Blood Vision - Eric Boss - E-Book

Blood Vision E-Book

Eric Boss

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Beschreibung

"Bizarr! Pervers! Genial! Ein Buch wie ein Abgrund…" Wenn die Nacht kommt und die dunkelsten Triebe erwachen, dann wirst Du für deine Sünden büßen! "Dieser Schocker setzt neue Maßstäbe! 'Basic Instinct' trifft auf 'Das Schweigen der Lämmer'…"

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Seitenzahl: 410

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Ähnliche


Eric Boss

Blood Vision

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

The Invader

Teil 1 - Wenn Schatten tanzen ...

Teil 2 - Wenn du ihn fühlst ...

Teil 3 - Wenn du ihn hörst ...

Teil 4 - Wenn Leben Tod bedeutet ...

Teil 5 - Wenn Emotionen gefrieren ...

Teil 6 - Wenn du ihn siehst ...

Teil 7 - Wenn die Nacht zum Wahnsinn wird ...

Teil 8 - Wenn Dunkelheit den Raum erhellt ...

Nachwort

Impressum neobooks

The Invader

Hallo mein Name ist Michael.

Nachtslegt sich der Wahnsinn

wie Stacheldraht um meine Seele.

Ich sehe Bilder,

die Unvorstellbares zeigen.

Ich höre Stimmen,

die Unmenschliches fordern.

Und ich spüre das abgrundtief Böse.

Spüre es,

bis in die tiefste Faser meines Körpers.

Morgens

nehme ich meine Waffe,

den Dienstausweis

und

gehe zur Arbeit.

Ich

bin…

The Invader

Zur Zeit des Kalten Krieges erweckten PSI-Experimente der damaligen Sowjetunion die Aufmerksamkeit amerikanischer Geheimdienste.

Als Gegenreaktion realisierten auch NASA, Militär und CIA streng geheime Forschungsprojekte. Ziel war es, Menschen mit besonderen Fähigkeiten zu finden und für militärische Einsätze auszubilden. Zu diesem Zweck wurde primär das Phänomen

Remote Viewing (RV) untersucht.

Mehr als 20 Millionen US-Dollar sollen allein in das Mainproject mit dem Codenamen Stargate geflossen sein.

Für die Kriminologie hingegen waren eine Reihe kleinerer Experimente interessanter, die sich mit Extrasensory Perception (ESP) befassten.

Denn dadurch wurde erstmals empirisch bewiesen, was Experten der Criminal Investigative Analysis schon lange vermutet hatten:

Dass manche Menschen Dinge wahrnehmen können, die dem gewöhnlichen Verstand verborgen bleiben.

Dass manche Menschen in der Lage sind, in fremde Gedankensphären einzudringen und Informationen zu beschaffen, ohne dafür einen der fünf anerkannten Sinne zu benutzen.

Menschen, die man seitdem als Invader bezeichnet.

Special Agent Michael Scott vom FBI ist ein Invader.

Er sieht in die dunkelsten Abgründe einer menschlichen Seele. In tief verborgene Welten voller Wahnsinn, Angst und Perversion.

Teil 1 - Wenn Schatten tanzen ...

2012, Vision

Dunkelheit.

Wahnsinn.

Paranoia.

Das altvertraute Gefühl der Angst, wenn die Schatten zu tanzen begannen. Langsam lösten sich ihre Umrisse aus der Dunkelheit, begannen ihn zu umkreisen. Gleich würde ER kommen.

Sein Herz begann wild zu hämmern. Seine Augen füllten sich mit Tränen.

„Bitte nicht“, flüsterte er tonlos, „bitte nicht schon wieder“.

Aber niemand hörte ihn, niemand war da, als der unheimliche Tanz begann. Konturlose Gesichter starrten ihn an, dünne Arme lösten sich aus dem Dunkeln und griffen nach ihm. Der Tanz wurde wilder, die Schatten kamen näher. Seelenlose Schemen überall. Über ihm, neben ihm, hinter ihm.

Dann erreichte ihr gespenstisches Treiben den Höhepunkt, steigerte sich noch ein letztes Mal, ehe es endlich verstummte. Die seltsamen Gestalten verblassten allmählich, bis nur mehr eine Einzige zu erkennen war.

Riesig, dunkel, bedrohlich ...

ER kam.

Und gleich würde ER wieder diese Dinge von ihm verlangen. Böse Dinge. Dinge, die er nicht machen wollte.

„Ich will das nicht“, sagte er leise.

Aber die Gestalt kam näher. Langsam, aber unaufhaltbar ...

Silverton, Colorado – September 1987

Julie Simpsons Hände zitterten, als sich der Schlüssel mit einem lauten Knacksen in dem verrosteten Schloss drehte. Unter einem hässlichen Quietschen öffnete sich die schwere, eisenbeschlagene Tür. Quälende Angst nagte in ihr. Angst und auch Schuldgefühle. Wie sehr wünschte sie sich, das alles hier ungeschehen machen zu können. Einfach die Zeit zurückzudrehen und noch einmal ganz von vorne anzufangen. Ein vergeblicher Wunsch.

Julie betätigte den Lichtschalter und betrat mit klopfendem Herzen den Raum. Sie dachte daran, wie er früher immer in ihre Arme gelaufen war und wie sie ihn fest an sich gedrückt hatte. Wie oft hatte sie ihm dann, unter Tränen, ins Ohr geflüstert, dass bald alles gut werden würde.

Aber diesmal kam niemand in ihre Arme gelaufen.

Als das matte Licht der Glühbirne den Raum auf gespenstische Weise erhellte, saß er einfach nur da. Still, blass und mit eingefallenen Augen.

Fast wie ein Geist.

Julie schauderte, wollte etwas sagen, aber etwas in seinem Blick ließ sie verstummen. Langsam hob der Junge den Kopf. Seine dunklen Augen schienen Julie zu durchbohren und bis auf den Grund ihrer Seele zu sehen. Endlose Sekunden lang. Eine Leere lag in diesem Blick, wie Julie sie noch nie zuvor erlebt hatte. Dann begann er zu sprechen. Leise, aber sehr deutlich:„Er hat mit mir gesprochen.“

„Wer?“

Aber der Junge schwieg.

„Wer verdammt nochmal! Wer hat mit dir gesprochen?“

Julies Stimme hatte einen hysterischen Klang angenommen. Sie machte noch einen Schritt auf ihn zu, um ihm sanft übers Haar zu streichen, hielt aber sofort inne, als sie seine abwehrende Geste registrierte.

„Bitte sag mir wer!“

Endlich hob der Junge seinen Kopf. Der Blick in seinen Augen jagte Julie einen eisigen Schauer über den Rücken.

„Der Mann mit dem Narbengesicht.“

Julie Simpson begann zu zittern. Erst nur die Fingerspitzen, dann der ganze Körper. Sie wusste, wer dieser Mann war. In letzter Zeit hatte ihr Junge immer wieder von ihm erzählt. Und jedes Mal hatte seine Stimme dabei diesen schrillen, panischen Unterton angenommen. Trotzdem hatte Julie ihn nicht ernst genommen. Wie so oft in seinem Leben.

Aber nun begriff sie plötzlich, dass das ein Fehler gewesen war. Zu deutlich sah sie es in seinen Augen. Etwas war geschehen. Etwas Schlimmes.

„Was hat er gesagt?“, fragte sie vorsichtig.

Diesmal antwortete er sofort. Er senkte seine ohnehin schon leise Stimme zu einem fast unhörbaren Flüstern. Dann hauchte er nur ein Wort: „Tod.“

Chicago, Illinois – Oktober 2012

1.

... lassen Sie Ihre Albträume Wirklichkeit werden. Erleben Sie eine Nacht, die sie nie vergessen werden ...

So lautete eine der schmierigen Werbeanzeigen des Elite Clubs. Obwohl die Werbung nicht immer hielt, was sie versprach, war der exklusive Club längst zum beliebtesten Ziel der gehobenen Sado-Maso-Szene geworden. Gutes Programm, diskrete Lage am Rande der Stadt und viel Abwechslung. Jedes Wochenende trafen sich dort im Erdgeschoss die Reichen der Stadt, um die verschiedensten Shows zu genießen. Männer, Frauen und erstaunlich viele Paare.

