Bloodspell - Es lebe die Nacht! - Norma Feye - E-Book
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Bloodspell - Es lebe die Nacht! E-Book

Norma Feye

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Beschreibung

Modedesignerin Viva ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. London, Paris, Mailand, New York: Überall ist ihr Modelabel "Viva la Noche" in aller Munde. Sogar die Stars reißen sich darum, ihre Kreationen auf den roten Teppichen zu tragen. Ihr Privat- und Liebesleben hat Viva jahrelang hinten angestellt.

Das ändert sich schlagartig, als sie auf einer Vernissage dem faszinierenden Ronan begegnet. Nach der ersten gemeinsamen Nacht versucht sie zwar, auf Abstand zu ihm zu gehen, doch das ist schwieriger als gedacht: Ronan lässt einfach nicht locker und kämpft mit allen Mitteln um ihre Gunst.

Gerade, als sie den Mut fasst, sich ihm zu öffnen, stößt sie auf ein Geheimnis, das ihr Vertrauen in ihn schwer erschüttert - und als wäre das nicht genug, muss sie sich auch noch den Dämonen ihrer eigenen Vergangenheit stellen, wenn ihre Gefühle eine Chance haben sollen.

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EPUB

Seitenzahl: 458

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

1.

2.

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4.

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6.

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8.

9.

10.

11.

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Über dieses Buch

Modedesignerin Viva ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. London, Paris, Mailand, New York: Überall ist ihr Modelabel »Viva la Noche« in aller Munde. Sogar die Stars reißen sich darum, ihre Kreationen auf den roten Teppichen zu tragen. Vor lauter Arbeit ist ihr Privat- und Liebesleben jedoch jahrelang zu kurz gekommen.

Das ändert sich schlagartig, als sie auf einer Vernissage dem faszinierenden Ronan begegnet. Nach der ersten gemeinsamen Nacht versucht sie zwar, auf Abstand zu ihm zu gehen, doch das ist schwieriger als gedacht: Ronan schafft es immer wieder, sie mit seinem Charme um den kleinen Finger zu wickeln.

Gerade, als sie den Mut fasst, sich ihm zu öffnen, stößt sie auf ein Geheimnis, das ihr Vertrauen in ihn schwer erschüttert – und als wäre das nicht genug, muss sie sich auch noch den Dämonen ihrer eigenen Vergangenheit stellen, wenn ihre Gefühle eine Chance haben sollen.

Über die Autorin

Noma Feye wurde 1975 im Ruhrgebiet geboren, und ist diesem besonderen Landstrich auch immer treu geblieben. Mit dem Schreiben hat sie als Teenager begonnen, nachdem sie schon lange vorher ihre Freunde und Mitschüler als »Geschichtenerzählerin« unterhalten hat. Ihr Anspruch war es schon immer, Geschichten zu schreiben, die sie selbst gerne lesen würde.

Norma Feye

Es lebe die Nacht!

beHEARTBEAT

Digitale Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Songquan Deng | Idutko

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3799-0

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1.

Die Bässe, zu deren energischem Rhythmus die Models den Laufsteg entlangflanierten, waren so laut, dass der Boden bebte. Die Reflexe der Scheinwerfer huschten über die Decke der Halle, und ein beständiges Flimmern von jenseits des Vorhangs ließ das Blitzlichtgewitter der Fotografen erahnen. Applaus brandete auf und ab wie das Rauschen des Meeres, eingebettet in das Raunen von zahlreichen Stimmen.

Viva zog den Vorhang einen Spalt weit zur Seite, um einen Blick hinaus zu erhaschen. In der ersten Reihe konnte sie zahlreiche bekannte Gesichter ausmachen, Schauspieler, Musiker, Modedesigner und noch andere, deren Namen regelmäßig durch die Medien gingen. Alle waren sie gekommen, um ein Auge auf die neue Kollektion von »Viva la Noche« zu werfen. Aktuell präsentierten die Models die Sommermode – weiche, leicht transparente Stoffe in fließenden Formen, kombiniert mit strengen, hochgeschlossenen Schnitten aus Leinen oder Samt. Dunkle, altertümlich anmutende Muster standen in krassem Widerspruch zu hellen, natürlichen Farben, weiße oder schwarze Spitze kontrastierte mit lebhaft frechen Pastelltönen.

Lächelnd wandte sie sich um und ließ den Blick über den Backstage-Bereich schweifen. Überall pulsierte das Leben. Fleißige Helfer schoben Kleiderständer umher, reichten Schuhe von Hand zu Hand, bis diese schließlich die Füße erreichten, für die sie gedacht waren. Mitarbeiter des Caterings huschten mit Getränken umher, überwiegend mit Wasserflaschen, aber Viva entdeckte auch kastenweise Cola Light. Stellwände waren mit Fotoreihen beklebt, die die verschiedenen Make-ups, Frisuren und Kleiderstyles dokumentierten. Viele davon waren bereits mit kreisrunden, roten Aufklebern als »erledigt« markiert, ein klares Zeichen dafür, dass sich die Präsentation dem Ende zuneigte.

»Vivaaa!«

Einen Atemzug lang rang sie mit sich, ob sie lächeln oder genervt die Augen verdrehen sollte.

Dieser gleichzeitig leidende wie bettelnde Tonfall gelang nur einem. Ihrem Assistenten Dennis. Das Lächeln gewann die Oberhand, als sie an ihn dachte. Neunundneunzig Prozent der Zeit, die er für sie arbeitete, war er ein Organisationstalent, Problemlöser, Fragensteller, Kaffeekocher, Entwürfesortierer, Stoffballenschlepper, Anrufbeantworter, Krisenmanager und Presseabwimmler par excellence. Kein Chaos, das er nicht entwirrte, kein Problem, das er nicht in den Griff bekam.

Aber – wie gesagt – nur zu neunundneunzig Prozent.

An Tagen wie diesem neigte er dazu, sich wegen des kleinsten Missgeschicks in ein zeterndes, hilfloses Nervenbündel zu verwandeln. Dann war es, als tauschten sie die Rollen, als bedürfte er vielmehr ihrer Assistenz als umgekehrt.

Dennis’ Stimme drohte zu kippen, und Vivas Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen.

Nein, sie konnte ihm einfach nicht böse sein.

Schwungvoll schlängelte sie sich zwischen Kleiderständern, Klappstühlen, Tischchen, Spiegeln, herumliegenden Schuhkartons und Hutschachteln hindurch, wich den Haarspraywolken der Stylisten ebenso aus wie den Models, die unter den flinken Händen der Make-up-Künstler in eine Art Duldungsstarre verfallen waren. Im Vorbeigehen richtete sie hier einen Kragen, zog da einen Faltenwurf zurecht, zupfte dort eine Fluse von schimmerndem Stoff.

Vivas Lächeln vertiefte sich noch einmal. Hier hatte sie das Gefühl, genau dort zu sein, wo sie hingehörte, konnte spüren, wie das Leben um sie herum pulsierte. In Momenten wie diesem war sie glücklich.

Beschwingten Schrittes erreichte sie Dennis. Ein Blick in sein Gesicht, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Dem paradiesvogelartig schrill gekleideten und geschminkten jungen Mann standen die Tränen in den Augen, und Viva war sich sicher, dass allein die drohende Zerstörung seines perfekten Make-ups ihn daran hinderte, ihnen freien Lauf zu lassen.

Dennis hielt einen glänzenden blauen Schuh in der einen Hand, den dazugehörigen strassbesetzten Stilettoabsatz in der anderen. Wortlos streckte er ihr beides entgegen, wie ein Kind, das erwartete, dass seine Mutter ein zerbrochenes Spielzeug reparierte.

Es kostete Viva nur einen Blick, um zu erkennen, dass der Schuh verloren war.

»Wirf das Ding weg. Der Schuh ist hinüber«, klatschte sie ihrem Assistenten die grausame Wahrheit um die Ohren.

»Aber Anna soll doch …«

Hilflos sah er zu der jungen Frau in Blau und Silber, die neben ihm stand wie ein Storch im Salat, unbegreiflicherweise auf dem verbliebenen Stiletto balancierend, während sie den schuhlosen Fuß unter den vielen Stofflagen ihres Kleides versteckte.

»Ja, Anna sollte …«, erwiderte Viva, während sie in Gedanken gleichzeitig verschiedene Lösungsmöglichkeiten durchspielte. »Und Anna wird auch. Nur eben …«

Sie unterbrach sich, als Anna nun doch das Gleichgewicht verlor und den schuhlosen Fuß auf dem Boden absetzte. Silberner Nagellack schimmerte kurz auf und brachte sie auf eine Idee.

»Ausziehen!«, kommandierte sie und zeigte auf den verbliebenen Stiletto.

Anna und Dennis sahen sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Aber ganz offenbar ließ ihr Gesichtsausdruck keinen Widerspruch zu, denn Anna schüttelte tatsächlich den Schuh vom Fuß.

