – Winkerkrabben – Kubistische Kriegsschiffe – Trügerische Uniformen – Ehrlicher Kampf – Überraschungs- angriff – Das Wettrüsten des Kuckucks – Militärische Magie – Urbane Tarnung – Camo Couture – Andy Warhol – Alltagskleidung als Tarnung – Guerillakrieg – Getarnte Motive

Beim Stöbern im Buchladen finden Sie ein schönes Buch des Schweizer Fotografen Christian Schwager. Auf dem Umschlag prangt ein Chalet mit Balkon, tief herabhängendem Satteldach, grünen Klappläden und sauber drapierten Gardinen. Vor dem Haus stehen ein Holzstapel und ein Gartenschuppen, an dessen Wand ein altes Wagenrad hängt. Auf den ersten Blick ein Fotobuch über alte Holzhäuser in grünen Landschaften oder hübschen Dörfern. Schön, denken Sie, vielleicht ein bisschen zu kitschig, und legen das Buch wieder weg.

Doch lassen Sie uns den Titel berücksichtigen und genauer hinsehen: »Falsche Chalets«. Beim zweiten Durchblättern stellt sich heraus, dass einige der abgebildeten Gebäude seltsame Ausbuchtungen haben und ihre Bretter verbogen sind, als hätte Salvador Dalí sie gemalt. Und ist es nicht seltsam, dass keines der Fenster das Sonnenlicht reflektiert? Was macht diese Häuser so erschreckend malerisch? Am Ende sind sie gar gemalt?

Christian Schwager entdeckte sein erstes falsches Chalet bei einer Bergtour, als er an einem Haus vorbeiging, das ihm unverhältnismäßig schmal vorkam. Wer würde so etwas bauen und warum? Erst als er dicht herantrat, ging ihm auf, dass das Haus eine Illusion war. Es war ein angemalter Betonbunker. Wie viele andere in der Schweiz soll die niedliche Fassade eine brutale Wirklichkeit tarnen. Schiebt man die falschen Türen und Fenster zur Seite, kommen bedrohliche Kanonenläufe zum Vorschein.

Die Schweizer Armee baute die meisten dieser Sinnestäuschungen in den dreißiger und vierziger Jahren, als Spionage und Luftüberwachung in Europa üblich wurden. Kulissenmaler wurden angeheuert, um Geschützstände und Luftabwehrstellungen zu tarnen. Sie gingen mit Schweizer Präzision ans Werk und imitierten Holzstrukturen, Gardinen und andere Details so genau, dass sie noch aus zwanzig Metern Abstand echt aussahen. Als Schwager durchs Land reiste und die Gebäude fotografierte, traf er auf Menschen, die über zwanzig Jahre lang in der Nachbarschaft von Artilleriebunkern gelebt hatten, ohne etwas zu ahnen. Die Fassade wurde ohne Weiteres als hübsches Holzhaus unter anderen hübschen Holzhäusern akzeptiert.

Mit aufgeklärtem Blick sehen wir es jedoch gleich. Holzläden, Fenster und Gardinen sind aufgemalt, und der Balkon ist nichts als ein flaches Holzgeländer, direkt an die Wand genagelt. Plötzlich verstehen wir gar nicht mehr, wie wir uns zunächst so täuschen konnten. Dabei hat unser Gehirn nur normal reagiert: Wenn wir etwas Bekanntes sehen, holt es sofort entsprechende Bilder aus der Erinnerung hervor. Im Namen der Effektivität füllt es Leerräume und Mängel und gaukelt uns ein glaubwürdiges Modell vor. Auf diese Weise erfassen wir die Welt – wir sehen, was wir zu sehen erwarten. Solange nichts den Erwartungen widerspricht, funktioniert dieses Modell wunderbar. Erst wenn die Wirklichkeit aus der Norm fällt, werden wir wirklich auf sie aufmerksam. Wir können jahrelang im Halbschlaf zur Arbeit fahren, bis wir eines Tages einen Passagier dabeihaben, der Details an Gebäuden oder der Landschaft kommentiert, die wir noch nie registriert haben. Dann wachen wir auf und sehen unsere Umgebung in einem anderen Licht, genau wie der erste Hinweis auf die falschen Chalets die Illusion zerstört und wir immer mehr Details entdecken.

Sing mit deiner eigenen Stimme

An einem kühlen Sonntag im Januar 2013 sollte US-Präsident Barack Obama erneut in Amt und Würden gesetzt werden. Die Reporter spekulierten, welche Signale er in seiner Antrittsrede senden würde: Redet er über die Finanzkrise? Wird er Homosexuellen mehr Rechte zugestehen? Und nicht zuletzt: Was sagt er über die militärische Präsenz der USA im Irak und in Afghanistan? Wie schnell wollte er die Truppen zurückziehen und wie die Stabilität sichern? Spricht er die Atomkriegsdrohungen aus dem Iran und Nordkorea an, und setzt er deutliche Zeichen?

Neben der Politik diskutierten die Medien auch die formelle Zeremonie. Würde sich Obama beim Eid wieder versprechen oder vielleicht die Bühne in Flammen aufgehen wie damals bei Kennedy? Niemand sah den Skandal voraus, der die Onlinemedien nach der Zeremonie dominierte. Und niemand hatte es während der Feierlichkeiten bemerkt. Erst wenige Tage später gelangte ein Journalist über ein Mitglied des teilnehmenden Musikkorps an die Information.

Als musikalisches Highlight war die Sängerin Beyoncé aufgetreten, und sie hatte offenbar nur Playback gesungen. Die Debatte über den politischen Kurs der USA ging im sogenannten »Lip Sync-gate« unter. Hatten Beyoncé und die Verantwortlichen wirklich alle zum Narren gehalten? Oder hatte die Sergeantin der Militärband persönliche Motive, als »Deep Throat« der Affäre zu agieren? Vielleicht hatte sie es satt, immer nur in der hinteren Reihe zu spielen, während ihr die Stars die Schau stahlen?

Amerikas Talkshow-Queen Oprah Winfrey verteidigte Beyoncé: »Ich könnte die Kritik ja verstehen, wenn sie Mary J. Bliges oder Alicia Keys’ Stimme benutzt hätte, aber es war ihre eigene! Warum regen sich alle so auf?« Ein britischer Toningenieur bekam seine fünf Minuten im Rampenlicht, als er mit einer Analyse der Fernsehaufnahmen beweisen wollte, dass Beyoncé echt gesungen habe.

Die Sergeantin der US Marine Band machte die Verwirrung perfekt, indem sie ihre Aussage zurückzog, doch schließlich löste die Hauptperson selbst das Rätsel. Beyoncé gab zu, dass sie Playback gesungen hatte. Als Grund gab sie die ungünstigen Wetterverhältnisse und mangelnde Zeit zur Vorbereitung an. Gleichzeitig versicherte sie, beim bevorstehenden Super Bowl live zu singen, und gab vor der Presse eine A-cappella-Version der amerikanischen Nationalhymne zum Besten, um ihre Ehre zu retten.

Am 31. Januar 2013 erbrachte eine Google-Suche nach »beyoncé+inauguration+lipsync« 37600000 Treffer. Folglich muss bei der Sache etwas auf dem Spiel gestanden haben, auch wenn keiner so recht wusste, was. Der US-Komiker Steve Colbert drückte es wie folgt aus: »Wissen Sie, was es zu bedeuten hat, wenn Beyoncé Playback gesungen hat? Wenn ja, dann schreiben Sie mir bitte, denn ich wüsste gern, warum ich so sauer auf sie bin!«

Der Amtsantritt des mächtigsten Politikers der Welt ist eine symbolische Veranstaltung, und man sollte meinen, die Unterhaltung sei dabei sekundär. Sie bildet sozusagen die Garnitur der circa achtzehnminütigen Rede des Staatsoberhaupts an die Bürger des Landes. Natürlich spielt die Nationalhymne dabei eine wichtige Rolle. Sie bietet einen Moment des Nachdenkens über die besungene Nation und stärkt die Bande zwischen einem Individuum und seinem Land. Dennoch: Was macht es für einen Unterschied, ob Beyoncé echt sang oder nur so tat, wo es doch niemand bemerkt hatte? Warum war ihre Berufsehre durch eine im Showbusiness völlig alltägliche Praxis in Gefahr?