Eine Etage tiefer, im Keller, waren dann hauptsächlich männliche Wesen zu finden. Für ganze Monatsgehälter eines durchschnittlichen Arbeiters wurden dort ihre dunkelsten Fantasien Wirklichkeit. Wohlhabende Männer ließen sich quälen, demütigen, auspeitschen und noch vieles mehr.

Auch an diesem Abend war die SM-Show wieder restlos ausverkauft. Schon ein paar Minuten nach Beginn erfüllte der penetrante Geruch von Schweiß den engen Raum. Wie immer drängten sich gaffende, vor Erregung bebende Zuschauer grob nach vorne. Rücksichtslos und gewalttätig.

Sie hatten alle viel Geld bezahlt und wollten nun kein Detail der Show verpassen. Sie waren hier um einen Abend zu erleben, den sie nie vergessen würden. Und im Gegensatz zu vielen anderen Abenden zuvor sollte dieser Wunsch heute Wirklichkeit werden. Der schreckliche Albtraum dieser Show sollte sich für immer in die Gehirne der Zuschauer einbrennen.

„Das war der erste Teil unserer beliebten SM-Show. Wir werden nun fünfzehn Minuten Pause machen ...“

Männer und Frauen waren gleichermaßen beeindruckt als Samantha Blake die Bühne betrat. Groß, schlank und mit wallendem Haar, das beinahe ihren perfekt geformten Po berührte. Ihr hauteng anliegendes Lederkorsett, die stahlblauen Augen und die Art, wie sie eine schmale Reitgerte in ihren Händen bog, ließen den Atem des Publikums schneller werden.

„... danach erleben Sie wie bei uns unfolgsame Schulmädchen gezüchtigt werden. Schlechtes Benehmen und Faulheit werden hier nicht toleriert!“, fuhr sie in strengem Ton fort.

Zustimmende Rufe erklangen vom Publikum und die Ersten begannen zu applaudieren. Samantha schien es zu genießen und ließ ein paar Augenblicke verstreichen, ehe sie wieder das Wort ergriff.

„Unsere verzogene Kleine hier“, sagte sie, während sie mit ihrer Gerte auf eine von Kopf bis Fuß in Latex eingehüllte Gestalt an einem Andreaskreuz deutete, „wird die Pause in dieser Position verbringen, ohne sich zu bewegen. Verstanden?“

Das letzte Wort galt eigentlich dem jungen Mädchen am Kreuz, das sofort demütig den Kopf neigte. Aber Samanthas Ton war so beißend geworden, dass auch ein paar Zuschauer unbewusst mit dem Kopf nickten. Wie Samantha Blake so auf der Bühne stand, schien sie einfach alles und jeden zu überragen. Das Ebenbild einer Göttin. Einer Göttin, die direkt aus der Unterwelt gesandt worden war, um die menschlichen Sünder zu bestrafen. Hart und erbarmungslos.

Die Vorhänge schlossen sich und die gaffende Stille wich einem regen Treiben. Getränke wurden geholt, Small Talk betrieben und die verschiedensten Ideen ausgetauscht. Keiner schien die dunkle Gestalt, die irgendwas hinter der Bühne hantierte, zu bemerken. Und die wenigen, welche die dunklen Umrisse registrierten, hielten sie für einen Bühnenarbeiter.

Genau fünfzehn Minuten später hatten die Zuschauer ihre Plätze wieder eingenommen. Die Vorhänge öffneten sich. Zu diesem Zeitpunkt realisierten die ersten, aufmerksameren Zuschauer bereits, dass etwas nicht stimmte.

Es lag an dem Mädchen am Andreaskreuz.

Zwar erinnerten sich alle an Samanthas Worte, trotzdem schien die Haltung des gefesselten Mädchens etwas zu bewegungslos. Es hing einfach nur in den Seilen. Kraftlos und ohne die natürliche Körperspannung.

Auch Samantha, die gerade den zweiten Teil der SM-Show ankündigen wollte, bemerkte es. „Stell dich ordentlich hin, kleine Schlampe!“

Ein paar Zuschauer klatschten, aber ein Gefühl der Unruhe blieb. Es hing im Raum wie eine dunkle Wolke. Das Mädchen rührte sich nicht.

Samantha Blakes Augen schienen Funken zu sprühen. Sie hasste es, wenn ihre Shows nicht perfekt liefen und ihre Befehle ignoriert wurden. Soweit sie sich erinnern konnte, war so was noch nie vorgekommen. Drohend ließ sie die biegsame Reitgerte durch die Luft zischen. „Auf jetzt!“

Als sich das Mädchen immer noch nicht rührte, ergriff das Gefühl von Unruhe auch Samantha. Plötzlich bemerkte sie den seltsamen, leicht süßlichen Geruch, der von der gefesselten Gestalt ausströmte.

Zögernd streckte Samantha ihre Hand nach dem Mädchen aus. Ihre Finger begannen zu zittern, als sie ihr vorsichtig die schwarze Ledermaske über den Kopf streifte. Dann ...

... versank die Welt für ein paar endlose Sekunden. Samanthas Augen weiteten sich vor Entsetzen. Panik. Unglauben.

Ihr kreischender Schrei erfüllte den Raum. Ein spitzer, animalischer Laut, der von den Wänden widerhallte und von dutzenden Kehlen erwidert wurde. Ein bizarres Echo, das wie auf Kommando, von den lauten Schreien des Publikums verstärkt wurde. Denn nun sahen es auch sie.

2.

„Gottverdammte Scheiße, es ist vier Uhr morgens!“, brüllte Michael in sein Handy.

„Er hat wieder zugeschlagen“. Die ruhige Stimme von Special Agent Landers holte ihn zurück in die Realität. Langsam verblassten die wirren Träume von Wasserleichen und Köpfen, die ihn ohne Augen anstarrten. Von Frauen, die ihn betrogen und einem Vater, der ihn seit seiner Geburt hasste.

Nur das Hämmern in seinem Kopf blieb.

„Sorry“, sagte Michael Scott nur. Mehr brachte er noch nicht heraus. Sein Gehirn arbeitete träge und versuchte mühsam einen Zusammenhang zwischen den zahlreichen Bierdosen, dem eingeschalteten Computer und der Tatsache, dass er vollständig angezogen auf seiner Couch lag, herzustellen. Achttausend Dollar ...

„Was hast du gesagt? Wo soll ich hinkommen?“ Mit einem Ächzen erhob sich Michael und schlug sich dabei sein Knie an. Der Tisch wackelte, mehrere leere Dosen schepperten zu Boden und die Computermaus fiel halb vom Pad. Er zerbiss sich einen Fluch auf der Zunge und beobachtete, wie das Schwarz des Bildschirmschoners sich langsam in einen grünen Pokertisch verwandelte. Verdammt, hatte er gestern wirklich eine Achttausend Dollarhand verloren? Mehrere Monatsgehälter in nicht mal einer Minute?

„Hallooooo ... komm endlich raus! Ich warte hier vor deiner Wohnung.“ Kate Landers klang geduldig wie immer.

„Ist dir klar, wie aufdringlich so was ist?“ Zum ersten Malan diesem viel zu frühen Morgen grinste Michael.

„Beweg endlich deinen faulen Hintern!“ Auch Kate lachte leise.

„Ach, leck mich!“

Ein paar Minuten später saß Michael neben Kate im Auto und bemühte sich nicht auf ihre Brüste, die bei jedem Gangschalten provokant auf und ab wippten, zu starren.

Der einzige Grund, warum er seinen Blick letztlich fast gewaltsam davon losriss und sich seinen kindischen Kommentar verkniff, war die Tatsache, dass er Kate wirklich mochte.

Denn ironischerweise war Kate die einzige Person im ganzen Präsidium mit der Michael freiwillig zusammenarbeitete. Michael Scott, der ehemalige Thai-Boxer und bekennende Misanthrop, der so absolut nicht zu ihr passte. Aber er hatte nie vergessen, dass sie damals zu ihm gehalten hatte. Gegen ihren Chef, gegen die Presse und gegen den Rest der Welt.

„Wohin fährst du mich eigentlich?“, fragte Michael mit einem schiefen Grinsen. Er war froh nicht selbst fahren zu müssen.

