Bloody Weekend. Neun Jugendliche. Drei Tage. Ein Opfer - M. A. Bennett - E-Book

Bloody Weekend. Neun Jugendliche. Drei Tage. Ein Opfer E-Book

M.A. Bennett

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Beschreibung

Greer will eigentlich nicht dazugehören. Als Außenseiterin folgt sie zwar den unausgesprochenen Regeln des altehrwürdigen Internats St. Aiden - kein Handy, kein Internet, kein Plastik. Doch sie weiß: Zu den "Medievals", der herrschenden Clique um den reichen Henry de Warlencourt, wird sie nie gehören. Als ausgerechnet sie eine der drei begehrten Einladungen erhält, ein Jagdwochenende auf Henrys Anwesen zu verbringen, fühlt sich Greer wider Willen geschmeichelt und sagt zu. Vor Ort wird allerdings schnell klar, dass dort weit mehr gejagt wird als nur Hirsche und Fasane. Mit zwei weiteren Jugendlichen kämpft Greer im Schatten des Anwesens schon bald um ihr Überleben ... und die Jagd ist erst der Anfang.

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Seitenzahl: 395

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M. A. Bennett

BLOODYWEEKEND

Neun Jugendliche. Drei Tage. Ein Opfer.

Aus dem Englischen von Sonja Häußler

M. A. Bennetthat venezianische Wurzeln, wurde in Manchester geboren und wuchs im nordenglischen Yorkshire auf. Nach ihrem Studium der Geschichte in Oxford und Venedig studierte sie Kunst und arbeitete als Illustratorin, Schauspielerin und Filmkritikerin. Außerdem war sie Tour-Designerin mehrerer Rockbands, unter anderem von U2 und den Rolling Stones. Sie lebt mit ihrer Familie in Nordlondon.

 

Für Conrad und Ruby, die genau richtig primitiv und ehrwürdig sind

1. Auflage 2018 Copyright © M. A. Bennett 2017 Originally published in the English language as S.T.A.G.S. by Hot Key Books an imprint of Bonnier Zaffre, London. The moral rights of the author have been asserted. Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Aus dem Englischen von Sonja Häußler Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, unter Verwendung des Designs von © Nick Stearn und von Bildern von © Shutterstock ISBN 978-3-401-80763-8

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Inhalt

STAGS I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

HUNTIN’ – Jagen

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

SHOOTIN’ – Schießen

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

FISHIN’ – Fischen

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

STAGS II

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog – Ein Jahr später

Danksagung

»Folgt dem Hirsch in sein Versteck.« Master of Game – Edward of Norwich, 1373

STAGS I

Kapitel 1

Ich glaube, ich bin eine Mörderin.

Aber da ich nicht vorhatte zu töten, war es wohl eher Totschlag, genau genommen wäre ich dann also eine »Totschlägerin«, auch wenn es das Wort wahrscheinlich gar nicht gibt. Als ich mein Stipendium für die STAGS bekam, sagte meine alte Schulleiterin zu mir: »Du wirst die klügste Schülerin an dieser Schule sein, Greer MacDonald.« Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Immerhin bin ich so klug, dass ich weiß, dass Totschlägerin kein Wort ist.

Bevor ich hier alle Sympathien einbüße, sollte ich klarstellen, dass ich nicht mit meinen eigenen Händen getötet habe. Wir waren mehrere. Ich habe dazu beigetragen, einen Tod zu verursachen, aber nicht allein. Ich bin eine Mörderin in dem Sinne, wie Fuchsjäger Mörder sind – sie alle sind verantwortlich für den Tod des Fuchses, auch wenn sie im Rudel jagen. Niemand wird je erfahren, welcher Hund letztendlich den Fuchs gerissen hat, aber alle Hunde und all die Reiter in ihren schicken roten Jacken tragen dazu bei.

Jetzt habe ich mich verraten. Habt ihr es bemerkt? Diese Jacken – die, die piekfeinen Leute zur Fuchsjagd tragen – sind nicht einfach rot, sie sind scharlachrot oder »hunting pink«, wie der Fachausdruck heißt. Und die Hunde sind nicht einfach nur Hunde, sondern Jagdhunde. Jedes Mal wenn ich den Mund aufmache, verrate ich mich; Greer MacDonald, das Mädchen, das nicht dazugehört. Das liegt an meinem nordenglischen Akzent, wisst ihr? Ich wurde in Manchester geboren und bin dort aufgewachsen. Bis zu diesem Sommer habe ich die Bewley-Park-Gesamtschule besucht. An beiden Orten habe ich dazugehört. Als ich mein Stipendium für die STAGS bekam, gehörte ich nicht mehr dazu. Ich sollte euch ein wenig über STAGS erzählen, weil mir erst jetzt klar ist, wie viel die Schule mit dem Mord zu tun hat. »STAGS« steht für St. Aidan the Great School, benannt nach St. Aidan dem Großen, und ist buchstäblich die älteste Schule in England. Kein einziges Gebäude an der Bewley Park wurde vor 1980 gebaut. Der älteste Teil der STAGS, die Kapelle, wurde schon 683 errichtet und ist voll mit Fresken. Fresken. Bewley Park war voll mit Graffiti.

STAGS wurde im siebten Jahrhundert von ebendiesem Herrn höchstpersönlich gegründet: St. Aidan dem Großen. Bevor die Kirche entschied, dass er groß war, war er nur ein einfacher alter Mönch, der im Norden Englands umherwanderte und jedem, der es hören wollte, vom Christentum erzählte. Wahrscheinlich wollte er dann irgendwann aufhören mit dem Wandern und gründete deshalb eine Schule, in der er stattdessen den Schülern alles über das Christentum erzählte. Man sollte annehmen, dass sie einen Heiligen aus ihm gemacht haben, weil er den Leuten dauernd vom Christentum erzählte, aber so läuft das offenbar nicht. Wer ein Heiliger werden will, muss ein Wunder vollbringen. Aidans Wunder bestand darin, dass er einen Hirsch bei einer Jagd vor dem tödlichen Schuss bewahrte, indem er ihn unsichtbar machte. Deshalb wurde der Hirsch zu Aidans Wappentier und das der Schule gleich mit. Und weil es so gut passte, wurde »STAGS« sogar zum Schulnamen, denn »stag« bedeutet Hirsch. Als ich den Brief bekam, in dem ich zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurde, war das Hirschgeweih oben auf dem Briefkopf das Erste, was mir auffiel: Es sah aus wie zwei gezackte schwarze Tränen auf Papier.

Bei meinem Vorstellungsgespräch sah ich die St. Aidan zum ersten Mal. Es war an einem dieser sonnigen Tage mitten im Winter, an denen der Frost auf den Feldern glitzert und alles tiefe, lange Schatten wirft. Dad fuhr mich in seinem zehn Jahre alten Mini Cooper durch das Tor und die lange Auffahrt hinauf, die durch sattgrünes Gelände führte. Am Ende der Auffahrt stiegen wir aus und glotzten und glotzten einfach nur. Wir hatten auf unserer langen Fahrt von Yorkshire nach Northumberland eine ziemlich tolle Landschaft nach der anderen gesehen, aber das hier war das Beste von allem. Es war ein riesiges, schönes, mittelalterliches Herrenhaus mit einer Art Burggraben drum herum und einer kleinen Brücke, die zum Eingang führte. Es sah ganz und gar nicht aus wie das Hauptquartier eines verstörenden Kultes – was es tatsächlich aber ist. Der einzige Hinweis war vielleicht das Geweih über der großen Tür – wenn ich nach irgendwelchen Hinweisen gesucht hätte.