Das Paradox des Betrugs

Wir Menschen haben ein komplexes Verhältnis zu Schein und Betrug. Wir können ein halbes Leben lang neben einem Geschützbunker wohnen, ohne es zu bemerken, aber wenn ein Popstar auf einer Veranstaltung, bei der es nicht um ihn oder seine Leistung geht, seine eigene Stimme im Playback benutzt, regen wir uns auf. Warum ist dies so?

Im Aufdecken von Betrug sind wir Weltmeister – sofern uns jemand auf den Betrug aufmerksam gemacht hat. Doch liegt es in der Natur des Betrugs, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Jede Art der Tarnung beruht auf der Strategie, unsere Wahrnehmung in gewohnte Bahnen zu lenken und somit von dem getarnten Objekt abzulenken. Militärische Anlagen wie die Schweizer Geschützstände sind ein Beispiel für die Art Betrug, die wir am meisten fürchten: unschuldige Fassaden mit tödlichem Innenleben. Das Prinzip ist fast so alt wie das Leben selbst. Gefährliche Organismen passen sich ihrer Umgebung an und greifen überraschend an. Zum Beispiel die sogenannten Steinfische, die wie ein Teil des Meeresbodens aussehen, bis man auf sie tritt und sie einem ihr tödliches Gift injizieren. Oder fleischfressende Pflanzen, die für Insekten verlockend aussehen und riechen, und sie verschlingen, sobald sie darauf landen. Ebenso verbreitet ist in der Natur die umgekehrte Variante des Betrugs, zum Beispiel harmlose Schwebefliegen, die wie Wespen aussehen, oder Schmetterlinge mit großen Augenflecken auf den Flügeln.

Manche Lebewesen mögen sich ihrer Tarnung bewusst sein, dennoch nehmen wir Menschen eine Sonderstellung ein. Wir wissen nicht nur, dass wir getäuscht werden und andere täuschen, sondern reflektieren dies auch beständig. Ein beträchtlicher Teil der menschlichen Psychologie ist mit dieser Art von Misstrauen beschäftigt. Wir wollen unterscheiden zwischen Menschen, denen wir trauen können, und jenen, denen wir nicht trauen können. Wollen wir eine Wohnung kaufen, suchen wir nach jedem möglichen Anzeichen versteckter Mängel. Hören wir eine Sängerin, beurteilen wir, ob sie mit echter Überzeugung singt. Wichtige Bereiche unserer Kultur dienen allein dem Zweck, Betrüger und Schmarotzer zu entlarven: Spionage, Gesetze, moralische Richtlinien, wissenschaftliche Tests, polizeiliche Ermittlung und vieles mehr. Unsere Zivilisation ist von Innovationen geprägt, die Betrug erschweren sollen, doch gleichzeitig finden Betrüger immer neue Strategien und sind immer einen Schritt voraus. Lüge und Betrug lassen sich nicht wie Unkraut ausrotten. Ohne den ewigen Wettlauf zwischen Betrügern und Betrogenen hätten wir wahrscheinlich nicht unser menschliches Selbstbewusstsein, und unsere Kultur wäre ärmer. Waren die Schwerter vielleicht auch unsere Pflugscharen?

Militärische Forschung

Das Forschungsinstitut der norwegischen Streitkräfte ist ebenfalls in trügerischen Gebäuden untergebracht. Sie sehen wie meine alte Schule aus: rechteckige Kästen aus den Sechzigern mit Wellblechdach und dunkler Holzfassade. Von außen verrät nur der elektronische Kartenleser an der Tür, dass sie modernisiert sind. Erst die Schaukästen im Inneren geben mir ein leichtes Gefühl von Sci-Fi. Hier stellt das Institut einige Erfindungen aus, zum Beispiel einen »tragbaren Plasmabrenner« oder etwas, was wie eine merkwürdige Snowboard-Bindung mit Handgriffen aussieht und sich als hochtechnologischer Kletterschuh herausstellt. Hier erfinden Norwegens beste Forscher Geräte, die eher an James-Bond-Filme erinnern.

Man führt mich in einen neutralen Seminarraum, wo der Physiker Morten Søderblom und seine beiden Kollegen freimütig über historische Beispiele militärischer Tarnung und Täuschungsmanöver reden. Keiner von ihnen sieht besonders militärisch aus, weder der grauhaarige, herzliche Søderblom noch Daniela Heinrich mit ihren hennagefärbten Haaren und den Doc Martens. Beide könnten genauso gut an einem Institut für Linguistik arbeiten. Nur der Dritte im Bunde, Stein Kristoffersen, sticht etwas hervor. Mit seinem Pferdeschwanz und der Safariweste könnte er eher aus »Jurassic Park« entsprungen sein. Er arbeitet in einem der raffiniertesten Bereiche der military deception, wie es auf Englisch heißt.

»Ein Radar«, sagt er, »sendet ein Signal, das auf Gegenstände trifft und zurückgeworfen wird. Er misst das zurückkommende Signal. Von Veränderungen des Signals kann man unter anderem auf die Geschwindigkeit des Ziels schließen. Ein sogenannter decoy gaukelt dem feindlichen Radar etwas vor.«

Die altmodische und immer noch gebräuchliche Methode sind lebensgroße Attrappen, zum Beispiel von Panzern oder Flugzeugen. Früher sollten sie nur das menschliche Auge täuschen und waren meistens aus Holz oder aufblasbar, doch heutzutage muss eine Tarnung Nachtsichtgeräten, UV-Sensoren und Radar standhalten. Die Oberfläche einer Attrappe muss Eigenschaften besitzen, die auch moderne Elektronik hereinlegen.

»Wir fangen das Radarsignal auf, modifizieren es und senden es zurück, sodass der Feind ein falsches Bild auf dem Radar erhält.« Lachend fügt er hinzu: »Das ist ungefähr so, wie wenn die Panzerknacker ein Bild vor eine Überwachungskamera halten.«

Wir haben das Zeitalter des virtuellen decoy erreicht. Kristoffersen zeigt mir, wie ein solches Objekt auf einem Radarschirm aussieht. Ich sehe das echte Radarbild einer Militärkolonne und daneben das Ergebnis eines manipulierten Signals, allerdings nur in Form einer Zeichnung. Aus einer Kolonne sind fünf geworden, und der Feind weiß nicht, auf welche er schießen soll. Ein zweites Beispiel zeigt ein Kriegsschiff, dessen Störgeräte das Bild eines völlig anderen Bootes zurückschicken. Ich frage, ob es möglich sei, mit einem einzigen Tastendruck jedes beliebige Bild an den Feind zu senden.

»Im Prinzip schon«, antwortet Kristoffersen. »Aber es gibt jede Menge praktische Schwierigkeiten, über die wir hier nicht reden werden.«

Schade, wo es doch gerade interessant wurde …

»Die NATO-Länder sind schon viel zu offen«, sagt Daniela Heinrich, ebenfalls Physikerin, mit einem entschuldigenden Lächeln. »Man kann den Medien nicht immer alles erzählen, das öffnet die Türen für Missbrauch.«

»Es gibt ein wichtiges Prinzip«, erklärt Kristoffersen. »Wer genau weiß, was er sucht, erkennt den Trick leichter. Das gilt eigentlich für jede Art von Betrug. Wer etwas zum ersten Mal sieht und Echtes erwartet, fällt leichter herein. Deshalb zeigen wir die manipulierten Bilder nie in echt, egal, ob es funktioniert oder nicht.«

Wer nicht nach speziellen Signalen sucht, wird die eingehende Information in der Regel als echt einstufen.

»Unser Alltag wäre furchtbar anstrengend, wenn wir jede eingehende Information auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen müssten«, sagt Søderblom. »Meine Tochter legt mich immer wieder mit demselben Trick herein. Sie sagt, ich hätte einen Fleck auf dem Hemd, und wenn ich an mir herabsehe, kneift sie mir in die Nase. Sie zählt, wie oft es ihr gelingt. Ich kann nicht jedes Mal überlegen, ob sie mich veräppelt oder nicht, also glaube ich ihr. Das ist nur menschlich.«

Betrug basiert auf Vertrauen. Der Philosoph Immanuel Kant untermauerte seinen kategorischen Imperativ (»Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«) unter anderem mit folgendem Gedankenspiel: Wenn alle lügen, glaubt kein Mensch mehr einem anderen. Da es jedoch Sinn und Zweck der Lüge ist, andere glauben zu machen, wäre sie fortan zwecklos. Auch die Lüge basiert auf Vertrauen. Einem Hochstapler ergeht es am besten, wenn er der einzige Lügner unter naiven, leichtgläubigen Mitbürgern ist. Aber wie war der Urzustand? Stimmt der Mythos vom Paradies und der Schlange? Ihm zufolge sind die Menschen grundlegend ehrlich, was einige wenige schamlos ausnutzen. Ist deren Verlogenheit nun ein Defekt, oder sind wir tief im Inneren alle Lügner, die ihre betrügerischen Impulse nur durch die strengen Regeln der Zivilisation unterdrücken? Bevor wir diese Frage beantworten, sollten wir bedenken, dass Menschen schon einander vertrauten und betrogen, als die modernen Begriffe »Vertrauen« und »Betrug« noch gar nicht existierten.