„Zum Elite Club“.

„Hä, ist das nicht der SM-Club für Reiche?“

„Genau“.

„Oha, wenn du zahlst, gerne!“

Während Michael auf eine Reaktion wartete, beobachtete er Kate. War sie schön? Er hatte sich diese Frage schon oft gestellt, ohne dabei auf eine befriedigende Antwort zu kommen. Schön eher nicht, aber hübsch auf jeden Fall. Irgendwie fehlte ihr die nötige Symmetrie, um wirklich schön zu sein. Die Nase etwas zu klein, das Kinn etwas zu markant und die Lippen etwas zu schmal.

Als Kate eben diese zu schmalen Lippen zu einem pflichtbewussten Lächeln verzog, wusste Michael, dass sein flacher Witz wieder mal nicht angekommen war. Wie so oft. Und da machte er dasselbe, was er in solchen peinlichen Situationen fast immer machte.

Statt nämlich einfach den Mund zu halten, machte er alles nur noch schlimmer: „Oder war der heutige Abend selbst für die SM-Typen zu bizarr?“

Er lachte heiser und bemerkte, wie auch das pflichtbewusste Lächeln aus Kates Gesicht verschwand.

„Das ist nicht lustig“, sagte sie leise.

Michael nickte unbeholfen. Verdammt er wusste das! Genau darum trank er sich auch jedes Wochenende ins Koma. Um den Schmerz, die Sinnlosigkeit des Daseins zu vergessen. Um den grässlich entstellten Mordopfern zu entkommen, die ihn jede Nacht, in seinen Träumen, heimsuchten. Die Welt war nicht lustig! Ihre Scheiß Bewohner waren nicht lustig! Und dieser Fall war es auch nicht!

Dieser verfluchte Fall.

Michael spürte, wie das Hämmern in seinem Kopf stärker wurde. Warum hatte er ihn überhaupt angenommen? Lag es daran, dass er Mitleid mit den Opfern hatte? Lag es daran, dass die erfolgreiche Aufklärung sein Leben wieder in geregeltere Bahnen lenken konnte? Das hatte zumindest Kate gemeint.

Oder war da doch noch etwas anderes?

Nämlich der unerklärbare, scheußliche Nervenkitzel, der jedem erfolgreichen Ermittler nur zu vertraut war. Dieses bizarre Spiel, das sich stets zwischen ihnen und dem Täter entwickelte. Ein wenig wie Poker. Man täuschte, man bluffte, man suchte nach verborgenen Möglichkeiten, um tief in die Psyche eines Menschen einzudringen. Ja, wie Poker. Nur größer, grausamer und mit Menschen als Wetteinsatz.

Michael seufzte so laut, dass Kate verwundert von der Straße aufsah. Er hasste sich selbst, wenn er so dachte. Allerdings wusste er auch, dass diese Gedanken die einzige Chance waren, weitere Opfer zu verhindern. Um die kranken, abstrakten Phantasien eines Psychopaten zu verstehen, musste man selbst ein wenig krank sein. Alle guten Ermittler wussten das.

Und Michael Scott war nicht gut. Er war der Beste.

3.

Als sie den Elite Club erreichten, herrschte dort bereits reges Treiben. Ein kleiner, untersetzter Sergeant des CPD empfing sie missmutig und geleitete sie zum Tatort. Er grummelte unverständliche Satzfragmente vor sich hin und schritt so zügig durch die hohe, düstere Eingangshalle des SM Clubs, dass Michael und Kate Mühe hatten, ihm zu folgen. Vor einer schweren Holztür blieb er stehen und murmelte: „Viel Spaß“. Es klang gehässig.

Als Michael zur Klinke griff, bemerkte er, dass seine Hände leicht schwitzten.

Bilder erwachten vor seinem inneren Auge und ließen ihn frösteln. Bilder von grässlich entstellten Leichen.

Das erste Mordopfer: eine junge Frau, im Sportbecken eines Freibades. Der Kopf kahl geschoren, die Augen fein säuberlich aus den Höhlen geschnitten. Darüber hinaus hatte der Mörder ihren Mund zugenäht, mit einem dünnen, schwarzen Faden. Als man sie fand, war ihr Körper von den Stunden im Wasser schon bleich und aufgedunsen.

Das zweite Opfer wurde auf einem Schrottplatz, etwas abgelegen im Norden der Stadt, entdeckt. Ebenfalls eine junge Frau, auf genau dieselbe Art zugerichtet. Als man die Leiche fand, saß sie in einem alten, verbeulten Auto, die leblosen Hände am Lenkrad. Ihr Mörder hatte das Standlicht eingeschaltet, das auf einen riesigen Schrottberg vor ihr fiel. Die verschiedenen Lackierungen der Schrottautos reflektierten dieses Licht und warfen es auf gespenstische Weise zurück auf die Frau ohne Augen.

Das Ganze war so unheimlich inszeniert, dass der Schrotthändler – ein vierschrötiger Kerl, der mehrere Strafen wegen Waffenbesitzes und Körperverletzung hatte – psychologisch betreut werden musste.

„Michael ... alles klar?“

Kates Stimme riss ihn aus seinen düsteren Gedanken.

„Klar, gehen wir es an!“

4.

Michael rümpfte die Nase. Er konnte den scharfen Geruch von Luminol ebenso wenig leiden, wie er die Forensiker der Serologie leiden konnte, die ihn mit wichtiger Miene verbreiteten.

Wie immer, wenn er einen Tatort betrat, stachen ihm die Typen der Spurensicherung als Erstes ins Auge. Grimmig verfolgte Michael ihr reges Treiben. In ihren Tyvek-Strampelanzügen schwirrten sie umher wie große Babys, denen man Hightechspielzeug gekauft und zu viele Folgen CSI gezeigt hatte.

„Passen sie auf, Mann! Hier ist abgesperrt!“

Ein Strampelanzug mit dicker Hornbrille rannte hysterisch auf ihn zu und gestikulierte wild mit beiden Armen. So wild, dass ihm die ALS-Lampe mit dem grünen Lichtfilter fast aus den Händen glitt.

Und wie immer nahmen sie sich viel zu wichtig.

Dabei waren es letztendlich fast immer Typen wie Michael, die Verbrechen aufklärten. Typen, die bereit waren ihren Verstand, ihre Normalität zu riskieren. Typen, denen es nichts ausmachte, bis zum Hals in Scheiße zu versinken. Manchmal auch tiefer.

Denn wenn Technik versagte, bedurfte es anderer Talente. Michael genoss noch einen Augenblick lang den entrüsteten, fast panischen Gesichtsausdruck des dürren Mannes, ehe er sich der vielen Augenpaare bewusst wurde, die sich auf ihn und Kate richteten. Ihr Auftauchen war nicht unbemerkt geblieben.

Während Kate sich demonstrativ näher zu ihm stellte, verfinsterte sich sein Blick noch mehr. Ablehnung und Misstrauen schlugen ihm entgegen wie eine eisige Welle. Die wenigsten hatten seinen neuerlichen Einsatz gut geheißen.

Michael Scotts Miene hellte sich erst ein wenig auf, als er Jo Maryland erblickte.

„Schön Sie wieder an Bord zu haben“, sagte der kleine, durchtrainierte Gerichtsmediziner. Es klang ehrlich.

Michael nickte ihm zu. Seine harten Gesichtszüge wurden für ein paar Momente weicher. Dann aber fragte er ernst: „Ergebnisse?“

Jo Maryland grinste schief: „Sie sollten wissen, dass ich nicht über Ergebnisse spreche, ehe die Untersuchungen abgeschlossen sind. Ich mag keine schlecht recherchierten Vermutungen.“

„Und sie sollten wissen, dass Agent Scott solange nicht mehr von ihrer Seite weichen wird, bis er ein paar Antworten bekommen hat“, warf Kate lächelnd ein.

„Ah, Agent Landers, der einzige Lichtblick in einer kalten, grausamen Welt. Was macht der Fußball?“

Der Arzt erwiderte Kates Lächeln: „Wissen Sie, Kate, Sie sind immer noch die einzige fußballspielende Frau, die ich persönlich kenne.“

„Sie sollten lieber fragen, was ihre Schuhe machen“, feixte Michael.

