Blood of Hercules - Jasmine Mas - E-Book

Blood of Hercules E-Book

Jasmine Mas

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Beschreibung

Sie ist eine GÖTTIN. Er ist ein MONSTER. Verfällt sie seiner DUNKLEN MACHT? Der Auftakt zur heißesten Dark-Romantasy-Reihe auf Tiktok Die Welt ist gefährlich und voller Ungeheuer, aber Alexis ist keine Heldin. Sie versucht einfach nur zu überleben. Doch das Schicksal hat Größeres mit ihr vor. Als sich ihre wahre Abstammung offenbart, muss sie sich in der spartanischen Kriegsakademie mitten in den Dolomiten ausbilden lassen und sich dem Privileg der Unsterblichkeit als würdig erweisen. Um das tödliche Training, mordlustige Mitschüler und den Kampf gegen blutrünstige Bestien zu überstehen, muss Alexis selbst über Leichen gehen und ihre Menschlichkeit aufs Spiel setzen. Die heißen Gladiatoren Achilles und Patro formen Alexis zu einer gefährlichen Kriegerin. Ihre nicht weniger attraktiven Professoren Augustus und Kharon, die düsteren Erben der Unterwelt, verfolgen eifersüchtig jeden ihrer Schritte … und Gedanken. Wenn Alexis ehrlich ist, möchte sie dieser Jagd vielleicht auch gar nicht entkommen. Götter und Monster haben es auf Alexis abgesehen – und nicht immer weiß Alexis, mit was sie es zu tun hat. Für Fans von Scarlett St. Clair, Katee Robert, Callie Hart und Sarah A. Parker. Der perfekte Pageturner mit all unseren Lieblingstropes: - Antike Götter - why choose - reverse harem - morally grey love interest - villain gets the girl - who did this to you - touch her and die - forbidden love - training sequence - animal companionHerrlich sarkastische Wortgefechte, fesselnde Action und natürlich unwiderstehliche Villains. Bestseller-Autorin Jasmine Mas erschafft mit den Figuren der antiken Mythologie eine ganz neue Welt. "Ich bin komplett süchtig nach Jasmine Mas' Büchern und ihrem Humor." Hannah "Macht wahnsinnig Spaß." Beatrice "ICH BIN VERLIEBT in dieses Buch!" Olganna "Ich hab das Buch an einem Tag verschlungen." Laura "Ich würde dem Buch am liebsten mehr als 5 Sterne geben." Rola "Ich konnte es einfach nicht weglegen." Livi "Für dieses Buch habe ich viele Stunden Schlaf geopfert." Adria

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Seitenzahl: 689

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Jasmine Mas

Blood of Hercules

Berühre sie und stirb

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Julia Schwenk und Kira Wolf-Marz

 

Über dieses Buch

 

 

Als sich Alexis göttliche Abstammung offenbart, muss sie sich in der spartanischen Kriegsakademie ausbilden lassen und sich dem Privileg der Unsterblichkeit als würdig erweisen. Um das tödliche Training, mordlustige Mitschüler und den Kampf gegen blutrünstige Bestien zu überstehen, wird Alexis selbst über Leichen gehen und ihre Menschlichkeit aufs Spiel setzen.

Die heißen Gladiatoren Achilles und Patro formen Alexis zu einer gefährlichen Kriegerin. Ihre nicht weniger attraktiven Professoren Augustus und Kharon, die düsteren Erben der Unterwelt, verfolgen eifersüchtig jeden ihrer Schritte … und Gedanken. Nicht selten fühlt sich Alexis wie ein Tier, auf das Jagd gemacht wird. Aber wenn sie ehrlich ist, möchte sie vielleicht gar nicht entkommen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Jasmine Mas studierte Jura und Altertumswissenschaften und ist Bestsellerautorin von Romantasy-Romanen. Sie schreibt gerne über starke Frauenfiguren in magischen Welten – am liebsten stellt sie düsteren Männern sarkastische Frauen gegenüber. Wenn sie nicht schreibt, liest sie Harry-Potter-Fanfiction. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Katze Boo-Boo in Florida.

 

Kira Wolf-Marz ist 2011 durch einen glücklichen Zufall in die Verlagswelt gestolpert, hat vierzehn Romane veröffentlicht und ist außerdem seit 2018 freiberuflicher Übersetzer. Seitdem hat Kira über knapp sechzig Titel übersetzt und arbeitet fleißig daran, das eigene Portfolio genauso breit zu gestalten wie die heimische Bücherwand.

 

Julia Schwenk hat ihre Passion für Sprache als Übersetzerin für Fantasy und Romance zum Beruf gemacht, und mittlerweile über 50 Romane für Indie-Publisher und Verlage wie dtv, Fischer-Tor und Penguin Random House ins Deutsche übertragen.

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

First published in 2024 by Jasmine Mas. Copyright © 2024 by Jasmine Mas

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

Lektorat: Deborah Exner

Covergestaltung: www.buerosued.de nach einer Idee von Maria Simanovich, Steamy Designs LLC (unter Verwendung von Motiven von iStockphoto und Shutterstock)

ISBN 978-3-10-492256-0

 

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

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Inhalt

[Widmung]

[Triggerwarnung]

Die 12 Häuser von Sparta

Stammbaum der Chthonischen Häuser

[Motto]

Allwissend

Der Große Krieg

Ab Initio

1 Schlange

2 Das Monster

3 Wie man die Hölle (die Highschool) überlebt

4 Der Eignungstest

5 Das Initiationsmassaker

6 Heilung

7 Strategien

8 Die Spartan War Academy

9 Die Feuerprobe

10 Folter

11 Hölle

12 Mentorentage

13 Tests

14 Allianzen

15 Besessenheit

16 Gequält

17 Die Menagerie

18 Das Symposium

19 Der Teufel, den du nicht kennst

20 Der Pianist

21 TitanenAngriff

22 Verdrehte Gerechtigkeit

23 Verdrehte Wut

24 Leid

25 Die Beschützerbindung

26 Geschenke

27 Der spartanische Ball

28 Der Schlächter

29 Die Konsequenzen

30 Charlie

31 Eine verhängnisvolle Verbindung

32 Aber du gehörst zu uns

33 Sinnliches Vergnügen

34 Der Stalker

35 Der Plan

36 Das Monster

Exklusive Bonuskapitel

Hades

Achilles

Diese Reihe ist allen Frauen gewidmet, die – in Büchern – auf Männer mit fragwürdiger Moral stehen und laut aufgeschrien haben, als sie zum ersten Mal »Wer hat dir das angetan?« gelesen haben.

Diese Bücher sind für euch.

Content Note

In diesem Buch geht es um eine düstere Romanze mit noch dunkleren Leidenschaften. Bitte mach dir bewusst, dass dadurch Themen behandelt werden, die für manche Lesende unangenehm sein könnten. Es kommt zu Darstellungen von Gewalt, Mord, Stalking, Suizidgedanken, Mobbing, derber Sprache und Verrat.

Auch wenn wir uns dem Thema Romantik im ersten Band langsam annähern, gibt es explizite Sexszenen.

Bitte gib gut auf dich acht.

 

Es kann weh tun, ein Held zu werden. Und zwar sehr.

Also sei vorsichtig.

Die 12 Häuser von Sparta

Olympische Häuser

 

Das Haus Zeus

Das Haus Hera

Das Haus Athene

Das Haus Hermes

Das Haus Poseidon

Das Haus Demeter

Das Haus Apollo

Das Haus Dionysos

Chthonische Häuser

 

Das Haus Ares

Das Haus Hades

Das Haus Artemis

Das Haus Aphrodite

Stammbaum der Chthonischen Häuser

Fides periculosus ludus est –

Vertrauen ist ein gefährliches Spiel.

 

Sie hatte keine Ahnung, wer sie jagte, bis es zu spät war.

Allwissend

Moire

Ich zog die lange Toga über meinen Beinen zurecht und verharrte dann vollkommen reglos im Schneidersitz auf dem Feld. Um mich herum lag ein Kreis mit Steinen aus Delphi.

Die Steine hatte ich als kleines Mädchen gesammelt, vor Tausenden von Jahren.

Hände entspannt mit den Innenseiten nach oben.

Den Kopf in den Nacken gelegt.

Zwischen den Lippen hielt ich eine qualmende Pfeife.

Ich sog den Rauch der Kräuter ein, und Schmerz pulsierte durch meine geschlossenen Augen, als ich meine Kräfte weckte.

Muster, Zahlen und Wahrscheinlichkeiten blitzten flüchtig in meinem Geist auf, zu viele Bilder auf einmal, um sie zu erfassen. Der Pfad der Existenz bestand aus reinem Zufall, und Zufall war nichts anderes als ein Kreislauf von Ereignissen.

Schneidende Empfindungen verwandelten sich in quälende Pein, doch ich atmete den Rauch weiter ein und hielt dem Ansturm stand.

Die sinnfreien Eindrücke formten sich zu rätselhaften Worten, die sich mir offenbarten:

Wer einst verloren, muss ändern, was war Vergangenheit;

Gekettet an des Todes Soldaten, erkoren für die Ewigkeit;

Sonst erben Titanen die Erde, und es herrscht Krieg für alle Zeit.

Ich riss die Augen auf.

Der bittere Geschmack düsterer Perspektiven breitete sich auf meiner Zunge aus, und ich spürte die künftigen Pfade tief in meinen uralten Knochen.

Meine Ausprägung spartanischer Macht war ohne Bedeutung, wenn ihr keine Taten folgten, doch ich hatte mich noch nie gescheut, unangenehme Entscheidungen zu treffen. Deswegen hatte ich überlebt, während der Rest meinesgleichen untergangen war.

Die Zukunft balancierte vor mir auf Messers Schneide: Weltuntergang und Frieden waren zwei Seiten derselben Medaille.

Sie könnte in beide Richtungen kippen.