Leere Drohungen

Vom Namen her sollte man meinen, die Winkerkrabbe sei ein freundliches Wesen. Sie bevölkert die Strände wärmerer Gefilde in Scharen und wirkt auf den ersten Blick zuvorkommend. Ihren Namen hat sie von der überdimensionalen Schere, die größer als ihr Körper sein kann und oft in auffälligen Farben leuchtet. Wenn sie damit winkt, lädt sie jedoch keineswegs zu einer Partie Beachvolleyball ein. Der lateinische Name Uca Pugilator (»Boxerkrabbe«) verrät mehr über ihre Absichten, denn die Riesenschere ist eine formidable Waffe im Nahkampf.

Die Männchen fordern einander ständig zum Kampf auf, um die Sandlöcher der anderen zu erobern und Weibchen zu beeindrucken. Sie schieben einander hin und her, ringen und werfen sich gegenseitig auf den Rücken. Im schlimmsten Fall verliert ein Kämpfer dabei seine Schere. Weil das winkende Körperteil auch die Weibchen anzieht, hätte ein solcher Verlierer schlechte Karten, wenn es nicht nachwüchse. Bei einigen Spezies der Gattung ist die »Ersatzschere« jedoch zweite Wahl. Sie ist ebenso groß wie die alte, aber nicht so stabil und stark. Die Betroffenen laufen wie Kinder mit Spielzeugpistolen zwischen ihren bewaffneten Artgenossen umher, doch sie winken tapfer weiter und verlassen sich auf die visuelle Abschreckung.

Biologen nennen diese Taktik dishonest signal. Die Natur ist ein Schlachtfeld, auf dem die Sieger ihre Gene weitergeben. Aber sie ist auch voller Kämpfe, die nie ausgefochten werden. Tiere drohen einander mit Scheinangriffen oder nur durch ihr abschreckendes Aussehen. Sie geben Signale ab, die physische Konfrontationen vermeiden. Dabei gibt es auch honest signals, zum Beispiel den Sprung der Antilope. Die Tiere springen hoch in die Luft, oft in der Nähe von Löwen. Ihre Luftsprünge geben den deutlichen Bescheid: »Seht, wie rasch und wendig ich bin. Ihr braucht gar nicht erst zu versuchen, mich zu jagen!« Als »ehrliches Signal« gelten diese kraftvollen Sprünge, weil sie zeigen, was die Antilope wirklich kann.

Die Unterscheidung zwischen ehrlichen und unehrlichen Signalen ist nicht immer leicht. Es ist wie mit einer gefälschten Rolex: Sie sieht kostbar aus und zieht ehrfürchtige Blicke auf sich. In der Natur entwickeln Tiere unehrliche Signale, weil ihre Artgenossen darauf hereinfallen. Warum also soll es den Biologen besser ergehen?

Ein weiteres Beispiel ist der Fangschreckenkrebs, der bis zu 30 Zentimeter groß wird. Er ist ein Räuber mit gefährlichen Fangbeinen und sieben von acht Wochen von einem harten Panzer geschützt. Doch jede achte Woche häutet er sich und ist ein paar Tage lang verletzbar, bis sein Panzer wieder hart ist. Dies kompensiert er, indem er umso mehr mit den Fangbeinen droht und Scheinangriffe vollführt, um Feinde abzuschrecken. Gelingt dies nicht, bleibt ihm nur noch die Flucht. Schon eine Woche vor der Häutung verstärkt der Krebs sein Drohverhalten und lässt den Finten echte Angriffe folgen, solange er noch geschützt ist.

Für Biologen bedeutet es harte Arbeit, den Bluffs der Natur auf die Schliche zu kommen. Unter der Leitung von Patricia Backwell fand ein Forscherteam im Jahr 2000 heraus, dass Winkerkrabben mit nachgewachsener Schere schwächer sind und sich im Kampf nicht mit Artgenossen messen können. Trotzdem kommen sie zurecht. Sie vermeiden Konfrontationen und wohnen in verlassenen Sandlöchern, anstatt sich um sie zu prügeln. Da auch die Weibchen nicht zwischen »Original und Fälschung« unterscheiden können, geben die Schwächeren ihre Gene weiter. Die Forscher zählten, dass bis zu 44 Prozent der Krabben einer Kolonie Zweitscheren trugen, und kamen zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich noch viele unerforschte dishonest signals in der Natur gibt, da sie per definitionem verborgen sind.

Dieses Paradox gilt für alle, die sich mit dem Phänomen des Betrugs und seinen Spielarten beschäftigen. Sie müssen sich mit misslungenen Bluffs befassen, da die besten nie aufgedeckt werden.

Die Täuschungsmanöver der Natur beschränken sich nicht allein auf visuelle Tricks. Fledermäuse finden ihre Beute im Dunkeln mithilfe von Ultraschall. Sie lokalisieren sie durch das Echo ihrer eigenen Laute. Der Bärenspinner, ein Nachtfalter und somit Beutetier der Fledermaus, erzeugt durch rasche Muskelkontraktionen ebenfalls Ultraschalllaute. Wissenschaftler vermuteten, dass er nicht zufällig den gleichen Frequenzbereich wie sein Fressfeind benutzt. Um dies zu belegen, banden sie einen Bärenfalter so fest, dass er keine Ultraschalltöne mehr von sich geben konnte, und hängten ihn an einem Faden auf. Dann ließen sie eine Fledermaus in den Versuchsraum, die den Falter sofort fand und auffraß. Als Nächstes wurde ein Falter so aufgehängt, dass er Ultraschall abgeben konnte; und siehe da, die Fledermaus fand ihn nicht. Offenbar reagieren die Falter auf die Laute der Fledermaus und geben ein falsches Echo zurück, um nicht gefressen zu werden.

Das erinnert an die oben beschriebene militärische Praxis, doch müsste man es andersherum sagen. Nicht das Chamäleon imitiert das Militär, sondern umgekehrt. Steinfische lernen nicht von uns, sondern wir lernen von den Steinfischen. Tiere gehen in den Kolonien ihrer Artgenossen undercover oder tarnen sich, um besser jagen zu können oder den Jägern zu entkommen. Dafür nutzen sie dieselben physikalischen Gesetze und psychologischen Prinzipien wie wir Menschen, nämlich die Schwachpunkte in der Perzeption des Gegners.

Der Tarnungskünstler

Der Maler Abbott Thayer wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in New Hampshire auf. Er ist bekannt für seine Naturbilder und idyllisierenden Darstellungen unschuldiger Frauen, die alle Tugenden seiner Zeit repräsentieren. Thayer war ein Naturmensch, der viel Zeit im Wald verbrachte und darauf bestand, dass seine Familie mit ihm im Freien auf Bärenfellen schlief. Niemand hätte gedacht, dass die Nachwelt seinen Namen vor allem mit Taktiken der Kriegsführung assoziieren würde. Heute sind seine bekanntesten Bilder naturalistische Gemälde von Naturszenen, die bei näherem Hinsehen gut getarnte Tiere darstellen. Eine Schlange wird eins mit dem Laub auf dem Waldboden, und selbst ein so auffälliges Tier wie ein Pfau verschwindet im Blattwerk eines Baumes, zwischen dessen Blättern blaue Himmelsflecken schimmern. Die Bilder sind schon an sich trügerisch, denn Pfauen leben nicht in der dargestellten Vegetation und könnten die Augenflecken ihrer Schwanzfedern kaum so geistreich verteilen, wie es Thayer darstellt. Dennoch zeigen diese Bilder bewusst, wie bestimmte Muster Konturen aufbrechen, sodass bekannte Formen schwierig zu erkennen sind.