„Häh?“

„Beim letzten Match hat es keine 10 Minuten gedauert, bis sie das Tor getroffen hat“, erklärte er: „Allerdings nicht mit dem Ball, sondern mit dem Schuh.“

Die beiden Männer grinsten über beide Ohren, wie pubertierende Jugendliche. Für einen kurzen Augenblick lockerte sich die bedrückende Atmosphäre an diesem düsteren Tatort.

„Na ja, wenig Zeit dazu. Ein Mordfall nach dem anderen“, ignorierte Kate die beiden.

Die bittere Realität kam zurück.

Maryland nickte zustimmend: „Ja diese Welt wird nicht besser, ich kann mich noch erinnern als ich vor zehn Jahren ...“

„Ist die Leiche noch hier?“, unterbrach ihn Michael bestimmt. Er kannte die Vergangenheit Marylands mittlerweile besser als die eigene.

Es hatte noch nie ein Zusammentreffen gegeben, bei dem der Gerichtsmediziner nicht mindestens eine Episode aus seinem Leben zum Besten gegeben hatte. Ganz egal, wie unpassend die äußeren Umstände auch zu sein schienen.

„Selbstverständlich ist die Leiche noch hier“, Maryland hob resignierend die Hände, „Da geht wieder mal überhaupt nichts vorwärts. Gibt ja auch keinen Grund zur Eile.“

Michael musste wieder grinsen. Zu gut kannte er den ungeduldigen Ton in Marylands Stimme.

Außerdem wusste Michael, wie eilig es Gerichtsmediziner prinzipiell hatten, die Leichen in ihre stillen Laborräume zu bringen. Das galt besonders für Leichen bei aufsehenerregenden Mordfällen.

Dafür gab es zwei Gründe.

Einerseits die Tatsache, dass jede Minute zählte. Je länger die Zeitspanne zwischen Tat und Obduktion war, desto schwieriger wurde ein exaktes rechtsmedizinisches Gutachten.

‚Je frischer das Fleisch, desto höher der Preis‘, hatte Maryland einmal wenig poetisch erklärt.

Andererseits konnten Gerichtsmediziner es nicht leiden, dämliche Fragen von ermittelnden Agents und Detectives zu beantworten. Selbst Michael schüttelte manchmal den Kopf über das mangelnde Basiswissen anatomischer Grundvorgänge mancher Ermittler.

Noch mehr als blöde Fragen aber hassten es Gerichtsmediziner, wenn übereifrige Agents die Leichen befummelten. Wenn sie damit begannen, die leblosen Körper zu verrenken, zu verschieben oder an ihnen herumzuzerren, weil sie glaubten, etwas Bahnbrechendes entdeckt zu haben. So mancher Agent hatte dann schon Blicke geerntet, als hätte er der Ehefrau des Gerichtsmediziners in den Busen gekniffen.

Auf jeden Fall wusste Michael, wie viel Mühe sich gerade Jo Maryland stets gab, um die äußere Leichenbeschau möglichst schnell hinter sich zu bringen.

Ein paar schnelle Fotos – mit diversen Belichtungen, in allen erdenklichen Winkeln; hastiges Entkleiden der Leiche und das visuelle Abtasten nach besonders auffälligen Blessuren oder Hämatomen; unter Umständen noch das Messen der Körperkerntemperatur. Damit war das Prozedere auch schon beendet und das Kommando zum Abtransport wurde gegeben.

„Also gut“, murmelte Jo Maryland, „aber solange mein Bericht nicht vorliegt, gibt es für nichts was ich sage eine Garantie.“

Kate und Michael tauschten einen schnellen Blick, während sie dem Gerichtsmediziner zu der aufgebahrten Leiche folgten. Dort verharrten sie kurz, ehe Maryland entschlossen das weiße Laken zurückschlug.

„Außerdem bin ich mir in diesem Falle ziemlich sicher, dass es derselbe Täter war. Genau dieselbe Vorgehensweise und genau dieselbe Präzision wie bei den ersten beiden Morden. Sehen sie diese winzigen Schnitte am Kopf?“

Kate schluckte und auch Michael musste sich fast dazu zwingen, die grässlich entstellte Leiche anzusehen.

Außenstehende glaubten immer dieser Anblick machte den erfahrenen Ermittlern nichts mehr aus. Das stimmte so aber nicht immer. Für Michael war es wie beim Thaiboxen. Man gewöhnte sich mit der Zeit an die harten Schläge und konnte sie einstecken, aber sie taten trotzdem weh.

Jo Maryland fuhr fort: „Er hat ihr mit einem scharfen Messer die Haare abgeschnitten und den Kopf geschoren. Danach hat er ihr den Mund zugenäht und die Augen entfernt. Die Art und Weise, wie er die Enucleatio bulbi durchgeführt hat, lassen für mich keine Zweifel zu. Derselbe Täter.“

„Enucli…was?“, fragte Michael.

„Habe ich das nicht bereits letztes Mal erklärt?“, Maryland schürzte die Lippen.

„Doch“, erklärte Kate sanft, „Aber da war Michael nicht dabei.“

„Ach ja, genau. Es bedeutet soviel wie das Entfernen des Auges.“ Der Mediziner machte eine kurze Pause, um Atem zu holen: „Jedenfalls hat er auch diesmal perfekt gearbeitet. Sauber von innen nach außen. Keine unnötigen Kratzer. Weder Lider noch Wimpern beschädigt. Fast schon kunstvoll.“

Jo Marylands Stimme hatte einen seltsamen Klang bekommen. War da so etwas wie verborgene Anerkennung? Bewunderung?

„Hat sie dabei auch gelebt wie die anderen?“, unterbrach ihn Michael grob.

Der Gesichtsausdruck des Mediziners verdüsterte sich: „Das kann ich wirklich noch nicht sagen. Dazu muss ich noch weitere Untersuchungen anstellen.“

Aber es war auch nicht nötig, dass er dazu was sagte. Zu deutlich konnte man es in seinen Augen lesen.

„Das heißt, der Täter hat sie im stillen Kämmerchen gefoltert, ermordet und dann die Leiche präpariert?“, fragte Kate übertrieben sachlich.

„Ich bin mir da ziemlich sicher“, war die knappe Antwort.

„Und in der kurzen Pause hat er sie gegen das andere Mädchen am Andreaskreuz ausgetauscht?“,

„Wo ist dieses andere Mädchen?“, wollte Michael wissen.

„Gesund und munter. Sie gab zu Protokoll, jemand habe sie losgemacht, sie hinter die Bühne geführt und ihr befohlen, sich dort hinzuknien. Sie hielt das alles wohl für Teil der Show. Erst als der Tumult losging, hat sie sich die Maske vom Kopf gerissen. Ihre Aussagen klangen absolut glaubwürdig, aber das zu beurteilen fällt nicht in meine Kompetenz.“

Maryland verstummte und runzelte die Stirn. Er ärgerte sich ein wenig darüber, schon wieder viel zu viel gesagt zu haben. Das war unprofessionell und nicht seine Art. Oder doch irgendwie? Eine bedrückende Stille folgte dem kurzen Gespräch. Endlich ergriff Kate erneut das Wort. An Michael gewandt sagte sie leise: „Ich werde mir jetzt noch den Bühneneingang und den Hinterhof ansehen. Dann reicht es für heute!“

Michael nickte zustimmend: „In dem Fall werde ich noch ein paar Fragen an die Chefin dieses Clubs stellen. Dann treffen wir uns beim Auto. Mehr können wir hier ohnehin nicht mehr machen.“

5.

Schales Mondlicht fiel auf Amelies Gesicht.

Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten ihres mächtigen Kleiderschrankes.

Langsam näherte sich der dunkelgekleidete Mann und trat an ihr Bett.

Dort verharrte er eine ganze Weile. Studierte die Konturen des hübschen Kindergesichtes. Beobachtete, wie sich die Bauchdecke des Mädchens bei jedem Atemzug leicht anhob und wieder senkte.

Noch schlief Amelie.

Aber schon bald würde sich ihr Leben verändern. Für immer. Denn nun war er hier im Haus.