Viva sicherte sich den ewigen Hass eines Make-up-Artists, als sie kommentarlos einen seiner Flüssig-Eyeliner ergriff, vor Anna auf die Knie fiel und mit schnellen Strichen das Muster des blauen Stoffs auf die Knöchel und Fußrücken des Models malte.

»Was immer du da machst, mach es schnell.« Das war Brigid, Vivas zweite Assistentin, in ihrer unnachahmlich trockenen Art. »Die Abendkleider gehen in zwei Minuten los.«

Viva grub sich aus den Stoffschichten des Rocks hervor, unter die sie halb gekrochen war.

»Das da …« Sie zeigte auf ihr improvisiertes Kunstwerk. »… für alle Kleider, die die Knöchel frei lassen.«

Brigid sah sie perplex an, Dennis machte ein Gesicht, als wäre er kurz vor einem Herzinfarkt, und Anna begann zu kichern.

Brigid bewies wieder einmal, dass sie nicht umsonst Vivas verlängerter Arm war. Nach knapp einer Sekunde, während der sie scheinbar gedankenverloren eine Strähne ihres blonden Haars zwischen den Fingern drehte, schluckte sie ihr Erstaunen herunter, wirbelte auf dem Absatz – der immerhin stolze zehn Zentimeter maß – herum und begann Befehle zu rufen wie auf einem Kasernenhof. Binnen Sekunden hatte sie die Aufmerksamkeit aller Beteiligten, standen einige Models barfuß herum, waren die Visagisten um einige Flüssig-Eyeliner ärmer und krochen eifrige Helfer zwischen gerafften Röcken und bloßen Füßen herum.

Exakt zwei Minuten später führte Anna in einem Traum von Blau und Silber die Präsentation der Abend- und Ballkleider an. Viva glaubte beinahe, hören zu können, wie das Publikum angesichts der kunstvoll bemalten Modelfüße tuschelte und raunte.

»Was für eine Idee«, stöhnte Dennis neben ihr. »Du bist ja völlig wahnsinnig.«

Viva staunte immer wieder, wie leise er sich trotz seiner fast zwei Meter Körpergröße bewegen konnte. Sie hatte ihn beinahe nicht kommen hören. Weil sie wusste, wie stolz er auf diese Eigenschaft war, tat sie ihm den Gefallen und zuckte leicht zusammen. Ehe sie jedoch antworten konnte, stürzte er schon wieder davon, um wie ein aufgescheuchtes Huhn um ein bordeauxfarbenes Chiffonkleid herumzuflattern, an dessen Sitz ihm irgendetwas nicht zu gefallen schien.

Weiter hinten fiel mit einigem Getöse ein Schminkkoffer von einem der Tische, und der bunte Inhalt verteilte sich auf dem Boden. Die Eigentümerin tauchte mit einem entsetzten Quietschen hinterher. Viva hoffte, dass die Musik draußen laut genug gewesen war, um das Missgeschick zu übertönen. So schnell, wie ihr dieser Gedanke gekommen war, verschwand er auch wieder, denn die Modenschau neigte sich dem Ende zu.

Zitternd vor Aufregung stand Viva eine Weile später hinter dem Vorhang, der zum Catwalk führte.

Aus den Lautsprechern drangen die ersten Töne des Intros »ihrer« Hymne. Der große Moment rückte näher. Ihr Moment.

Der Vorhang wurde auseinandergezogen, und zwei Models reichten ihr die Hand. Bildschöne, barfüßige Frauen in eleganten Abendkleidern. Die energiegeladenen Bogenstriche eines bekannten Stargeigers, untermalt von harten, treibenden hundertachtzig Beats pro Minute, verliehen der Arie der Königin der Nacht aus Mozarts »Die Zauberflöte« eine ungeahnte, pulsierende Kraft.

Eingerahmt von ihren Haute-Couture-Kreationen und umgeben von dynamischen Geigenklängen, nahm sie vor Freude strahlend stehende Ovationen entgegen.

***

»Wieder einmal gelang es Viva Auldwin, Chefin des sehr gefragten Modelabels ›Viva la Noche‹, die Fachwelt ebenso wie die geneigten Gäste der Fashion Week in Erstaunen zu versetzen, als sie einen Teil ihrer Models bei der Präsentation ihrer Abend- und Ballgarderobe barfuß gehen ließ. Den Widerspruch zwischen edlen, extravaganten Stoffen und bloßen Füßen unterstrich die innovative Designerin noch zusätzlich, indem sie den Models die Muster der Stoffe auf die Füße malte. Die Zuschauer waren restlos begeistert.

Viva, die ihr Modelabel vor einigen Jahren wortwörtlich aus dem Nichts heraus startete, bewies damit wieder einmal, dass sie immer für eine Überraschung gut ist. Auch in diesem Jahr gelang es ihr, sich stilsicher von der Konkurrenz abzuheben. Dabei blieb sie ihrem persönlichen Stil und Markenzeichen weiterhin treu und ließ auch bei ihrer diesjährigen Kollektion Merkmale einer besonderen Modeepoche einfließen. Waren es im letzten Jahr noch Merkmale des Empire, präsentierte Viva ihren Bewunderern mal mehr, mal weniger dezente Elemente der viktorianischen Mode. Schmale Taillen, schmale Röcke, Spitze und gewagte Anlehnungen an die damals obligatorischen Tournüren dominierten die Präsentation, innovativ verbunden mit leichten, bunten Stoffen, Transparenz, Silber- und Goldglanz.

Bereits im letzten Jahr rissen sich die Stars von Cannes bis Hollywood darum, Vivas Kreationen über die roten Teppiche zu tragen, und die Zeichen stehen gut, dass es dieses Jahr ebenso sein wird.

Erste Stimmen spekulieren schon jetzt, bei welcher Stilepoche sich die junge Designerin die Inspiration für ihre nächste Kollektion holen wird. Welche auch immer es sein mag, sicher ist, ›Viva la Noche‹ wird uns gewiss wieder in Erstaunen versetzen.«

Brigid ließ ihr Tablet sinken, von dem sie den Artikel aus einem der angesagtesten Modeblogs vorgelesen hatte, und strahlte in die Runde. »Alles richtig gemacht, würde ich sagen.«

Dennis lehnte sich in Vivas heiß geliebtem Ohrensessel zurück und nippte an einer Tasse Earl Grey. »Zum Glück.«

Irgendwie klang er verschnupft, stellte Viva fest und überlegte, ob er ihr den spontanen Umsturz seiner sorgfältigen Planung nachtrug.

»Ich hätte fast einen Herzanfall gekriegt«, beschwerte er sich weiter. »Die Presse und die Blogger sind Gott sei Dank positiv darauf angesprungen. Das hätte aber auch ganz anders laufen können.« Verglichen mit seinem schrillen Outfit am Abend der Modenschau vor zwei Tagen sah er heute geradezu dezent aus. Bis auf etwas Kajal, der farblich exakt zu seinem fliederfarbenen Cashmerepullover passte, hatte er komplett auf Make-up verzichtet. Das Glanzgel in seinem extrem kurz gehaltenen schwarzen Haar war an ihm mittlerweile so alltäglich, dass es Viva kaum noch auffiel.

»Die Visagisten wollen übrigens ihre Eyeliner ersetzt haben«, fuhr er fort, und seinem Tonfall war zu entnehmen, dass ihn dieser Umstand zutiefst empörte.

Viva wandte sich von dem Panoramafenster ab, durch das sie die bleigrauen Sturmwolken beobachtet hatte, die sich über London zusammenballten.

»Gib ihnen wieder, was immer ihnen fehlt«, beschloss sie. »Von mir aus ersetze auch gleich den Schminkkoffer, der runtergefallen ist.« Im Vorbeigehen setzte sie Muse, die sie bisher auf dem Arm gehalten hatte, auf Dennis’ Schoß ab. Sie ignorierte seinen protestierenden Aufschrei und goss sich in der Küche ein Glas Wasser ein. Schmunzelnd beobachtete sie, wie Dennis das Angorakaninchen eilig wieder hochhob, doch das flauschige, weiße Fellknäuel hatte bereits Spuren auf seiner tiefschwarzen Edeljeans hinterlassen.

Grummelnd machte sich Dennis daran, die Kaninchenhaare von seiner Hose zu zupfen. Muse genoss unterdessen die Freiheit auf dem Fußboden und hoppelte munter unter den Couchtisch. Niemand störte sich daran. Alle, die in Vivas Loft ein und aus gingen, waren daran gewöhnt, dass die Designerin ihre Kaninchen überall frei herumlaufen ließ. Die Tierchen waren allesamt stubenrein und benutzten artig die aufgestellten Katzenklos.