Taten waren vonnöten. Denn: nullum magnum ingenium sine mixtura dementia fuit.

Nie hat es große Weisheit ohne die Beimischung von Wahnsinn gegeben.

Ich atmete keuchend den Rauch aus, und meine Gelenke protestierten, als ich auf die Beine kam und dann strauchelnd und stolpernd durch das Feld rannte, in den Palast hinein und dort eilig einen langen Korridor hinunter, in dem mich weißer Marmor umgab.

Ich sah meine violetten Augen und weißen Haare in den spiegelnden Wänden aufblitzen.

Als ich die schwere Onyx-Tür der inneren Kammer erreichte, hielt ich mich nicht mit Anklopfen auf. Ich stemmte mich dagegen und drückte sie mit Schwung auf.

Die Mitglieder des Bunds standen hitzig diskutierend hinter den goldenen Podesten in der großen Arena.

Sie drehten sich um und schauten zu mir hoch.

Krach.

Sie fielen auf die Knie.

Ich nahm die rauchende Pfeife aus dem Mund und machte eine ausladende Geste damit. »Das Ehegesetz, das wir verworfen hatten, muss verabschiedet werden – heute«, krächzte ich heiser. »Das Heiratsalter muss auf sechsundzwanzig festgelegt werden.«

Ein vielstimmiger Aufschrei ging durch den Raum. »Aber es war einhundert Jahre im Gespräch!«, ruft jemand. »Sechsundzwanzig ist viel zu jung, um sich für alle Ewigkeit zu binden!«

Ich hob eine Hand.

Alle verstummten.

Umgehend.

»Das ist noch nicht alles«, sagte ich. »Kharon und Augustus müssen dieses Jahr Professoren bei der Feuerprobe sein.«

Alle schauten mich verwirrt blinzelnd an.

»Warum?«, fragte Zeus, der neben dem Podest des Sprechers in der Mitte des Raums kniete. Er verengte die Augen ein wenig, und über seine Haut tanzten knisternde Funken.

Ich zog eine Augenbraue nach oben. »Stellst du meine Fähigkeiten in Frage – junger Mann?«

»Selbstverständlich nicht.« Er senkte den Kopf. »Ich entschuldige mich für meine Respektlosigkeit. Ich war nur neugierig.«

Ich fixierte ihn durchdringend. »Lass es.«

Schweigen breitete sich aus. Einer nach dem anderen verneigten die Hausoberhäupter sich tief, drückten die Stirn gegen den roten Marmorfußboden.

Langsam schritt ich die lange, mit einem schwarzen Teppich ausgelegte Treppe hinunter, die in die Mitte der Arena führte. Als ich am Podest des Vorsitzenden ankam, nahm ich mir die Schere und griff in den Korb, in dem die mit scharlachroten Bändern umwickelten Schriftrollen der nicht verabschiedeten Gesetze lagen.

Ich setzte einen Schnitt. Das Band löste sich. Die Rolle öffnete sich – ›Ehegesetz‹ stand dort in schwarzer Tinte.

»Verabschiedet es«, sagte ich, während ich mich hinunterbeugte und dem immer noch knienden Zeus den zuvor abgelehnten Entwurf reichte. »Verabschiedet es jetzt sofort – nehmt die Altersanpassung vor und beruft die beiden neuen Professoren.«

Elektrische Funken stoben über das Papier, als er es entgegennahm und sich sofort wieder in seine vorherige Haltung sinken ließ.

Ich wandte mich ab.

Langsam mühte ich mich die Stufen wieder nach oben, neben denen Unsterbliche zu beiden Seiten demütig verharrten.

Ihre Unterwürfigkeit entlockte mir einen abfälligen Laut – Kronos, wenn du sehen könntest, wozu dein Reich verkommen ist … Die Spartaner sind so schwach geworden.

Im Gegensatz zu dem der Hausoberhäupter galt mein Wort uneingeschränkt.

Ich war das Einzige, was noch zwischen dem Aufstieg und Fall Spartas stand.

Kronos, steh uns bei.

Der Große Krieg

Es begann schleichend.

Äonen vor der Geburt der Menschheit erstreckte sich das Herrschaftsgebiet von Sparta über Tausende von Archipelinseln des heutigen Griechenlands.

Sparta bestand aus rund einhundert unsterblichen Spartanern, ihren tierischen Beschützern und einheimischen Wesen. Als Wesen bezeichneten die Spartaner alle Spezies zivilisierter Völker, die besondere Kräfte besaßen, jedoch keine Spartaner waren.

Regiert von einem oligarchischen Bund waren Spartas unsterbliche Bürger zufrieden mit ihrem ruhigen, gemächlichen Inselleben, umgeben von Luxus.

Konflikte, Gier oder Eifersucht waren ihnen fremd.

Alles war friedlich.

Und dann kamen die Menschen.

Die Menschheit erstarrte in Ehrfurcht vor dem unsterblichen Volk. Sparta lehrte sie Kunst, Landwirtschaft und Regierungsführung. Die Menschen beteten sie an.

Und so wurden die Spartaner zu ihren Göttern.

Jahrhunderte später zogen Spartaner und Wesen gemeinsam mit den Menschen ins heutige Italien, wo sie weiterhin den Reichtum und Status von Gottheiten genossen.

Das Römische Reich war geboren.

Doch die Angelegenheiten der Menschen sollten große Auswirkungen haben.

Ihre Bevölkerungszahl stieg sprunghaft an. Im Gegensatz dazu hatte Sparta mit Unfruchtbarkeit zu kämpfen, die Zahl seiner Bürger blieb auf etwa einhundert beschränkt.

Die Menschen entdeckten, dass die Spartaner nicht vollkommen immun gegenüber dem Tod waren – man konnte sie in winzige Stückchen zerhacken und diese verstreuen, und sie konnten durch Aushungern oder Folter in ein Koma versetzt werden.

Die Menschen wandten sich gegen ihre Götter. Kaiser erklärten Sparta den Krieg, weil sie alle Macht und sämtlichen Reichtum für sich selbst begehrten.

Doch die Menschheit vergaß, dass sie es mit einer Spezies zu tun hatte, die weitaus intelligenter war als sie.

Sparta verschwand. Restlos.

Spartaner und Wesen wanderten nach Norditalien ab und lebten fortan in den Dolomiten im Verborgenen. Doch bevor sie verschwanden, zerstörten sie alles Fortschrittliche, das sie zuvor mit den Menschen geteilt hatten – die Bibliothek von Alexandria brannte bis auf die Grundmauern nieder, und unser Wissen über die Götter verging mit ihr. Alles, was uns blieb, waren Lügen.

Ohne Spartas Führung fiel Rom.

Während die Jahrhunderte verstrichen, wurden aus den lebenden Göttern, die die Menschheit in Richtung wahrer Größe geleitet hatten, nichts als Mythen. Doch die Mythen, die wir uns über sie erzählten, waren falsch. Die Götter waren nicht, wie wir sie in Geschichten und Legenden erinnerten: ihre Allianzen, ihre Blutlinien, ihre Macht. Nichts davon stimmte.

Die Zeit verging.

Geschützt von Anonymität agierten Spartaner und Wesen aus den Schatten heraus, häuften unermessliche Reichtümer an und entwickelten überlegene Technologien.

Doch Sparta war nicht so friedlich, wie es schien.

Ihr Volk war entzweit, gespalten in zwei Gruppen von Spartanern: chthonische Häuser und olympische Häuser. Jedes Haus stand für eine andere Familienblutlinie von Kräften und trug den Namen seines Gründungsoberhaupts – Spartaner, die mächtiger waren als der Rest.

Alle Spartaner der olympischen Häuser besaßen Kräfte, die ihre eigenen Fähigkeiten verstärkten, körperlich oder mental. Sie schadeten anderen nicht, sondern konzentrierten sich stattdessen auf Selbstoptimierung und wissenschaftliche Forschung.

Jedes der fünfzig olympischen Häuser hatte Dutzende von Mitgliedern und sorgte für steten Nachwuchs, indem sie Kinder mit Menschen zeugten: Mischblute – halb Mensch, halb Spartaner.

Die chthonischen Häuser dagegen waren Spartaner mit blutroten Augen. Chthonier besaßen Kräfte, die anderen ausschließlich schadeten, wie Folter, Gedankenkontrolle und Schmerz.

Seit Anbeginn existierten nur vier chthonische Familien. Geboren in der Morgenröte Spartas folgten sie nicht dem Aufstieg und Fall der olympischen Häuser, sondern überdauerten unverändert.

Immer.

Die berüchtigten chthonischen Vier – die Häuser von Hades, Aphrodite, Artemis und Ares.

Jedes hatte nur eine Handvoll Mitglieder, da sie sich selten mit den schwachen Menschen fortpflanzten, die ihren Kräften nicht gewachsen waren. Einige Wesen, jene mit den dunkelsten Kräften, stellten sich auf die Seite dieser Häuser.

Im Verlauf der Geschichte hielten die beiden Gruppierungen einen wackeligen Waffenstillstand aufrecht. Frieden wurde durch den Bund gewahrt, den die stärksten Olympier anführten.

Doch am Wendepunkt zum einundzwanzigsten Jahrhundert zerschellte dieser Frieden.

Der Große Krieg brach aus.

Die vier chthonischen Häuser griffen die fünfzig olympischen in dem Versuch an, den Bund zu zerschlagen und die Macht über Sparta an sich zu bringen.

Zahlenmäßig waren die vierundzwanzig Chthonier den Hunderten von Olympiern weit unterlegen. Dennoch tobte der Konflikt über Jahrzehnte hinweg, da die Kräfte der Chthonier so abscheulich waren.

Die schwächeren olympischen Häuser fielen zuerst, gnadenlos gejagt von Chthoniern, die ihre Einzelteile über die ganze Welt verstreuten. Die stärksten Olympier verbündeten sich miteinander und sannen auf Rache.