Ganz nah.

6.

Michael stand noch immer gedankenverloren im Raum, während Kate sich bereits angeregt mit einem jungen Forensiker der Entomologie unterhielt.

„Michael, kann ich noch einen Augenblick mit Ihnen alleine sprechen?“

Abrupt sah er auf. Jo Maryland hatte ihm leicht die linke Hand auf die Schulter gelegt.

Michael nickte: „Um was geht’s?“

Schweigend gingen sie mehrere Schritte nebeneinander. Dann begann Jo Maryland: „Sie wissen, ich erzähle den Leichen auf meinen Tischen mehr über meine Gefühle als meiner Frau oder sonst wem, aber ...“

„... Die hören wenigstens zu, ohne einen zu belügen. Was man von Lebenden nicht behaupten kann“, warf Michael ein.

Beide lachten. Es war das trockene, humorlose Lachen von Männern, die schon zu viel Schreckliches erlebt hatten. Dann wurde Jo Maryland wieder ernst: „Ich arbeite jetzt schon 25 Jahre fürs Morddezernat. Ich habe Dinge gesehen, die stehen in keiner Zeitung und werden in keinem Film gezeigt ...“

„Was heutzutage etwas heißen soll“, bemerkte Michael Scott trocken, aber diesmal wurde er von Maryland ignoriert.

„... Aber nie etwas wie das hier“, fuhr er fort, „Es ist nicht nur die Grausamkeit der Morde, es ist diese unglaubliche Perfektion während der Ausführung. Die unheimliche Inszenierung danach. Es ist das bizarre Spiel eines Wahnsinnigen.“

Er seufzte und musterte Michael mit klugen Augen. Dann kam er zum Punkt: „Passen sie verdammt gut auf Kate auf.“

„Wie bitte?“

„Solche Fälle machen Menschen kaputt. Ich habe das schon öfters miterleben müssen. Bei uns beiden spielt das keine Rolle mehr.“ Er lachte bitter. „Aber um Kate wäre es schade. Sie ist im Grunde immer noch ein guter, herzlicher Mensch. Wenn ich die Befugnis hätte, würde ich sie davon abziehen.“

„Sie ist erwachsen und gehört zu den Allerbesten!“, widersprach Michael, „Und Jo, das sage ich!“

Aber sein Tonfall wirkte weit weniger überzeugend als seine Wortwahl.

Die beiden Männer sahen sich lange an, ehe Michael todernst erklärte: „Kate ist so ziemlich der einzige Mensch, den ich mag. Ich würde mein Leben geben, um sie zu schützen.“

„Hoffen wir, dass es nicht so weit kommen wird.“

Michael schluckte.

Düstere Vorahnungen zuckten durch sein Gehirn. Bruchteile von Sekunden nur und nicht greifbar, aber mit der Intensität von elektrischen Stößen.

Maryland schüttelte leicht den Kopf: „Dieser Mann ist gefährlicher als alle Psychopaten, die wir je hatten. Er ist eine Bestie. Eine geniale Bestie.“

7.

Geilheit!

Geilheit auf den ersten Blick. Gab es das überhaupt? Falls ja, war es genau das, was Michael fühlte, als er Samantha Blake das erste Mal sah. Dabei machte sie sich keine Mühe irgendwie hübsch auszusehen. Sie hatte ihr Domina-Outfit gegen eine schlichte Jeans und ein weit ausgeschnittenes, lila Top getauscht. Außerdem wirkte sie müde, geschockt und lümmelte demonstrativ uninteressiert in einem schwarzen Ledersessel. Trotzdem wusste Michael vom ersten Augenblick an, dass er diese Frau ficken wollte.

„Verzeihung Miss Blake. Ich muss ihnen noch ein paar Fragen stellen. Mein Name ist ...“

„Ich dachte, dass ich diesem Gartenzwerg bereits alles gesagt habe“, unterbrach Samantha ihn missmutig, „steht alles im Protokoll“.

„Es dauert wirklich nicht lange. Ich bin selbst hundemüde und habe ebenfalls ein paar abgefuckte ... Stunden hinter mir.“

Eigentlich hatte er abgefuckte Tage sagen wollen. Oder Wochen? Jahre? Egal, es ging sie nichts an.

Jedenfalls verzog er seine Mundwinkel zu einem entschuldigenden Lächeln und bemerkte zum ersten Mal etwas wie Sympathie in ihren Augen.

„Wollen Sie wissen, wo ich in der Viertelstunde Pause war“, fragte sie spöttisch.

Michael erwiderte den Blick ihrer schönen, dunklen Augen mindestens ebenso spöttisch. In seiner gesamten Karriere hatte er diese dämliche Alibi-Frage noch nie gestellt. Nie, ohne die Antwort bereits zu kennen.

Überhaupt hatte er sich noch nie an irgendwelche didaktisch aufgearbeiteten Module oder irgendwelche psychologisch ausgetüftelten Fragebögen gehalten. Auch jetzt lächelte er leicht und fragte direkt, in harmlosen Ton: „Haben sie einen Verdächtigen, Miss Blake?“

Dabei ließ er seinen Blick demonstrativ durch den düsteren Raum wandern. Von lebensgroßen Schwarz-Weiß-Fotografien bildhübscher Sklavinnen über diverse Peitschen, Rohrstöcke und Ruten bis hin zu diversen Ketten und Masken, die überall an den Wänden hingen.

Definitiv das seltsamste Büro, das er jemals gesehen hatte.

Gleichzeitig aber beobachtete er Samantha scharf aus den Augenwinkeln. Das Spiel ihrer Mimik. Augen. Mundwinkel. Stirn. Jede noch so verborgene Reaktion auf seine Frage. Es war nahezu unmöglich Michael Scott zu bluffen. Er hätte ein berühmter Pokerstar werden können, wären da nicht diese unkontrollierbaren Wutausbrüche bei Bad Beats gewesen.

Aber an jenem Tag bemerkte er nichts Verdächtiges.

Samantha überlegte zwei, drei Sekunden ernsthaft und schüttelte nur den Kopf. Absolut glaubwürdig.

„Wo bekommt man diese Latexanzüge her?“, fragte er weiter.

„Was für Anzüge?“

„Einen jener Anzüge, den das Opfer anhatte.“

„Tja, die gibt’s in jedem SM-Shop“, antwortete Samantha und fügte rasch hinzu: „Auf so was stehen viele Männer. Sie auch, Agent Scott?“

Sie lachte, vielleicht eine Spur zu laut. Michael beobachtete sie scharf und ignorierte ihre Frage.

Danach unterhielten sie sich ein paar Minuten über alles Mögliche, wobei Michael versuchte möglichst freundschaftlich zu klingen. Was ihm bei dieser Frau ausnahmsweise nicht schwerfiel.

Schließlich meinte er knapp: „Noch eine Frage, dann sind Sie mich los.“

„Dann mal los!“

„Wer arbeitet hinter der Bühne?“

„Mein Bruder Philip“, war die knappe Antwort.

Es klang sachlich und nüchtern, aber Michael war nicht entgangen, dass sich ihre Nasenflügel geweitet hatten. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber zu lange um es vor Michael Scott zu verbergen. Eine unbewusste und unmöglich zu kontrollierende Geste bei beginnendem Stress.

„So, so ihr Bruder ... dann macht die Mutter wohl die Buchhaltung?“

„Meine Mutter hat sich das Gehirn mit einer Pumpgun weggefetzt. Auf dem Dachboden. Als ich die Stiege hochrannte, rollte mir ihr linkes Auge entgegen!“

Michael schluckte, sah Samantha kurz an, schluckte wieder. Verdammt, der Witz wäre so schon nicht gut gewesen. „Es ... es tut mir leid“, stotterte er, „keine weiteren Fragen mehr.“

„Scott!“

„Ja?“, Michael war mit hochrotem Kopf zur Tür geeilt. Jetzt hielt er inne.

„Komm nochmal her!“

„Wie bitte?“ Einen Augenblick glaubte er, sich verhört zu haben. Samantha Blake sprach genau in jenem Tonfall mit ihm, wegen dem er seinem eigenen Vater die Nase gebrochen hatte.