»Another Country«, sagte ich mit zittriger Stimme.

Dad nickte nicht und murmelte auch nicht: »Das kann man wohl sagen.« Er sagte: »If …«

Mein Dad ist Tierfilmer und liebt Filme aller Art, nicht nur die Naturdokumentationen, die er hauptsächlich macht. Wir schauen uns jede Menge zusammen an, von unbekannten Filmen mit Untertiteln bis hin zu den bescheuertsten, brandneuen Blockbustern. Ich selbst bin sogar nach Greer Garson benannt, einem Filmstar aus den Tagen des Schwarz-Weiß-Films. Wenn Dad unterwegs ist oder Nachtaufnahmen macht, schaue ich mir allein Filme an, um die dreißig Jahre Vorsprung, die er hat, aufzuholen. Wir spielen immer dieses Spiel: Wenn wir etwas sehen, das uns an einen Film erinnert, sagen wir den Titel, und der andere muss einen anderen Film zum selben Thema nennen. Jetzt ging es um Filme, in denen Privatschulen vorkamen. »Und«, ergänzte er, »Betragen ungenügend.«

»Oh là là«, meinte ich, »ein französischer Film. Jetzt wird mit harten Bandagen gekämpft.« Ich dachte scharf nach. »Harry Potter, die Filme eins bis acht«, sagte ich immer noch ein wenig zittrig. »Das macht acht Punkte.«

Dad hörte offenbar meiner Stimme an, dass ich nervös war. Er kannte so viele Filme, dass er mich locker hätte schlagen können, aber er musste wohl beschlossen haben, dass dies nicht der richtige Tag dafür war. »Na schön«, sagte er und bedachte mich mit seinem schiefen Grinsen. »Du hast gewonnen.« Er blickte zu dem großen Eingang und dem Geweih über der Tür. »Lass es uns hinter uns bringen.«

Und das taten wir. Ich ging zum Vorstellungsgespräch, ich machte den Test, ich wurde genommen. Und acht Monate später, zu Anfang des Herbstsemesters, ging ich als Schülerin der Oberstufe unter dem Geweih hindurch durch das Schultor.

Schon bald sollte ich lernen, dass Geweihe an der STAGS eine große Sache waren – wie sollte es auch anders sein. An jeder Wand ragen Geweihe hervor. Wie gesagt, auch auf dem Schulwappen ist ein Hirsch abgebildet, darunter sind die Worte »Festina Lente« eingestickt (nein, ich wusste es auch nicht; es ist Lateinisch und bedeutet »Eile mit Weile«). Die Fresken in der Kapelle, die ich bereits erwähnt habe, zeigen Szenen der »wundersamen« Hirschjagd, als St. Aidan den Hirsch unsichtbar machte. Dann gibt es da noch ein sehr altes Buntglasfenster in der Kapelle, auf dem St. Aidan einem nervös aussehenden Hirsch den Finger vor das Gesicht hält, als würde er versuchen, ihn zum Schweigen zu bringen. Ich habe oft auf diese Fresken und das Fenster gestarrt, weil wir jeden Morgen in die Kapelle gehen müssen, was ziemlich langweilig ist.

Abgesehen davon, dass es langweilig ist, ist es in der Kapelle auch noch eiskalt. Es ist die einzige Zeit, in der ich froh bin, die STAGS-Uniform zu tragen. Die Uniform besteht aus einem knielangen schwarzen Tudorgewand aus dickem Filz, das vorne mit goldfarbenen Knöpfen geschlossen wird. Um den Hals tragen wir ein weißes Beffchen, so eine »Klerikerkrawatte«, wie Pfarrer sie tragen, und um die Taille einen schmalen Hirschledergürtel, der auf bestimmte Weise gebunden wird. Unter dem Mantel tragen wir hellrote Strümpfe – in der Farbe von arteriellem Blut. Es ist ein eher dämliches Outfit, aber wenigstens hält es einen warm in Northumberland.

Wie ihr euch vielleicht vorstellen könnt, geht es auf der STAGS ziemlich religiös zu. Mein Dad und ich sind überhaupt nicht religiös, aber das haben wir auf dem Bewerbungsformular irgendwie nicht erwähnt. Womöglich haben wir sogar ganz eindeutig den Eindruck vermittelt, dass wir Kirchgänger wären. Das war damals, als ich tatsächlich noch auf die Schule gehen wollte. Dad plante, in den kommenden zwei Jahren hauptsächlich im Ausland zu sein, um eine Naturdokumentation für die BBC zu drehen, und wenn ich nicht an die STAGS gekommen wäre, hätte ich bei meiner Tante Karen leben müssen, und glaubt mir, das wollte ich nicht. Meine Schulleiterin in Bewley dachte, ich hätte das Zeug dazu, um ein Stipendium für die STAGS zu bekommen, und wie es sich herausstellte, hatte sie recht. Außerdem habe ich zufälligerweise ein fotografisches Gedächtnis, was auch nicht schaden konnte. Ich kann euch gar nicht sagen, wie nützlich das für diese Aufnahmeprüfung gewesen war. Aber wenn ich gewusst hätte, was in diesem Herbsttrimester passieren würde, hätte ich nicht so einen auf Streber gemacht. Ich wäre ohne Widerworte zu meiner Tante Karen gegangen.

Abgesehen von diesem ewigen Rumsitzen in der Kapelle gibt es noch jede Menge anderer Unterschiede zwischen der STAGS und einer normalen Schule. Zum einen nennen sie das Herbsttrimester »Michaeli«, das Frühlingstrimester »Hilarius« und das Sommertrimester »Dreifaltigkeit«. Zum anderen werden die Lehrer mit »Pater« angesprochen, nicht mit »Miss« oder »Sir«. Demnach war unser Klassenlehrer, Mr Whiteread, Pater Whiteread; und, was noch seltsamer war – die für unser Haus zuständige Lehrerin (Miss Petrie) wurde Pater Petrie genannt. Der Schulleiter, ein echt freundlicher Kerl, der aussah wie der Weihnachtsmann, wird Abt genannt, ich habe ihn beim Vorstellungsgespräch kennengelernt. Als wäre das noch nicht seltsam genug, tragen die Pater über ihren Anzügen ein merkwürdiges Gewand, das aussieht wie eine Mönchskutte, dazu ein verknotetes Seil um die Taille. Viele der Pater sind ehemalige Schüler und reden dauernd von der Zeit, in der sie selbst hier zur Schule gegangen sind (wie es sich anhört, war damals alles haargenau gleich – STAGS ist so was von antiquiert, dass es mich überraschen würde, wenn sich auch nur eine einzige Sache geändert hätte). Die Pater sind praktisch selbst Antiquitäten – wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen, dass sie alle schon über sechzig sind. Dadurch haben sie zweifellos jede Menge Lehrerfahrung, gleichzeitig habe ich den Verdacht, dass sie die Alten nur eingestellt haben, damit sich niemals jemand in sie verliebt. Es besteht dort absolut keine Gefahr, dass es zu einer dieser Lehrer-Schüler-Beziehungen kommt, von denen man immer im Internet liest.