»Und?« Viva lehnte sich auf die Theke, die die Küche zum Wohnbereich hin begrenzte. »Was sagt die Post?«

Brigid hatte mittlerweile ihr Tablet weggelegt und wühlte sich durch den großen Haufen der täglichen Korrespondenz. »Rechnungen«, gab sie Auskunft und sortierte die Briefe vor sich auf dem Tisch in verschiedene Stapel. »Fanpost, Interviewanfragen – per Post, wie altmodisch –, ein paar Einladungen …«

»Einladungen!«, rief Viva in die Aufzählung hinein. »Vielleicht ist was Spannendes dabei.«

Brigid griff den mit Abstand kleinsten Stapel und blätterte ihn durch. Sie murmelte dabei vor sich hin, und Viva war sich nicht sicher, ob ihre Assistentin gerade Absender vorlas oder fiese Kommentare über die zum Teil extravagant gestalteten Umschläge machte. Bei einem eher schlichten, silbergrauen machte sie halt.

»Steven«, sagte sie nur und verzog das Gesicht. »London.«

Dennis stöhnte gekünstelt auf.

Viva seufzte.

»Was will er?«

»Er stellt seine Fotos aus«, las Brigid die Karte vor. »Mal wieder. Nur für geladene Gäste.«

»Hat er nicht erst vor drei Monaten eine Ausstellung eröffnet?«, fragte Dennis.

»Ja, aber das waren nicht seine Bilder. Das waren die seiner momentanen Frau.«

Viva kam um die Theke herum und ließ sich auf ein freies Stück Couch fallen. Muse nahm Anlauf und landete auf ihrem Schoß, kaum dass sie die Polster berührt hatte.

»Wenn es dieses Mal wieder so langweilig wird …« Sie ließ das Ende des Satzes offen und verzog angewidert das Gesicht.

»Aber du musst hin«, behauptete Brigid. »Wenn du dich da nicht blicken lässt, ist dir Steven monatelang böse. Und in ein paar Wochen haben wir mit ihm das Shooting auf Mallorca.«

Viva sackte resigniert in sich zusammen. Muse nutzte die Gelegenheit, sich knapp unter ihrem Brustbein auf ihren Bauch zu kuscheln. Gedankenverloren ließ sie ihre Finger durch das weiche Fell wandern.

»Warum muss denn bloß der beste Modefotograf, den ich finden konnte, gleichzeitig so eine Diva sein«, beschwerte sie sich.

»… sagt die Frau, die ihr Loft zu einer Kaninchenspielwiese gemacht hat, statt sich wie jeder normale Mensch eine Katze oder einen Hund zu halten«, stichelte Dennis und pulte immer noch weiße Haare von seiner Kleidung.

»Wie lang ist denn meine Galgenfrist?«

»Kurz«, antwortete Brigid knapp. »Nächste Woche Freitag.«

»Das ist ja wirklich nicht mehr lang«, stöhnte Viva und hob Muse vor ihr Gesicht, um ihre Nase an dem weichen Kaninchennäschen zu reiben. Muse sah sie mit großen Knopfaugen an. »Und das, obwohl ich noch keine Idee habe, was ich anziehen soll.«

2.

Es war gar nicht so einfach, sich die Langeweile nicht anmerken zu lassen, wenn man ununterbrochen von Fotografen umzingelt war. Viva war dankbar für die Wassergläser aus dunkelrotem Glas, die groß genug waren, um gelegentlich das gelangweilte Gesicht dahinter zu verstecken, während sie so tat, als nähme sie einen Schluck Wasser.

Dabei war es nicht einmal die Vernissage als solche, die diesen Effekt auf sie hatte. Der Ausstellungsraum allein war schon ein Hingucker, und auch die Fotos, sparsam auf dunkelroten Stellwänden platziert, waren größtenteils jede Aufmerksamkeit wert.

Es war vielmehr der Gastgeber Steven, der die Nerven seiner Gäste strapazierte. Seit einer geschlagenen halben Stunde stand er nun schon auf einem Podest inmitten seiner Werke und hielt eine wortgewaltige Laudatio auf sich und seine Kunst. Es stand außer Frage, dass er als Fotograf ein Ausnahmetalent war, auf seine Redekunst traf das allerdings kein bisschen zu. Er las mit beharrlich monotoner Stimme seine Rede von einem dicken Stapel Karteikarten ab. Die Passagen, bei denen er sich unsicher fühlte, verriet er durch lange Pausen, gefüllt mit »äh«s und »hm«s, während er bei den Teilen, die ihm besonders zu gefallen schienen, schneller und lauter sprach. Dass es ihm selbst in diesen wenigen Momenten gelang, seinen leiernden Ton unverändert beizubehalten, erschien Viva geradezu phänomenal.

Längst hatte sie ihren Platz, der in weiser Voraussicht etwas abseits des Rednerpodests gewesen war, verlassen und wanderte zwischen den Fotos umher. Steven hatte sich als Porträtfotograf versucht, und was dabei herausgekommen war, gefiel Viva sehr. Er spielte mit Kontrasten, inszenierte alltägliche, ungeschminkte Gesichter ganz durchschnittlicher Menschen vor makellosen, stylishen Hintergründen. Umgekehrt setzte er die makellosen, perfekt gestylten Gesichter von Models vor verkommenen, zerfallenen Kulissen in Szene. Das eine oder andere Gesicht erkannte Viva wieder, hatte sie es doch erst letzte Woche während der Fashion Week gesehen.

Viva stieg eine schmale Treppe hinauf und ließ von diesem erhöhten Standort den Blick schweifen. Der Ausstellungsraum der Galerie war einem alten U-Bahnhof nachempfunden.

Baker Street, kam ihr dazu am ehesten in den Sinn. Wie dort fiel auch hier ein Teil der Beleuchtung durch Lichtschächte herein, die bei genauerem Hinsehen keine waren. Die gewölbte Decke war mit einem Muster bedeckt, das Backsteinziegel imitierte, und die freie Fläche zwischen den »Bahnsteigen« war mit glänzenden Fliesen ausgelegt, die tatsächlich den Eindruck vermittelten, auf Schienen hinabzublicken.

Steven sprach immer noch und machte auch keine Anstalten, zu einem Ende zu kommen. Amüsiert bemerkte Viva, dass viele Gäste es ihr mittlerweile gleichtaten und zwischen den ausgestellten Bildern umherflanierten. Nur wenige nervenstarke Zuhörer harrten noch vor dem Podest aus. Für einen Moment überlegte Viva, wie respektlos das gegenüber dem Gastgeber war, doch Steven schien sich daran nicht zu stören. Er war völlig vertieft in die Lobrede auf sich selbst.

Also rang Viva den kurzen Anflug eines schlechten Gewissens nieder und sah sich weiter um. Unwillkürlich wanderte ihre Aufmerksamkeit zu der Abendgarderobe der Anwesenden. Die meisten Gäste entstammten selbst der Londoner Fotografen- und Künstlerszene, weshalb ein extrovertierter Stil schon beinahe zum guten Ton gehörte. Vivas professioneller Blick erkannte einige Prêt-à-porter-Modelle vergangener Kollektionen ihrer Konkurrenz, schrille Outfits und Accessoires, die nur Eigenkreationen sein konnten, einen Mann in einem Kilt mit – Viva schauderte – einem Tartan in Neonfarben. Viel zu viele Möchtegern-Designerjeans im Usedlook, Hoodies und Baggypants, die noch deutlicher fehl am Platze wirkten als der Neonschotte. Dazwischen strenge zwei- oder sogar dreiteilige Anzüge in gedeckten Farben und schlichte, knielange »kleine Schwarze« von der Stange.

Plötzlich fing ein elegantes silbergraues Sakko ihren Blick ein, bot ihr eine Insel der Ruhe inmitten all dieser Modesünden. Ein lose umgelegter anthrazitfarbener Schal verdeckte spielerisch ein gleichfarbiges Hemd. Eine schwarze, schmale Hose, perfekt abgestimmte Schuhe. Viva war hingerissen.

Dann wandte sich der Träger dieser Stiloffenbarung um. Vivas Herz machte einen kleinen Satz.

Warum, war ihr im ersten Moment nicht ganz klar. Er war attraktiv, keine Frage, doch das allein konnte es nicht sein. Sie war regelmäßig von schönen Menschen, Frauen wie Männern, umgeben, das brachte ihr Beruf mit sich, und Viva wähnte sich inzwischen gefeit gegen rein optische Reize. Ihre Neugier war geweckt. Sie verbarg ihr Lächeln in ihrem praktischen roten Wasserglas und begann ihre »Entdeckung« zu beobachten. Äußerlichkeiten zu analysieren, war ebenfalls ein ganz natürlicher Bestandteil ihres Jobs, und was das betraf, hatte er einiges zu bieten. Sein Haar war blond, mit einem Stich ins Rötliche, er trug es kurz und locker nach hinten gestylt. Seiner Haarfarbe zum Trotz wirkte er sonnengebräunt, und zumindest auf die Entfernung entdeckte Viva keine der für Menschen seines Typs charakteristischen Sommersprossen. Seine Augenfarbe konnte sie von ihrem Standort aus ebenfalls nicht genau erkennen, sie sah nur, dass sie keinesfalls dunkel war. Er überragte die meisten Menschen, die um ihn herumstanden. Doch im Gegensatz zu vielen anderen groß gewachsenen Männern, die sie kannte – ihren Assistenten Dennis eingeschlossen –, neigte er offenbar nicht dazu, sich kleiner zu machen und sich zu seinen Mitmenschen hinunterzubeugen. Seine Haltung war geradezu bewundernswert gerade und selbstbewusst.