„Mir ist noch etwas eingefallen. Naja, eigentlich mehr ...aufgefallen.“

„Und das wäre?“

„Du hast einen schönen Arsch!“

Michael wollte etwas sagen, aber er schaffte es nicht. Es hatte ihm sprichwörtlich die Sprache verschlagen.

„Umdrehen!“ Das eine Wort war ein scharfer Befehl und Michael gehorchte. Sein Gehirn setzte aus. Sein Herzschlag beschleunigte sich.

Samantha Blake war hinter ihn getreten. So nah, dass er ihren heißen Atem an seinem Ohr spürte. „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Stehst du auf SM? Weißt du, über 80% der Männer haben heimliche Fantasien.“

Dann spürte er ihre Hände auf seinen Pobacken. Er hielt den Atem an. Jeder Funke Verstand oder Pflichtbewusstsein wurde fortgespült von einer emotionalen Welle. Scheiß Emotion! Scheiß Libido!

„Bei Frauen ist dieser Prozentsatz sogar noch höher“, flüsterte Samantha lasziv. Sie schmiegte sich von hinten an ihn. Ihre Brüste berührten dabei seinen Rücken. Weich und doch fordernd.

Michael Scott war ein knallharter Ermittler. Aber Michael Scott war auch ein Mann.

Und dieser Mann war unfähig, sich gegen die alles beherrschende Präsenz dieser Frau zu wehren. Er genoss einfach nur die Berührung ihrer schlanken Finger. Fordernd. Erotisch. Dominant.

„Und jetzt verschwinde und mach dich endlich an die Arbeit! Je schneller dieser Irre gefasst wird, desto besser für uns alle.“

Mit hängendem Kopf trottete Michael davon. Ohne Widerrede.

Zwei Dinge beschäftigten Michael, als Kate ihn schließlich heimfuhr.

Erstens, irgendwas stimmte nicht mit Samantha Blake. Es war nicht nur das Offensichtliche. Ihre total abartige Art, mit ihm zu kommunizieren. Auch nicht die Tatsache, wie sie ihn mit ihren erotischen Reizen ausgespielt hatte – nur wenige Stunden, nachdem sie eine grausam gefolterte Frauenleiche entdeckt hatte.

Nein, da war noch etwas anderes.

Sie hatte etwas zu verbergen. Dieses unerklärliche Gefühl hatte Michael noch nie betrogen. Schon als Junge hatte er deutlich gespürt, wenn man ihn anlog – auch wenn er es sich damals noch nicht hatte erklären können. Später, beim FBI hatten ihm namhafte Experten für Mimik – und Körpersprache erklärt, dass sein Unterbewusstsein in der Lage war, winzige Mikrokontraktionen im Gesicht seines Gegenübers wahrzunehmen und in Sekundenbruchteilen richtig zu deuten. Doch Michael wusste, dass seine Fähigkeit tiefer ging.

Sehr viel tiefer.

Das Zweite, das Michael beschäftigte, war seine gewaltige Erektion. Sie bereitete ihm regelrecht Schmerzen und wollte einfach nicht nachlassen.

Teil 2 - Wenn du ihn fühlst ...

1987, Realität

... näher und näher.

In wenigen Augenblicken würde die Gestalt ihn berühren. Würde ER ihn berühren.

„Ich will das nicht“.

Sein Flüstern verlor sich in der Dunkelheit des Raumes. Schattengestalten erhoben sich aufs Neue, bildeten einen Halbkreis und begannen leise zu summen. Ein leises monotones Summen, ein uraltes Klagelied von Leid und Schmerz, von Angst und Verderben. Eine Melodie so unheimlich, dass er am ganzen Körper zu zittern begann.

„Warum ich?“, fragte er tonlos. Aber er bekam keine Antwort ...

8.

Jessica Elliot fühlte es wieder. Dieses abstrakte und doch so reale Gefühl der Bedrohung.

Es hatte vor genau drei Tagen begonnen, als sie mit ihrer Tochter Amelie Einkaufen war. Genau ab dem Zeitpunkt, als sie ihr Auto im zweiten Stock der schlecht beleuchteten Parkgarage abgestellt hatte. Plötzlich waren da diese seltsamen Geräusche gewesen und das Hallen von Schritten. Dazu gespenstische Schatten an den steinernen Wänden. Schatten, die stets nur wenige Bruchteile als groteske Schemen zu erkennen waren und sie dennoch zu verfolgen schienen. Irgendwas stimmte nicht. Jemand war da! Jemand beobachtete sie!

Als Jessica dann die Tiefkühlkostabteilung durchquerte, wurde aus dem abstrakten Gefühl reale Angst. Es traf sie mit einer solchen Intensität, dass sie am ganzen Körper zu zittern begann. Die eisige Kälte der überdimensionalen Gefriertruhe schien ihr in alle Glieder zu fahren.

Daraufhin war sie so panisch aus dem Kaufhaus gestürmt, dass sie mindestens die Hälfte auf ihrer Einkaufsliste vergessen hatte. Amelie hatte furchtbar zu schreien angefangen, weil sie keinen Ketchup für ihre Chicken-Wings fand. Sie hatten deshalb den ganzen Rückweg fürchterlich gestritten.

Ein Geräusch ließ Jessica aufschrecken. Sie brauchte ein paar Augenblicke, um zu begreifen, dass es sich um ihr Handy handelte.

„Hallo.“

Stille am anderen Ende der Leitung. Jessica brauste auf: „Verdammt Fred, lass uns in Ruhe! Amelie will dich nicht sehen! Du bist ein Arsch!“

Stille.

„Ja da gibt es nichts mehr zu sagen, hä?“, sie begann sich in Rage zu reden, „Und jetzt leg auf und verpiss dich!“

Aber Fred legte nicht auf.

Fred?

Oder war es gar nicht ihr Ex? Jessica war sich so sicher gewesen, es wäre Fred, dass sie gar nicht auf die Nummer geachtet hatte. Außerdem hatten nicht viele Menschen ihre neue Nummer. Ihre Eltern, Fred, zwei ihrer Mädels und das war es dann eigentlich schon.

„Wer ist da?“, fragte Jessica leise. Sie spürte, wie ihre Selbstsicherheit zu schwinden begann. Jetzt erkannte sie auch die unterdrückte Nummer auf dem Display. Fred rief nie anonym an. Niemand antwortete. Da war nur diese Stille am anderen Ende der Leitung.

Absolute Stille.

Da war kein Atmen, keine Hintergrundgeräusche, einfach nichts.

Jessica zögerte noch zwei, drei Augenblicke, dann legte sie entschlossen auf.

Als sie sich mit einem Seufzen auf ihren schweren Ledersessel fallen ließ, bemerkte sie, dass ihre Handinnenflächen schweißnass waren. Sie hatte Angst! Was war das hier für eine verdammte Scheiße!?

Das Telefon klingelte wieder. Jessica schluckte. Noch bevor sie auf dem Display Unbekannter Anrufer las, wusste sie, dass er es wieder war.

„Wer zum Teufel sind Sie? Wo haben Sie diese Nummer her?“ Obwohl sich Jessica bemühte ruhig zu sprechen, vibrierte ihre Stimme. Da sie keine Antwort erwartete, holte sie Luft, um weiterzusprechen, als ...

9.

Access denied.

Kate Landers’ Finger bewegten sich mit einer solchen Geschwindigkeit über die Tastatur ihres silbergrauen Laptops, dass das Klacken der Tasten zu einem einzigen monotonen Geräusch wurde. Hin und wieder sah sie auf und ein zufriedenes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Das hier war ihre Welt. Eine Welt, die aus Suchmaschinen, diversen Daten und Passwörtern, die sie gar nicht haben dürfte, bestand.

Kate hatte ihre Polizeilaufbahn beim CPD in einer kleinen Abteilung zur Ortung und Bekämpfung von Cybercrime begonnen.

Es hatte nicht lange gedauert, bis sich ihr Ehrgeiz und ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten herumgesprochen hatten. Von neidischen Officers bis hinauf zum damaligen Chief of Department. Schließlich war sogar das FBI auf sie aufmerksam geworden und hatte sie angeworben.

