Blue Lady in Rot - Frank Westenfelder - E-Book

Blue Lady in Rot E-Book

Frank Westenfelder

4,9

Beschreibung

Nina ist ein Rollergirl, hart im Nehmen, aber auch nicht zimperlich dabei sich zu wehren. Durch ihre Reizbarkeit verliert sie fast ihren Job bei einer Berliner Security-Firma. Zu ihrem Glück ist sie jedoch als Halbspanierin die ideale Besetzung um die Kunsthistorikerin Uta nach Barcelona zu begleiten. Uta will dort das Schicksal eines deutschen Künstlers aufklären, der als Interbrigadist im Bürgerkrieg verschollen ist. Nina kennt nicht nur Barcelona bestens, auch die Geschichte ihrer eigenen Familie ist aufs engste mit der des Bürgerkrieges verflochten. Aber während sie mit den Nachforschungen beginnt und sich dabei zunehmend von Uta angezogen fühlt, entgeht ihr völlig, dass sie längst in einem viel komplexeren Spiel als Bauernopfer eingeplant ist.

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

1

Das Konzert entwickelte sich von deprimierend über schlecht in Richtung hundsmiserabel. Konnte man eigentlich von Tiefen sprechen, wenn man sich in einem Abgrund befand? Irgendwie wohl nicht so richtig. Dennoch war heute ein ganz besonders schlechter Abend auf einer äußerst üblen Tour. Tommy hatte gerade damit begonnen Peter Maffay runterzunudeln. Das brachte die Massen ja angeblich zum Kochen. Und eine Scheiße! Weder Massen, noch kochte da etwas. Einige der Grauen Panther im Publikum schunkelten leicht auf ihren Stühlen. Vielleicht brachte er sie ja noch dazu mitzuklatschen.

Nina hatte mehr als genug gesehen und beschloss erst mal eine rauchen zu gehen. Offiziell war sie zum Personenschutz hier. Da es aber nicht danach aussah, als ob jemand mit faulen Eiern werfen würde und schon gar nicht damit zu rechnen war, dass die entfesselte Masse die Bühne stürmen würde, konnte sie sich ruhig noch eine Kippe gönnen, bevor der Abend richtig widerlich wurde. Ihr eigentlicher Job bestand nämlich darin, den Zugang zu Tommy Hinterzartners Garderobe und Hotelzimmer zu kontrollieren. Das hieß, sie sollte ihn vor empörten Vätern, eifersüchtigen Ehemännern, wütenden Freunden und last not least vor abgelegten Liebhaberinnen beschützen. Aber da seine Verehrerinnen meistens schon in den besseren Jahren waren und mehr zum Club der einsamen Herzen gehörten, hielten sich die Attacken gehörnter Ehemänner und empörter Väter ziemlich in Grenzen.

Friedrich, aka Fritze Wiegand, Chef von WASP und ihr momentaner Arbeitgeber hatte ihr den Job in den rosigsten Farben angepriesen. „VIP-Protection, Nina. Das ist ein ganz neuer Markt für uns“, hatte er geschwärmt. „Das ist eine ganz andere Klasse als Wachdienst. Da gibt es Glamour und die dicke Kohle. Ich weiß schon; da kann ich nicht jeden schicken. Da braucht man mehr als Muckis. Diskretion, Verhandlungsgeschick und Geduld und nochmals Geduld. Diese VIPs sind wie verwöhnte Kinder. Du musst dich halt ein wenig zusammenreißen. Ab und zu die Klappe halten. Haha. Auf der anderen Seite: Glamour! Von einem Superhotel ins nächste, Backstage mit den Künstlern. Die Medien. Klar Diskretion, aber ich habe natürlich nichts dagegen, wenn mal WASP in der Zeitung erwähnt wird.“

Was auch immer Fritze unter „Glamour“ verstehen mochte, die ostdeutsche Provinz war auf jeden Fall Lichtjahre davon entfernt. Die Hotels waren so fünftklassig wie die Band, die Fest-, Sänger- und Multifunktionshallen oft noch schlimmer. Die Hallen hatten sicher einst in der DDR oder gar noch bei den Nazis große Zeiten erlebt, irgendwann später waren dann Geld und Publikum ausgegangen. An den pastellgrünen Wänden, die Nina an ein Bahnhofspissoir erinnerten, bröckelten Farbe und Putz, an der Decke gab’s Wasserflecken, der Linoleumboden war abgetreten, alles gnadenlos erhellt von kalten Neonröhren. Es roch nach kaltem Rauch und uraltem Schweiß. Das war also Fritzes legendärer Backstage-Glamour.