Im Jahr 2045 hielten nur noch die mächtigsten und ältesten der olympischen Familien stand: die Häuser von Zeus, Hera, Athene, Hermes, Poseidon, Demeter, Apollo und Dionysos.

Der Krieg erlebte einen ausweglosen Stillstand, und die Zahl der Gefallenen auf beiden Seiten schraubte sich unaufhörlich in die Höhe. Sparta stand kurz vor dem Zusammenbruch.

Die vier übermächtigen Oberhäupter der chthonischen Häuser überlebten, doch jedes einzelne ihrer zwanzig Kinder war gefangen genommen und getötet worden.

Wenn der Krieg weiterging, würde nichts übrig bleiben, über das man herrschen konnte, also einigten sich beide Seiten auf einen Waffenstillstand. Im neu entstehenden Bund besaßen die Olympier eine noch größere Mehrheit als zuvor.

Der Frieden war wiederhergestellt.

Ein paar Jahre später, 2050, erschienen Titanen – unsterbliche, monströse Wesen – unerklärlicherweise auf der Erde und begannen, Menschen abzuschlachten.

Der von den Olympiern angeführte Bund sah darin eine Gelegenheit, sich der Menschheit erneut zu präsentieren. Der Aufstieg der Götter begann von neuem.

Und sie nutzten die Situation, um die Chthonier zu bestrafen.

Der Bund verfügte, dass sich die verbleibenden Chthonier – und die Söhne, die sie hervorbringen würden, ebenso wie die dunklen Wesen, die an ihrer Seite gekämpft hatten – als Wiedergutmachung ihrer Verbrechen um das Titanen-Problem der Erde zu kümmern hatten.

Die dafür gegründete Organisation erhielt den Titel Assembly of Death – die Vereinigung des Todes.

Aber das war noch nicht alles.

Die Chthonier und Wesen wurden auch gezwungen, im Dolomiten-Kolosseum gegen Titanen und einander anzutreten – in einem grausigen Spektakel namens Spartan Gladiator Competition.

Die SGC wurde schnell zum blutigsten Wettkampf, den die Welt je erlebt hatte. Er leitete eine neue Ära der Brutalität ein.

Fast ein halbes Jahrhundert später trieben die Titanen immer noch ihr Unwesen auf der Erde, die Chthonier brachten eine langsam steigende Anzahl an Nachkommen hervor, und die Olympier zeugten zunehmend Kinder mit schwächeren Kräften.

Der Bund sah sich erneut in Bedrängnis, seine Macht aufrechtzuerhalten, und wieder zeichnete sich Krieg am Horizont ab. Sparta war gespaltener denn je.

Um die tiefer werdende Kluft zu überwinden, verabschiedete der Bund ein umstrittenes Ehegesetz – das die Chthonier sofort zu untergraben versuchten.

Und hier beginnt unsere Geschichte.

Ab Initio

»Am Wendepunkt des Jahrhunderts

jubelt ganz Sparta.

Der Bund fällt an jene,

die die Götter entlarven.«

 

Moire, 2050

1Schlange

Alexis: Jahr 2090

»Wer bist du?«, flüsterte mir eine weibliche Stimme ins Ohr. Ich setzte mich mit einem Ruck auf und blinzelte benommen. Meine Handgelenke pochten schmerzhaft. Sie waren wundgescheuert.

Grashalme und pinke Sommerblumen raschelten, als eine warme Brise über die smaragdgrüne Ebene strich, auf der ich ein Nickerchen gemacht hatte. Die ländlichen Gegenden von Montana waren gespenstisch still.

Hier draußen, rund zweihundert Meilen von Helena – der Hauptstadt des Bundestaats – entfernt, lieferte das Stromnetz kaum genug Saft, um unseren abgeranzten Trailerpark zu versorgen.

Die Titanen waren im Jahr 2050 aufgetaucht, und die Weltordnung brach zusammen.

Die Kids in der Schule nannten es apocalypse core.

Ich nannte es Hölle.

Die humanoiden, unsterblichen Titanen hatten rasiermesserscharfe Zähne, schwarze Venen, lange Klauen und bewegten sich mit übermenschlicher Geschwindigkeit. Woher sie gekommen waren oder warum sie Menschen zum Spaß zerfetzten, wusste niemand.

Ihre Existenz war nicht sehr förderlich für diejenigen, die leben wollten (wollte ich nicht).

Pater John meinte, dass die Titanen gekommen waren, um »den Menschen eine Lektion zu erteilen«. Da wir durch sie nur dramatische und grauenvolle Tode starben … merkwürdige Lektion.

Letzten Endes waren es die Spartaner, die uns gerettet hatten.

»Kannst du mich hören?«, fragte die unbekannte Stimme lauter.

Ich drehte den Kopf hektisch von einer Seite zur anderen auf der Suche nach der Person, der sie gehörte, aber außer mir war weit und breit niemand zu sehen. Die ruckartigen Bewegungen sorgten jedoch dafür, dass meine Handgelenke stärker pochten, und mir entwich ein Ächzen.

Vater und Mutter panschten in der Badewanne wieder mal ihr »Spezialgebräu« gegen den Hunger zusammen – eine Mischung aus Reinigungsmitteln, Wasser und schimmeliger Backhefe –, und das machte sie immer unberechenbarer.

Bestes Beispiel: Letzte Woche hatte ich Vater »falsch« angeschaut, also fesselte er mich mit einem groben Seil, weil ich eine »faule, nichtsnutzige, verwöhnte zehnjährige Göre« war.

Heute Morgen hatte ich schließlich die Nase voll davon, wie ein Hund angebunden zu sein, und schlug meine Arme so lange gegen einen Stein und zerrte an den Fesseln, bis ich mich befreien konnte.

Beide Handgelenke waren definitiv gebrochen.

Immerhin bist du frei.

Die gute Nachricht? Vater war so planlos, dass er sich an die Fesselaktion vermutlich nicht mal erinnerte.

Die schlechte Nachricht? Er brauchte teure Arzneimittel vom Spartanischen Bund – vorzugsweise tödliche –, die er sich aber nicht leisten konnte.

Jemand müsste sich also eigentlich mit der Billigvariante um seine geistige Gesundheit kümmern und ihm eins mit einer Schaufel überbraten. Das hatten sie mit unserem Nachbarn Paul gemacht – ihm von hinten das Ding über den Schädel gezogen.

»Du kannst mich hören, nicht wahr? Was … bist du?«, ertönte die unsichtbare Stimme ganz nah an meinem Ohr, was mich panisch zusammenzucken ließ.

Ganz toll, ich werde von einem Geist heimgesucht.

Ich schaute mich erneut misstrauisch um.

In der Ferne blitzte der Stacheldrahtzaun vor den Bäumen auf, die den Trailerpark umgaben, und die zerfledderte weiße Fahne, die von einem Ast hing, zeigte das Wappen von Haus Hades – ein grässlicher Skeletthund mit flammend roten Augen. Ein Höllenhund.

Unter der Flagge war ein Schild mit einer Warnung in blutroter Farbe angebracht: ›Militarisierte Schutzzone des Spartanischen Bunds. Achtung: Kein Zutritt für Titanen.‹

Die chthonische Killer-Organisation – die Assembly of Death – und ihre Erkennungszeichen (gruselige Höllenhundflaggen, um die niemand gebeten hat) waren überall in den Schutzzonen präsent. Sie warnten die Titanen davor, dass es selbst unter Monstern auch Goliaths gab.

Jeder kannte die zwölf spartanischen Familien, die über die Erde herrschten. Die acht olympischen Häuser waren die Guten, da ihre Kräfte niemandem Schaden zufügten. Die vier chthonischen Häuser dagegen waren durch und durch böse. Sie waren Massenmörder mit dunklen Kräften.

Ein Schauer durchlief mich.

Das Zeitalter von Göttern und Monstern ist scheiße.

Ich atmete angestrengt durch meine zusammengebissenen Zähne und versuchte, mich auf irgendetwas anderes als den quälenden Schmerz zu konzentrieren, der über meine Unterarme nach oben ausstrahlte.

Was würden Emmy Noether oder Carl Gauß in dieser Situation machen?

Leider hatte ich keine Ahnung, was meine Helden – geniale Mathematiker der Vergangenheit – tun würden.

Schlafen wäre schön.

Und der Tod auch.

Im Moment würde es mir ja schon reichen, wenn ich die Autobiographie von Emmy Noether in der Stadtbücherei zum x-ten Mal lesen könnte. Das fühlte sich immer wie eine liebevolle Umarmung an.

Oder zumindest stellte ich mir so eine Umarmung vor. Ich hatte noch nie eine bekommen.

Bis jetzt.

Vielleicht würde ich auch nie eine kriegen, immerhin konnte ich es nicht ausstehen, wenn mich jemand anfasste, und die Leute konnten mich nicht gut leiden.

»Du riechst vertraut«, flüsterte die unsichtbare Stimme lauter. »Ich frage mich … Wie heißt du, Kleine?«

Ich schnüffelte an meiner Achsel. Da ich heute Morgen das kalte Wasser aus dem Gartenschlauch zum Waschen benutzt hatte, roch ich nur Sonne und Gras.

»Ich bin A-Alexis Hert«, antwortete ich zögerlich. Die wulstige Narbe über meinem Brustbein, die ich schon als Baby hatte, kribbelte.

»Du verstehst mich, Mensch? Du kannst mit mir sprechen?« Ich zuckte erschrocken zusammen, als die Stimme noch lauter wurde. »Ich bin Nyx.«

»Äh … hi«, erwiderte ich steif.

Dann herrschte langes Schweigen.

»Warum sind deine Handgelenke blutig?«, wollte Nyx wissen.

»Meine P-Pflegeeltern legen es drauf an, mich umzubringen.« Ich seufzte tief.