Als sie an dieser Stelle ihrer Beobachtungen angelangt war, erkannte Viva, was ihr gleich zu Beginn an dem Mann aufgefallen war: So aufrecht und selbstbewusst er sich auch bewegte, etwas an seiner Körpersprache verriet ihr, dass er sich hier alles andere als wohlfühlte. Er hielt eines der großen roten Wassergläser, was ihn von den meisten anderen Gästen abhob, die überwiegend mit Champagnergläsern, Cocktails oder Longdrinks in den Händen herumflanierten. Gelegentlich nippte er daran, und das wirkte jedes Mal wie eine Verlegenheitsgeste.

Viva nahm ihr eigenes Glas zu Hilfe, um ein mitfühlendes Schmunzeln darin zu verstecken. Noch während sie das tat, konnte sie beobachten, dass sie offenbar nicht die Einzige war, die ein gewisses Interesse an dem blonden Fremden hatte. Der Neonschotte war gerade damit beschäftigt, sich unauffällig in seine Nähe zu manövrieren. Zwar langsam, quasi Bild für Bild, aber sein Ziel war offenkundig. Auch das Objekt ihrer Beobachtungen schien das zu bemerken – und trat den Rückzug an. Mit einer gewissen morbiden Faszination verfolgte Viva das Schauspiel. Für jeden Schritt, den der schreiend orangene und giftgrüne Kilt näher rückte, machte das silbergraue Sakko einen Schritt weg. Erst ging es vier Kunstwerke weit so, dann fünf, sechs, schließlich sieben. Nach dem achten Bild war die Stellwand mit dieser Serie zu Ende. Dort blieb der »Beute« nur noch offensichtliche Flucht, was gelinde gesagt peinlich werden konnte, oder Konfrontation. Viva beschloss einzugreifen. Nur weil er bei der Wahl seiner Kleidung einen exorbitant schlechten Geschmack hatte, musste der Neonschotte noch lange kein übler Kerl sein, aber sein Auserwählter machte nicht den Eindruck, als begrüßte er die Aufmerksamkeit.

Viva verließ ihren Beobachtungsposten und schlenderte zum Schauplatz des Geschehens hinüber. Der Neonkilt hatte das Sakko mittlerweile tatsächlich bis zum letzten Bild der Serie vor sich hergetrieben. Noch einmal verbarg Viva mithilfe ihres Glases ein Grinsen, dann stellte sie sich so unauffällig wie möglich zwischen Jäger und Beute und gab sich den Anschein, das Bild vor sich interessiert zu betrachten. Tatsächlich war es gar nicht übel. Es gehörte zu einer Serie, die Steven Tête-à-Tête getauft hatte. Alle Bilder darin zeigten Alltagsgesichter und aufgestylte, ganz offensichtlich am Computer nachbearbeitete Modelschönheiten zusammen und in unmittelbarer Interaktion. Der besondere Kniff dabei war: Nur dem geübten Auge fiel auf, dass beide Gesichter derselben Frau oder demselben Mann gehörten. Unwillkürlich fragte sich Viva, ob der sonst äußerst oberflächliche Steven mit dieser Serie womöglich eine versteckte Kritik am trügerischen schönen Schein der Branche ausdrücken wollte. Sie schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf ihre Rettungsmission.

»Ich kenne sie«, verkündete Viva, ohne den Blick von dem Foto abzuwenden.

Sie meinte zu spüren, wie sie von rechts ein verwunderter Blick traf. »Wie bitte?«

»Das Model.« Viva deutete auf das Foto. »Ich habe schon mit ihr gearbeitet. Ihr Name ist Rosa, und sie ist in ihrer Heimat Russland ein aufstrebender Stern der Szene.«

Irgendwie erwartete sie darauf eine der üblichen Plattitüden wie »Ach, tatsächlich?« oder »Wie interessant«, aber sie wurde angenehm überrascht.

»Sie hat ein ausdrucksstarkes Gesicht«, stellte der Mann neben ihr fest. »Besonders für ein Mädchen ihres Alters. Wie alt ist sie? Siebzehn? Achtzehn vielleicht?«

Aus dem Augenwinkel beobachtete Viva, wie der Neonschotte enttäuscht die Mundwinkel hängen ließ und sich in Richtung Bar absetzte.

»Sechzehn«, beantwortete sie dann die Frage.

»Ungeschminkt gefällt sie mir besser.«

Erstaunt blickte sie sich nach ihrem Gesprächspartner um und musste dabei den Kopf ein Stück in den Nacken legen, um ihn ansehen zu können. Von Nahem wirkte er noch viel größer. »Sie erkennen sie beide Male?«, fragte sie überrascht.

Er sah zu ihr herunter, und ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln.

»War nicht ganz einfach«, gab er zu. »Man muss schon sehr genau hinsehen.«

Seine Augen waren silbergrau, stellte Viva fest. Sie hatten exakt jene durchdringend intensive Farbe, die ihr, selbst nach so vielen Jahren noch, einen schmerzhaften Stich versetzte. Sie drängte die Erinnerung zurück und zwang sich zu einem Lächeln.

»Ich wage zu behaupten, dass Sie mit dieser Erkenntnis einer von sehr wenigen hier im Raum sind.«

Er sah sich unwillkürlich um und nippte dabei an seinem Wasserglas. Diesmal wirkte die Geste überhaupt nicht mehr verlegen, sondern sichtlich entspannt. Als er sich wieder zu ihr umwandte, kam er ihr so nahe, dass sie eine Note von Moschus und Zedernholz an ihm riechen konnte. Eine Welle von Erinnerungen, ausgelöst von diesem Duft, den sie so lange nicht mehr gerochen hatte, drohte sie zu überwältigen. Viva verspürte den dringenden Wunsch, auf dem Absatz kehrtzumachen und zu fliehen.

Seine Stimme hielt sie zurück. »Sind Sie auch Model?«

Stumm ermahnte sie sich, sich gefälligst zusammenzureißen, atmete tief durch und erkundigte sich dann: »Wie kommen Sie darauf?«

Wieder überraschte er sie positiv, indem er auf die üblichen Hinweise auf ihr Äußeres verzichtete. »Sie sagten, dass Sie schon mit ihr gearbeitet haben. Da war die Idee doch hoffentlich nicht allzu abwegig, dass Sie ebenfalls Model sind?«

Viva schmunzelte. Sie mochte die Art, wie er sich ausdrückte. »Nein, um Himmels willen«, wehrte sie ab. »Das wäre nichts für mich. Mit den Kameras käme ich noch klar, aber auf dem Catwalk würde ich mir in High Heels bei den ersten Schritten sämtliche Knochen brechen.«

Unwillkürlich wanderte sein Blick an ihr herunter zu ihren Füßen, die tatsächlich in flachen, silbernen Ballerinas steckten. »Und was machen Sie dann in der Modebranche?«

»Ich bin Designerin. Mein Label heißt Viva la Noche. Vielleicht haben Sie schon davon gehört?«

»Bedaure …« Er zuckte mit den Schultern und nippte – diesmal wieder sichtlich verlegen – an seinem Glas. »… das sagt mir leider nichts.«

»Oh.« Viva war erstaunt. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Ein weiterer Punkt, mit dem Sie hier einer von wenigen sein dürften.«

»Ich hoffe, das tragen Sie mir nicht nach?« Er deutete einmal in die Runde. »Das alles hier ist nicht unbedingt meine Welt.«

Den Eindruck gewann Viva langsam auch. »Was hat Sie denn hierher verschlagen?«

»Ich vertrete meinen Partner, den Steven eigentlich eingeladen hatte. Leider ist er beruflich verhindert.«

»Geschäftspartner«, fügte er nach einer kurzen Pause erklärend hinzu. »Wir betreiben eine Kanzlei zusammen.«

Viva unterdrückte wieder einmal ein Schmunzeln. »Ein Anwalt also. Das überrascht mich doch etwas. Danach sehen Sie ehrlich gesagt überhaupt nicht aus.«

Er sah an sich hinunter und gab ein leises Schnauben von sich, von dem Viva nicht sagen konnte, ob es amüsiert, verlegen oder einfach nur schicksalsergeben klang. »Das verdanke ich genauso meinem Partner Braden wie mein Hiersein. Er hielt es für nötig, mich angemessen einzukleiden, wie er es nannte.«

Ungeniert nahm Viva noch einmal sein Outfit in Augenschein. »Ihr Partner hat Geschmack und Stilgefühl«, stellte sie nach eingehender Betrachtung fest.