Trotzdem mochte sie es irgendwie. Ihr gefiel dieses Ambiente aus Trostlosigkeit und Verfall. Die sentimentale Größe von Niederlagen hatte sie schon immer viel mehr angemacht als Horden glücklicher Menschen, die mit Konfetti und Champagner sinnlose Siege, Hochzeiten, Taufen oder gar Karneval feierten. Vielleicht war sie ja ein Fall für den Psych, manisch depressiv und so weiter. Genau genommen war ihr das aber ziemlich scheißegal; sie hatte einfach ein Herz für Loser.

Einer davon, eines dieser Hindernisse auf der Schnellstraße des Fortschritts, wie es irgendwo so schön hieß, war Rudi. Er saß missgelaunt in der Portiersloge am Bühneneingang und besserte sich mit seinen fast 70 Jahren auf diese Weise etwas die magere Rente auf. Er mochte Wessis nicht besonders, und daran hatte sich auch ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung nichts geändert. Zu tun hatte er im Moment rein gar nichts, da vor der Tür niemand aber auch gar niemand wartete, weder Journalisten noch Autogrammjäger, von den, von Tommy so sehnlichst erwarteten, Groupies ganz zu schweigen.

Bevor sie jedoch ihr kurzes Gespräch mit ihm weiter vertiefen konnte, verstummte die Musik, und es wurde Zeit sich kurz bei ihrer Schutzperson sehen zu lassen. Lust hatte sie dazu absolut keine, denn ihr ging diese Mischung aus wichtigtuerischer Angeberei und weinerlichem Selbstmitleid, illustriert mit Anekdoten von „Früher im Bus“, „Früher auf Tour“, „Früher in der Szene“, und diese ganze erbärmliche Nostalgie-Schmalz-Nummer unglaublich auf den Geist. Leider stand in keiner Stellenbeschreibung, dass VIP-Bodyguards in allererster Linie seelische Mülleimer für deren Psychomüll waren.

Während sich die Band einen Raum teilte, hatte „Megastar“ Tommy natürlich eine Garderobe für sich allein. Das hätte vielleicht Sinn gemacht, wenn die Groupies Schlange gestanden hätten, aber so verstärkte es nur den Eindruck seiner Einsamkeit. Als Nina reinkam, saß er gerade vor dem Schminkspiegel und prostete sich selbst mit einem reichlich eingeschenkten Whisky zu.

Erfreut drehte er sich um: „Ey mein ultracooler Bodyguard. Komm Nina trink einen mit deinem Schützling.“

„Sorry Tommy. Du weißt ja im Dienst, klarer Kopf und so.“

„Quatsch! Ich befehle es, ich ordne es an! Ich bin ja nicht nur deine Schutzperson sondern auch dein Boss.“

„Ein Scheiß bist du Tommy. Du hast mich für eine genau bestimmte Aufgabe unter Vertrag und kannst mir nicht befehlen, wie ich die zu erledigen habe.“

„OK, OK“, er winkte großzügig ab, und deutete auf zwei Linien Koks, die er auf der Glasplatte vor sich gezogen hatte. „OK, kein Alk. Hab's kapiert. Aber ein Näschen in Ehren das kann niemand verwehren. Das bringt die grauen Zellen auf Trab.“ Sozusagen als gutes Beispiel zog er sich die erste Linie rein, warf dann den Kopf zurück und verkündete theatralisch: „Wow! Das fetzt rein. So, die zweite ist für dich.“

Ohne sich auf weitere Diskussionen einzulassen drehte sich Nina um und ging zur Tür.

„OK, stopp Nina, komm zurück. Keine Drogen mehr, ich schwörs. Nur noch ein paar praktische Dinge. Ganz dienstlich sozusagen.“

Sie blieb mit dem Rücken an die Tür gelehnt stehen und sah ihn abwartend an.