»Du bist ein seltsamer Mensch«, ertönte Nyx’ Stimme näher als zuvor. »Du sprichst vom Tod – doch du riechst nicht nach Angst. Irgendetwas stimmt nicht mir dir.«

»Da hast du wohl recht«, meinte ich.

Nyx zischte. »Deine Einstellung ist beunruhigend. Ich kenne unsterbliche Spartaner, die den Tod mehr fürchten als du.«

»Bist du ein Geist?«, fragte ich.

»Nein.«

»Du lügst.«

Plötzlich wurde die Sonne von etwas Dunklem verdeckt – das nur Zentimeter vor meinem Gesicht schwebte. Geschlitzte Pupillen standen in scharfem Kontrast zu leuchtendem Violett, und eine glitschige, gespaltene Zunge strich mir über die Wange.

»Ich sagte doch, dass ich real bin«, zischte Nyx.

Eine … eine … große schwarze Schlange – so lang wie meine Beine, mit zwei nadelspitzen Fangzähnen und violetten Augen – schwebte vor mir in der Luft.

Sie sah gefährlich aus.

Wie ein Raubtier.

»Was bist du?«, flüsterte ich.

Sie ließ den glänzend schwarzen Kopf in der Sommerbrise hin- und herpendeln, als wollte sie mich hypnotisieren. »Ich bin eine Echidna, eine uralte Spezies unsichtbarer Schlangen. Was du natürlich nicht weißt – Menschen haben keine Kenntnis von der Natur der Bestien.«

Ich schluckte hart. »Bist du giftig?«

Die Fangzähne der Schlange blitzten auf, als sie nickte. »Sehr sogar. Ein kleiner Kratzer durch einen meiner Fänge würde dich innerhalb von Sekunden töten.«

»Krass«, hauchte ich ehrfürchtig. »Wollen wir Freunde sein?« Ich hatte noch nie einen.

Die violetten Augen leuchteten auf. »In Ordnung«, zischte Nyx. Ihr Maul öffnete sich beim Sprechen. »Aber nur, weil du ein erbärmliches Leben zu führen scheinst und ich in diesem barbarischen Land vergessen wurde und hier niemanden zum Reden habe.«

»Cool.« Ich streckte die Hand aus, um ihr den glänzenden Kopf zu tätscheln.

Nyx schnappte geräuschvoll in die Luft. »Fass mich nie wieder so an, sonst sorge ich mit einem Biss für dein Ableben, Mädchen – ich bin doch kein dahergelaufener Hund.« Sie gab einen überheblichen Laut von sich. »Das hier ist nur eine Übereinkunft auf Zeit.«

Ich lachte. Sie war lustig.

Stunden später, nachdem ich mit meiner neuen besten Freundin herumgetollt und versucht hatte, die Schmerzen in meinen Handgelenken zu ignorieren, tauchte der Sonnenuntergang den Himmel in feuriges Pink.

Wenn ich nicht vor Einbruch der Dunkelheit in den Wohntrailer zurückkehrte, wurde ich ausgeschlossen und musste draußen im Dunkeln bleiben. Ich hatte ganz fest vor, heute Nacht drinnen zu schlafen.

»Lass uns zusammen zurückgehen«, flüsterte ich. Nyx wurde wieder unsichtbar und schlängelte sich neben mir her, als ich losrannte. Ihr Kopf streifte immer wieder meine Füße.

Wir schafften es rechtzeitig, der Himmel war noch hell – nicht, dass das jemandem auffiel.

Mutter und Vater saßen im Vorgarten, ausgemergelt und mit glasigem Blick, und schlürften ihr »Spezialgebräu« aus schmutzigen Tassen. Ihre Pupillen waren riesengroß, und sie hatten die Köpfe in einem unnatürlichen Winkel in den Nacken gelegt, um zu den Wolken hinaufzuschauen.

Lebende Leichen.

Ich summte, um mich zu beruhigen.

»Sie sehen … krank aus.« Nyx’ feuchte Zunge strich über meine Finger, während sie mir in den Wohnwagen folgte. »Soll ich sie töten?«

»Nein«, flüsterte ich auf dem Weg durch den schmalen Flur. »Das ist falsch.«

Die Wandlampe spendete flackernd schwaches grünes Licht, und der Strom mühte sich angestrengt brummend mit der Versorgung des heruntergekommenen Trailers ab – eine Mischung aus Holz- und Metallteilen aus einer Zeit vor den Titanen.

Der einzige Ventilator, der auf das Bett der Pflegeeltern gerichtet war, kühlte den Rest des Innenraums kein bisschen runter. Die schwüle Sommerhitze war erdrückend.

Nyx schnappte erneut hörbar mit den Fängen. »Na schön – aber eines Tages, Kleine, werde ich sie für dich umbringen.«

Ich schnaufte leise. »Das darfst du nicht. Töten ist eine Sünde. Es ist das moralisch Verwerflichste überhaupt. Damit verlierst du deine Seele. Das sagt Pater John immer.«

»Pater John klingt wie ein Idiot – du bist zu jung, um zu wissen, wovon du sprichst«, entgegnete Nyx. »Wenn du älter bist, wirst du das anders sehen.«

Für diese Aussage kam sie bestimmt in die Hölle.

Moment mal – hat Pater John nicht gesagt, dass Schlangen böse sind … Komme ich jetzt in die Hölle, weil ich mich mit ihr angefreundet habe?

Die ewige Verdammnis war überraschend kompliziert.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde nie jemanden umbringen«, schwor ich im Brustton der Überzeugung.

Nyx schnaubte spöttisch.

Vorsichtig kletterte ich in den Pappkarton, der mir als Bett diente. In ihm lag ein kleines Kleidungsstück aus weißem Stoff, auf dessen Vorderseite acht Buchstaben in Gold eingestickt waren. Der Strampler, den ich getragen hatte, als das Waisenhaus mich als Baby fand – und das Einzige, was ganz allein mir gehörte.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, als Nyx über mich glitt, bis ich ihr schweres Gewicht auf meinem Schoß spürte.

»Kannst du mit allen Leuten reden?«, flüsterte ich.

»Nein, Kleine«, antwortete Nyx ebenso leise. »Es ist ungewöhnlich, dass du mich hören kannst. Ich kann nur mit meiner eigenen Art sprechen, und es gibt nicht viele von uns.«

»Also ich finde es schön«, murmelte ich und dämmerte bereits weg. »Jetzt kannst du nicht mehr weggehen, weil wir miteinander reden können. Ich habe mir immer eine Freundin gewünscht … Aber niemanden umbringen … versprochen?«

»Ich leiste keine dummsinnigen Eide. Genug geplappert«, zischte Nyx. »Wir schlafen jetzt.«

Erst später sollte mir aufgehen, dass mein Stottern komplett verschwand, wenn ich mit ihr redete.

Bestien machten mir keine Angst.

Menschen schon.

Und so wurde eine fünfzehn Kilo schwere Giftschlange zu meiner engsten Vertrauten. Ja, ich freundete mich mit dem ersten Monster an, dem ich begegnete.

Bang.

Bang.

Bang.

Ein paar Stunden später wurde ich mit einem Ruck aus dem Schlaf gerissen.

Jemand hämmerte laut gegen die Vorderseite des Wohnwagens.

Mutter und Vater wühlten sich laut fluchend aus dem Bett und taumelten in Richtung des nervigen, anhaltenden Krachs.

Ich linste über eine Ecke meines Kartons. Nyx brummelte etwas und bewegte sich ein wenig, wachte jedoch nicht auf.

In der Tür stand eine alte Frau mit strahlend weißen Haaren und auffallend violetten Augen. Ihr Gesichtsausdruck war sehr ernst.

Neben ihr entdeckte ich eine dürre Gestalt mit Kapuze, die sich ganz klein machte.

»Was zum Teufel soll das denn?«, wollte Mutter wissen, die nun deutlich nüchterner war als zuvor und die Eindringlinge in Grund und Boden starrte. »Wir verkaufen unseren Stoff nicht an der Tür – ab Montag kriegt ihr ihn im Wald wie alle anderen hier auch.«

Vater stand neben ihr, doch als er den Mund öffnete, kamen nur gelallte, unverständliche Laute heraus.

»Vielen Dank – ein überaus großzügiges Angebot«, erwiderte die alte Frau, doch ihr Tonfall besagte, dass sie es nicht so meinte. Sie räusperte sich. »Ich bin hier, weil die Regierung der Vereinigten Staaten unter Führung des Spartanischen Bunds Ihnen die Verantwortung für ein zweites Pflegekind überträgt. Monatliche Essensmarken werden Ihnen in entsprechender Höhe übersendet, um die Kosten für ihn zu decken. Sein Name ist Charlie.«

Ich hab noch nie davon gehört, dass Pflegekinder an die Haustür geliefert werden.

Bevor jemand darauf reagieren konnte, schubste die alte Frau Charlie – mit überraschend viel Kraft – die Treppe hinauf in den Wohnwagen und knallte dann die Tür zu.

Mutter musterte das Kind mit einem abfälligen Schnauben. »Die hören noch von uns. Das ist doch totaler Blödsinn. Wir haben uns nicht für noch eins beworben. Wir können ja nicht mal das verdammte andere Ding durchfüttern.«

Toll, jetzt bin ich ein Gegenstand.

Vater stolperte rüber zu der abgewetzten Couch, fiel mit dem Gesicht voran darauf und fing an zu schnarchen.

Mutter packte Charlie am knochigen Arm und zerrte ihn zu meinem Pappkarton. Ich schloss fest die Augen und tat, als würde ich schlafen.

»Junge, du kannst neben … Alex schlafen – da ist genug Platz.«

Die lange Pause ließ mich vermuten, dass sie Probleme hatte, sich an meinen Namen zu erinnern. Wie unhöflich. Ich lebte schon fast zehn Jahre lang bei ihr.