Als visueller Künstler wusste Thayer, wie der menschliche Blick funktioniert: Wir suchen zuerst nach Kontrasten, Konturen und Mustern, dann produziert unser Gehirn eine Theorie, was diese darstellen könnten. Diese Interpretation ist der Ausgangspunkt für alle weitere Wahrnehmung. Mit der künstlerischen Kenntnis des Wahrnehmungsprozesses und der Beherrschung von Lichteffekten wollte Thayer die Tarnung der Tiere verstehen und erklären. Seine Theorien über das sogenannte countershading (»Konterschattierung«) wurden zum wichtigen Beitrag für die Entwicklung militärischer Tarnung: Das Fell oder Federkleid der meisten Tiere wird nach unten hin immer heller. Thayer erklärte dies damit, dass wir dreidimensionale Formen oft anhand ihres Schattens identifizieren. Die helle Unterseite hebt den Schatteneffekt auf, und die Tiere können vor dem Hintergrund verschwinden. Thayer schlug vor, auch das Militär könne diesen Effekt und sogenannte disruptive patterns (»aufbrechende Muster«) zu Tarnungszwecken nutzen. Was heute selbstverständlich ist, war damals neu und umstritten.

Genau wie die Tiere leben auch die Menschen in ständigem Krieg miteinander – mit dem Unterschied, dass der Krieg der Menschen nicht metaphorisch ist. Er ist zu einer Industrie geworden, zur politischen Zwangsläufigkeit und unausweichlichen Bedrohung. Fast alle Länder der Welt haben Streitkräfte, und ein großer Teil der Taktik zur Vermeidung bewaffneter Konflikte – oder im Ernstfall zur Erlangung eines Sieges – funktioniert über Signale mehr oder minder trügerischer Art. Die federgeschmückten Helme der römischen Zenturionen erinnern an Tiere, die durch Auswüchse auf dem Kopf größer und gefährlicher aussehen. Die Helme der japanischen Samurai waren oft mit diabolischen Masken verbunden, die den Träger zusammen mit den breiten Rüstungen komplett verbargen und ihm das Aussehen eines gepanzerten Dämons gaben.

Noch bis zum Ersten Weltkrieg erfüllten militärische Uniformen vor allem den Zweck, sichtbar zu sein, sowohl für die eigenen Leute als auch für den Feind. Sie sollten ein deutliches Signal von Macht und Überlegenheit ausstrahlen. Doch moderne Schusswaffen veränderten alles. Im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg waren die britischen Soldaten in ihren roten Jacken ein leichtes Ziel. Als sie in Massen von Scharfschützen niedergemetzelt wurden, erkannten die Generäle die Vorteile einer diskreteren Bekleidung, und die khakifarbenen Uniformen hielten ihren Einzug.

Im Ersten Weltkrieg wurde die Tarnung zum ersten Mal in großem Maßstab eingesetzt, unter anderem inspiriert von Abbot Thayers Theorien. Das Wort »Camouflage« ist von dem französischen Begriff für »ins Gesicht geblasene Rauchwolke« abgeleitet, und die französischen Experten nannten sich camoufleurs. Einer von ihnen, Henri Bouchard, imponierte dem englischen Major Hesketh Pritchard mit seinen lebensechten Büsten französischer und britischer Soldaten aus Pappmaché. Pritchard bestellte auch Gurkha- und Sikhköpfe, um den deutschen Aufklärungsdienst in Angst und Schrecken zu versetzen. Vielleicht waren die Deutschen auch von der Standhaftigkeit und den steinernen Gesichtern der Feinde beeindruckt.

Einige von Bouchards Puppen und Büsten hatten sogar ein Loch im Mund, um sie mit Zigaretten zu bestücken. Da es zu schade gewesen wäre, den kostbaren Tabak einfach so verglühen zu lassen, führte man einen Gummischlauch durch die Puppe, an dem die Soldaten im Graben sitzend ziehen konnten. Man kann sich das unbewegliche Clint-Eastwood-Gesicht mit der glühenden Zigarette als einzigem Lebenszeichen lebhaft vorstellen. Pritchard beschrieb es später als »merkwürdiges Gefühl«, wenn eine Kugel das Gesicht zerschmetterte, durch das man gerade eine Zigarette rauchte.

Schockmuster

Die Camoufleure des Ersten Weltkriegs stellten auch falsche Pferdekadaver und Bäume her, hinter denen sich die Soldaten verstecken konnten, außerdem nähten sie Tarnmützen für Scharfschützen. Wie ein Vogel auf dem Waldboden oder ein Tiger im hohen Gras sollten die Soldaten mit dem Hintergrund verschmelzen. Doch Nachahmung ist nicht die einzige Form der Tarnung. Zebras und bestimmte Tintenfischarten haben verwirrende Muster, die die Konturen aufbrechen und den Fressfeind verunsichern. Der französische Maler Lucien-Victor Guirand de Scevola entdeckte 1914 während seines Dienstes in einem Artillerieregiment, dass sich dieses Prinzip auch auf Kanonen übertragen ließ. Wenn er sie mit abstrakten schwarzweißen Mustern in unregelmäßigen Winkeln bemalte, war die Artillerie für den Feind schwieriger zu erkennen. Die neue Technik wurde zébrage getauft.

Von heutigen Kriegsschiffen oder den vielen Filmen über den Zweiten Weltkrieg sind wir Einheitsgrau gewohnt, doch Bilder aus dem Ersten Weltkrieg zeigen, dass ein Großteil der Flotte damals Tarnbemalung trug. Die USS West Mahomet sieht aus, als hätte ein Kubist das Schiff aus mehreren Winkeln gleichzeitig gemalt. Oder sind es vielleicht mehrere Boote? Hier ein Bug, da ein Kiel, dort eine Längsseite, die in die andere Richtung zeigt. Der Effekt wird durch ein raffiniertes Muster aus breiten schwarzen Streifen erreicht, dessen verwinkelte Felder das menschliche Auge so verwirren, dass es andere Proportionen und Umrisse sieht. Als Picasso 1915 in Paris zum ersten Mal eine auf diese Weise getarnte Kanone sah, soll er ausgerufen haben: »Das haben wir erschaffen!«

Das sogenannte dazzle painting entstand durch die Zusammenarbeit von Künstlern, Wissenschaftlern und Militär. Als Urheber gilt der Maler Norman Wilkinson, doch er war möglicherweise von Thayer inspiriert, und ein ganzes Heer von Amateurkünstlern wirkte an der kreativen Kriegsbemalung mit. Jedes Boot bekam sein spezielles Muster, das vorher an Holzmodellen getestet wurde. So sollten feindliche Beobachter verwirrt werden. Torpedos waren damals noch sehr träge, ein U-Boot-Kapitän musste Geschwindigkeit, Winkel und Fahrtrichtung des Ziels mitberechnen. Allein das war schwierig genug, und Perspektivlinien, die eine andere Fahrtrichtung vortäuschten, oder aufgemalte Bugwellen am falschen Ende machten es noch schwieriger.

Erst nachdem die gesamte britische und amerikanische Flotte gestreift und gescheckt war, ließ das Militär die Wirksamkeit dieser Tarnung offiziell untersuchen. Das Ergebnis war niederschmetternd, weshalb kubistische Kriegsschiffe bald wieder aus der Mode kamen. (Ein weiterer Grund dafür war natürlich die Erfindung des Radars.) Wahrscheinlich war der Einsatz künstlerisch betrachtet ein größerer Erfolg als taktisch. In Survival of the Beautiful schreibt der Philosoph David Rothenberg:

»Vielleicht war der wertvollste Aspekt des dazzle painting, dass es die Moral der Seeleute stärkte. Wer in einem solchen Konvoi fuhr, befand sich quasi auf einem schwimmenden Kunstmuseum. Wo immer sie auftauchten, machten die aufregend bemalten Schiffe großen Eindruck. Der Seekrieg war nicht mehr kalt, gnadenlos und grau, sondern schön und spektakulär – eine erhabene, ästhetische Erfahrung, bei der Künstler und Wissenschaftler Naturgesetze für ein großes Experiment in Sachen Perzeption und Illusion nutzten.«