Auch die Sportarten an der STAGS sind seltsam; wir spielen keine normalen Sachen wie Netzball, Hockey und Fußball, sondern andere Spiele wie Fives und Jeu de Paume, und zwar in mit Holz getäfelten Turnhallen im Tudorstil, die jenseits von den schuleigenen Spielfeldern liegen. Die Spielfelder, die Bede’s Piece genannt werden, sind riesig und nicht auf so etwas Standardmäßiges wie Leichtathletik ausgerichtet, sondern nur für Sportarten wie Rugby (»Rugger«) und Lacrosse. Die STAGS hat auch ihr eigenes Theater, aber ohne ausgeklügelte Beleuchtung oder Kulissen; es ist eine originalgetreue Kopie eines jakobinischen Theaters und wird von Kerzen erleuchtet. Kerzen. Statt Deutsch oder Französisch lernen wir Latein und Griechisch. Auch das Essen unterscheidet sich von normalem Schulessen, insofern als es wirklich gut ist. Eigentlich sogar verdammt lecker – wie man es in einem richtig guten Restaurant bekommen würde, ganz anders als der Fraß, den sie uns in Bewley Park immer vorgesetzt haben. Die Mahlzeiten werden von Frauen aus dem benachbarten Dorf serviert, die total nett zu sein scheinen, aber mit dem Spitznamen »Futterbeutel« dafür belohnt werden. Der größte Unterschied zwischen der STAGS und einer normalen Schule jedoch ist – das habt ihr euch bestimmt schon gedacht –, dass die Schulgebühren ein absolutes Vermögen kosten. Die STAGS-Eltern bezahlen diese Gebühren bereitwillig und es dauerte nicht lange, bis ich herausfand, wofür genau sie bezahlen. Sie zahlen nicht, damit ihre kleinen Lieblinge von dem jakobinischen Theater oder dem Schwimmbad in Olympiaformat profitieren können oder für die unglaubliche Schönheit dieses Ortes, bei der einem die Augen übergehen können. Sie bezahlen dafür, dass auch ihre Kinder anders werden.

In den ersten tausend Jahren oder so gab es nur vier Häuser an der STAGS: Honorius, Bede, Oswald und Paulinus. Vor ein paar Jahrzehnten wurden dann auch Mädchen zugelassen, deshalb gründeten sie ein neues Haus namens Lightfoot für die Schülerinnen. In meinem Zulassungsbrief wurde mir mitgeteilt, dass die Lightfoot-Schlafsäle in einem der »modernen« Gebäude untergebracht wären, und bei meiner Ankunft erwartete ich jede Menge Kiefernholz, Glas und Zentralheizung. Es stellte sich heraus, dass das Lightfoot-Gebäude 1550 errichtet wurde, Fenster mit rautenförmigen Bleiglasfenstern und verrückte spiralförmige Schornsteine hatte. Für die STAGS galt 1550 offenbar als »modern«.

Mein Zimmer befand sich im dritten Stock am Ende eines im Tudorstil getäfelten Flurs. Man betrat es durch eine gewaltige Eichentür, das Zimmer an sich aber war modern eingerichtet. Es gab Pressspanmöbel und einen büroblauen Teppich, und es wohnte bereits ein Mädchen drin. Es ist schwierig, die Gewohnheit abzulegen, in Filmen zu denken. Wenn meine erste Begegnung mit meiner Mitbewohnerin in einem Filmscript stehen würde, würde das so aussehen:

GREER (lächelt): Ich bin Greer. Und wie heißt du?

Greers Mitbewohnerin mustert sie dreist von oben bis unten.

MITBEWOHNERIN (die Augen verdrehend): Oh Gott.

Nach dieser ersten Begegnung nannte ich sie insgeheim immer »Gott«, weil ich dann lächeln musste, und Grund zum Lächeln gab es für mich wenig an der STAGS. Später fand ich heraus, dass sie eigentlich Becca hieß. Sie war verrückt nach Pferden und bei ihr hingen Bilder von ihren Ponys an der Wand, bei mir hingen Fotos von meinem Dad. Vielleicht vermisste sie sie so sehr wie ich ihn. Ich verstand nicht, wie das gehen sollte. Das war in diesem Teil der Geschichte schon so ziemlich alles an Dialog. Später wird es mehr davon geben, aber die traurige Wahrheit ist, dass in meinem ersten Trimester niemand groß mit mir redete. Die Lehrer stellten mir im Unterricht Fragen; die Futterbeutel sagten Dinge wie »Pommes oder Püree, Kleines?« (von ihrem Akzent bekam ich Heimweh). Und Shafeen, ein Junge aus meiner Lerngruppe, murmelte mir ab und zu Dinge zu wie: »Die thermische Stabilität von Nitraten hat dieselbe Tendenz wie die von Karbonaten.«

Obwohl sie das Zimmer mit mir teilte, redete Gott fast bis zur Hälfte des Trimesters nicht mit mir, und danach auch nur, weil ich die Einladung bekam. Jetzt glaube ich, dass ich die Einladung niemals angenommen hätte, wenn ich bis dahin mehr Freunde – oder überhaupt irgendwen – gehabt hätte. Vielleicht nahm ich sie an, weil ich einsam war. Wenn ich ganz ehrlich bin, nahm ich sie womöglich an, weil sie vom bestaussehenden Jungen der Schule kam.

Kapitel 2

Ich meine natürlich Henry de Warlencourt.

Vielleicht habt ihr inzwischen online über ihn gelesen, auf dieser gruseligen Facebook-Seite, die sie für ihn eingerichtet haben, oder habt sein Bild in den Nachrichten gesehen. Aber damals war er außerhalb seines eigenen Kreises noch nicht berühmt – oder berüchtigt. Man soll nicht schlecht von Toten reden, deshalb werde ich nur sagen, dass man, wenn man von seinem Äußeren ausging, niemals hätte ahnen können, was für ein schrecklicher Mensch er war.

Es fällt mir inzwischen schwer, mich daran zu erinnern, wie er war, als ich ihn zum ersten Mal sah; diesen ersten Eindruck kann ich gar nicht mehr unverfälscht beurteilen, selbst wenn ich mich bemühe zu vergessen, was ich jetzt weiß. Er war ganz einfach der schönste Junge, den ich je gesehen hatte. Für seine siebzehn Jahre war er groß, hatte blonde Haare, blaue Augen und gebräunte Haut. Wer in Henry de Warlencourts Nähe war, beobachtete ihn die ganze Zeit, auch wenn der- oder diejenige so tat, als wäre das nicht so. Selbst die Pater schienen Ehrfurcht vor Henry zu haben. Er wurde nie für etwas bestraft – und zwar nicht, weil er nie etwas Unrechtes getan hätte; er kam nur einfach immer davon. Er war wie eine dieser echt guten Bratpfannen, an denen nichts anhaftet. Er hielt sich für unbesiegbar. Aber das war er nicht.

Henry de Warlencourt war trotz seines ausländisch klingenden Namens so britisch, wie man nur sein konnte. Offenbar hatte ein ferner Vorfahr auf den Kreuzzügen in der fränkischen Armee gekämpft und sich danach in England niedergelassen, wo er praktischerweise in eine Adligenfamilie einheiratete, der halb Nordengland gehörte. Seitdem waren die de Warlencourts sagenhaft reich. Ihr Haus, Longcross Hall, ist ein schönes Herrenhaus im Lake District. Ich kenne es besser, als mir lieb ist, denn Longcross war der Schauplatz des Verbrechens.

Da ich in all meinen Fächern zu den Besten gehörte, sah ich Henry de Warlencourt oft – ihn und seine fünf besten Freunde. Die sechs wurden auch die »Medievals« genannt – die »Mittelalterlichen«, passend zu der altehrwürdigen Atmosphäre der Schule. Alle kannten die Medievals, denn eigentlich waren es die Medievals – nicht die Pater –, die STAGS beherrschten.