„Und was machen die Fans? Was Scharfes dabei? So eine kleine versaute Sechzehnjährige wär ungefähr das, was ich heute brauchen könnte.“

„Da kann ich dir leider nicht viel Hoffnung machen. Absolute Totenstille am Bühneneingang, nichts, nada. Du wirst wohl zum Abschluss des Konzerts einen öffentlichen Aufruf machen müssen. 'Alle ralligen Schmusekätzchen zum Bühneneingang. Alter Kater hat noch Termine frei.' Aber wer weiß, wenn du dich jetzt noch richtig ins Zeug legst, auf die Schmalztube drückst. Die Toten Hosen 'Alles aus Liebe' oder 'Altes Fieber'. Peter Maffay hattest du ja schon. Aber du wirst das schon hinkriegen. Aber nicht übertreiben, sonst drücken sie mich an der Tür noch flach.“

Weit davon verärgert zu sein, lehnte sich Tommy breitbeinig auf seinem Stuhl zurück und massierte sich mit einer Hand im Schritt. „Mann Nina, du kannst ja so gemein sein. Bist du als Lesbe gar eifersüchtig, weil die Mädels nicht für dich die Beine breit machen?“

Nina konnte ein spöttisches Lachen nicht unterdrücken. „Da müsste viel passieren. Zuerst müsste ich mal meine nekrophile Ader entdecken. Denn 'Mädels' ist sicher die Untertreibung des Abends. Nachdem was ich vom Publikum gesehen habe, hast du hier gute Chancen als Beglücker der tanzenden Mumien in die Ortsgeschichte einzugehen.“

„Na ja, jetzt mach mal halblang. Einige haben sich ganz gut gehalten. Außerdem habe ich mir vorhin schon mal einen kleinen Mr. Blue eingebaut. Was will ich also machen. Irgendwo muss ich mein dickes Rohr ja verlegen. Und wie sagt man so schön? Im Krieg wird jedes Loch zum Schützengraben.“

Er lachte gewollt schmierig und Nina hatte nun endgültig genug. Sie ging. Bevor sie aber ganz aus der Tür war, rief er ihr noch hinterher: „Ich verlass mich ganz auch dich Nina. Du hast den Kennerblick. Such einfach das festeste Fleisch aus.“

Was ein Arschloch. Aber mit etwas Glück würde sie ihm schon was raussuchen. So eine gierige Scheintote. Dann konnte Mr. Blue ja mal zeigen, was er so drauf hatte. Schade, dass sie hier in der finstersten Provinz waren. In Berlin hätte sie bestimmt so ein echtes Seuchenhuhn gefunden. Herpes, AIDS und was auch immer. Aber hier, diese Landeier waren alle so gesund.

Unter den nicht ganz wenigen Dingen, die sie an ihrem momentanen Job zum Kotzen fand, nahm Tommy ihre Schutzperson eine unangefochtene Spitzenposition ein. Sie hatte nie verstanden, warum zum Teil ganz attraktive Frauen mit diesem Kotzbrocken ins Bett gingen. Dachten sie, dass ein wenig „Glamour“, wie Fritze sagte, oder Starruhm an ihnen kleben blieb? Tommys Starruhm und Glamour waren allerdings mehr als verblichen, tot, vorbei, ranzige Scheiße. Was gab's da zu holen außer der totalen Frustration? Sie hatte auf dieser Tour bereits einige seiner Verehrerinnen mitten in der Nacht oder morgens nach Hause gefahren. Hatte sogar ein paar tröstende Worte dazugegeben, obwohl sie eigentlich der Ansicht war, dass die dummen Hühner wirklich selbst Schuld waren. Was hätte sie auch machen sollen? Sich mit einem Tommy-Poster mit der Aufschrift „Vorsicht Arschloch!“ vor den Bühneneingang stellen? So wie die Zeiten heutzutage waren, hätte sie damit vielleicht erst massenweise Kundschaft angelockt.

Für fünf Minuten ein Star, das war ja anscheinend der ganz große Wunschtraum von Millionen. Und wenn’s zum Star nicht reichte, wollte man wenigstens von einem Star gefickt werden, und wenn’s auch dazu nicht reichte, gab’s immer noch solche abgefuckten Leichenfledderer wie Tommy Hinterzartner. Aber es war wie gesagt einfach nicht ihr Bier. Nur manchmal fragte sie sich, ob diese um sich greifende Gehirnerweichung nicht ein Anzeichen für eine kommende Zombie-Apocalypse sein könnte. Schön wär’s, aber so viel Glück war ihr sicher nicht im Leben bestimmt. Sie würde also zumindest vorerst weiterhin nicht nur den Psychomülleimer für VIPs spielen, sondern auch hier und da deren amourösen Restmüll entsorgen müssen.