An der Heimatfront mag das dazzle painting demnach mehr Wirkung gezeigt haben als auf dem Schlachtfeld. 1919 fand in London ein großer »Dazzle-Ball« statt, auf dem Jazz gespielt wurde und die Gäste in verwirrend gestreiften Kostümen erschienen. Wahrscheinlich würde es schreckliche Unfälle auf der Tanzfläche geben, wenn beschwipste Gäste die Position der anderen falsch interpretierten, scherzte die Presse. Auch in der Mode hielten die Streifenmuster Einzug, zum Beispiel erwiesen sie sich auf Badeanzügen als praktisch. Am 23. Juni 1919 meldete die New York Tribune: »Camouflage-Sylphen auf Coney Island und eine optische Illusion: Mollige Menschen wählen gestreifte Badekleidung, um das volle Ausmaß ihrer Wohlbeleibtheit zu verbergen.«

Kampf und Ehre

In der Militärgeschichte gibt es einen uralten Streit zwischen jenen, die den »ehrlichen Kampf« vorziehen, und jenen, die List und Tücke anwenden. Carl von Clausewitz hält in seinem Klassiker Vom Kriege (1832) wenig von Letzterem, während der chinesische Philosoph und Stratege Sunzi über tausend Jahre früher schrieb, Kriegführung sei die Kunst der Irreführung. Das vielleicht bekannteste militärische Täuschungsmanöver der Weltgeschichte ist das Trojanische Pferd, das sich Odysseus ausgedacht haben soll. Er wird nicht nur bei dieser Gelegenheit als listiger Held geschildert, der seine Feinde mit Worten und Ideen ausmanövriert, anstatt ihnen in offenem Kampf entgegenzutreten.

Bei Homer ist Odysseus ein wahrer Held, doch rund 400 Jahre später, in Sophokles’ Tragödie Ajax, bröckelt sein Ruhm. Dort sind er und Aias die beiden Kandidaten, die Achilleus’ Waffen erben können, nachdem dieser im Trojanischen Krieg gefallen ist. Symbolisch betrachtet ist dies eine Entscheidung zwischen zwei entgegengesetzten menschlichen Eigenschaften. Aias war der größte Krieger nach Achilleus und Odysseus der listigste. Er ist ein eher moderner Charakter, kompromissbereit und schlau – und dies galt nicht unbedingt als gut.

Zu Sophokles’ Zeit vollzogen sich in Athen große Veränderungen. Die aristokratische Oberklasse fühlte sich von der neuen Idee der Demokratie bedroht. Ein besonders spitzer Dorn im Auge war ihr die Behauptung der Sophisten, dass Tugend nicht angeboren, sondern erlernbar sei. Die Sophisten waren beliebte Lehrmeister der Rhetorik, aber sie waren umstritten, weil sie dem sozialen Aufstieg nichtadliger Personen den Weg bereiteten. Ihre Gegner polemisierten gegen die Wortkünstler, die »durch falsche Dialektik das Wahre mit dem Falschen verwirrten«. Lüge, Betrug und Wahrheit wurden zu wichtigen Themen der öffentlichen Debatte, was sich auch im zeitgenössischen Drama spiegelt.

Wir kennen Odysseus als Helden, doch Athens Tragödiendichter stellten ihn als Schalk und Schwindler dar, als einen, mit dem man ungern verglichen wurde. Jede Zeit und jede Kultur hat ihre eigene Auffassung von Ehrbarkeit und Ehrlichkeit. Auch im Rittertum des Mittelalters rümpfte man die Nase über listige Strategien, und noch im Dänisch-Schwedischen Krieg (1808/09) warf man dem norwegischen Jägerkorps vor, dass es grüne Uniformen getragen hatte. Wie sollten die schwedischen Truppen ehrlich gegen Soldaten kämpfen, die sich kaum von der Vegetation abhoben?

»Feminine« List

Sogar im Zweiten Weltkrieg gab es noch Stimmen im Heer, die Tarnung als unter ihrer Würde empfanden. 1941 beauftragte das australische Ministerium für innere Sicherheit den Zoologen W. J. Dakin, neue Strategien der Tarnung zu entwickeln. Die Heeresleitung ignorierte ihn jedoch und verwehrte ihm den Einblick in gängige Strategien. Als Zoologe war Dakin der Meinung, der Mensch solle von der Natur lernen. Zum Beispiel schlug er vor, die Soldaten sollten Zweige und Laub an ihren Helmen befestigen, wie Krabben, die Tang auf dem Panzer herumtragen. Leider tendierte das Militär dazu, Selbstwertgefühl und Männlichkeit mit der Überzeugung zu verbinden, dass der Mensch höher als das Tier stehe.

In der Armee waren noch immer einige der Meinung, Tarnung habe etwas Feminines an sich und sei ein Ausdruck von Feigheit. Sie sei etwas für Schwächlinge, die sich verstecken wollen, meinten sie. Dass der Begriff »Camouflage« seinen Ursprung in kriminellen Kreisen Frankreichs hat, machte die Sache nicht besser, auch nicht, dass die Tarnungsexperten einen künstlerischen Ruf genossen. Für stramme Militärs klang dies weiterhin nach Blumenmalerei und Poesie. Die Camoufleure selbst griffen diesen Ruf ironisch auf und nannten sich camopansies (das englische pansy bedeutet »Weichling«, auch »Tunte«).

Wo immer sie stationiert wurden, bekamen Dakins Offiziere heftigen Gegenwind zu spüren. Sie hatten keinen offiziellen Rang und durften lange Zeit nicht einmal Uniformen tragen. Sie taten ihr Bestes, um die Generäle davon zu überzeugen, dass auch Tarnung hart und männlich sein konnte. Um ihr aggressives Potenzial zu unterstreichen, wählten sie den Tiger als Wappentier, und als sie endlich offizielle Uniformen bekamen, zierte ein Tigerkopf ihre Schulterklappen. Ihr Slogan lautete: »Der Tiger hält sich im Verborgenen – um anzugreifen!«

Trotz der anfänglichen Ablehnung der Camoufleure erwies sich das australische Heer als äußerst tüchtig im Tarnen von Dingen oder Operationen. Eines der gelungensten Täuschungsmanöver des Zweiten Weltkriegs, die »Operation Hackney«, fand 1943 statt. Nach der Rückeroberung der strategisch wichtigen Good-enough-Insel in der Salomonensee fürchteten die Alliierten die Rückkehr der Japaner und starteten eine groß angelegte Aktion, um den Eindruck zu erwecken, die Insel sei von einer ganzen Brigade besetzt. Falsche Telegramme und Funksprüche wurden hin und her gesendet, umfassende Bewegungen in der Luft und zur See simulierten größere Landemanöver, Attrappen von Lagern, Kanonen und Soldaten wurden aufgestellt. Dampfende Pseudosturmküchen und lange Wäscheleinen machten die Illusion perfekt. Natürlich wurden auch die falschen Kanonen mit Netzen getarnt, allerdings so halbherzig, dass man sie dennoch entdecken konnte.

Den Landsleuten auf dem australischen Kontinent wurde die Operation Hackney verschwiegen. In der Presse bestand allgemeiner Konsens, nicht über Tarnung zu berichten. Allmählich schien die Skepsis zu schwinden, wie die Rapporte zeigen. Die Offiziere sagten den Soldaten, die Operation würde in die Geschichte eingehen, und diese zeigten besonderen Enthusiasmus. In einem Zelt saß eine Puppe mit einem Buch in der Hand auf einem korrekt gemachten Bett. Eine andere saß am Steuer eines Jeeps, während sich eine dritte australisch-lässig an das Fahrzeug lehnte.

Alliierte Illusionen

Noch bekannter sind die Täuschungsmanöver der Alliierten im Wüstenkrieg. Die deutschen Strategen waren mit Tarnung und falschen Flugzeugen vertraut, da sie daheim ganze Dörfer aus Kulissen errichtet hatten, um die feindliche Luftaufklärung zu narren. Die Alliierten erwiderten diese Taktik mit einem doppelten oder dreifachen Bluff. Sie stellten falsche Panzer auf, bis sie sicher sein konnten, dass deutsche Aufklärer sie gesehen und als falsch erkannt hatten. Dann tauschten sie die Attrappen über Nacht gegen echte Panzer aus. Echte Kampffahrzeuge wurden also als falsche getarnt. Ein anderer Trick bestand darin, Panzer als Lastwagen zu tarnen und umgekehrt. Manchmal wurden auch echte Geschütze über Nacht durch Attrappen ersetzt, also falsche Kanonen als echte getarnt. Wie bei der Operation Hackney wurde dabei schlechte Tarnung benutzt, um die Attrappen realistischer zu machen. Also keine Tarnung, getarnt als Tarnung.