Beim Federal Bureau of Investigation hatte Kate zuerst in der IT-Forensik gearbeitet. Dort war sie bei der Entwicklung neuer Software zur Katalogisierung und Ermittlung von Verbrechen tätig gewesen. Später wurde sie zu einem elitären Acht-Mann-Team hinzugezogen, das ständigen Kontakt mit IC3 – dem Internet Complaint Center – hielt. Mehrere Mitglieder dieses Teams waren rund um die Uhr in Bereitschaft, um unwillkürlich auf Gefahr im Verzug zu reagieren.

Doch selbst beim FBI erweckte Kates Genialität Aufmerksamkeit.

Ihre seltene Gabe Probleme durch Kombination von analytischer, streng logischer Recherche mit unerwarteten, kreativen Einfällen zu lösen, wurde schnell zum Gesprächsthema. Deshalb wurde Kate in der Folge immer öfter als Beraterin bei den so genannten Major Crimes – den Kapitalverbrechen – eingesetzt.

Eigentlich gegen ihren Willen.

Denn jede Beschäftigung mit diesen abartigen Fällen gab ihr das Gefühl, eine Tür in eine dunkle Welt aufzustoßen. Eine Tür in eine Welt, die Kate zutiefst erschütterte. Eine Welt, die sie eigentlich nie hatte betreten wollen.

Aber als Section Chief Wallace sie in sein Büro gebeten hatte, um ihr feierlich das neue Betätigungsfeld zu erläutern, hatte Kate nur respektvoll genickt.

Allerdings war die IT-Forensik ihre große Leidenschaft geblieben.

In den undurchschaubaren Weiten des digitalen Netzes konnte Kate so ziemlich jede Information bekommen, die sie brauchte. Denn sie wusste wo suchen und wie.

Kate hatte alles schon gefunden, von Bauanleitungen für Neutronenbomben bis hin zu Auktionsplattformen für Auftragskiller. Selbst die männlichen Computerspezialisten des FBI und professionelle Hacker, mit denen sie gelegentlich zusammenarbeiteten, schätzten ihre Fähigkeiten.

Es hatte sogar das Gerücht gegeben, sie hätte sich in die geheimsten Archive des Pentagons eingeklinkt. Und zwar nicht in irgendwelche digitalen Vorhöfe, sondern direkt ins Herz, wo die wichtigen Daten gespeichert waren: geheime Raketenabwehrstationen, streng verdeckte Operationen des Militärs ...

Dasselbe sollte ihr auch mit streng versiegelten FBI-Akten gelungen sein. Identitäten des Zeugenschutzprogrammes waren nur eines der Beispiele.

Weil ihr Vorgesetzter aber einen seiner cholerischen Anfälle bekommen hatte, als er davon erfuhr, hatte Kate es wohlweislich beim Gerücht belassen. Special Agent in Charge Jack Williams war für sein Temperament bekannt.

Genau dieses Temperament riss Kate auch jetzt aus ihrer Konzentration.

Seit einer guten halben Stunde brüllten ihr Chef und Michael Scott nun schon um die Wette. So sehr sie sich auch auf ihre Arbeit konzentrierte und sich bemühte, die beiden zu ignorieren, so gelang es ihr doch nicht ganz.

Das lag einerseits an der Lautstärke ihres Gesprächs, andererseits aber auch an der pikanten Komik der Situation. Da war Michael, in seiner verwaschenen Jeans und der uralten Armeejacke, die Füße in provokant lässiger Manier auf dem Schreibtisch, und gegenüber der mächtige FBI-Chef in seinem maßgeschneiderten Armani-Anzug und vor Wut knallrotem Schädel.

„Ich arbeite alleine!“, wiederholte Michael bestimmt schon zum fünften Mal.

Jack Williams schnaufte laut: „Ich sag es jetzt zum letzten Mal. Wir sind hier keine One-Man-Show. An diesem Fall arbeiten mittlerweile 25 meiner Experten. Es ist zur absoluten Priorität geworden, diesen Irren zu fassen. Und dazu will ich eine perfekte Koordination zwischen den Teams. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?“

Seine Augen sprühten Funken, als er Michael mit seinem Blick regelrecht zu durchbohren schien. Ein Blick, der schon die härtesten Verbrecher verunsichert hatte.

Aber Michael zuckte lässig die Achseln, dann aber nahm er seine Füße vom Schreibtisch. Er stützte seine Ellbogen auf die Tischkante und legte sein Kinn bedeutungsvoll auf die verschränkten Finger.

„Jetzt werde ich mal was klar ausdrücken“, sagte er langsam, wobei er das letzte Wort ironisch betonte, „auch wenn du es mit billigen Ausreden zu kaschieren versucht hast, weiß ich sehr genau, warum du mich erst nach dem zweiten Mord geholt hast. Weil nämlich deine Experten versagt haben. Deine Hightech-Experten haben nichts gefunden, deine mustergültig geschulten Verhörprofis haben keine nützlichen Informationen erhalten und deine Ermittler drehen sich im Kreis. Keine Blutspritzmuster, keine DNA und die gesamte Forensik tappt im Dunkeln. Mittlerweile verfolgen Medien, Politiker und das ganze Pack jeden deiner Schritte, weil sie Ergebnisse wollen. Und in den nächsten Tagen kriegen sie deinen teuer gekleideten Arsch. Stimmt’s?“

Jack Williams ballte seine mächtigen Fäuste und suchte nach Worten. Aber Michael wartete die Antwort auf seine rhetorische Frage gar nicht erst ab, sondern fuhr fort: „Und deshalb bin ich eure letzte Hoffnung. Ich. Der Michael Scott, der zu viel spielt, zu viel säuft und in seinem letzten Fall so kläglich versagt hat. Aber auch der Michael, der krank und kaputt genug ist, um einen kranken und kaputten Psychopaten zu verstehen.“

Michael holte hörbar Luft und sah seinem Vorgesetzten fest in die Augen: „Und jetzt entzieh mir den Fall oder lass mich in Frieden meine Arbeit machen. Mir ist es scheißegal ob noch ein paar Menschen mehr verrecken. Es gibt sieben Milliarden davon.“

Jack Williams Augen verengten sich, sein riesiger Körper spannte sich. Kate hatte längst zu tippen aufgehört und verfolgte das Gespräch mit einer Mischung aus Interesse und Widerwillen. Sie sah, wie ihr Chef mit sich rang, nach Worten suchte und letztendlich den Kopf einzog und das Büro verließ.

Das Knallen der Tür schien endlos lange in der plötzlichen Stille zu hallen.

„War das wirklich nötig?“, durchbrach Kates Stimme das Schweigen, „Ich weiß, dass dir diese Menschen nicht egal sind.“

Sie mochte Michael und wusste, dass er nicht Unrecht hatte. Trotzdem fand sie seinen Ton nicht angebracht. Obwohl Kate eine überdurchschnittlich toughe und selbstbewusste Frau war, hatte sie immer noch einen vernünftigen, ihrer Meinung nach auch angebrachten, Respekt vor ihren Chefs und diversen Autoritäten.

„Ich weiß es auch nicht, manchmal verlier ich einfach die Kontrolle“, entgegnete Michael zerknirscht.

„Jack ist nicht schlecht, er hat wirklich gewaltigen Druck von allen Seiten. Außerdem wärst du ohne ihn schon lange arbeitslos.“

Michael verzog seine Lippen zu einem spöttischen Lächeln.

Wenn man gut in seinem Job war und einem ebendieser Job scheißegal war, konnte man sich fast alles erlauben. Aber als er in Kates kluge, ernste Augen sah, verkniff er sich seinen Kommentar.

„Ich habe den Jungen wieder gesehen“, sagte er stattdessen.

Augenblicklich veränderte sich Kates Stimmung. Michael entging nicht, dass ein leichter Schauer durch ihren Körper ging.

„Den Jungen aus deinen Visionen?“, fragte sie.

Michael nickte. Währenddessen beobachtete er Kate nachdenklich.

Er wusste, dass ihr seine Visionen Angst machten. Es war etwas, das zu dunkel für sie war. Zu anormal, um es mit Logik zu verstehen. Zu bizarr für ihren klaren, analytischen Verstand.

Wahrscheinlich waren diese Visionen auch etwas, das immer zwischen ihnen stehen würde.