Mutter stapfte mit lauten Schritten davon. Die kaputten Sprungfedern knarzten, als sie sich wieder in ihr Bett legte.

Ich schielte vorsichtig unter meinen Wimpern hervor nach oben.

Charlie kniete vor mir. Ich schnappte überrascht nach Luft.

Seine Augen hatten einen unnatürlichen Gelbton, der im Dunkeln fast zu leuchten schien. Fettige, blonde Haare umrahmten strähnig sein blasses, spitzes Gesicht, und die dunklen Ringe unter seinen Augen unterstrichen seine eingefallenen Züge.

»Ich bin A-Alexis«, flüsterte ich zurückhaltend und reichte ihm die Hand. Sie war voller Blutergüsse, und mein schmerzendes Handgelenk zitterte, während ich wartete, wie er reagierte.

Wird er sich über mein Stottern lustig machen?

Er starrte meine Hand an, ergriff sie aber nicht. Wenn seine Augen nicht offen gewesen wären, hätte ich Zweifel, ob er noch lebte, so reglos war er.

Ich ließ die Hand sinken und rückte nach hinten, um Platz im Karton zu machen. Wir waren beide klein. Das könnte klappen.

Unauffällig schob ich Nyx auf meine andere Seite, damit er sie nicht aus Versehen berührte.

»Ich bin zehn«, meinte ich leise. »Bist du … auch zehn?«

Charlie schüttelte den Kopf und ließ sich dann vorsichtig auf den freien Platz neben mich sinken. Er sagte noch immer nichts.

»Bist du jünger?«, fragte ich.

Er nickte, und einen Moment lang saßen wir so nebeneinander im Dunkeln.

»Neun?«

Er nickte erneut.

»Dann bist du wohl jetzt mein kleiner Bruder. Keine Angst, ich werde eine gute Schwester sein«, versprach ich ihm rasch. »Ich weiß, wie die Pflegeeltern ticken. Mach mir einfach alles nach, dann kommst du schon klar. Ich beschütze dich.«

»Das … das musst du nicht«, wisperte er.

Ich stupste ihn mit dem Ellenbogen an. »Ist mir klar – aber ich will. Ich kümmere mich um dich.«

Plötzlich machte er riesengroße Augen.

»Was ist los?«, wollte ich besorgt wissen.

Er schüttelte den Kopf, als wäre es nichts weiter, doch ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen.

Wärme breitete sich in meiner Brust aus, und ich grinste zurück.

Ich hatte den Tag mit null Freunden begonnen.

Jetzt hatte ich zwei.

Es ging aufwärts.

2Das Monster

Alexis: Jahr 2091

Die Stimmung im Trailer ließ sich bestenfalls als angespannt beschreiben, schlimmstenfalls als heimtückisch. Draußen heulte der Wind, es schneite heftig.

Der Wintersturm – es war Februar – hüllte alles in Dunkelheit. Die grüne Lampe in der Ecke flackerte schwach. Der uns zugeteilte Strom reichte kaum, um sie am Laufen zu halten.

Es war tiefste Nacht, Nyx war draußen auf der Jagd. Sie behauptete, dass sich in der Dunkelheit leichter töten ließ.

Das glaubte ich ihr sofort.

»Wir müssen etwas unternehmen. Und zwar jetzt«, flüsterte Mutter Vater in der Küche zu.

Wovon redet sie? Mir drehte sich der Magen um, und ein hässliches Gefühl stieg in mir auf. Sie glaubten, die Einzigen zu sein, die noch auf waren.

Charlie lag schlafend neben mir. Ich dagegen war hellwach.

Charlie war seit letztem Sommer bei uns, und er war der beste Bruder, den ich mir je hätte wünschen können.

Er war still und schüchtern, aber das störte mich nicht, da er mir jeden Tag Gesellschaft leistete und sich von mir bei den Mathehausaufgaben helfen ließ. Er machte sich nie über mein Stottern lustig oder bezeichnete mich als dumm.

Genau genommen hatte er seit dem einen Satz bei unserer ersten Begegnung kein Wort mehr gesprochen. Aber das machte mir nichts aus.

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich nicht einsam.

Mutter murmelte etwas Unverständliches, aber ihr Tonfall war finster.

Das einzige Problem war, dass es bei unseren Pflegeeltern gerade nicht gut lief.

Bei der örtlichen Tafel gab es weniger Lebensmittel denn je. Die Hälfte der Essensmarken, die sie für Charlie und mich bekamen, konnten sie nicht einlösen, weil im Winter nirgendwo Fleisch und Milchprodukte zu kriegen waren.

Wir hatten alle Hunger.

Sogar noch mehr als sonst.

Dank der klirrenden Kälte verließen auch nur wenige Nachbarn ihre Trailer, um den Pflegeeltern ihr Spezialgebräu abzukaufen.

Mutter sprach leise, und ich lauschte angestrengt.

»Wir müssen Charlie loswerden«, raunte sie. »Es wird schon keinem was auffallen.«

Vater grunzte zustimmend.

Ich erstarrte vor Angst.

Nein.

Das können sie nicht machen.

Aber sie konnten sehr wohl.

Wir waren seit Wochen nicht in der Schule gewesen, weil die Straßen spiegelglatt und nicht befahrbar waren. Wahrscheinlich war das der Grund, warum sie ausgerechnet jetzt Pläne schmiedeten.

Einige der netteren Lehrer überließen uns ab und zu ein paar Essensreste. Genug, um uns am Leben zu halten. Die fehlten uns jetzt, und mit jedem Schneesturm wurde unsere Lage schlimmer.

Hier im ländlichen Norden Montanas und mitten im Winter konnte man anderen sonst was antun, ohne dass es vor dem Frühling ans Licht kam.

Vorsichtig schüttelte ich Charlie, um ihn zu wecken.

Er sah aus hellen gelben Augen verwirrt zu mir auf und schauderte. Vor unseren Gesichtern zeichnete sich unser Atem als kleine Wölkchen in der Luft ab. Seine blasse Haut war fast durchscheinend.

»Versteck dich im Badezimmer. Sofort«, formte ich tonlos mit den Lippen. »Schließ hinter dir ab.«

Kaum dass Charlie meine angespannte Miene bemerkte, trat Angst in seinen Blick.

»Egal, was du hörst, komm auf keinen Fall raus«, flüsterte ich hastig. »Falls es … ernst wird und du keine andere Wahl hast, geh zum Telefon und wähl den Notruf. 777. Aber nur, wenn dir wirklich nichts anders übrigbleibt!«

Das Telefon hing an der Badezimmerwand in einem Glaskasten mit der Aufschrift ›Nur für den Notfall‹. Alle Häuser waren damit ausgestattet, damit wir Titanenangriffe melden konnten.

Mutter hatte unseres im Badezimmer angebracht, weil sie »das hässliche Scheißding nicht den ganzen Tag vor der Nase haben wollte«.

Über mich hatte sie dasselbe gesagt.

Charlie stockte der Atem. Er hatte begriffen, was ich ihm zu verstehen geben wollte.

Über die Telefonleitung konnten wir die örtlichen Ersthelfer erreichen, aber die kamen immer erst, wenn die Krise längst vorbei war. Die einzige Bedrohung, die ein sofortiges Eingreifen nach sich zog, waren die Titanen. Was alles andere anging, war jeder auf sich selbst gestellt.

Schließlich gab es nur noch zehn Spartaner chthonischer Abstammung, und von denen waren nur fünf in der Lage, sich den Dutzenden monströser Titanen entgegenzustellen.

Die Assembly of Death war unterbesetzt.

Seit dem Großen Krieg waren nur fünf chthonische Kinder zur Welt gekommen. Jeder kannte sie. Augustus, Kharon, Patro, Achilles und Helen. Theoretisch gab es noch ein weiteres Kind – Medusa –, aber sie saß in der Unterwelt fest, dem berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis der Spartaner.

Dazu kamen eine Handvoll Wesen, die gemeinsam mit der Assembly an der Seite der chthonischen Oberhäupter kämpften, doch auch sie brachten nur selten Kinder zur Welt.

Ein weiteres Problem war, dass Chthonier sich erst der Assembly anschließen durften, wenn sie zwanzig und damit unsterblich wurden. Daher gab es zurzeit nur einen einzigen männlichen chthonischen Erben – einen Chthonier reinster Abstammung –, der volljährig war und die Reihen der Anführer verstärken konnte.

Augustus, den Erben von Haus Ares.

Er war der dreiundzwanzigjährige Sohn von Ares und Aphrodite.

Das nächste Kind, das volljährig werden würde, war Kharon, der achtzehnjährige Sohn von Artemis und Erebos.

Augustus’ Schwester Helen war erst acht Jahre alt und die Erbin von Haus Aphrodite.

Darüber hinaus wusste man nicht viel über die drei, da die Erben und Erbinnen dafür bekannt waren, sehr zurückgezogen zu leben. Sie bildeten die spartanische Elite der Neuzeit und waren damit wichtiger und mächtiger, als jeder menschliche Adelige königlicher Abstammung es sich je erträumen konnte.

Die letzten beiden Nachkommen der Chthonier waren halb menschlich, was man im Allgemeinen als Mischblute bezeichnete: Patro und Achilles.

Patro aus dem Haus Aphrodite war dreizehn, Achilles aus dem Haus Ares vierzehn.

Sie alle bildeten die Zukunft der Assembly of Death, aber bis sie volljährig waren, gab es kaum genug Monster, um den Titanen etwas entgegenzusetzen.

Die Menschheit war immer noch in höchster Gefahr.

Der Bund sorgte dafür, dass die zivilisierte Welt standhielt, aber alles, was nicht überlebenswichtig war, fiel hinten runter.

Charlie und ich zum Beispiel.

Wir waren der Dreck unter den Schuhsohlen der Welt.

»Geh jetzt«, flüsterte ich Charlie zu, lehnte mich vor und drückte ihn fest an mich. »Alles wird gut.«

Zitternd hielten wir uns fest.