Die Briten setzten für Täuschungsmanöver sogar echte Bühnenzauberer ein. Der bekannteste war Jasper Maskelyne, der aus einer Familie großer Illusionisten stammte. Nach dem Krieg beschrieb Maskelyne seine Tricks in der Autobiografie Magic: Top Secret. Das Buch ist eine Sammlung extravaganter Lügengeschichten. Zum Beispiel will Maskelyne den gesamten Suezkanal mithilfe von Spiegeln und Scheinwerfern getarnt haben. Seine angeblichen Ruhmestaten wurden später infrage gestellt. In Wirklichkeit hat er zwar an Attrappen mitgearbeitet, doch meist nur Soldaten mit Kartentricks unterhalten.

Maskelyne und seine früheren Biografen übertrieben viel, doch sie wussten ihr Publikum zu fesseln. Der Gentlemanschwindler war eine beliebte Figur, besonders wenn er den Feind an der Nase herumführte. Aus gelungenen Täuschungsmanövern wurden gute Geschichten, deren Botschaft lautete: »Wir sind schlauer als sie.« Dennoch mussten die Autoren weiterhin das »weibliche« Image der Tarnung berücksichtigen. Täuschungsmanöver schneiden in Biografien oder Geschichtsbüchern meist besser ab als Tarnung. Beides lenkt die Aufmerksamkeit des Feindes in eine falsche Richtung, dennoch erscheint es heldenhafter, eine gute List zu erdenken oder eine Illusion zu erschaffen, als sich zu verstecken. Davon lebt der Mythos des »Kriegszauberers« Maskelyne.

Ein Großteil der amerikanischen Actionfilme spiegelt unsere Ideen von »intelligentem Betrug« und der Redlichkeit des offenen Kampfes. Der Held beherrscht meist beides. Selbst ein Muskelpaket wie Arnold Schwarzenegger greift in »Predator« zu List, Täuschung und Tarnung. Er schmiert sich mit Schlamm ein und stellt Fallen. Am anderen Ende der Skala steht der kluge Kopf Sherlock Holmes. In der modernen Filmversion mit Robert Downey jr. ist auch er mit Schusswaffen ausgerüstet und beherrscht Kampfkünste, um seinen Widersachern in ehrlichen Zweikämpfen zu begegnen. Wir bewundern Helden, die ihr Hirn gebrauchen; der Sieg des Guten soll im Idealfall nicht durch Muskelkraft allein erlangt werden. Andererseits würde der Held an Ansehen verlieren, wenn er seinem Gegenspieler nicht wenigstens im Showdown von Angesicht zu Angesicht entgegenträte.

Die Rekrutierung des Zauberkünstlers Maskelyne war auch ein PR-Stunt. Vielleicht war er selbst gar nicht der größte Schwindler in seiner Geschichte. Vieles deutet darauf hin, dass ein Offizier des Geheimdienstes, Dudley Clarke, Maskelynes Bedeutung bewusst übertrieb. Auf diese Weise erhielt die Armee einen Hauch von Eleganz und Finesse und war nicht nur bloße Waffenmacht. Clarke benutzte den Zauberer als eine Art Maskottchen, um die Gunst der militärischen Befehlshaber zu erlangen. Maskelyne stammte aus einer berühmten Familie von Magiern, und die Generäle kannten die Auftritte seines Großvaters aus ihrer Kindheit. So wurde der Illusionskünstler im internen Machtkampf des Militärs selbst als Illusion benutzt.

Die Grausamkeit der Natur

Der Evolutionsbiologe Robert Trivers hat ein Haus auf Jamaica, wo er einen Teil des Jahres lebt. Vor einigen Jahren verbrachte er einen ganzen Frühlingsabend damit, die Anis in seinem Garten mit Steinen zu bewerfen. Anis sind eine exotische Kuckucksgattung, die stets in Schwärmen von bis zu einem Dutzend auftreten – schwarz gefiederte, lärmende Todesschwadronen, die andere Vogeljunge direkt aus den Nestern verspeisen. Trivers beobachtete, dass sie die Futterschreie junger Tauben nachahmten. Die Taubenjungen stimmten in den falschen Futterschrei ein und verrieten somit ihr Versteck. Natürlich weiß ein Biologe wie Trivers, dass dies zur Natur gehört, doch kann man verstehen, dass der alte Mann die Raubvögel vertreiben wollte. Letztendlich verzögerte er ihre Mahlzeit nur um ein paar Stunden. Die Evolution geht ihren Weg.

Es wäre Disneyfizierung, den Tieren zu unterstellen, dass sie einander auf menschliche Weise »betrügen«. Damit übertragen wir nur unsere eigenen Gefühle auf das Tierreich. Unsere Auffassungen von Wahrheit, Lüge und Betrug haben sich erst mit der jeweiligen Sprache und Kultur entwickelt, doch die Praxis der Irreführung an sich existiert seit Urzeiten. In den siebziger Jahren untersuchte Trivers, wie Vertrauen, Betrug und Selbstbetrug die Überlebensfähigkeit bestimmter Arten oder Gene beeinflussen. Die wichtigsten Werke der Evolutionspsychologie wie E. O. Wilsons Sociobiology, Richard Dawkins’ Das egoistische Gen oder Steven Pinkers Wie das Denken im Kopf entsteht bauen auf Trivers’ Theorien auf.

Trivers selbst fasste seine Ideen zum Thema 2011 in The Folly of Fools zusammen. Darin bekennt er seine Neigung zu beiden Schwächen mit etlichen persönlichen Beispielen: Er lügt manchmal seine Frau an, vergisst gern, wenn er Ideen anderer Wissenschaftler übernimmt, oder lässt unbewusst Kugelschreiber aus den Büros von Kollegen mitgehen. Wir lügen und betrügen oft unbewusst, und wie das Beispiel der Vögel zeigt, ist auch unsere Reaktion auf Ungerechtigkeit oder Manipulation selten von rationalem Denken bestimmt, sondern eher emotional. Trivers zufolge ist die Fähigkeit zu Betrug und Täuschung eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Emotion und Intelligenz.

Viele Technologien, die heute zum Alltag gehören, wie Internet oder Düsenantrieb, wurden ursprünglich zu militärischen Zwecken entwickelt. Auf gleiche Weise bereiten die »brutalen« Strategien der Anis eine Grundlage für die Zivilisation, könnte man sagen. Sie sind nur ein Beispiel für das unaufhörliche Wettrüsten in der Natur, bei dem Organismen immer raffiniertere Techniken entwickeln und lernen, die Tricks ihrer Feinde oder Opfer zu durchschauen. Tiere bluffen unaufhörlich. Rund die Hälfte aller Tierarten sind Schmarotzer, sie leben parasitisch von der anderen Hälfte. Die meisten davon sind klein: Bakterien, Flöhe oder Würmer. Bei Vögeln schiebt nur ein Prozent aller Arten anderen die Eier unter. Bei uns ist der Kuckuck der bekannteste Brutparasit, und wenn sich jemand ein Kuckucksei ins Nest legen lässt, ist dies kein Kompliment.

Mit Letzterem beginnt das Wettrüsten. Es ist von Vorteil für den Wirtsvogel – zum Beispiel eine Lerche –, wenn er die unterschiedlichen Muster auf den Eiern erkennen kann. Evolutionär betrachtet gewinnen nun alle Arten, die Farben und Formen besser erkennen und kategorisieren können. Allmählich entstehen Gene, die eine solche Hirnaktivität stimulieren. Sobald aber die Lerche diese Kapazität entwickelt hat, schlägt der Kuckuck zurück. Er beginnt Eier zu legen, die den Eiern des Wirtes ähneln. Nun sind solche Vögel im Vorteil, deren Eier schwieriger nachzuahmen sind. Die Flecken der Lercheneier sind eine wichtige Tarnung gegen Nesträuber. Eine Theorie besagt, dass sie gleichzeitig eine Art Fingerabdruck darstellen, der eine »Fälschung« durch den Kuckuck erschwert.