Sie stoppte vor dem großen Getränkeautomaten, der inzwischen die einstige Kantine ersetzte, und zog zwei Bier. Loser aller Länder vereinigt euch. Dann ging sie zu Rudi und stellte ihm eines auf den Tisch. Er nahm's gerne an, und sie unterhielten sich entspannt über bessere Zeiten, Arschlöcher im Allgemeinen und Tommy Hinterzartner im Besonderen. Sie waren sich einig, dass sie beide miese Jobs hatten, aber was sollte man machen.

Erst als ihr ein Blick auf die Uhr verriet, dass das Finale kurz bevorstand, verabschiedete sie sich. Sie machte sich auf den Weg zur Bühne, um bei einem unvorhergesehenen Ansturm die Fans in die richtigen Kanäle zu leiten. Als sie hinter der Bühne ankam, hatte sich Tommy noch einmal kopfüber in das seichte Meer aus Scheiße, Schmalz und Tränen gestürzt, wie Nina für sich diese Art der Unterhaltung getauft hatte. In einem letzten Versuch, die Ossis doch noch von den Sitzen zu reißen, hatte die Band „Über Sieben Brücken Musst Du Gehn“ angestimmt, und Tommy wünschte sich sein Schaukelpferd zurück. Aber auch die geballte Ostalgie nützte kaum etwas; lediglich ein Dutzend Zuschauer hatte Feuerzeuge entzündet, die sie mit äußerst verhaltenem Enthusiasmus über ihren Köpfen schwenkten; einige summten mit. Es war so erbärmlich, dass sich Nina nicht zwischen kotzen oder weinen entscheiden konnte und deshalb resigniert beides bleiben ließ.

Gleich nach dem letzten Akkord stürzte Tommy wütend von der Bühne und maulte: „So ein Scheißpublikum. Die können bis zum jüngsten Tag auf eine Zugabe warten. Man sollte den gesamten Osten die Toilette runterspülen.“

Nina hatte nicht den Eindruck, dass das Publikum eine Zugabe wünschte, sondern eher den, dass die große Mehrheit recht froh schien, den Abend endlich überstanden zu haben. Sie verkniff sich aber eine entsprechende Bemerkung, da es ein sinnloses Unternehmen war, Künstler oder Chefs aus den Träumen ihrer Selbstüberschätzung zu reißen. Vor allen Dingen aber wollte sie den Rest des lausigen Abends möglichst schnell und reibungslos hinter sich bringen. Also sah sie bei der Bühne nach, ob sie eventuell tatsächlich einen verirrten Fan abwimmeln musste. Aber anscheinend hatten alle etwas Besseres vor, was sie eigentlich nur deshalb überraschte, da sie auf der Tour bereits mehr als genug dumme Hühner kennen gelernt hatte. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung für die Menschheit. Nachdem sich alles verlaufen hatte, ging sie noch mal zum Bühneneingang. Auch dort absolut tote Hose. Nicht unzufrieden mit der Situation ging sie zur Garderobe um Tommy einzusammeln.

Da er seine Depressionen wie üblich mit Whisky pflegte, war er nach dem kläglichen Rest in der Flasche zu urteilen fast schon suizidgefährdet. Auf die Gefahr hin, ihn damit völlig über die Klippe zu treiben, erzählte ihm Nina kurz und schonungslos von den fehlenden Fans und Groupies. Das sei ihm scheißegal erklärte er wegwerfend, nach diesem Abend sei ihm sowieso die Lust vergangen jede Art von Zonen-Peggy zu bimbern, sollten die es sich doch mit ihren geliebten Bananen selbst besorgen.

„Warum lässt du dir eigentlich keine Nutten kommen?“ fragte ihn Nina später im Auto, als sie ihn zum Hotel fuhr. Die Bandmitglieder mussten noch abbauen und würden später mit dem Bus folgen.