Als ich losließ, nickte Charlie mir zu und kroch lautlos zum Badezimmer neben unserem Schlafplatz.

Emmy und Carl mussten sich ihren Platz als Pioniere der Mathematik beide erkämpfen. Emmy musste sich auch mit den Übeln ihrer Zeit herumschlagen, und sie hat durchgehalten.

Sei wie sie, Alexis.

Ich hätte gern so getan, als hätte ich Mutters Worte nicht gehört, doch das hatte ich.

Ich kann das nicht.

Sie waren zu zweit und ich allein. Ich war zwar groß für mein Alter, aber so groß auch wieder nicht. Sie überragten mich beide.

Doch, du kannst.

Immer noch zitternd holte ich Luft und stand auf.

In meinen Handgelenken zwickte der Phantomschmerz. Ich strich über die Haargummis, die das aufgeworfene Narbengewebe bedeckten.

Es würde Konsequenzen nach sich ziehen, wenn ich etwas unternahm. Das war in der Hölle immer so.

Du brauchst einen Plan.

Langsam ging ich in die Küche, wo die beiden standen und tranken. Ich stellte mich mit gespreizten Beinen vor sie.

Und natürlich hatte ich keinen Plan.

Ich brauchte ein Dutzend Versuche, bevor ich endlich den Mut aufbrachte, um zu sprechen. »Wenn ihr v-versucht, Charlie w-weh zu tun, müsst i-ihr erst an m-mir vorbei«, sagte ich. »Ich werde allen e-erzählen, was i-ihr vorhattet, und dann sp-sperren sie euch f-für immer weg.«

Egal, wie sehr ich mich konzentrierte, nie war mein Stottern so schlimm, wie wenn ich mit ihnen sprach. Nur in Charlies und Nyx’ Gesellschaft verschwand es ganz.

Wie in Zeitlupe drehten sie sich zu mir um.

Ihre Augen waren weit aufgerissen, der Blick verschwommen, die Pupillen unnatürlich groß. Ihre Lippen glänzten feucht, und auf ihren faltigen, eingefallenen Gesichtern zeichneten sich Schatten ab.

»Was zum Teufel hast du gerade gesagt, Mädchen?«, fragte Vater langsam.

Mutters Lächeln entblößte fauliges Zahnfleisch und drei verbliebene Zähne. Sie warf ihr leeres Glas zu Boden. Mit einem Knall zersprang es auf den rissigen Fliesen.

Ich fuhr zusammen und unterdrückte einen Aufschrei.

»Wie wär’s, wenn wir euch einfach beide umbringen?« Mutter lachte. »Wir haben eh nichts mehr zu verlieren. Wir verhungern sowieso, verdammt nochmal.«

Schweiß rann mir über die Wange und gefror in der Kälte. Alles in mir wollte sich umdrehen und weglaufen.

Aber ich rührte mich nicht vom Fleck, sondern sah mich hektisch nach einer Waffe um. Ich schnappte mir den kaputten Toaster von der Arbeitsplatte und warf ihn den Pflegeeltern entgegen.

Vater stöhnte auf, als das Gerät ihn traf, und taumelte zurück.

Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte erschrockenes Schweigen.

Das war ein mieser Plan.

Vater versetzte dem Toaster einen Tritt.

»Wie … kannst du es wagen?«, rief Mutter.

Dann fielen sie in einem einzigen Wirrwarr aus Schreien und Fausthieben über mich her. Wie aus weiter Ferne spürte ich, dass sich Scherben in meine Fußsohlen bohrten, während Mutter mich an den Schultern gepackt hielt, durchschüttelte und mich beschimpfte. Ihr Atem stank nach Chemikalien.

Vater versetzte mir einen Schlag auf das linke Auge, aber ich fühlte nichts.

Meine Zeitwahrnehmung geriet durcheinander.

Wenn man ein Leben lang Schmerzen aushalten musste, lernte das Gehirn, damit umzugehen. Ich wusste, wie ich sicherstellen konnte, dass ich bei Bewusstsein blieb, während man mich zusammenschlug. Immerhin hatte ich jahrelang Zeit gehabt, meine Technik zu perfektionieren.

Das Geheimnis lautete, die Körpermitte und den Hintern anzuspannen. Zu summen.

Und sich der Nichtigkeit des Seins bewusst zu werden.

Oder man redete sich ein, ein gequältes, musikalisches Wunderkind im achtzehnten Jahrhundert zu sein, das sich die Handlung einer grausamen Oper ausmalte.

Eine eindringliche, beklemmende Melodie setzte in meinem Kopf ein.

Eine Musik, die nur ich hören konnte.

Ich wich aus, und Mutters Schlag erwischte mich am linken Ohr. »Du faule, undankbare Hure. Was fällt dir ein, uns zu drohen? Nach allem, was wir für dich getan haben und …« Ein lautes Klingeln übertönte ihre Worte. (Zu schade. Sie fuhr gerade die ganz großen Geschütze auf.)

Ich geriet ins Taumeln und drehte mich weg.

Ein zweiter Schlag traf mich an der linken Schläfe.

In der Küche war es eng, und Vater wurde nach hinten gedrängt, während Mutter weiter auf mich einprügelte.

Obwohl ich versuchte, ihr zu entkommen, traf ihre Faust noch mal auf die gleiche Stelle. Alles um mich herum verschwamm, und ich konnte plötzlich weder hören noch sehen.

Die Illusion klassischer Musik erfüllte die Dunkelheit.

Dann fiel schwaches Licht durch meine geschundenen Augen. Eine Hälfte meines Sichtfelds blieb schwarz, in dem anderen schlug ich mit blutigen Fingernägeln auf Mutters Gesicht und Hals ein.

Ich packte sie an der Bluse.

Sie schrie etwas, das ich nicht verstehen konnte.

Ein Fausthieb traf mich am Mund, und mein Blut verteilte sich auf Mutters zerkratztem Gesicht. Ich kämpfte mit aller Macht, verzweifelt darauf aus, sie von Charlie fernzuhalten.

Du musst sie nur beschäftigen. Irgendwann werden sie müde. Dann kriegst du deine Chance.

»Lass mich rein, Alexis. Lass mich sofort rein!« Nyx’ Stimme kam von draußen und war halb Zischen, halb Schrei. Sie war von der Jagd zurück und musste den Lärm wohl gehört haben.

Sie kann mir helfen, Charlie zu beschützen.

Ich stürzte zur Tür, aber Vater griff nach mir. Er zerrte mich zurück in die Küche (meine persönliche Hölle) und schleuderte mich in Mutters Richtung (in die Arme eines der Dämonen, die dort hausten).

Ein gewaltiger Schlag traf mich seitlich am Kopf. Alles in mir brannte. Wieder stieß ich die Fingernägel nach Mutter, während sie mich zu fassen versuchte.

»Lass mich jetzt sofort rein, Kleine!« Der Trailer bebte, als Nyx sich dagegen warf.

Wieder ein Treffer gegen das linke Auge, grelles Licht blitzte auf. Mein Blickfeld lief an den Rändern schwarz aus. Überall war Blut.

Mutter schrie mir ins Gesicht – ich schrie zurück. Oh, unsere Stimmen harmonieren so schön. Mozart wäre begeistert.

Ein weiterer Hieb gegen meine Schläfe. Mir ging die Kraft in den Fingern aus, die Welt drehte sich auf einmal schneller.

Reiß dich zusammen. Du verlierst die Kontrolle, Alexis. Konzentrier dich.

Heiße, stechende Panik stieg in mir auf, als hätte mir jemand ein Messer ins Herz gerammt. Charlie ist in Gefahr. Wag es bloß nicht, ohnmächtig zu werden.

KLIRR!

Die Welt explodierte. Das Fenster neben uns zersprang in tausend Splitter, die auf uns herabregneten. Sieh an. Ein Crescendo.

Ich torkelte rückwärts und rutschte auf Blut und Glas aus, während ich um mein Gleichgewicht kämpfte. Überall waren Scherben.

Der Trailer war in rote Streifen getaucht, weil irgendetwas von draußen reingekommen war.

Vater zeigte erst auf mich, dann auf Mutter. Sie brüllten sich an. Ich deutete auf die Spüle und schrie.

Sie sprangen zurück und drängten sich gegenseitig beiseite, um möglichst schnell von dem vermeintlichen Ungeheuer in der Spüle wegzukommen. Aus dem Drängeln wurde Schubsen, und dann flog eine Faust. Sie rangen miteinander.

Das mit der Ablenkung hat besser geklappt als gedacht.

Ein heftiger Schmerz tobte unter meinem Brustbein.

Na toll, ein Herzkasper, und das mit elf. An jedem anderen Tag hätte ich einen Herzinfarkt mit offenen Armen willkommen geheißen. Aber nicht jetzt. Nicht, wenn Charlie mich brauchte.

Mutter zog ein Messer aus dem Block und fuchtelte wild damit herum. Sie starrte mich an und brüllte irgendetwas über einen roten Teufel. Ihre Miene war verzerrt.

Jetzt ist sie endgültig durchgeknallt.

Ihr Verstand war vergiftet.

Bei dem Versuch, ihren Stichen auszuweichen, stolperte ich über etwas Festes und landete auf dem Hintern.

Sie wich zurück.

Splitter bohrten sich in meine Handfläche, gleichzeitig schlug etwas Eiskaltes gegen mein Bein, und ich verharrte erschrocken. Dann warf ich mich nach vorn und tastete umher, bis ich den unsichtbaren Körper gefunden hatte.

»Ich werde dich beschützen«, zischte Nyx.

Sie hatte sich durch das Fenster katapultiert, um mich zu retten. Sie war der Grund, warum ich noch mal davongekommen war.

Meine Panik verdreifachte sich. Sie darf nicht verletzt werden. Blind tastete ich nach meiner besten Freundin und klammerte mich mit ganzer Kraft an ihre bitterkalten Schuppen.