Die Unterscheidung von echten und falschen Eiern verlangt eine gewisse Intelligenz, aber noch hilfreicher wäre es, wenn die Lerche zählen könnte. Wir wissen nicht, ob dies je der Fall war, doch der Kuckuck hat bereits vorgesorgt. Das Weibchen frisst ein Ei des Wirtstieres auf, bevor es sein eigenes ins fremde Nest legt. Wenn das Kuckucksküken geschlüpft ist, beginnt der größte Betrug. Es schubst die anderen Eier oder Geschwister aus dem Nest, sperrt den Schnabel auf und stößt Futterschreie aus, die den Schreien des jungen Wirtsvogels täuschend ähnlich sind. Die Stiefeltern fallen meist darauf herein. Manche Kuckucksarten können sogar so schreien, als säßen mehrere Küken im Nest, und haben Flecken unter den Flügeln, die wie aufgesperrte Schnäbel aussehen, was die Stiefeltern noch härter arbeiten lässt.

Ein Kuckucksjunges kann bis zu sechsmal größer als seine Stiefmutter werden, ohne dass diese sich wundert. Das klingt wie ein Widerspruch zu der These, dass Betrug evolutionär betrachtet die Intelligenz fördert. Warum ahnt die Mutter nichts? Dafür gibt es mehrere mögliche Erklärungen. Eine Ablehnung des größten Kükens könnte auch das überlebenstüchtigste Exemplar des eigenen Nachwuchses treffen. Doch warum prägt die Vogelmutter sich nicht bei der ersten Brut das Aussehen ihrer Kinder ein? Ein solches imprinting (»Prägung«), wie es bei anderen Tierarten heißt, wäre katastrophal, wenn beim ersten Mal ein Kuckuck dabei wäre.

Etwas mehr Intelligenz würde der Lerche durchaus nicht schaden, aber ein großes Gehirn gibt es nicht kostenlos. Wie bei allen Sicherheitsmaßnahmen kommt irgendwann der Punkt, an dem das zu erbringende Opfer den Gewinn übersteigt. Evolutionär betrachtet stellt sich die Frage, was zuerst da war, der Betrug oder die Intelligenz (eine Art »Kuckuck-oder-Ei-Frage«). Dass ein Zusammenhang zwischen beiden besteht, gilt mittlerweile als gesichert, nicht nur bei Vögeln. Studien von Primaten belegen, dass die Größe der Hirnrinde, des sogenannten »sozialen Hirns«, proportional zur Fähigkeit des taktischen Denkens oder Verhaltens steigt. Die Größe des Cortex cerebriist auch ein guter Indikator für Intelligenz. Mit anderen Worten: Je intelligenter eine Tierart ist, desto mehr Betrug begeht sie. Andersherum gesagt: Bluff ist ein Zeichen von Klugheit.

Militärische Magie

Am Forschungsinstitut der Streitkräfte nimmt Morten Søderblom mich am Ende mit in den Keller, wo er mir ein Tarnnetz zeigt. Es ist graubraun und voller halbmondförmiger Läppchen. Die 3-D-Struktur bewirkt, dass das Material schneller die Temperatur seiner Umgebung annimmt. Er dreht es um und zeigt mir ein Netz mit radarhemmenden Eigenschaften. Beeindruckt bin ich, als er mir auf einem Bild zeigt, wie das Netz wirkt. Er deutet auf eine leere Stelle zwischen anderen Militärfahrzeugen. Ich kneife die Augen zusammen, sehe aber nichts, doch er versichert mir, dass dort ein weiteres Fahrzeug unter einem solchen Tarnnetz steht.

»Hier hat man einen wirklich geeigneten Hintergrund gefunden«, sagt er.

Jede Tarnung braucht genaue Planung unter Berücksichtigung der Umgebung. Eine offene Landschaft verlangt andere Tricks als ein Wald oder Felsenklüfte. Das war schon immer so. Was sich verändert hat, ist der Blick, vor dem man sich verstecken muss. Frühe Tarnuniformen passten den Träger lediglich der Farbe der Umgebung an. Doch im Zeitalter von Infrarotkameras, Nachtsichtgeräten und Sensoren kann man die Umrisse eines menschlichen Körpers anhand der ihn umgebenden Strahlung erkennen. Blattgrün erscheint auf Infrarotaufnahmen strahlend weiß, weil es Infrarotstrahlung durchlässt. Der menschliche Körper blockiert sie, weshalb sich eine klassische Tarnuniform durch ein Infrarotsichtgerät betrachtet dunkel von der Vegetation abhebt, auch wenn sie ihr in Muster und Farbe gleicht. Deshalb setzt das Militär heute moderne Materialien ein, die ihre Umgebung auch in den Bereichen imitieren, die für das bloße Auge unsichtbar sind, zum Beispiel Wärmestrahlung oder UV-Licht.

Søderblom war selbst an der Entwicklung eines Stealth-Bootes beteiligt, das auf dem Radar nur schwer zu erkennen ist. Doch er betont, dass auch bei der modernsten Sensortechnologie und den neuesten Tarnmethoden immer ein Mensch am Ende der Informationskette sitzt, der die eingehenden Signale interpretiert. Die Technologie kodiert sie nur für das menschliche Auge um, sie »übersetzt sie zurück in unsere Sprache«, wie er sagt.

Als die Alliierten am D-Day mit vielen tausend Booten in der Normandie landeten, waren sie auf dem deutschen Radar sichtbar, aber die Verbände erschienen als ein einziges, gleichmäßiges Signal, weshalb die Deutschen von einem Fehler ausgingen. Ähnliche Berichte gibt es von Pearl Harbor und anderen Kriegsschauplätzen, sagt Søderblom. Im Bosnienkrieg dachte die NATO, sie hätte 200 serbische Panzer zerstört, doch wie sich herausstellte, war es kein einziger, sondern nur improvisierte Scheinziele.

Es waren mit Blättern getarnte Pkws, aus deren Frontscheibe ein Rohr ragte, oder bemalte Planen, die über ein Holzgestell gespannt wurden.

»Keine moderne Technologie«, wirft Daniela Heinrich ein. »Aber die gesamte Bevölkerung hatte mitgemacht und Attrappen gebaut. Das ist ein kultureller Unterschied. Wenn es hier Krieg gäbe, würde kaum jemand mit Begeisterung falsche Panzer bauen.«

»Selbst im ›chirurgischen‹ ersten Golfkrieg funktionierten die Sensoren nicht so gut, wie man erwartet hatte«, sagt Søderblom. »Es war sehr wichtig, die Scud-Abschussrampen zu eliminieren, mit denen der Irak Israel bedrohte. Doch hinterher stellte sich heraus, dass die Amerikaner Lastwagen mit dicken Lüftungsrohren auf dem Dach beschossen hatten.«

Der Optimismus, dass ein Fernkrieg möglich sei, ist inzwischen etwas gedämpft. Heute gilt es wieder als wichtig, »Leute am Boden« zu haben, die mit eigenen Augen beurteilen, ob die Ziele den Erwartungen entsprechen. Egal, wie fortschrittlich die Technologie ist, am Ende setzt die menschliche Perzeption immer Grenzen. Daniela Heinrich verrät, dass sie kürzlich auf einer NATO-Konferenz einem ungewöhnlichen Auftritt beiwohnte, nämlich dem eines Zauberkünstlers.

»Der Sinn des Auftritts war ein bloßes Gedankenspiel. Wir sollten lernen, wie das menschliche Gehirn funktioniert. Zum Beispiel, wenn ein Magier sein Publikum ablenkt, um einen Gegenstand verschwinden zu lassen, oder es so manipuliert, dass er dessen Reaktionen vorhersehen kann.«

Der Zauberkünstler war kaum ein Nachkomme des großen Maskelyne, und man muss nicht befürchten, dass die NATO demnächst Zauberbrigaden aufstellt. Aber es gehört zu Illusion und Betrug, dass man Erwartungen schafft. Zum Beispiel beim klassischen Trick, einen Ball dreimal in die Luft zu werfen, um ihn beim vierten Mal verschwinden zu lassen. Natürlich bleibt er in der Hand des Magiers, aber das Bewusstsein der Zuschauer ist so an das Muster gewöhnt, dass es seine eigene Illusion erschafft. Ähnlich erging es den Deutschen bei der Schlacht von El Alamein. Sie sahen auch an der nördlichen Front Attrappen, obwohl die Briten diese inzwischen gegen echtes Gerät ausgetauscht hatten, und gingen in die Falle. Simsalabim.