Ihr Gegenüber grinste. Es verlieh seinem Gesicht etwas Jungenhaftes. »Wenn Sie das sagen, werde ich Ihrer Expertise nicht widersprechen. Mode ist nicht mein Ding, ich mag es lieber praktisch und unkompliziert.« Fasziniert betrachtete Viva die kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln, die verrieten, dass er wohl doch etwas älter war, als sie ihn eingeschätzt hatte. Jetzt, von Nahem, wirkte er wie Anfang dreißig.

Das Leben konnte wirklich ironisch sein, schoss es ihr durch den Kopf. Da stand ein Mann vor ihr, der so umwerfend elegant aussah, dass sie sich durch ihn ernsthaft inspiriert fühlte, für die nächste Saison eine Herrenkollektion zu planen. Und dann gab er ganz unumwunden zu, dass er sich nicht für Mode interessierte.

»Ach, wie unhöflich von mir«, riss er sie aus ihren Gedanken. Für einen Moment irritiert sah sie auf seine ausgestreckte Hand. »Ronan Maynard.«

»Viva.«

Seine Finger schlossen sich um ihre, und er deutete auf herzerwärmend altmodische Art eine Verbeugung an. »Sehr erfreut.«

Im Hintergrund redete Steven immer noch. Wie lange dauerte seine Selbstbeweihräucherung inzwischen schon? Viva konnte es nicht sagen. Eine Armbanduhr trug sie aus Prinzip nicht, und ihr Smartphone aus der Tasche holen wollte sie auch nicht.

Als hätte er ihre Gedanken erraten, wanderte Ronans Blick an ihr vorbei zum Rednerpodest hinüber. Was er dabei dachte, stand ihm unübersehbar ins Gesicht geschrieben.

»Nachdem Sie so überaus ehrlich waren, ausgerechnet einer Designerin ins Gesicht zu sagen, dass Mode Sie nicht interessiert, werde ich mir daran ein Beispiel nehmen und ebenfalls ehrlich sein.« Mit dieser Ankündigung hatte sie augenblicklich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Steven ist zwar ein schwieriger, aber trotzdem ein ungeheuer netter Kerl. Als Redner taugt er jedoch gar nichts.«

Ronan verstand die Andeutung sofort. »Club, Bar oder Pub?«

»Gerne in einen Pub.«

Als Ronan ihr am Eingang der Galerie galant in ihren Mantel half, erntete sie einen vernichtenden Blick vom Neonschotten.

***

»Ich glaube, wenn wir jetzt nicht langsam gehen, fegt uns der Wirt mitsamt dem Müll vor die Tür«, stellte Ronan sichtlich amüsiert fest.

Viva sah auf die Uhr, die über der Theke hing. Es war wenige Minuten vor eins, und der ältere Mann, der hinter dem Tresen aufräumte, warf seinen letzten Gästen bereits auffordernde Blicke zu.

»Dann lass uns gehen«, meinte sie. »Gönnen wir dem guten Mann seinen Feierabend.«

»Soll ich dich nach Hause bringen?«, erkundigte er sich draußen vor dem Pub.

Viva lächelte. »Die Nacht ist noch jung«, gab sie zu bedenken, »und müde bin ich auch noch nicht.«

Sie bemerkte, wie er zögerte, ehe er sagte: »Ich wohne hier ganz in der Nähe. Lust auf ein weiteres Glas Wasser bei mir?«

Viva lachte. Den ganzen Abend über hatte er sie geneckt, dass sie nichts außer Wasser getrunken hatte. »Schmeckt es genauso gut wie das im Pub?«, erkundigte sie sich.

»Ich glaube schon.«

»Dann kann ich mir wohl noch ein Glas erlauben.«

Ronans Apartment lag im obersten Stock eines eleganten Neubaukomplexes in Greenwich. Es war nicht besonders groß, und die Einrichtung zeigte deutlich, dass er es nicht nur in puncto Mode praktisch und unkompliziert mochte. Dem dezenten, sparsam verteilten Mobiliar sah man erst auf den zweiten Blick an, dass es teuer gewesen sein musste. Die Wände waren in schlichtem Weiß gehalten und trugen nur wenige Bilder, allesamt kunstvolle Schwarz-Weiß-Nachtaufnahmen der Stadt. Helles Parkett bedeckte die Böden, Teppiche suchte Viva vergeblich. Im Wohnraum gab eine große Fensterfront den Blick über eine Dachterrasse auf die Themse und die Isle of Dogs frei. Spätestens diese Aussicht strafte das gepflegte Understatement der Wohnung Lügen. Viva wusste genau, dass ein Apartment in dieser Lage mit einer geradezu verschwenderisch großen Dachterrasse und einem solchen Blick ein Vermögen kostete. Bei aller Bescheidenheit, die Ronan an den Tag legte, war er ganz offensichtlich erfolgreicher und vermögender, als es den Anschein gehabt hatte.

Ronan streckte ihr die Hand hin, um ihr den Mantel abzunehmen.

»Dein Glas Wasser kommt auch gleich«, versprach er dabei.

Neugierig ging sie zu der Fensterfront hinüber und spähte nach draußen.

Ronan hielt auf halbem Weg zur Garderobe inne. »Wenn du rausgehen möchtest, lasse ich dir deinen Mantel hier«, sagte er dabei. »Um diese Jahreszeit ist es da draußen ziemlich kühl und windig.«

»Ach nein, ich bleibe lieber auf der warmen Seite des Fensters.«

Sie hörte ihn in der Küche rascheln und werkeln, dann spürte sie, wie er hinter sie trat. Fast im gleichen Moment reichte er ihr das gewünschte Glas Wasser.

»Toller Ausblick«, lobte sie.

»Finde ich auch.«

Ein bestimmter Ton in seiner Stimme verriet ihr, dass er keineswegs die hell erleuchteten Schiffe auf der Themse oder das Lichtermeer der Stadt meinte. Sie sah zur Seite und begegnete dem Blick seiner grauen Augen. Wieder spürte sie für einen kurzen Moment diesen schmerzhaften Stich in ihrem Herzen, dann realisierte sie, dass er offenbar sehr ausgiebig ihr Profil studiert hatte, während ihre Aufmerksamkeit von dem Panorama draußen gefesselt gewesen war. Unwillkürlich musste sie lächeln.

»Soso«, meinte sie neckend und drehte sich zu ihm um. »Eine Aussicht für fast eine Million Pfund, und du hast schon das Interesse daran verloren?«

»Keineswegs.« Die Fältchen um seine Augen erschienen, als er lächelte. »Aber die Aussicht kann ich jeden Tag genießen. Deinen Anblick habe ich heute Abend dagegen ganz exklusiv.«

Viva unterdrückte ein belustigtes Kichern. Jetzt trug er doch ein wenig zu dick auf. Ein Blick zur Seite in sein Gesicht machte ihr aber schnell klar, dass er nicht etwa übertrieben hatte, um ihr zu schmeicheln, sondern es tatsächlich so meinte.

»Viva exklusiv«, versuchte sie einen Scherz, um ihre Verlegenheit zu überspielen. »Klingt wie eine gelungene Schlagzeile.«

Verdammt, was war denn nur los mit ihr? Sie war gewöhnlich alles andere als schüchtern, und es war auch nicht das erste Mal, dass sie einen attraktiven Mann in seine Wohnung begleitete. Was war an Ronan anders, das sie so nervös machte? Es konnten doch nicht nur seine Augen sein, deren Anblick so viele Erinnerungen in ihr wachriefen. Oder doch?

Sie drehte sich zu ihm um, und er schien im selben Moment die gleiche Idee gehabt zu haben. Plötzlich standen sie so nah voreinander, dass Viva die Wärme seines Körpers spüren konnte. Gleichzeitig stieg ihr erneut sein Duft nach Zedernholz und Moschus in die Nase. Ihr plötzlicher Impuls zurückzuweichen wurde dadurch unterbunden, dass er ihr in dem Moment die Hände um die Taille legte. Sie hoffte, dass er ihr Zögern nicht bemerkt hatte.