»Bleib bei mir«, flüsterte ich verzweifelt. »Wir müssen Charlie beschützen. Nicht mich«, keuchte ich.

Sie zischte.

Ich summte innerlich eine hektische Melodie.

Die Evolutionsforschung lag falsch. Menschen waren keine Weiterentwicklung der Primaten. Wir waren der Rückschritt.

Die Hände fest um Nyx’ kalten Körper geschlungen, robbte ich rückwärts über den Boden. Ich griff nach der Klinke der Badezimmertür, um mich hochzuziehen. Die Tür sprang auf, und wir fielen hindurch.

Er hat sie für mich offen gelassen.

Hastig schloss ich hinter mir ab.

Mutter und Vater schrien sich immer noch an und faselten etwas vom Teufel.

Charlie hatte sich in einer Ecke des engen Bads zusammengerollt und seinen abgemagerten Körper zwischen Toilette und Wand gequetscht. Er sah aus unnatürlich großen, verweinten Augen ängstlich zu mir. Heftig zitternd zog er den Kopf ein, als versuchte er, sich zu verstecken.

Nyx wand sich in meinem Griff. »Lass mich los«, zischelte sie. »Diese Dreckskerle müssen sterben! Sie haben dir weh getan!«

Charlie reagierte nicht, aber das überraschte mich nicht. Ich hatte vor langer Zeit akzeptiert, dass ich die Einzige war, die Nyx hören konnte. Deshalb hielten mich alle für einen Loser, der Selbstgespräche führte.

Der Teil mit dem Loser war noch fraglich. (Oder auch nicht. Schließlich schrieb ich in meiner Freizeit Fanfictions über Emmy Noether und Carl Gauß.)

Ich keuchte bebend, als der Schmerz in meiner Brust zunahm. »Lass uns Charlie hier beschützen. Sollen sie sich erst gegenseitig weh tun.«

Die Sinfonie kam richtig in Fahrt.

Nyx schlängelte sich an mir hoch und legte sich wie ein unsichtbarer Schal um meinen Hals und meine Schultern.

Charlies Schluchzen in der Ecke wurde lauter.

Ich hätte auch geweint, aber dafür stand ich zu sehr unter Adrenalin.

Außerdem empfand ich schon seit elf Jahren nichts mehr.

So viel dazu.

Nach Luft ringend stolperte ich zur Toilette und riss den schweren Klodeckel aus Porzellan ab. Ich nahm Aufstellung neben der Tür, hob meine improvisierte Waffe und schloss die Augen.

Wenn sie reinkamen, würde ich ihnen den Deckel über den Kopf ziehen, und Nyx würde sie beißen.

Niemand wird Charlie weh tun. Niemand wird ihn mir wegnehmen. Niemals. Er ist in Sicherheit. Dafür werde ich sorgen.

Schmerz explodierte in meiner Brust. Keine Panikattacke hatte sich je so nadelspitz angefühlt.

Ein Gis-Akkord, immer noch Crescendo.

Mühsam atmend zwang ich mich, die zitternden Arme hochzuhalten. Charlie wiegte sich in seiner Not vor und zurück.

Für ihn schaff ich alles.

Wir waren zwar nicht verwandt, aber wie Pater John immer predigte: »Das Blut eines Eides ist dicker als das Wasser des Leibes.«

Charlie und ich hatten in diesem Höllentrailer zusammen überlebt, Tag und Nacht. Wir hatten uns ein Kartonbett geteilt. Wir hatten zusammen gehungert. Außer Nyx und ihm hatte ich niemanden.

»Was hast du vor?«, wollte Nyx wissen. Ihre unsichtbare Zunge strich über meine Wange.

»Wenn sie reinkommen …« Ich ließ die Nackenwirbel knacken. »… bringen wir sie um.«

Becken schlugen scheppernd gegeneinander.

Mein Brustbein wurde förmlich auseinandergerissen.

Charlies Schluchzen wurde noch lauter.

Es geschah so viel auf einmal.

»Hervorragender Plan«, zischte Nyx.

Die Pflegeeltern hatten gewonnen; sie hatten mich zur Mörderin gemacht.

Auf der anderen Seite der Tür stieß Mutter einen gottlosen Schrei aus. Die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf. Das Geräusch war so grausig, dass meine Panik sich jetzt vervierfachte. Ich keuchte vor Erschöpfung, und meine Brust brannte.

Schwere Schritte erschütterten den Trailer.

Meine Arme zitterten vor Anstrengung, als ich den gelb angelaufenen Klodeckel höher hob. Ich war bereit für den Kampf.

Vaters Stimme erklang ganz in der Nähe. »Kinder, helft uns! Schnell … Etwas tut ihr weh!«, schrie er.

Ich erstarrte.

Was hatte er gerade gesagt? Hatte er uns wirklich um Hilfe gebeten? Uns, die er umbringen wollte? Das kann ja wohl nicht sein Ernst sein.

Charlie wimmerte und machte sich noch kleiner.

Ich schloss die Augen und regte mich nicht.

Das Geheul draußen bildete eine perfekte Harmonie.

»Kinder, ruft die 777! Ein Titan hat eure Mutter erwischt!« Die Badezimmertür klapperte, als er versuchte, zu uns reinzukommen. »Tu was, Alex!«

Ich hasste diesen Spitznamen.

Und wir hatten keine Mutter.

Nicht wirklich.

Ein übelkeiterregendes Kreischen drang aus der Küche.

Titanen wurden von Blut und Gewalt angezogen, aber das Elend in diesem Trailer war etwas Alltägliches. Warum greift ausgerechnet jetzt einer an? Das ergibt doch keinen Sinn, es sei denn …

Ich keuchte auf. Seitdem Nyx durch das Fenster gekracht war, war der Trailer nicht mehr sicher.

Eine Bestie war zu uns hereingekommen.

Der Klodeckel in meinen Händen bebte erbarmungslos. Eiskalte Schuppen strichen über meinen Hals, als würde Nyx sich auf den Angriff vorbereiten.

»Irgendwas Unsichtbares reißt sie in Stücke! Es … es … ist einer von ihnen … Das muss es sein … Ruft an … Helft uns, bitte!«, flehte Vater durch die Tür.

Die Angeln ächzten, als er sich gegen das Türblatt warf und versuchte, es aufzubrechen.

Der Schmerz in meiner Brust war so grausam, dass ich mich krümmte.

Mutters Schreie wurden schriller, und Vater kratzte schluchzend an der Tür. »Bitte, ruft endlich die Spartaner. Bitte, Kinder. Ihr kommt Schaum aus dem Mund. Es ist … furchtbar.«

Sie wurde angegriffen, und er stand vor dem Bad. Es passierte wirklich, die Titanen waren hier.

Ich kniff fest die Augen zusammen.

Charlie weinte lauter.

Das Orchester spielte zum letzten Akt auf.

Faustschläge an der Tür, ein verzweifelter Mann, der uns heiser anflehte, und meine Hände zitterten immer heftiger. Blut rann mir übers Gesicht und tropfte auf den Boden.

Die Tür wurde erschüttert.

Die Schreie verstummten.

Immer noch die beklemmende klassische Musik in meinem Kopf.

»Du bist stark«, flüsterte Nyx. »Du bist tapfer.« Ich spürte ihre Schuppen über mein Gesicht gleiten, als sie sich an mich schmiegte. »Du kannst alles schaffen. Die Welt liegt dir zu Füßen.«

Tränen mischten sich ins Blut und liefen mir über die Wangen.

Weder regte ich mich, noch öffnete ich die Augen.

Das Telefon an der Wand blieb unberührt.

Ich vernahm ein schauderhaftes Gurgeln, dann … Stille, nur durchbrochen von Vaters ersticktem Schluchzen.

Die Musiker ließen ihre Instrumente sinken und verbeugten sich. Ich hielt die Luft an und wartete. Wartete, dass er dieselben Geräusche von sich gab wie Mutter vor ihm. Darauf, dass die Tür aufgebrochen wurde. Darauf, gegen einen Titanen zu kämpfen. Auf den Tod.

Die Zeit dehnte sich endlos.

Ich wartete weiter.

»Ich glaube, er ist weg«, sagte Vater verzagt. Es krachte, als wäre er über die eigenen Füße gestolpert. Die Eingangstür knallte ins Schloss, dann hörte ich seine gedämpfte Stimme, wie er schrie und die Nachbarn um Hilfe anflehte.

Ich ließ meine Waffe nicht sinken.

Charlie schluchzte leise.

Der unerträgliche Schmerz in meiner Brust ließ langsam nach, und auf einmal verschwamm alles miteinander. Lärm, Laute, Bewegungen, alles ein einziges Durcheinander.

Die Zeit machte einen Satz nach vorn.

Charlie kuschelte sich müde an meine Seite. Blinzelnd kam ich zu mir.

Mattgrünes Licht flackerte, und unter mir spürte ich die vertraute durchgesessene Couch. Die Nacht hatte sich über den Trailer gelegt, und draußen in der Dunkelheit fiel leise der Schnee.

Der Sturm war vorbeigezogen.

Charlie lag schlafend in meinem Arm, und Nyx hatte sich unter meinem Sweatshirt eng um meinen Oberkörper geschlungen. Der Innenraum war voll aufgeregter Fremder. Einer von ihnen erzählte, dass die Nachbarn sie verständigt hätten.

Zwei von ihnen wandten sich mir zu.

Ich zuckte zurück und versuchte, auf der Couch nach hinten zu rutschen und mehr Abstand zwischen uns zu bringen.

Die Sanitäter – ein Mann und eine Frau – kümmerten sich nicht weiter darum. Sie kamen näher und rückten mir auf die Pelle. Auf ihren Identifizierungsmarken blitzte der goldene Löwe von Haus Zeus auf.