Die Medievals waren gewissermaßen die Aufsichtsschüler der Schule. Man sah sie in ihren makellosen Uniformen auf dem Hof herumspazieren, die langen schwarzen Mäntel flatterten in der herbstlichen Brise. Den Medievals war es erlaubt, unter ihren Tudormänteln Strümpfe in jeder beliebigen Farbe zu tragen, und dieses Privileg stellten sie noch heraus, indem sie verrückte Muster wie Schottenkaros, Schachbrett- oder Leopardenmuster trugen. Aber sie hoben sich nicht nur durch die Strümpfe von den anderen ab, sondern durch eine ganz besondere Art des Selbstbewusstseins, das sie an sich hatten. Sie lungerten herum wie edle Katzen. Dieses Selbstbewusstsein, diese Selbstverständlichkeit, mit der sie sich in ihrer Umgebung bewegten, ließen erahnen, dass sich ihre Elternhäuser wahrscheinlich kaum von der STAGS unterschieden; dass sie Land besaßen anstatt eines Gartens und Häuser mit Seitenflügeln anstatt Nachbarn. Und Geweihe, Häuser mit haufenweise Geweihen an der Wand.

Die Medievals waren groß, gut aussehend und klug, als wären sie speziell für diese Rolle gezüchtet worden. Sie hingen stets im Paulinushof herum – einem schönen Platz mit perfekt gepflegtem Rasen im Herzen des Paulinushauses, der von vier Kreuzgängen mit eleganten Bögen eingerahmt wurde.

Henry de Warlencourt stand immer im Zentrum der Gruppe, sein blonder Schopf war weithin sichtbar, als wäre er dieser König von Versailles – welcher auch immer, einer von diesen Millionen von Ludwigs. Henry war die Sonne, und der ganze Rest drehte sich um ihn. Sie lungerten bei jedem Wetter dort herum, unterhielten sich, lasen und rauchten nach Einbruch der Dunkelheit heimlich. In der Mitte des Hofes befand sich eine Art uralter Steinbrunnen, und wer nahe genug heranging, um hineinzuschauen, sah, dass etwa dreißig Zentimeter unter dem Rand zur Sicherheit ein enger Maschendraht befestigt und dass dieser mit Zigarettenstummeln vollgestopft war. Einmal habe ich eine Münze durch die Löcher fallen lassen, um zu sehen, wie tief der Brunnen war. Ich lauschte eine Ewigkeit, konnte aber nicht hören, wie die Münze ins Wasser fiel. Ich nahm an, dass der Grund des Brunnens voller Kippen lag, sodass der Aufprall der Münze abgefedert wurde. Der Paulinusbrunnen war genau wie die Medievals selbst. Schön anzuschauen, aber tief im Inneren widerlich.

Wenn Henry der Anführer der Medievals war, dann war Cookson sein Stellvertreter. Cookson hieß eigentlich Henry Cookson, aber er wurde immer bei seinem Nachnamen genannt, weil es in der Gruppe nur einen Henry geben konnte. Cookson war auch gut aussehend, wie sie alle, aber er sah trotzdem aus wie eine schlechte Kopie von Henry. Er war ein wenig kleiner, ein wenig rundlicher und sein Haar war eher dunkelblond. Seine Gesichtszüge waren langweiliger, seine Haut blasser, seine Stimme weniger angenehm. Aber die beiden waren unzertrennlich, sie waren sich so nah wie Brüder und sahen auch so aus.

Der dritte der Gruppe war Piers. Piers war elegant und dunkel – und er hatte zusammengewachsene Augenbrauen, wodurch er aussah, als wäre er ständig verärgert. Piers hatte seiner Uniform kleine Accessoires hinzugefügt, zum Beispiel eine Taschenuhr und einen verzierten Ledergürtel anstelle des vorgeschriebenen schmalen braunen, dazu trug er handgearbeitete Schuhe von einem Londoner Schuhmacher. Piers war Henrys Freund, seit sie im Alter von acht Jahren zur Prep School – der Vorschule von STAGS – gegangen waren.

Die drei Mädchen waren vom Erscheinungsbild her ziemlich ähnlich, alle waren blond und blauäugig. In Griechisch lasen wir in diesem Schuljahr Ovid und sie erinnerten mich an die Sirenen: schöne Meerjungfrauen, die herrlich anzuschauen waren, aber Seemänner in den Tod lockten. Sie hießen Esme, Charlotte und Lara. Alle waren hübsch und schlank und schafften es, dass die seltsame ekklesiastische Uniform an ihnen aussah wie etwas von den Laufstegen in Mailand. Charlotte war eine entfernte Cousine von Henry, Esme eine ferne Verwandte des Königshauses und Lara, die nur scheinbar so britisch war wie der Rest, stammte aus einer russischen Familie, die ungefähr so vermögend war wie Oligarchen. Sie alle hatten diese Haare, die am Haaransatz nach oben gingen und dann über ein Auge fielen, und wenn sie sich unterhielten, warfen sie es immer von einer Seite zur anderen. Mein Haar (schwarzer Bob, langer Pony) verhielt sich nicht so, aber alle anderen Mädchen an der STAGS (tragischerweise auch meine Mitbewohnerin Gott) versuchten, ihren Stil zu kopieren. Anfangs machte ich den Fehler, die Medieval-Mädchen zu verwechseln, sie alle über einen Kamm zu scheren. Wenn Dad da gewesen wäre, um unser Filmspiel zu spielen, hätten wir Heathers oder Girls Club – Vorsicht bissig gesagt, doch diese Filme wurden der Verschlagenheit, die hinter diesen Zahnpastalächeln steckte, nicht gerecht. Diese Mädchen waren keine dummen Blondinen, sie waren hochintelligent; es war gefährlich, sie zu unterschätzen, und genau das tat ich.

Alle Medievals waren sagenhaft reich – die Mitglieder von Henrys Familie gingen schon seit Jahrhunderten hier auf die Schule, und das Schultheater trug sogar den Namen De Warlencourt Playhouse. Es wurde gemunkelt, dass Laras Familie das Schwimmbad bezahlt hatte. Daher taten sie, als würde es ihnen gehören, was ja auch irgendwie stimmte. Es gab immer nur sechs Medievals, drei Jungen und drei Mädchen aus der 6.2 – dem zweiten Jahr der Oberstufe. Doch neben diesem harten Kern gab es immer noch ein ganzes Rudel Mitläufer, das sie anhimmelte und genau das tat, was sie wollten, in der Hoffnung, in der 6.2 ebenfalls ein Medieval zu werden. Jedes Jahr schließen sechs Medievals die Schule ab und ein neues Rudel bildet sich, daher lungern jede Menge Möchtegern-Medievals herum. Gott gehört eindeutig dazu – sie würde alles tun, um eine Medieval zu werden.

Einzeln waren die Medievals alle okay; ich hatte viele Kurse mit ihnen zusammen und sie konnten recht menschlich sein. Aber wenn sie im Rudel auftraten wie Jagdhunde, wäre man gern unsichtbar wie Aidans Hirsch. Meistens ließen sie mich in Ruhe; gelegentlich ahmten die drei Mädchen meinen Akzent nach und kicherten hinter vorgehaltener Hand, wenn ich auf dem Hof an ihnen vorbeiging. Dann fühlte ich mich, als würde sich das Unglücklichsein wie ein kalter Stein direkt unter meinen Rippen einnisten, und das Gefühl verschwand erst, wenn ich außerhalb ihrer Sichtweite war. Dabei hatte ich es noch leicht. Manche Leute schienen sie dauernd auf dem Kieker zu haben. Leute wie Shafeen.