Lächelnd sah er zu ihr herunter. »Viva exklusiv, das klingt gut.« Sein Gesicht näherte sich ihrem, sein Atem strich warm über ihre Wange. Sie spürte, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufrichteten und ihr ein wohliger Schauer über den Rücken rann. Langsam erhob sie sich auf die Zehenspitzen, um ihm entgegenzukommen. Sein Kuss war sanft, zurückhaltend, mehr eine Frage als eine Aufforderung. Viva gefiel das. Sie schaffte es irgendwie, das Wasserglas unfallfrei wegzustellen, und schlang die Arme um seinen Hals. Das kurze, blonde Haar war weich unter ihren Händen, und sie grub ihre Finger hinein. Ronan verstand offenbar das Signal, denn die Berührung seiner Lippen auf ihren wurde kräftiger und leidenschaftlicher. Seine Hände wanderten von ihrer Taille ihren Rücken hinauf, fanden den Reißverschluss ihres Kleides und zogen ihn auf. Das schulterfreie kleine Schwarze rutschte widerstandslos auf den Boden. Ronan unterbrach den langen Kuss, rang kurz nach Atem und machte einen kleinen Schritt zurück. Mit einem Lächeln betrachtete er Viva, die jetzt nur noch in leichten, transparenten Dessous vor ihm stand. Er umrundete sie langsam, nahm sie genussvoll in Augenschein, ohne dabei seine Hände von ihrem Körper zu lösen. Sie wusste nicht zu sagen, was prickelnder war, die warme Berührung seiner Finger oder sein Blick auf ihrer Haut. Als er direkt hinter ihr stand, schlang er die Arme um sie, zog sie an sich und senkte einen leidenschaftlichen Kuss in ihre Halsbeuge. Geschickt drehte sie sich in seiner Umarmung um, schob ihre Hände zwischen sich und ihn und ließ sie langsam an ihm hinunterwandern. Sie schob sein Hemd hoch, das er sich bereitwillig abstreifen ließ, und betrachtete nun ihrerseits, was sich ihrem Blick darbot. Er war blendend in Form, muskulös und gut trainiert, aber ohne die übertriebene Definition, die im Moment bei vielen Männern das angestrebte Ideal war. Genau so mochte sie es. Lächelnd beobachtete sie den Schauer, der ihn überlief, als sie ihre Finger über seine Brust, seinen Bauch und noch tiefer wandern ließ.

Ronan machte so unerwartet einen Schritt nach vorn, dass sie das Gleichgewicht verlor und mit einem überraschten Aufschrei rückwärts auf seiner Couch landete. Bis sie sich gefangen und ein amüsiertes Kichern unterdrückt hatte, hatte er sich seiner restlichen Kleidung entledigt und stand über ihr. Ihr blieb nur ein kurzer Moment, den Anblick zu genießen, dann beugte er sich zu ihr herunter. Seine Hand glitt in ihren Rücken, um dort geschickt den BH zu öffnen. Mit der gleichen Leichtigkeit streifte er auch ihren Slip ab. Er schlang den Arm um ihre Hüfte, zog sie unter sich.

Er war ein leidenschaftlicher und aufmerksamer Liebhaber. Seine Berührungen und Bewegungen waren sanft und fordernd zugleich und lösten die aufregendsten Gefühle in ihr aus. Spielerisch neckte er sie mit Lippen und Fingern, und das verschmitzte Lächeln, das auf seinem Gesicht lag, vertiefte sich mit jeder Reaktion, die er ihr entlockte.

Viva hatte das Gefühl, seine Kraft bis in die letzte Faser ihres Körpers zu spüren. Sie schlang die Beine um seine Hüften, grub ihre Finger in seinen Rücken und genoss seine Nähe. Irgendwann begann sich ihr klares Denken aufzulösen. Alles in ihr fokussierte sich auf jenen Ort, wo sie verbunden waren, und auf den Moment, als sie gleichzeitig zum Höhepunkt kamen.

Als er sich über ihr aufbäumte, zog Viva ihn zu sich herunter und versenkte ihre Zähne in seinem Hals.

***

Es klopfte an der Tür zur Bibliothek. Obwohl das Geräusch leise und diskret war, zuckte Genoveva zusammen, so sehr war sie in das kleine Buch mit französischer Lyrik vertieft gewesen.

»Ja, bitte?«

Die Tür wurde einen Spalt weit aufgeschoben, und Luise, eines der Hausmädchen, schaute herein.

»Fräulein Genoveva, es wird Zeit«, verkündete sie in ihrer freundlichen, zurückhaltenden Art. »Ihre Mutter schickt mich, damit ich Ihnen bei den Vorbereitungen für den Empfang helfe.«

Genoveva seufzte.

Draußen prasselte der Regen gegen die Fensterläden und machte deutlich, dass sich der Winter noch nicht geschlagen gab.

Nichtsdestotrotz gab Karl Glaubinger, ein enger Geschäftsfreund ihres Vaters und außerdem ein Nachbar der Familie, an diesem Abend einen Frühlings-Empfang.

Genoveva sah bedauernd auf das Büchlein in ihren Händen. Wie gerne hätte sie den Abend lesend vor dem Kamin verbracht. Dann dachte sie an Gertrud, die Tochter der Glaubingers und ihre langjährige Freundin. Gestern erst hatte diese ihr eine kurze Nachricht geschickt, in der sie verkündete, wie sehr sie sich auf Genovevas Besuch freue. Außerdem war da auch noch das wunderschöne Kleid, das ihr Vater für sie zu diesem Anlass hatte anfertigen lassen. Sie hatte also zwei sehr gute Gründe, den Abend im Nachbarhaus zu verbringen.

Sie stellte den Gedichtband weg und ging mit Luise hinauf in ihr Zimmer, wo die Zofe augenblicklich mit der langen, aufwendigen Ankleideprozedur begann. Zuerst half sie Genoveva, das Panier, den Reifrock, anzulegen. Es war nach der neusten Mode geformt, was bedeutete, dass es nach vorn und hinten flacher war als zu den Seiten. Im ersten Moment fühlte sich das sehr seltsam an, stellte Genoveva fest, doch es sah ausgesprochen hübsch aus, besonders, nachdem Luise den himmelblauen Unterrock darübergelegt hatte. Der Stecker, ein üppig verziertes, dreieckiges Stück Stoff, das mit feinen Nadeln vorn auf das Korsett gesteckt wurde, war aus Samt, einen Hauch dunkler als der Seidensatin des Unterrocks und großzügig mit silbernen Blumen bestickt. Luise stach sie zweimal in die Seite, ehe der Stecker an seinem Platz saß. Der Seidenbrokat der Robe raschelte leise, als Luise Genoveva hineinhalf und begann, die großen Schleifen zu binden, die die Robe vorn zusammenhielten. Genoveva trat vor den Spiegel und betrachtete sich eingehend. Ihr Vater hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Die Robe war nach der neusten französischen Mode geschnitten. In den ebenfalls himmelblauen Seidenbrokat waren dunkelblaue und weiße Blumenmotive eingewebt, die selbst im spärlichen Licht der Kerzen in ihrem Zimmer schimmerten.

Ihr Vater war der wohlhabendste und erfolgreichste Tuch- und Stoffhändler Wiens. Seine luxuriösen, hochwertigen Güter waren bis in die Palais der Adelsfamilien und sogar bis ins Schloss Belvedere gefragt. Zu Anlässen wie diesem ließ er es sich nicht nehmen, seine Tochter in die schönsten Stoffe zu hüllen, die sein Lager zu bieten hatte. Genoveva hatte sich schon früh an die Aufmerksamkeit gewöhnt, die ihr aus diesem Grunde bei allen möglichen gesellschaftlichen Ereignissen zuteilwurde, und hatte schnell begriffen, dass diese nicht ihr als Person, sondern lediglich den Stoffen galt, die sie zur Schau trug. Sorgsam zupfte sie einen der ellenbogenlangen, aufwendig gerafften Ärmel zurecht und ließ sich dann vor ihrem Toilettentisch nieder. Die Prozedur des Frisierens und Schminkens hasste sie. Luise wusste das und beeilte sich. Mit flinken Fingern ordnete sie die dunkelbraunen Haare zu vielen, eng am Kopf liegenden Löckchen. Als sie nach dem kleinen Blasebalg griff, mit dem das Puder auf die Frisur aufgetragen wurde, hob Genoveva abwehrend die Hand. Es gefiel ihr nicht, ihre natürliche Haarfarbe unter weißem Mehlstaub zu verstecken. Luise seufzte ergeben und griff stattdessen zur Puderdose. Wenn Genoveva etwas noch mehr hasste als Puder in ihren Haaren, dann war es Puder in ihrem Gesicht. Doch dieses Mal ließ sie ihre Zofe gewähren. Ungeschminkt zum Empfang zu erscheinen, war undenkbar. Eifrig wedelte Luise mit der Puderquaste in ihrem Gesicht herum, verteilte großzügig Rouge auf den Wangen, betonte die Lippen mit der gleichen Farbe und zog Genovevas Augenbrauen nach. Eine halbmondförmige »Fliege«, ein Schönheitspflästerchen aus schwarzer Seide, das Luise geschickt zwischen Mundwinkel und Nasenflügel platzierte, vervollständigte Genovevas Erscheinung.

Als sie ins Erdgeschoss hinunterstieg, erwarteten ihre Eltern sie bereits am Fuß der Treppe.

Auch ihre Mutter trug einen Traum von einem Kleid aus den feinsten Stoffen, mit denen ihr Vater handelte, eine Robe aus rosa Seidenbrokat mit violetten und weißen Blumen und weißen Satinbändern. Ihr Vater selbst machte die Launen der Mode nicht mit. Zwar war auch er in teure Stoffe gekleidet, doch sowohl Rock als auch Kniehosen waren von einem dezenten, unauffälligen Braun. Lediglich die Weste schimmerte golden und war aufwendig bestickt.