Denn all seine anderen Eigenheiten hatte Kate von Anfang an akzeptiert. Ausnahmslos. Auch wenn ihr Michaels permanente Wutausbrüche, die derben Machosprüche und die regelmäßigen Abstürze in tiefste Depressionen nicht gefielen, konnte sie damit umgehen. Es fiel ihr relativ einfach, dieses Verhalten psychologisch nachzuvollziehen und einer emotional geschädigten Persönlichkeit zuzuordnen.

Die Visionen hingegen waren anders.

Sie stellten etwas Fremdes dar. Etwas Bedrohliches. Das Tor in eine Welt, die Kate niemals betreten wollte.

„Sitzt er immer noch in diesem ...“, fragte Kate trotzdem. Vergeblich versuchte sie, sich an Michaels letzte Beschreibung des Raumes zu erinnern.

„Ja, er sitzt immer noch in diesem Kellerverlies. Aber er ist nicht mehr allein.“

Kates Hände verkrampften sich um die Tischkante. Die feinen Härchen an ihren Unterarmen stellten sich auf.

„Wer ist bei ihm?“

„Ich weiß es nicht“, murmelte Michael, „Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, weil er völlig im Schatten steht. Doch er muss sehr groß sein.“

„Und was will er von dem Jungen?“

„Ich weiß es nicht. Sie reden über irgendetwas. Oder streiten“, Michael sah Kate lange an, „auf jeden Fall spüre ich bei diesem Bild jedes Mal eine Angst, wie ich sie noch nie zuvor gespürt habe.“

„Vielleicht will er ihn schlagen?“, vermutete Kate.

Michael lachte heiser.

Genervt runzelte Kate ihre Stirn: „Was gibt es da zu lachen?“

Ohne zu antworten, winkte Michael Kate näher zu sich heran. Mit dem Zeigefinger zeigte er auf zwei kleine Narben über seiner Lippe.

„Siehst du diese beiden Narben?“

Kate nickte.

„Es sind Verletzungen von den Schlägen meines Vaters. Verletzungen, die für immer Narben hinterlassen haben. Narben am Körper und in meiner Seele.“

Seine Stimme war leiser geworden. Seine Augen fixierten Kate.

„Es gibt für ein Kind kaum eine schlimmere Angst, als die Angst von einem Erwachsenen brutal verprügelt zu werden. Aber die Angst, die ich spüre, wenn diese Vision entsteht, ist schlimmer. Noch schlimmer.“

„Ich bin mir nicht ganz sicher, auf was du hinauswillst?“

„Was auch immer dieser Mann mit dem Jungen machen wird, ist grausamer als rohe Gewalt“, erklärte Michael leise, „sehr viel grausamer. Und was hast du gefunden?“

„Wer behauptet, dass ich was gefunden habe?“, fragte Kate schnippisch. Ein leises Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

„Du kannst mich nicht täuschen, Kate. Ich kenn dieses kurze Aufblitzen in deinen Augen mittlerweile zu gut. Ich habe dich vorher genau beobachtet.“

„Ich wäre wohl keine gute Pokerspielerin, oder?“

Beide lachten leise. Die Spannung der vergangenen Minuten war verflogen.

„Du hast doch gesagt, wir müssen diesen Fall anders angehen“, sagte Kate nach einer kurzen Pause, „und das habe ich gemacht. Diese Bonzenkarre des ersten Opfers hat mich auf eine Idee gebracht.“

„Der Chevrolet mit den verchromten Felgen? Das Auto, das sie ihrem Exmann bei der Scheidung auch noch abgenommen hat?“

„Genau. Aber alle drei Opfer hatten recht neue Autos.“

„Was bedeutet, der Händler ist der Mörder?“

Kate ignorierte Michael einfach: „Und die meisten neuen Autos haben GPS.“

Michael sah wie elektrisiert hoch. Er spürte diesen seltsamen, vertrauten Nervenkitzel, wenn er der Lösung eines Falles näher kam: „Bedeutet das, du hast eine relevante Gemeinsamkeit herausgefunden?“

Kate schürzte die Lippen: „So einfach ist das leider nicht. Nur zwei der drei Autos hatten Navigationsgeräte und eines davon war fast immer ausgeschaltet. Aber ich glaube tatsächlich, dass alle drei Opfer ein gemeinsames Ziel hatten. Um das herauszufinden, brauche ich allerdings noch ein paar Stunden.“

„Kate, du überraschst mich immer wieder“, Michael grinste, aber in seinem Blick lag auch Anerkennung, „Wird langsam Zeit, dass ich auch mal was leiste.“

„So ist es! Tu was für dein Geld!“

10.

Ein paar Stunden später hatte Michael soviel für sein Geld getan, dass seine Füße schmerzten.

Er war gefühlte 100 Kilometer durch verrufene Viertel geirrt, von einem SM-Shop zum nächsten. Es war kalt. Außerdem regnete es in Strömen und ein eisiger Wind heulte durch die dunklen, verworrenen Gassen.

Michael fluchte lautlos vor sich hin.

Recht schnell war ihm klar geworden, dass Samantha ihm nicht die volle Wahrheit gesagt hatte. Es gab diese Latexanzüge keineswegs überall zu kaufen. Genau genommen gab es sie nur in drei exklusiveren Shops, wie er mittlerweile in Erfahrung gebracht hatte.

Einen dieser exklusiven Shops betrat er nun. Er trug den unoriginellen Namen Dark World. Allerdings wirkte er alles andere als exklusiv, sondern zu klein, stickig und unordentlich. Dieser Eindruck wurde noch von einem tätowierten Verkäufer verstärkt, der lustlos in irgendeinem Porno-Heftchen blätterte. Er sah nicht mal hoch, als Michael die wenigen steinernen Stufen hinabstieg und den schwarzen PVC-Boden der eigentlichen Verkaufsfläche betrat.

Ohne Eile schlenderte Michael einen schmalen Gang entlang, vorbei an diversen Käfigen zur Rechten und übersichtlich sortierten Filmen zur Linken. Bondage, Spanking, Extreme und vieles mehr.

Komischerweise musste er auf einmal an Samantha Blake denken. Daran, dass sie ihn belogen hatte, aber auch daran, dass ihn diese SM-Welt irgendwie erregte. Gegen seinen Willen, aber ohne dass er es irgendwie hätte verhindern können.

Ein leises Lachen ertönte.

Sein Blick fiel auf zwei bildhübsche Mädchen in hautengen Jeans und bauchfreien Tops. Sie waren noch keine zwanzig Jahre alt.

Die Mädchen begutachteten verschiedene SM-Artikel und kicherten ständig. Dann nahm die kleinere der beiden eine der Reitpeitschen, die im ganzen Shop an überdimensionalen Kleiderhaken hingen, bog sie leicht in ihren schlanken Händen und lächelte maliziös.

Prüfend begann sie ihrer Kollegin damit den strammen Po zu tätscheln. Das Kichern wurde noch lauter, dann schlug sie so fest zu, dass es laut klatschte. Die Geschlagene stöhnte ungeniert. Daraufhin küssten sich die beiden Mädchen und gingen händchenhaltend weiter.

Michael betrachtete die ganze Szene aus schmalen Augen. Verdammt, wie sich die Zeit doch geändert hatte! Als er so jung gewesen war, hatte er eine Stunde mentaler Vorbereitung und drei Anläufe gebraucht, um eine Packung Kondome zu kaufen. Überhaupt, was hatte er für eine verschissene Jugend gehabt? Von Anfang an auf Seite der ewigen Verlierer. Drecksleben!

Michael spürte ein altvertrautes Frustgefühl in sich aufsteigen. Einen seelischen Schmerz, der oft körperlich greifbar wurde. Zu oft, wenn er nüchtern war. Eine Erziehung ohne Liebe, dafür aber mit umso mehr Geschrei und Schlägen, hatte ihn kaputtgemacht, bevor sein Leben jemals begonnen hatte.

Ja, er war innerlich leer und ausgebrannt.

Und das schon damals, als die Welt nach außen hin noch in Ordnung war. Als seine Eltern die Farce einer Beziehung noch aufrechterhalten hatten. Schon damals, als er noch das große Talent im Schach und Tennisclub war.