Shafeen nannten die Medievals Punjabi Playboy. Er war groß und still, hatte ein ebenmäßiges, ernstes Gesicht und undurchdringlich dunkle Augen. Der Spitzname, den sie ihm verpasst hatten, war absichtlich unzutreffend. Erstens stammte er gar nicht aus dem Punjab. Zweitens war er geradezu übertrieben schüchtern, wenn es um Mädchen ging, das absolute Gegenteil von einem Playboy. Aber genau das fanden sie natürlich so witzig. Wenn ein Spitzname gut klang und sie zum Lachen brachte, dann passte er, fanden die Medievals. Shafeen gehörte zu den wenigen, die mit mir redeten; wir hatten dieselben Abiturfächer gewählt und gehörten zu den Besten, deshalb unterhielten wir uns ein wenig über den Unterricht. Man konnte sagen, dass er in diesem ersten Schuljahr derjenige war, den ich noch am ehesten als Freund bezeichnen konnte, aber er wohnte im Haus Honorius und ich in Lightfoot, deshalb war das in Sachen Freundschaft nicht gerade eine Hilfe. Am Anfang wusste ich nicht viel über Shafeen – aber jetzt kenne ich ihn natürlich (Schuld verbindet, habe ich herausgefunden, und da auch Shafeen ein Mörder ist, haben wir jetzt einen ganz besonderen Draht zueinander). Die Leute sagen, Shafeen wäre in Indien eine Art Prinz, daher hätte man meinen können, die Medievals würden ihn in ihrer Runde willkommen heißen. Aber sie piesackten ihn gnadenlos, und wie ich später herausfand, ging ihre Abneigung Shafeen gegenüber auf einen alten Streit zwischen Shafeens und Henrys Vätern zurück, zu dem es vor ungefähr einer Million Jahren an der STAGS gekommen war. Shafeen ging auch schon, seit er acht Jahre alt war, auf die STAGS. Er hatte ebenso erst die Prep School besucht und dann die STAGS bis zur Oberstufe, während seine Eltern in Indien waren. Doch obwohl Shafeen alle Regeln kannte und sogar wie die Medievals sprach, hatte er es irgendwie geschafft, ebenfalls ein Außenseiter zu sein.

Ich habe mich oft gefragt, warum Shafeen die Einladung angenommen hat, wo er doch wusste, was die Medievals von ihm hielten; sie machten absolut keinen Hehl daraus. Nicht einmal im Unterricht war er sicher. In Geschichte bekam ich mal einen Wortwechsel mit, bei dem ich ein wenig Angst um Shafeen bekam.

Wir saßen in der Bibliothek von Haus Bede an Reihen von Einzeltischen; die schwachen Strahlen der Herbstsonne fielen durch die Buntglasfenster und malten farbig leuchtende Flecken auf unsere schwarzen Gewänder. Wir nahmen die Kreuzzüge durch, ein Kampf zwischen Christen und Muslimen um die Stadt Jerusalem, der im Jahr 1095 begann, als STAGS – kaum zu glauben – schon vier Jahrhunderte alt war.

»Wer kann mir etwas über die Schlacht bei Hattin sagen?«, fragte Pater Skelton, unser rundlicher, fröhlicher Geschichtslehrer. »Mr de Warlencourt, einer Ihrer Vorfahren war tatsächlich bei dieser Schlacht dabei, nicht wahr?«

Henry lächelte (zu den Patern waren die Medievals stets äußerst höflich). »Ja, das stimmt, Pater. Conrad de Warlencourt.«

Pater Skelton warf ein Stück Kreide, das er in der Hand hielt, in die Luft. »Vielleicht können Sie es uns aus Sicht der Familie erzählen.«

»Gewiss«, erwiderte Henry. Er richtete sich ein wenig auf und unwillkürlich dachte ich, dass er mit seinem schwarzen Tudormantel und dem im Sonnenschein leuchtenden blonden Haar selbst ein wenig wie ein junger Kreuzritter aussah. (»Heinrich V.«, sagte Dad in meinem Kopf, »oder vielleicht Königreich der Himmel.«) »Die Streitkräfte Guy de Lusignans trafen bei Hattin auf die Truppen Sultan Saladins. Die christliche Armee litt bereits großen Hunger und war am Verdursten. Auf der verzweifelten Suche nach Wasser wurde sie zum See Genezareth gelockt, wo ihr das Heer des Sultans den Weg abschnitt. Es war eine Falle.«

Als ich seinen bekümmerten Gesichtsausdruck sah, merkte ich, dass ihn diese historische Tatsache geradezu schmerzte. Verrückterweise spielte es für Henry de Warlencourt noch immer eine Rolle, was seinem Vorfahr vor all diesen Jahren zugestoßen war.

Pater Skelton hatte all das nicht mitbekommen. »Und dann?«, fragte er fröhlich, mit erhobener Kreide.

»Sie haben uns übel zugerichtet, Pater. Das Heer der Kreuzritter wurde vollkommen vernichtet. Die Niederlage führte direkt zum Dritten Kreuzzug. Außerdem nahm der Sultan das Heilige Kreuz und die Stadt Jerusalem ein.«

Mir fiel das »uns« auf. Henry nahm das Ganze tatsächlich persönlich. »Die Überlebenden wurden gefangen genommen, doch Saladin wollte sich nicht mit Gefangenen aufhalten. Seine Männer bettelten darum, die Christen töten zu dürfen. Sie standen Schlange, um dies zu tun. Sie hatten die Ärmel bereits hochgekrempelt.« Heftig stieß er mit dem Stift auf seinen Schreibblock. »Sie ließen meinen Vorfahr nur unter der Bedingung gehen, dass er Richard Löwenherz berichten möge, was passiert war. Und das tat er. Es war ein Kriegsverbrechen, eine Gräueltat.« Seine Stimme dröhnte durch die alte Bibliothek.

Shafeen, der in derselben Reihe wie Henry saß, gab ein leises Geräusch von sich. Er schüttelte den Kopf und lächelte ein wenig. Von meinem Platz aus konnte ich es gut sehen, weil ich direkt hinter ihnen saß.

Henry warf ihm einen Blick zu, seine Augen waren plötzlich sehr blau. Doch Pater Skelton strahlte, denn er liebte Diskussionen. »Wollen Sie dem etwas hinzufügen, Mr Jadeja?«

Shafeen blickte auf. Er räusperte sich. »Ja, Hattin war eine Gräueltat. Aber Gräueltaten gab es auf beiden Seiten. ›Löwenherz‹, wie er hier genannt wird, tötete in Akko kaltblütig dreitausend Muslime. Und zwar nicht in einer Schlacht. Sie waren unbewaffnet und gefesselt.«

»Gutes Argument«, fand Pater Skelton und zeigte mit der Kreide auf Shafeen. »Mehr zu den Geschehnissen in Akko später. Aber jetzt« – er klopfte mit seinem goldenen Siegelring an die Tafel, es erklang ein schrilles metallisches Geräusch – »zurück zu Hattin. Ich möchte, dass Sie einen kurzen Aufsatz darüber verfassen und darin beleuchten, inwiefern die Topografie der Gegend zur Niederlage der Kreuzfahrer beigetragen hat. Und bitte achten Sie dabei auf die Interpunktion, ansonsten muss ich Sie wieder einmal darauf hinweisen, dass der Satz ›Hannibal führte, mit Elefanten, Kriege‹ nicht dieselbe Bedeutung hat wie der Satz ›Hannibal führte mit Elefanten Kriege‹.« Er schrieb beide Beispiele mit Kreide an die Tafel (an der STAGS gab es keine Whiteboards) und machte ein Riesentheater darum, das Komma an die richtige Stelle zu malen. »Das erste bedeutet, dass er Elefanten mit in den Krieg führte, das zweite, dass der große General der Karthager mit einer Horde riesenohriger Mastondonten Krieg führte.« Normalerweise hätten wir gelacht – wir alle mochten Pater Skelton –, aber heute war die Atmosphäre zu angespannt.