Wenn ich genug Kraft gehabt hätte, hätte ich geschrien.

Aber ich brachte nur ein Grollen zustande.

Sie tupften etwas auf die größeren Schnitte in meinem Gesicht, an meinen Händen und Füßen. Ich schauderte.

»Halt still«, fauchte die Sanitäterin mich an. »Das ist eine extrem teure spartanische Heilsalbe. Wir haben nicht mehr viel. Wenn sie aufgebraucht ist, hast du Pech gehabt.« Sie schürzte angewidert die Lippen.

Das Problem ist nicht die Salbe, sondern dass du mich anfasst.

»Du solltest dankbar sein, dass wir sie überhaupt benutzen«, knurrte der männliche Kollege. »Die Flasche ist abgelaufen. Sonst würden wir sie gar nicht an dich verschwenden. Es dauert Jahre, solche Wundermittel in den Labors der olympischen Spartaner zu entwerfen und zu testen.«

Ich wünschte, die Flasche wäre nicht abgelaufen.

Ich atmete tief durch, summte eine klassische Melodie und konzentrierte mich auf etwas Positives – ein paar Schritte entfernt wurde Mutter von Leuten in weißen Schutzanzügen in einen Leichensack gelegt, und Vater stand draußen im Schnee und diskutierte herum, während er befragt wurde.

Gut so.

Die Tür des Trailers knallte zu.

»Halt still«, fuhr diesmal der Sanitäter mich an, drückte meine Wangen zusammen und tupfte an meinem linken Auge herum.

Wahrscheinlich hat er es in Mathe nie über Bruchrechnung hinausgebracht. Carl Gauß würde nie so mit mir reden.

Ein großer Police Officer – ganz in Schwarz mit schicken Spartaner-Waffen rechts und links an den Hüften – kniete sich vor mich. Auf seiner Marke war das wildgewordene Pferd von Haus Artemis abgebildet. Die blutroten Augen leuchteten mir entgegen.

Er schaltete ein Aufnahmegerät an und sprach so leise, als würde er auf ein verängstigtes Tier einreden. »Du musst uns nur sagen, was passiert ist. Hat dein Vater dich verletzt? Hat er dich geschlagen?«, fragte er sanft und als wäre die Antwort tatsächlich wichtig.

Aber wir wussten beide, dass das nicht stimmte.

Körperverletzung und gewalttätige Übergriffe wurden nicht mehr bestraft. Das Rechtssystem der Spartaner kannte nur noch ein Verbrechen, das die Kavallerie auf den Plan rief.

»Er ist nicht mein Vater«, korrigierte ich ihn. Meine Stimme klang merkwürdig. »Pflegevater, und ja. Er hat m-mir weh getan.«

Der Officer verengte aufmerksam die Augen. »Und wer hat deiner Mutter weh getan? Wer hat sie umgebracht? Weißt du noch, wer …«

»Sag ihnen, was passiert ist, Alexis!«, brüllte Vater von draußen. »Sag ihnen, dass es die Titanen waren. Du weißt, ich habe …« Er unterbrach sich mit einem dumpfen Laut, als hätte ihn jemand geschlagen.

Innerlich brachte ich den Satz für ihn zu Ende: … heulend vor der Badezimmertür gestanden und dich angebettelt, die Spartaner zu rufen.

»Ignorier ihn«, sagte der Officer. »Wer hat deine Pflegemutter getötet? Du kannst mir die Wahrheit sagen. Sie hat … stark geblutet und hatte Schaum vor dem Mund. Das war ein ziemlich … brutaler Angriff.«

Ich öffnete den Mund, um ihm zu erklären, dass ein Titan dahintersteckte, aber ich brachte es nicht über mich.

Charlie hätte heute Abend sterben können. Nyx hätte verletzt werden können. Ich rieb meine Handgelenke und sah dem Officer direkt in die Augen.

»Vater hat sie getötet«, sagte ich ruhig.

Die roten Teufelsaugen auf seiner Marke funkelten mich vorwurfsvoll an.

Der Officer schaltete das Aufnahmegerät aus.

»Danke. Das war alles, was ich hören wollte. Das System wird sich um ihn kümmern. Er wird noch heute Nacht ins Spartanische Bundesgefängnis überführt. Dort bleibt er für den Rest seines Lebens, keine Chance auf Bewährung.« Er nickte mir zu. »Du bist ihn los.«

Er stand auf und verließ den Trailer.

Draußen schrie Vater vulgäre Beschimpfungen und dass er mich umbringen würde (ziemlich frech, wenn man mich fragte. Immerhin hatte er seine Chance gehabt), aber dann fiel eine Autotür zu, und er war nicht mehr zu hören.

Die Sanitäterin starrte mich angewidert an. Mit verzerrter Stimme sagte sie: »Für dein Auge und dein Ohr können wir nichts tun. Eine Behandlung im Krankenhaus steht dir nicht zu.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete.

Sie zog mit ihrem Kollegen ab.

Ich würde ihre positive Ausstrahlung vermissen. Von wegen.

Wie aus weiter Ferne nahm ich wahr, dass jemand ein gelbes Flatterband an den Wänden befestigte, auf dem ›Kontaminiertes Gebiet‹ stand. Jemand anderes vernagelte das zerstörte Fenster. Nach und nach gingen alle.

Die Zeit verflog.

Ich blinzelte.

Der Trailer war leer und stank nach Desinfektionsmitteln, die mich an das Spezialgebräu erinnerten. Neongrünes Licht warf Schatten an die Wände, während ein Konvoi weißer Elektrowagen im abflauenden Sturm verschwand. An den Fenstern sammelte sich leise der Schnee.

Wir waren allein.

Es kam mir vor wie ein Traum. Ein Albtraum.

Schlotternd und mit klappernden Zähnen hob ich Nyx von mir herunter und bettete Charlie mühsam auf der Couch um. Dann stolperte ich zur Eingangstür.

Ich brauchte mehrere Versuche, um alle drei Schlösser zuzukriegen.

Mit zitternden Armen zog ich den alten Sessel über den Boden und verbarrikadierte damit die Tür.

Im grünen Halbdunkel flackerte das Licht.

Erst nachdem ich die alte, geflickte Decke von dem Bett gezogen hatte, in dem nie einer von uns geschlafen hatte, legte ich mich neben Charlie auf die Couch und schloss Nyx in meine Arme.

Ich konnte nicht schlafen.

Als die blinkende Anzeige der Digitaluhr auf fünf Uhr morgens sprang, gab ich auf und wankte ins Bad.

Die Rohre ächzten, als Brunnenwasser aus dem Hahn sprudelte. Nachdem ich mir das eiskalte Nass ins Gesicht gespritzt hatte, schaute ich in den kleinen Spiegel über dem Waschbecken.

Mir blieb vor Entsetzen der Mund offen stehen.

Meine Haare standen in wilden Locken von meinem Kopf ab, und meine goldene Haut war von Striemen, Blutergüssen und Schnitten übersät.

Aber das war nicht mein Hauptproblem.

Langsam schloss ich mein rechtes Auge.

Die Welt verschwamm erst und wurde dann dunkel, obwohl mein linkes Auge noch offen war. Ich öffnete das andere und konnte wieder sehen.

Rötlich verfärbte Rinnsale tropften langsam von meinem Gesicht.

Zwei unterschiedliche Augen starrten mich aus dem Spiegel an. Ich bildete es mir nicht ein. Meine beiden dunklen Augen waren Geschichte.

Die linke Iris war weiß, die rechte schwarz.

Das hätte mir eigentlich gereicht, aber da war noch etwas.

In dem merkwürdigen Gefühl, unter Wasser zu sein, legte ich eine bebende Hand an mein rechtes Ohr und sprach. Meine Stimme klang verzerrt und knisterte. Ich ließ die Hand sinken und versuchte es noch mal. Dieses Mal konnte ich mich hören.

Ich war auf der linken Seite blind und taub.

Nachdem ich noch einmal tief durchgeatmet hatte, spritzte ich mir mehr Wasser ins Gesicht, strich mir die Haare zurück und straffte die Schultern.

Das Mädchen im Spiegel sah gefasst aus. Mit den Verletzungen und den gespenstischen nicht zueinander passenden Augenfarben wirkte sie bedrohlich. Mächtig. Rechts neben ihr hing das unbenutzte Notfalltelefon an der Wand.

»Wer ist das? Ich muss unbedingt wissen, wie sie heißt«, würde Carl Gauß sagen, wenn er ihr auf den Straßen von Braunschweig in Deutschland begegnet wäre. »Aus diesem Mädchen werde ich ein Wunderkind machen!«

Ich lächelte.

Meine Foltermeister waren fort.

Ich war frei.

In diesen frühen Morgenstunden freundete ich mich mit dem zweiten Monster an, das mir je begegnet war: mir selbst.

Zumindest glaubte ich das.

Erst später sollte ich begreifen, dass ich mit dieser Annahme sowohl absolut richtig als auch sehr, sehr falsch gelegen hatte. Monster waren heimtückisch: Manchmal erkannte man ihre wahre Natur erst, wenn es bereits zu spät war.

Später am Tag klopfte es laut an der Tür.

Ein Mann mittleren Alters mit tiefen Falten um den Mund stand draußen im Schnee.

»Der Bund …« Er bewies echte Klasse, indem er herzhaft auf den Boden spuckte. »… hat diesen Trailer zum Tatort erklärt und als unbewohnbar eingestuft.«

Er zeigte auf einen großen weißen Abschleppwagen mit einem schicken silbernen Aufleger hinten drauf.

»Ich habe Befehl, ihn wegzuschaffen.« Auch seine Stimme klang verzerrt, und das schrille Klingeln in meinem linken Ohr wurde schlimmer.

Schneeflocken wirbelten umher und verfingen sich in seinen Wimpern.

»Wo sollen w-wir denn dann wohnen?«, fragte ich mit tauben Lippen.