Genoveva sah die Anspannung unter dem Lächeln ihrer Mutter und dann die verkniffenen Mundwinkel ihres Vaters. Sie erkannte sofort die Anzeichen. Ausgerechnet an diesem Abend hatte ihr Vater einen schlechten Tag. Im Näherkommen nahm sie wahr, wie er unter dem gerafften Ärmel der Robe den Arm ihrer Mutter so fest umklammerte, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Er musste ihrer Mutter damit schlimme Schmerzen bereiten, doch die ließ es sich nicht anmerken.

»Du bist spät dran«, tadelte ihr Vater, kaum dass sie das Ende der Treppe erreicht hatte. »Wir wollen die Glaubingers doch nicht brüskieren, indem wir zu spät erscheinen, oder?«

»Natürlich nicht, Vater«, murmelte Genoveva und schlug die Augen nieder. »Entschuldigung.«

Oskar Leitner nickte zufrieden und ließ den Arm seiner Gattin los. Genoveva konnte sehen, wie sich die Haltung ihrer Mutter augenblicklich entspannte. Mit einigem Abstand folgte sie ihren Eltern zur Hintertür.

Zwischen den Häusern der Glaubingers und der Leitners gab es eine breite, überdachte Durchfahrt, fast schon ein kleiner Hof, durch den die Lastkarren bis ins Stofflager fahren konnten. Der Wetterschutz kam der Familie an diesem Abend zugute. Während alle anderen Gäste mit Kutschen vorfahren und durch den strömenden Regen zum Haus laufen mussten, gelangten Genoveva und ihre Eltern trockenen Fußes zum Empfang.

Im Foyer des Glaubinger-Hauses drängten sich bereits so viele Gäste, dass niemandem auffiel, dass sich die Familie Leitner aus einem Nebengang unter sie mischte.

3.

Viva suchte ihre Sachen zusammen. Sie tat es leise, obwohl sie wusste, dass Ronan noch lange nicht aufwachen würde. Nach ihrer leidenschaftlichen Begegnung – und besonders nach deren etwas speziellem Ende – würde er noch eine ganze Weile tief und fest schlafen. Sie schlüpfte in ihre Wäsche und in ihr Kleid. Mit der Routine jahrelanger Übung schloss sie den Reißverschluss, ohne sich dafür übermäßig verrenken zu müssen, und glitt in ihre silbernen Ballerinas. In Ronans Bad benutzte sie feuchtes Toilettenpapier, um die Spuren zu beseitigen, die seine Küsse an ihrem Make-up hinterlassen hatten. Den Spiegel nahm sie dabei nicht zu Hilfe, sie sah sich darin sowieso nicht. Aber auch hier hatte jahrelange Übung dazu geführt, dass sie zurechtkam. Als sie das Bad wieder verließ und mit den Fingern ihre dunklen Locken entwirrte, war sie sich ziemlich sicher, dass ihr erotisches Abenteuer ihr nicht mehr ins Gesicht geschrieben stand. Schnell drehte sie die Haare zu einem Knoten zusammen und zog ein Haarband darüber.

Ehe sie das Apartment verließ, ging sie noch einmal in den Wohnraum. Ronan lag unverändert auf der Couch. Sie kniete sich vor ihn und untersuchte die beiden kleinen, aber tiefen Wunden an seinem Hals. Sie hatten sich noch nicht ganz geschlossen, ein wenig Blut sickerte noch heraus. Sie ritzte sich die Fingerkuppe an ihrem Fangzahn auf und strich ihr Blut über die Bissspuren. Dadurch würden sie verheilt sein, bis er aufwachte. Für einen Moment blieb sie noch vor der Couch stehen und betrachtete das Bild, das sich ihr bot.

Jetzt, bei näherem Hinsehen, entdeckte sie doch einige Sommersprossen in seinem Gesicht. Als eine schmale Reihe winziger Sprenkel zogen sie sich über seinen Nasenrücken, unter den Augen entlang bis zu den hohen Wangenknochen und auch knapp unter dem Haaransatz über die Stirn. Das rotblonde Haar war zerzaust und verlieh ihm einen verwegenen Ausdruck. Er lächelte leicht im Schlaf. Viva ließ den Blick weiter schweifen. Er hatte eine ausnehmend gute Figur, eher athletisch als muskulös. Als sie mit ihrer Inspektion auf Hüfthöhe angelangt war, wandte sie sich lächelnd ab.

Im Vorbeigehen hob sie sein Hemd auf und schnupperte daran. Nein, der Duft nach Moschus und Zedernholz war keine Einbildung gewesen. Schnell legte sie das Hemd wieder weg, ehe der Schmerz zurückkommen konnte.

An der Wohnungstür warf sie einen letzten Blick auf die schlafende Gestalt, wandte sich dann aber entschlossen ab. Auch wenn irgendetwas an ihm anders war – seine Augen, die so vertraut schienen? Dieser Duft? –, sie hatte ihre festen Regeln, an die sie sich eisern hielt.

Sie stieg in den Aufzug und fuhr hinunter ins Foyer. Der Portier grüßte sie mit professioneller Gelassenheit. Gleich darauf verließ sie das Haus und machte sich auf die Suche nach einem Taxi.

Viva bummelte die menschenleere Straße entlang und genoss die Ruhe, die um diese Zeit, kurz vor Sonnenaufgang, über diesem Teil der Stadt lag. In den Bäumen und auf den Dächern begannen die Vögel zu zwitschern, und nur ganz vereinzelt begegnete sie anderen Fußgängern. Nicht mehr lange, und das pulsierende Leben, das London ausmachte, würde zurückkehren.

Über Nacht war das Wetter umgeschlagen. Eine Windböe fegte durch eine Seitengasse und trieb ihr feinen Nieselregen ins Gesicht. Sie begann ihren Mantel zuzuknöpfen. Das dünne Kleidungsstück sah zwar elegant aus, als Wetterschutz erwies es sich allerdings als völlig ungeeignet. In diesem Moment war sie froh, dass sie nicht frieren konnte. Trotzdem beschleunigte sie ihre Schritte.

Etwas rammte ihren Rücken und brachte sie ins Taumeln. Jemand packte sie und zerrte sie in eine schmale Hofeinfahrt. Eine Hand presste sich auf ihren Mund, und im nächsten Moment spürte sie einen kalten Gegenstand an ihrem Hals.

»Ein Mucks, und ich schlitz dir die Kehle auf«, raunte eine Stimme dicht an ihrem Ohr.

Eine Gestalt kam in ihr Blickfeld, ein Mann, nicht besonders groß, die Kapuze seines Hoodies tief ins Gesicht gezogen. »Ganz schön feiner Zwirn«, sagte der Typ zu seinem Komplizen, der Viva so fest hielt, als wollte er ihr die Rippen zerquetschen. Dabei betastete er den Stoff ihres Mantels, und mit einem anzüglichen Grinsen, das unter der Kapuze mehr zu erahnen als zu sehen war, ihre Brust gleich mit.

»Durchsuch ihre Taschen.« Die Stimme dicht an ihrem Ohr klang aufgeregt und leicht atemlos.

Der Typ vor ihr gehorchte und durchforschte ihre Sachen. Schnell hatte er ihr Smartphone und ihr Portemonnaie gefunden, aber das reichte ihm offenbar nicht. Gierig betastete er ihren Körper, das schmutzige Grinsen nun offensichtlich. Mit einem Ruck riss er ihren Mantel auf, die Knöpfe sprangen klimpernd in alle Richtungen. Dann packte er ihr Kleid und versuchte es herunterzustreifen. Der Kerl, der sie festhielt, atmete schwer in ihr Ohr.

»Willst du dich denn gar nicht wehren, Süße?«, flüsterte er und presste ihr seine Erektion in den Rücken. »Ich steh drauf, wenn ihr euch wehrt, weißt du?«

»Vielleicht gefällt’s ihr ja«, meinte der andere Typ.

Viva atmete ein, soweit der harte Griff um ihren Körper es zuließ – und explodierte.

Mit einem Aufschrei sprengte sie die Umklammerung und spürte, wie der Kerl versuchte, ihr das Messer über die Kehle zu ziehen. Die Klinge grub sich in ihre Haut, ehe sie ausweichen konnte. Der Schmerz machte sie wütend. Sie fuhr herum und stieß den Kerl mit aller Kraft von sich fort gegen die Wand. Er ging mit einem Keuchen zu Boden.

Der zweite Typ war vollkommen überrascht. Als sich Viva zu ihm umwandte, stand er noch wie angewurzelt da und gaffte sie mit großen Augen an. Sie rammte ihm die Faust auf den Kehlkopf. Augenblicklich ging er röchelnd und würgend zu Boden.

»Schlampe!« Der andere Mann hatte sich wieder aufgerafft und stürzte sich auf sie. Irgendwie hatte er es geschafft, das Messer nicht zu verlieren, und versuchte auf sie einzustechen. Viva wich geschickt aus, blockte den Arm mit der Waffe und stieß dem Kerl die Faust in das weiche, empfindliche Bauchgewebe unterhalb der Rippen. Als er nach Luft rang, verdrehte sie ihm den Arm mit der Waffe, bis das Messer klimpernd zu Boden fiel. Noch in der gleichen Bewegung zwang sie ihren Angreifer auf die Knie, und als er vor ihr kauerte, schmetterte sie ihm den Ellenbogen in den Nacken. Er fiel um wie ein nasser Sack, sein Gesicht klatschte hörbar auf den Asphalt.