Pater Skelton wandte sich ab, um seine Sätze von der Tafel zu wischen und sie durch eine Zeichnung der Hörner von Hattin zu ersetzen. Cookson erkannte seine Chance und beugte sich zu Shafeen vor. »Einer deiner Vorfahren war wohl auch in Hattin, was, Punjabi?«, presste er aus dem Mundwinkel hervor. »Auf der Seite der Kameltreiber, oder?«

Ich hatte keine Ahnung, welcher Religion Shafeen angehörte, wenn er überhaupt einer angehörte, aber Cookson hatte ihn mit einem Blick auf Shafeens Hautfarbe sofort mit Saladin und den »Ungläubigen« in eine Schublade gesteckt. Die Botschaft war eindeutig: Der christliche weiße Junge gegen den braunhäutigen Muslim.

Shafeen sah Cookson nicht an. Er malte ein schwarzes Kreuzritterkreuz auf seinen linierten Block und hielt den Stift dabei so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. Unpassenderweise dachte ich, wie lang seine Wimpern im Sonnenlicht aussahen, das durch das Buntglasfenster hereinfiel. Dann sagte er ziemlich laut und deutlich: »Vielleicht solltest du in Geografie genauso gut aufpassen wie in Geschichte. Der Punjab ist nicht einmal in der Nähe von Jerusalem. Rajastan, wo ich eigentlich herkomme, auch nicht.«

Ich war erstaunt. Ich hatte Shafeen noch nie so viele Worte auf einmal sagen hören, und dann auch noch mit so viel Selbstvertrauen und Bestimmtheit. Er klang, als hätte er gar keine Angst vor ihnen.

Pater Skelton drehte sich wieder zur Klasse um und Cookson sank in seinen Stuhl zurück. Er war gerade besiegt worden und ich merkte, dass ihm das nicht gefiel. »Kleiner Scheißkerl«, murmelte er vor sich hin.

»Nicht klein«, flüsterte Piers. »Er ist eine lange braune Kackwurst.«

»Wie die, die man macht, wenn man ein Vindaloo gegessen hat«, stimmte Cookson zu. »Was ist lang und braun und riecht nach Curry?«

Piers kicherte. »Lass mich raten … Etwas, womit wir ihm sein Maul stopfen werden?«

Cookson ließ seinen Stuhl nach hinten kippeln und streckte sich ausgiebig. »Und zwar bald«, stimmte er zu.

Ihre Stimmen waren so giftig, dass mir Shafeen leidtat. Ich versuchte, ihn anzulächeln, doch er erwiderte meinen Blick nicht. Stattdessen starrte er auf Pater Skeltons Strichmännchen aus Kreide, die die Kreuzfahrer darstellen sollten. Ich wusste, dass Shafeen jedes Wort gehört hatte. Ich warf Henry einen Blick zu. Mit gesenktem blondem Haupt übertrug er das Schaubild sorgfältig auf seinen Block. Wie immer hatte sich Henry nicht an den Beschimpfungen beteiligt. Er hatte Shafeen nur angeschaut, seine Kampfhunde aber waren zu seiner Verteidigung geeilt. Damals dachte ich, dass Henry noch der Beste von ihnen wäre, doch später wurde mir klar, dass er der Schlimmste war.

Kapitel 3

Die Medievals sind nicht schlicht Rassisten, nein, so einfach ist das nicht.

Man muss eher sagen, dass sie eigentlich recht unparteiisch waren, und zwar weil es ihnen Spaß machte, sich über alles und jeden lustig zu machen, der anders war. Neben Shafeen war ihre wichtigste Zielscheibe Carphone Chanel. Wie ich war auch Chanel diesen Herbst neu an die STAGS gekommen. Ich versuchte damals, mich mit ihr anzufreunden, aber sie hatte zu große Angst davor, alles falsch zu machen, wenn sie sich mit jemandem wie mir anfreundete. Sie war zu unsicher, um sich mit einem anderen Außenseiter einzulassen. Inzwischen sind wir natürlich befreundet: Nel, Shafeen und ich, wir drei Mörder. (Ist euch schon mal aufgefallen, dass »Mörder« im Plural das gleiche Wort wie im Singular ist? Vielleicht weil es keinen Unterschied macht, wie viele Menschen gemordet haben – das Opfer bleibt tot.)

Nel trug French Nails, zehn perfekte weiße Halbmonde. Sie hatte karamellbraune Haarverlängerungen und einen perfekten Milchkaffeeteint. Doch hinter dieser ganzen Fassade war sie echt nett. Ihr Vater hatte sie an ihrem ersten Tag in einem goldenen Rolls-Royce hier abgesetzt, und später fand ich heraus, dass ihr das mehr zu schaffen machte als mir der alte Mini meines Dads. Wisst ihr, wir haben kein Geld. Aber von Nel habe ich gelernt, dass auf STAGS nur eins schlimmer ist, als kein Geld zu haben, und das ist, die falsche Art von Geld zu haben. »Meine Mum hat mich Chanel genannt, weil sie glaubte, das hätte Stil«, erzählte sie mir einmal und nichts an ihrer sorgfältig geschulten Aussprache verriet dabei ihre Herkunft aus Cheshire. »Sie hat ja keine Ahnung.«

Ich wusste, was sie damit meinte. Stil – das stand an der STAGS nicht auf dem Lehrplan, weil es nicht notwendig war. Das war etwas, mit dem sich alle anderen auszukennen schienen, weil sie es schon Hunderte von Jahren im Blut hatten. Wohin man in den Ferien fuhr. Welche Gummistiefel man trug. Wie man den Suppenteller (nicht die Suppentasse) beim Abendessen neigte. Dazu gehörte nicht, dass man Dinge besaß, die brandneu waren. Das war Chanels Problem – sie war brandneu. Man konnte eine Bluse mit ausgefranstem Kragen und fehlenden Knöpfen tragen, solange sie vom richtigen Schneider stammte, der seinen Laden im Londoner Stadtteil St. James’s hatte. Chanel könnte sich dieselbe Bluse kaufen, brandneu, und es wäre trotzdem der falsche Stil. Die Medievals nannten sie »Möchtegern«. Aber das hielt Chanel nicht davon ab, weiter dazugehören zu wollen.

Chanels Vater hatte mit seinem Handyimperium ein Vermögen gemacht. Mit der Mobilfunkfirma Carphone Warehouse hatte er überhaupt nichts zu tun, aber das war den Medievals ebenso egal wie die Tatsache, dass der Punjabi Playboy gar nicht aus dem Punjab kam. Sie mochten einfach die Alliteration, und Carphone passte gut zu Chanel, deshalb blieb der Spitzname hartnäckig bestehen, obwohl sich Chanel schon nach zwei Tagen auf der STAGS Nel nannte. Tatsächlich hatte Chanels Vater ein Handy namens Saros 7S entwickelt – eine Mischung aus Tablet und Handy – und die ganze Welt hatte sich eins gekauft. Chanel hatte womöglich sogar mehr Geld als die Medievals und ein prunkvolles Haus in Cheshire mit Swimmingpool und Kinoraum, aber wegen der Herkunft des Geldes war sie eine noch größere Außenseiterin. Denn einer der größten Unterschiede zwischen der STAGS und dem Rest der Welt war, dass es an der STAGS keine Handys gab.