Die Forscher der Streitkräfte gaben sich bei meinem Besuch als nüchterne Wissenschaftler, aber ein wenig imagebewusst sind sie trotzdem. Nach meinem Besuch wechselten wir viele freundliche Mails, da sie sich versichern mussten, dass keine geheimen Informationen weitergegeben wurden. Ich musste ein paar technische Details entfernen, aber darauf war ich vorbereitet. Am meisten diskutiert wurde jedoch die Textstelle, in der ich ihre Arbeit mit James-Bond-Filmen verglich. Einer der Forscher hatte spontan geantwortet, ja, manchmal erinnere ihre Arbeit ein bisschen an Donald Duck. Das gefiel nicht allen Kollegen, und sie baten mich, stattdessen lieber einen Vergleich mit Q aus den Bond-Filmen aufzustellen.

Die meisten Menschen wollen selbst bestimmen, womit sie assoziiert werden, und selbst kleine Details in Sprache, Ausdrucksweise oder Auftreten einer Person können den Blick und die Gedanken der anderen in die gewünschte Richtung lenken, wie die Gesten eines Magiers. Ursprünglich militärische Tarnmuster sind heute in Mode und Alltag eingegangen, sie verbergen die militärische Präsenz nicht mehr, sondern tragen sie zur Schau.

Camo Couture

In seiner Bilderserie »Invisible« hat der englische Fotograf Stephen Gill eine der effektivsten Tarnuniformen der modernen urbanen Landschaft eingefangen. Sie passt sich nicht der Umgebung an, sondern manipuliert die Erwartungen der Allgemeinheit. Es handelt sich um eine schlichte gelbe oder orangefarbene Warnweste, ein Kleidungsstück, das für die größtmögliche Sichtbarkeit sorgen soll, in der Praxis aber seinen Träger unsichtbar machen kann. Wer es anhat, verschwindet automatisch vom inneren Radar des modernen Stadtmenschen und wird ein Teil der Infrastruktur. Wir nehmen an, dass der Träger irgendeine öffentliche Arbeit ausführt. Es funktioniert wie die Tarnung von Raumschiffen in Douglas Adams’ Klassiker Per Anhalter durch die Galaxis: Die Westen kreieren ein »Problem-anderer-Leute-(PAL-)«-Feld. Wir ignorieren nur zu gern Dinge, die uns vermeintlich nichts angehen.

Gills Bilder zeigen Menschen, die wir im Stadtbild meist übersehen. Sie regulieren den Verkehr, reparieren Telefonleitungen oder machen Mittagspause am Straßenrand. Der Fotograf wurde durch seine eigene Arbeit auf die Tarnkappenwirkung dieser Westen aufmerksam. Wenn er mit seiner großen Kamera unterwegs war, zog er stets viel Aufmerksamkeit auf sich, aber sobald er eine Warnweste anzog, schien er plötzlich unsichtbar zu werden. Auch Diebe und Ermittler machen sich diesen Effekt zunutze. In einer billigen Leuchtweste können sie Häuser und Geschäfte am helllichten Tag plündern, in bewachte Bereiche eindringen oder Verdächtige beschatten. Manchmal ist es die beste Tarnung, sich auf die richtige Weise sichtbar zu machen.

Mit militärischen Tarnmustern ist es umgekehrt. Kleidungsstücke, die ursprünglich geschaffen wurden, um ihren Träger unsichtbar zu machen, machen ihn in der Stadt extra sichtbar. Und wie viele andere Signale hat die Modewelt auch dieses aufgegriffen. Als »Camo-Klamotten« in den achtziger Jahren Einzug auf dem Catwalk hielten, behaupteten viele, dies läge am Engagement der Amerikaner im Libanon und auf Grenada. Auf jeden Fall dominierte grün gefleckte Kleidung das Bild der Nachrichten und verbreitete eine gewisse Aura. Auch Machofilme wie Rambo trugen sicher zur Beliebtheit der Mode bei.

Eine ganz besondere Art von Tarnmuster benutzte zur selben Zeit der Pop-Art-Künstler Andy Warhol. Er tauschte die grünen und braunen Farbtöne gegen eher psychedelische Farbkombinationen aus. Die so entstandenen Bilder sind trügerisch. Auf den ersten Blick sehen sie wie abstrakte Werke aus, doch dann erkennt man die Muster amerikanischer Uniformen wieder – Muster, die eigentlich die Natur nachahmen. Warhols bekanntestes Camouflage-Werk ist ein Selbstbildnis, auf dem die Tarnmuster sein Porträt überlagern, sodass es fast dahinter verschwindet. Die »getarnte« Kunst passt zu Warhols Charakter und Karriere, da er sich gern hinter Verkleidungen aller Art verbarg und seine Kritiker auf falsche Fährten lockte.

Der Modedesigner Stephen Sprouse fertigte eine Kollektion mit Warhols Camoprints an, wodurch modische Tarnkleidung arty wurde. Insgesamt jedoch blieb sie Alltagsmode, die auf der Straße getragen wurde. In den neunziger Jahren bekam der Trend frischen Wind aus der konservativen Ecke. Nachdem Barbara Bush bei einem Besuch in Saudi-Arabien Woodland-Muster getragen hatte, nahmen plötzlich Labels wie John Galliano, Nicole Miller, Marc Jacobs und Comme des Garçons den Look in ihre Kollektionen auf, und man sah ihn überall. Aber wie kommt es, dass so viele Menschen Kleidung tragen, die nie dazu gedacht war, schön auszusehen?

Das Chamäleon-Muster

»Es gehört zur Alltagsmode, weil es cool aussieht«, sagt Daniel James Cole, Modehistoriker am Fashion Institute of Technology in New York. »Das ist der Hauptgrund. Viele versuchen, soziologische Bezüge aufzustellen, doch in Wirklichkeit zählt das Aussehen.«

In der Tat kann man über manche dieser Versuche nur den Kopf schütteln. Zum Beispiel schreibt Jason A. Bassoon im Männermagazin GQ: »Tarnmuster und natürliche Farben in der Mode belegen, wie bewusst wir uns der Klimakrise unseres Planeten sind. Wir sehnen uns danach, zu einer einfachen und reinen Erde zurückzukehren.« Im Vergleich dazu wirkt Coles Erklärung bodenständig. Doch wann sieht etwas »cool« aus? Warum gelten zum Beispiel Sonnenbrillen als cool? Weil die Ersten, die sie in geschlossenen Räumen trugen, Musiker waren, die ihre alkohol- und drogengestressten Augen verbargen oder vor dem Licht der Scheinwerfer schützten? Oder weil man mit einer Brille vor den Augen auch Gefühle verbirgt, unbemerkt andere beobachten kann oder sich eine geheimnisvolle Aura gibt?

Doch was ist am Tarnmuster cool? Die formlosen braunen und grünen Flecken an sich können es kaum sein. Vielleicht sind sie so beliebt, weil sie Körperformen verschleiern? Auch dies kann nicht der einzige Grund sein, denn es gibt massenweise andere Produkte mit Tarnmuster. In meinen Augen hat selbst eine Brieftasche in Tarnfarben oder ein winziges grün gesprenkeltes Top einen Beigeschmack von Krieg und Macht. Doch nicht nur das. Tarnmuster haben im Lauf der Jahre die unterschiedlichsten Assoziationen angesammelt. In der Protestbewegung der Sechziger bedeutete das Tragen von Militärkleidung ein bewusstes Untermauern ihrer Autorität. Andere wiederum wollten an dieser Autorität teilhaben, zum Beispiel die Black Panther Party oder andere revolutionäre Bewegungen.

Heute sind Tarnmuster dermaßen mit Assoziationen gesättigt, dass sie für beinah alles stehen können. Auf einer Outdoor-Jacke erinnern sie an die Jagd. Eine zerschlissene Feldjacke verströmt einen Hauch von Aufruhr. Ein enges Top in Militärfarben signalisiert Gefahr und Erotik. So wird eine lange Tradition fortgeführt, zu der auch andere militärische Accessoires wie Barette oder Epauletten gehören. Im Gegensatz zu früher werden sie jedoch nicht mehr mit halbaristokratischen Offizieren assoziiert, sondern mit gemeinem Fußvolk, das im Dschungel Menschen tötet. Street-Camo-Hosen lassen uns eher an rechtsextreme Jugendliche als an reguläre Armeen denken.