Viva sah auf die beiden reglosen Gestalten zu ihren Füßen hinunter und fluchte. In Gedanken ging sie die möglichen Konsequenzen dieses Überfalls durch, angefangen von den polizeilichen Ermittlungen bis hin zur Reaktion der Regenbogenpresse, die sicher nicht lockerlassen würde, bis sie herausgefunden hatte, warum eine Modedesignerin kurz vor Morgengrauen mutterseelenallein in einem fremden Stadtteil unterwegs gewesen, überfallen worden und dann auch noch in der Lage gewesen war, sich erfolgreich gegen zwei Angreifer zu verteidigen.

Nein, entschied sie, das konnte sie nicht gebrauchen.

Sie begann ihre Spuren zu verwischen.

***

»Genoveva, mein Kind!«

Sie musste sich zwingen, nicht zusammenzuzucken. Die Stimme ihres Vaters klang ganz anders als noch vor Kurzem zu Hause. Jetzt war sie entspannt, freundlich, fast liebenswürdig. »Ich möchte dir meine Geschäftspartner aus Salzburg vorstellen, Herrn Viktor Haas und seinen Sohn Peter.« Stolz schwang in seiner Stimme mit, als er sich zu den beiden umwandte: »Meine Herren: meine Tochter Genoveva.«

Sie sank in einen angemessenen Knicks und betrachtete die Geschäftspartner ihres Vaters unter gesenkten Wimpern hervor. Viktor Haas war ungefähr im Alter ihres Vaters, nicht besonders groß und leicht dicklich. Er war in einen gut sitzenden, grauen Rock und ebensolche Kniehosen gekleidet, die dunkle Farbe kaschierte geschickt seine unvorteilhafte Körperfülle. Seine teure Perücke sah eindeutig so aus, als sollte sie das schwindende Haar ihres Besitzers verbergen. Peter Haas war jünger und größer, aber unübersehbar Viktors Sohn. Er hatte die gleichen hellen Augen und die gleiche scharfrückige Nase, allerdings fehlten ihm – noch – die Pausbacken und das Doppelkinn. Rock und Kniehose trug er in hellem Gelb, darunter eine blaue Weste. Dem Puder, mit dem seine sorgfältig gelegte Frisur bedeckt war, war offenbar ebenfalls ein Blauton zugemischt, was einen eigentümlichen Kontrast ergab.

»Fräulein Leitner, es ist mir eine Ehre«, verkündete Viktor Haas mit einem jovialen Lächeln, ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf.

Peter ahmte die Geste seines Vaters nach, deutlich formvollendeter. »Mir ebenfalls«, versicherte er dabei mit einem Lächeln.

»Die Freude ist ganz meinerseits«, beeilte sich Genoveva zu antworten.

»Die Herren Haas sind eigens aus Salzburg angereist, um dich kennenzulernen, mein Kind«, erklärte ihr Vater zufrieden.

Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenklumpte. Ihr Vater hatte in den letzten Monaten, seit ihrem zwanzigsten Gebutstag, immer wieder angedeutet, dass es nun dringend an der Zeit sei, seine Tochter zu verheiraten. Seither suchte er einen geeigneten Ehemann, mit dem eine Verbindung möglich war, von der beide Seiten profitierten. In Peter Haas schien er das Potenzial zu sehen, das er sich erhoffte.

Ehe sie sich weiter in diesen Überlegungen verstricken konnte, fasste sich Peter ein Herz. »Herr Leitner, erlauben Sie, dass ich Ihr Fräulein Tochter zum Tanz führe?«

Das war anscheinend genau das, was ihr Vater hatte hören wollen, denn er nickte wohlwollend. Völlig überrascht fand sich Genoveva einen Moment später an Peters Arm wieder, und er führte sie souverän durch das Gedränge der Gäste in den Nachbarraum, wo eine Tanzfläche eingerichtet worden war.

»Verzeihen Sie mein forsches Auftreten, Fräulein Leitner«, begann Peter verlegen, »ich wollte Sie keinesfalls überrumpeln. Mir schien es nur, als bräuchten Sie nach unserem überfallartigen Erscheinen ein wenig Abstand zu den beiden alten Herren.« Die letzten zwei Wörter unterlegte er mit einem frechen Zwinkern.

Es kostete Genoveva einige Mühe, sich ihr Erstaunen nicht anmerken zu lassen. Diese kecke, respektlose Art zu sprechen hatte sie an ihm nicht erwartet, ebenso wenig das Feingefühl, ihr Unbehagen zu bemerken.

Vielleicht, dachte sie bei sich, ist er doch nicht der schlechteste Kandidat.

Laut sagte sie: »Nur keine Sorge, Herr Haas. Ich fühle mich nicht überrumpelt. Ich bin Ihnen vielmehr ausgesprochen dankbar für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Eingreifen.«

Sie betraten den Salon. Eben stellten sich die Paare für einen Kontertanz in eine lange Reihe. Genoveva und Peter schlossen sich am unteren Ende der Gasse an. Kaum hatten sie sich positioniert, spielte auch schon die Musik auf, und in die zwei langen Reihen aus Tänzern kam Bewegung. Man grüßte sich, indem sich die Herren vor ihren Damen verbeugten und die Damen in einen tiefen Knicks sanken. Dann begann der eigentliche Tanz.

Genoveva vollführte einige der komplizierten Figuren mit Peter, bis die Herren etwas machten, was die Tanzmeister »Fortschritt« nannten. Resultat dieses Fortschritts war, dass sie um einen Platz aufgerückt waren und die Damen nun mit einem neuen Partner den Tanz wiederholten. Genoveva hatte kaum einen Blick für die Tänzer, die in immer gleichen Abständen zu ihr aufrückten. Wenn sie tanzte, tat sie es um des Tanzens willen und nicht, um potenziellen Ehemännern zu begegnen.

Ganz in Gedanken reichte sie ihrem neuen Partner die Hand.

Die Berührung kühler Finger traf sie wie ein Schlag. Noch ehe sie den Kopf wenden und ihren neuen Tänzer ansehen konnte, begann ihr Herz wild zu klopfen. Fast fürchtete sie sich davor, zur Seite zu sehen, doch schon bald kam der Moment, wo die Tanzfigur dies erforderte. Also drehte sie den Kopf, sah den Herrn zu ihrer Linken an … und bekam weiche Knie.

Blaue Augen funkelten sie herausfordernd an, und um die Augenwinkel strahlte ein mehr zu erahnendes als wirklich sichtbares Lächeln. Genoveva staunte. Wie brachte er es fertig, dass seine Augen lächelten, während sein Gesicht jenen ernsten, neutralen Ausdruck trug, der gemeinhin beim Tanzen als schicklich galt?

Er hatte ein edles, dennoch auf faszinierende Weise kantiges Gesicht, in dem sich sein Alter nicht ablesen ließ. Das dunkle Haar hatte er nach der neusten Mode frisiert, dabei jedoch auf Puder verzichtet. Sein Rock war zweifellos nach den neusten Schnitten aus Frankreich gefertigt und saß perfekt. Der silbergraue Seidenbrokat war mit winzigen, dunkelblauen Rosen durchsetzt. Weste und Kniehosen wiederholten das Blau des Blumenmusters, ebenso die großzügigen Ärmelaufschläge. Diese Farbwahl schien ausschließlich darauf abzuzielen, seine blauen Augen zum Leuchten zu bringen.

Genoveva errötete, als sie bemerkte, dass sie ihren Tanzpartner regelrecht anstarrte. Eilig konzentrierte sie sich auf ihre Schritte und wartete ungeduldig auf den nächsten Fortschritt. Gleichzeitig graute ihr davor, bedeutete das doch, ihren attraktiven Kavalier wieder zu verlieren. Als sie sich mit einem angedeuteten Knicks verabschiedete, sah sie dabei zu Boden, denn sie wollte nicht zusehen müssen, wie er sich von ihr ab- und der nächsten Dame zuwandte. Noch immer mit gesenktem Blick reichte sie dem nächsten Tänzer die Hand … und erschauerte unter der bekannten kühlen Berührung.

***

»Miss, alles in Ordnung?« Der Taxifahrer schielte besorgt auf ihren zerrissenen Mantel, als Viva nahe der University of Greenwich in seinen Wagen einstieg.

Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln mit einer wohldosierten Portion Verlegenheit darin. »Ja, alles gut, danke. Etwas zu heftig gefeiert.«

Eine halbe Stunde später stieg sie vor ihrem Wohnhaus aus dem Taxi, entlohnte den Fahrer großzügig und bedankte sich noch mal für seine Aufmerksamkeit und seine Sorge.