Damit meine ich nicht, dass die Schule Handys verboten hätte; das hatte sie nicht. Die unteren Klassen benutzten sie zu den Zeiten, in denen es erlaubt war, nämlich an den Wochenenden und abends. Aber in der Oberstufe wurde es seltsamerweise zu einer Frage der Ehre, kein Handy zu benutzen. Die Medievals waren sozusagen eine sechsköpfige Anti-Social-Media-Bewegung – ganz im Sinne ihres Namens mochten sie nichts Neuartiges, sondern nur »Mittelalterliches« oder »Ehrwürdiges«. YouTube, Snapchat und Instagram wurden als »primitiv« betrachtet und verachtet. Twitter war primitiv. Facebook war primitiv. Computerspiele waren primitiv. Für die Medievals hatte die technische Revolution die Evolution umgekehrt. Demonstrativ lasen sie Bücher (Bücher waren »ehrwürdig« und damit positiv besetzt. Kindles waren primitiv). Die Benutzung des Internets war nur in der Bibliothek und im Computerraum akzeptabel und wurde nur für Recherchezwecke gebraucht, nicht für soziale Medien (ich habe gehört, dass einer der Jungen aus 6.1 der Schule verwiesen worden war, weil er sich nachts in die Bibliothek geschlichen und Pornos angeschaut hatte. Der arme Kerl, wahrscheinlich war er einfach nur verzweifelt). Ganz selten schauten die Medievals Fernsehen im Fernsehzimmer der 6.2, aber wenn ich dort vorbeikam, schauten sie immer University Challenge und wetteiferten miteinander, wer die meisten Fragen beantworten konnte.

Man sollte meinen, dass die anderen Jugendlichen dagegen rebellierten, aber das taten sie nicht. Für alle war das handylose Universum in Ordnung, und zwar deshalb, weil die Medievals es sich zu eigen gemacht hatten. So einflussreich waren ihre Persönlichkeiten, ihr kleiner Kult. Alle wollten wie die Medievals sein. Selbst ich legte angesichts des großen sozialen Drucks mein Handy in eine Schublade und ließ den Akku leer werden. Ich wollte nicht unbedingt noch mehr herauszustechen, als ich es ohnehin schon tat. Ohne Kontakt zu meinen alten Freunden war ich noch isolierter. An den Wochenenden telefonierte ich über den Festnetzanschluss, den sich mein ganzer Flur in Lightfoot teilen musste, mit meinem Dad, aber hinter mir standen immer schon Gott und ihre Freundinnen Schlange, die warteten und sich über jedes gesagte Wort lustig machten, weshalb ich ihm nicht mal die Hälfte von dem erzählen konnte, was ich erzählen wollte. Außerdem war Dad so aufgeregt wegen seiner Dokumentation, für die er mit Fledermausscheiße vollgekleisterte Höhlen filmte, dass ich ihm nicht sagen konnte, wie unglücklich ich war. Wenn ich es getan hätte, wäre er nach Hause gekommen. Er liebt mich nämlich, wisst ihr? Abgesehen von meinem Dad vermisste ich Filme am meisten. Ich hatte mich damit getröstet, dass ich einfach zum Unterricht gehen und mich abends zurückziehen und Filme auf meinem Handy anschauen könnte, falls ich STAGS hasste. Aber nicht einmal das ging – das heißt, ich hätte es tun können, aber seltsamerweise wollte ich die Auflagen erfüllen: Ich wollte nicht, dass irgendjemand glaubte, ich wäre primitiv.

Tief in meinem Herzen wusste ich natürlich, dass die Sache mit den Handys ein enormes Getue war, genau wie dieser ganze »Medievals«-Kult. Für Henry und Co. war es einfach nur eine weitere Möglichkeit zu zeigen, wer die Schule in der Hand hatte, dass sie alles ihrem Willen unterwerfen konnten. Sie hätten alles, was sie wollten, anordnen können, zum Beispiel mittwochs auf einem Bein hüpfen – und alle hätten sich daran gehalten. Aber das Clevere an dieser Sache mit dem Handy ist, dass es zum gesamten Ethos der Schule passte, der Tugend, anders zu sein. Vielleicht krochen ihnen die Pater deshalb so sehr in den Hintern. Anstatt stundenlang vor dem Bildschirm zu sitzen, lasen die Schüler, trieben Sport und spielten Theater, machten Musik, sangen im Chor und all so was. Außerdem schrieben alle jede Menge, mit echten Füllern auf Papier. SMS waren primitiv, Briefe und Notizen waren ehrwürdig. An der STAGS flogen handgeschriebene Zettel herum wie Herbstlaub – beschrieben mit Füllern mit richtiger Tinte –, von gefalteten Nachrichten auf Briefpapier mit Familienwappen bis hin zu cremefarbenen Einladungen so dick wie Badezimmerfliesen. Und so fing das alles an – mit der Einladung.

Kurz vor den Herbstferien kam der Umschlag. Auf der STAGS nannte man das natürlich nicht Herbstferien, sondern Justitium. Gott und ich waren in unserem Zimmer und machten uns bettfertig. Und nun kommen wir zum ungefähr einzigen Mal, dass meine Mitbewohnerin je freiwillig das Wort an mich richtete. Sie war dabei, als die Einladung unter der Tür durchgeschoben wurde. Ich bemerkte es nicht mal, aber sie stürzte sich aufgeregt darauf, als hätte sie schon darauf gewartet. Ich kämmte gerade meine Haare, und im Spiegel sah ich, wie sie las, was auf dem Umschlag stand, und ein langes Gesicht machte. »Für dich«, sagte sie, als könnte sie das gar nicht fassen. Widerstrebend reichte sie ihn mir.

Er war quadratisch, ein dicker elfenbeinfarbener Umschlag, der an vier Seiten gefaltet und – kein Witz – mit einem Tropfen Wachs versiegelt war, das so rot war wie unsere Schulstrümpfe. In dem Wachs war ein kleines Geweih eingeprägt. Robin Hood – König der Diebe, dachte ich.

Gott beugte sich vor. Ich brach das Siegel, genau wie ich es in Filmen gesehen hatte. Innen lag eine dicke, quadratische Karte. Nur sechs Worte standen genau in der Mitte der Karte, in schwarzer Tinte geprägt. Die Buchstaben schimmerten leicht, und wenn man sie berührte, spürte man, dass sie sich ein wenig vom Papier abhoben.

Huntin’ shootin’ fishin’– Jagen Schießen Fischen –

Ich blickte auf. »Was bedeutet das?«

»Dreh sie um«, drängte Gott.

Ich gehorchte. Auf der Rückseite stand in gestochen scharfem Kursivdruck:

Du bist eingeladen, das Justitium auf Longcross Hall, Cumberland, zu verbringen.

Die Wagen fahren am Freitag um 17 Uhr an der STAGS ab.

u. A. w. g.