„Warum lass ich mir keine Nutten kommen? Saudumme Frage.“ Tommy lag mehr als er saß auf dem Beifahrersitz und gestikulierte großkotzig. „Erstens einmal, weil ich die aus Berlin oder Dresden einfliegen lassen müsste. Oder meinst du, ich sollte mich in einem Fernfahrerpuff an der A4 bedienen? Ist aber sowieso scheißegal. Ich ficke keine Nutten. Aus Prinzip. Schließlich bin ich ein Star. Amateure Nina! Amateure, die einen mit verklärtem Blick anglotzen. Scheiß auf die Nutten. Normalerweise stehen die Fans Schlange und alles ohne Gummi. Schließlich wollen sie den Star in sich spüren, ihm seinen Samen rauben.“

„Hast du eigentlich keine Angst vor AIDS?“

Das war anscheinend eine echt gute Frage, denn Tommy richtete sich etwas auf und hob demonstrativ den Zeigefinger: „Weißt du Nina, was zwei der größten Lügen der Werbung sind?“

„Ich kenn da so viele, dass ich mich wohl kaum entscheiden könnte, aber du wirst es mir jetzt sicher sagen.“

„Nummer eins: Ist dieser Orangensaft, schmeckt wie frisch gepresst. Absolut unmöglich. So was von gelogen. Das kann man nur Vollidioten erzählen, die noch nie frisch gepressten Orangensaft getrunken haben.“

Er wartete und schließlich tat ihm Nina den Gefallen, da sie ja nicht die ganze Nacht Zeit hatten. „Und Nummer zwei?“

„Das ist genau wie mit dem O-Saft. Gefühlsechte Pariser. Das kann man auch nur jemanden erzählen, der noch nie gefickt hat. Und genauso wenig, wie ich diese schmeckt-wie-frischgepresst-Scheiße trinken werde, genauso wenig werde ich mir so ein Ding über meinen Hannes ziehen. Das kommt, nein besser DER kommt absolut nicht in die Tüte.“ Er lachte triumphierend.

„Aber wenn du dir was holst? Ist ja nicht ganz ungefährlich, was da alles so umgeht.“

„Ach was! No risk no fun. Mann, that's Rockn Roll. Ich bin doch keiner dieser Spießer, die sich bei jedem Fick in die Hose scheißen. Bei mir geht’s immer um alles und das ohne Netz und doppeltem Boden. Ich hab immer gedacht, dass gerade jemand wie du so was verstehen müsste. Was glaubst du, wie das früher war, auf den Tourneen. Wir haben immer gesagt, Jacutin und Canesten gehören in jeden Bus, wichtiger noch als Aspirin.“

„Was ist Jacutin?“

„Jacutin?“ Er lachte. „Wundermittel gegen Filzläuse. Das wisst ihr jungen Leute heute kaum noch. Die sind wahrscheinlich mit der Schambehaarung ausgestorben. Mann, was hatten wir manchmal Filzläuse, echte Sackratten. Diese Groupies damals, ich kann dir sagen. Ich erinnere mich noch an eine Tour durch Süddeutschland, da hat uns ein und dieselbe Filzlausfamilie über einen Monat begleitet.“ Er lachte wieder. „Weißt du, wenn ich sie und sagen wir mal der Bassist weg hatten, haben ein paar beim Schlagzeuger überlebt. Der hat sie dann dem nächsten Groupie angehängt, und ein paar Tage später wieder alles willkommen im Club. Mann, waren das Zeiten.“ Er seufzte, bevor er fortfuhr. „Wilde Zeiten. Ich könnt dir Dinger erzählen. Hinten im Bus...“

„Filzläuse können ja ganz witzig sein, aber was ist mit den härteren Sachen?“ Unterbrach ihn Nina, die sich einen Scheißdreck für hinten im Bus und so weiter interessierte.

„Was heißt schon härter? Ab und zu ein paar Penicillin und ab dafür. Von AIDS hatten wir alle keine Ahnung, zum Glück.“

„Was heißt zum Glück?“

„Ja, das wäre doch der absolute Spaßkiller gewesen. Als da die große Panikmache plötzlich losging. So eine Scheiße. Sogar ich hab ein paar weitgehend monogame Jahre rumgebracht.“

„Aber heute kennt man AIDS, und Penicillin wird dir da nicht viel helfen.“

„Ja und, wen juckt's? Mich jedenfalls nicht. Erstens stirbt man heute nicht mehr daran. Zweitens bin ich sowieso schon viel zu alt. Wenn ich also noch ein paar Jahre toure und dann an einer Geschlechtskrankheit sterbe, wäre doch ein stilvoller Abgang.“

Zum Glück erreichten sie das Hotel, bevor sich Nina noch allzu viele dieser dummen damals-im-Bus-Geschichten anhören musste. Sie verfrachtete Tommy in sein Zimmer. Erleichtert nun auch diesen Tag überstanden zu haben, ließ sie sich von ihm zu einem letzten Absacker überreden. Als sie die Minibar nach Whisky durchstöberte, wurde sie plötzlich von hinten umfasst und Tommy begann ihre Titten zu kneten.