Ich drehte die Karte um. »U. A. w. g. – aber an wen?«, fragte ich. »Da steht kein Name drauf.«

»Das liegt daran, dass jeder weiß, wer sie geschickt hat«, erwiderte Gott mit nur noch einem Hauch ihrer früheren Verachtung in der Stimme. »Sie ist von Henry.«

Es gab, wie schon gesagt, nur einen einzigen Henry auf der STAGS. Die schwarzen, geprägten Buchstaben tanzten vor meinen Augen. Ich hätte es wissen müssen. Huntin’ shootin’ fishin’. Das klang wie eine Art Witz, an allen drei Worten fehlte das »g«. Aber die Medievals irrten sich nicht; wenn sie Fehler machten – der Punjab, Carphone Warehouse –, dann absichtlich. Henry hatte die Jagdsportarten aus gutem Grund so geschrieben, genau wie er sie aussprach. »Bist du sicher?«

»Ja. Longcross ist das Haus seiner Familie. Du Glückspilz«, sagte sie. »Du bekommst die Chance, eine Medieval zu werden.«

Ich ließ mich aufs Bett fallen und blinzelte zu ihr auf. »Wovon redest du?«

Gott war so aufgeregt, dass sie nicht wie sonst Distanz wahrte und sich tatsächlich neben mich auf das Bett setzte. »Henry de Warlencourt lädt am Wochenende vom Michaelmas-Justitium – der Jagdsaison – immer Leute aus der 6.1 zu sich nach Hause ein. Wenn du dich in den Jagdsportarten bewährst und sie dich als Person mögen, dann könntest du nächstes Jahr, wenn du in die 6.2 gehst, eine Medieval werden.«

Obwohl völlig neu für mich war, dass ich gerade tatsächlich ein Gespräch mit meiner Mitbewohnerin führte, schwieg ich, um das alles zu verarbeiten.

»Du gehst doch hin, oder?«, drängte Gott. »Longcross soll fantastisch sein. Der absolute Luxus.«

Ich hatte mal eben die Kraft dazu, mit den Schultern zu zucken, und war nicht bereit, irgendwelche Geheimnisse auszutauschen. Wenn Gott etwas über mich wissen wollte, müsste sie schon ein wenig netter zu mir sein. Nichtsdestotrotz brauchte ich Informationen, deshalb taute ich auf. »Wagen?«, fragte ich laut. Da ich die Medievals kannte, fragte ich mich, ob sie damit tatsächlich Kutschen meinten, jede davon mit acht Pferden, die in der Auffahrt schnaubten und mit den Hufen scharrten.

»Henry fordert die Autos des Landguts an«, erklärte Gott. »Ihr werdet von seinen Wildhütern nach Longcross gefahren.«

Ich blickte von der Einladung auf und sah in Gotts neidisches Gesicht. Wenn ich die Herbstferien zu Hause verbracht hätte, um Dad zu sehen, hätte ich nicht im Traum daran gedacht, nach Longcross zu fahren. Aber Dad zu sehen, stand nicht zur Debatte. Dad wäre dann immer noch in Südamerika und ich sollte die Ferien bei Tante Karen in Leeds verbringen. Nun ja, ich hatte nichts gegen meine Tante Karen und schon gar nichts gegen Leeds, aber sie hat Zwillinge im Kleinkindalter, die total anstrengend sind. Deshalb wollte ich auch nicht bei ihr wohnen und bin zur STAGS gegangen.

Und so erwog ich ernstlich, nach Longcross zu fahren, auch wenn ich noch nie gejagt, geschossen oder gefischt hatte.

In akademischer Hinsicht bin ich vielleicht klug, aber ich war abgrundtief dämlich, nicht früher zu merken, was da vor sich ging. Es ist nicht so, dass man mich nicht gewarnt hätte. Ich wurde gewarnt, und zwar unmissverständlich. Die Warnung kam von Gemma Delaney. Gemma Delaney war drei Jahre vor mir an die STAGS gekommen, ebenfalls von Bewley Park, meiner alten Schule. Sie war uns übrigen immer als leuchtendes Vorbild vor Augen geführt worden – ihr Foto hing in der Rezeption von Bewley Park, neben der halb leeren Vitrine mit den Pokalen (ganz anders als das mittelalterliche Atrium in der STAGS, wo man vor lauter Silberpokalen kaum die Eichentäfelung sehen konnte). Gemma hatte vor einem Jahr in der Bewley-Park-Schulversammlung eine Rede gehalten, um uns dazu zu ermutigen, uns für ein Stipendium an der STAGS zu bewerben, und ich hatte sie kaum wiedererkannt. Gemma hatte früher immer strohblond gefärbte Haarspitzen und einen dunklen Haaransatz – und einen starken Akzent, denn sie kam aus Manchester. In der Schulversammlung an jenem Tag trug sie honigblondes Haar, eine makellose STAGS-Uniform und ihre Aussprache war makellos. Inzwischen weiß ich, dass sie damals wie eine Medieval ausgesehen hatte.

Jetzt, vor der Kapelle der STAGS, sah sie ganz anders aus. Sie packte mich am Arm, während wir alle aus der Morgenmesse strömten. Ich drehte mich um und sah sie an. Ihr Gesicht war leichenblass, ihr Haar strähnig, ihr Blick gehetzt. »Geh nicht hin«, sagte sie. Sie sprach so drängend, dass sich ihr nordenglischer Akzent wieder Bahn brach.

Sofort wusste ich, was sie meinte. Sie meinte die Einladung. Sie meinte: Geh nicht Jagen Schießen Fischen. Ich fragte mich, woher sie davon wusste. »Warum nicht?«

»Geh. Einfach. Nicht. Hin«, sagte sie noch einmal und sie sprach diese Worte energischer aus, als ich je jemanden etwas hatte äußern hören. Sie schob sich an mir vorbei und verschwand in der Menge. Ich blieb einen Moment stehen, während Schüler um mich herumströmten, und versuchte zu begreifen, was sie gesagt hatte. Aber es war nicht wirklich zu mir durchgedrungen. Als ich sie nicht mehr sehen konnte, verblasste auch mein Unbehagen.

Ehrlich gesagt fühlte ich mich nach all den Wochen, in denen ich ignoriert, schlechtgemacht und ausgeschlossen worden war, geschmeichelt, dass man mich dabeihaben wollte, dass die Medievals mich eingeladen hatten. Am Abend zuvor war ich Henry höchstpersönlich im Großen Saal von Honorius begegnet. Er hatte mir die Hand auf den Arm gelegt und mit mir gesprochen – er hatte tatsächlich mit mir gesprochen! – und das zum allerersten Mal.

»Du kommst doch am Wochenende, oder?«, fragte er eindringlich. »Wir werden immens viel Spaß haben«, sagte er etwas gestelzt.

»Welche Art Spaß denn?«, fragte ich etwas ungelenk zurück.

Er lächelte und mein Inneres schlug einen kleinen Purzelbaum. »Das wirst du dann sehen.« Er drückte meinen Arm und ich blickte auf seine Hand hinunter, die auf meinem Ärmel lag – lange Finger, gerade Nägel und ein goldener Siegelring am kleinen Finger. Ein Siegelring, der mit zwei winzigen Geweihen verziert war.

Als ich nun an diesem Morgen draußen vor der Kapelle stand und die Schüler um mich herumliefen, dachte ich an das, was Henry gesagt hatte, und an das, was Gemma gesagt hatte. Aber ich traf eigentlich keine Entscheidung, nein, in Gedanken packte ich bereits. Es war wie einer dieser Momente, in denen man eine Münze wirft und schon weiß, was man tun wird, bevor die Münze aufkommt.