Sie schnappte sich eine dieser Hände, drehte sich unter dem Arm weg, stand dadurch plötzlich hinter ihm und trat ihm kräftig in den Arsch. Bevor er richtig wusste, was passiert war, lag er keuchend auf dem Boden.

Besoffen wie er war, brauchte er seine Zeit um sich langsam, langsam wieder hochzurappeln. Dies wäre die ideale Gelegenheit für einen schnellen Abgang gewesen, aber irgendwie wollte sie ihm einfach die Chance geben, sich eine echte Tracht Prügel zu verdienen. Nach all dem Ärger, dem Gesülze, dem Ekel hatte sie sich doch auch eine nette Abwechslung verdient. Also sah sie geduldig zu, wie er langsam wieder hochkam.

Als er endlich wieder auf den Beinen war, grinste er sie an. „Dumme Schlampe, das hättest du nicht machen sollen. Jetzt hast du mich richtig in Stimmung gebracht. Du denkst wohl, ich hab's nicht drauf. Aber ich war früher auch mal ein Rocker, hab genug Schlägereien gehabt, sogar manchmal mit Bierflaschen und Stuhlbeinen.“

„Ja in deinen pubertären Träumen vielleicht. Solche Luftpumpen wie du verprügeln bestenfalls mal die Freundin. Mach mir den Kachelmann. Welcher Rocker lässt sich denn schon von einer Frau auf seiner Tournee beschützen?“

„Mich muss man nicht beschützen. Ich brauchte nur jemand, der mir die Weiber vom Hals schafft. Aber nebenbei warst du als Notnagel eingeplant. Ich wollte eigentlich was Hübscheres mit mehr Titten, aber das Angebot ist leider echt bescheiden. Also was krieg ich? Eine humorlose, verbiesterte Lesbe, die von Titten und blasen keine Ahnung hat. Aber wenn ich dich dort hinten über dem Sessel hernehme... dein Arsch ist ja ganz OK.“

Er bettelte also regelrecht darum. Nina ließ ihn auf sich zukommen und verpasste ihm eine kurze Gerade auf den Mund, nur um ihn anzustacheln. Prompt verzichtete er auch auf seine plumpen Umklammerungsversuche und schlug nun selbst mit der Faust zu. Sie ließ den Schlag kommen ohne auszuweichen. Er traf sie voll aufs Auge und schleuderte sie ein paar Schritte zurück. Das würde ein dickes Auge geben, war aber nicht weiter schlimm. Rollergirls konnten gut einstecken. Nachdem sie also ihr Teil hatte, duckte sie sich unter seinem nächsten super langsamen Schwinger mit Leichtigkeit weg, und trieb ihm kurz und schmerzhaft den Ellbogen in den Solarplexus. „Hau rein ist Tango“, dachte sie zufrieden. Als er dann wie in Zeitlupe runterkam erwischte sie seine Nase voll mit der Faust und hörte mit Entzücken wie es knackte.

2

Ingrid Pölnitz hatte eigentlich mehr als genug für die Uni zu tun. Alles Dinge, zu denen sie sich echt zwingen musste, da sie mit keinerlei Spaß oder Erkenntnisgewinn verbunden waren: gleich mehrere Anträge für neue Fördermittel, Anforderungen für eine Stellenneubesetzung (was im Klartext hieß, Argumente für ein reduziertes Gehalt und praktisch Null Aussichten auf eine Festanstellung), Vorbereitung des Treffens der Fachbereichsleiter. Wenn man eine Karriere als Dozentin für Literaturwissenschaft anstrebte, hatte man leider keine Vorstellung davon, dass die Berufspraxis später zu guten Teilen der eines Verwaltungsfachangestellten oder eines Wirtschaftsingenieurs entsprach. Ihr Vater hatte sie ja immer gewarnt, aber zu dessen Zeiten hatten sich Professoren noch vorwiegend Forschung und Lehre widmen können. Heute dagegen wurde man ständig zertifiziert, musste ISO-Normen für Qualitätsmanagement erfüllen und hatte noch tausend andere Aufgaben am Hals, von denen ihr Vater nie geträumt hatte.

Um diesen Berg an angehäuften Pflichtübungen etwas abzutragen, hatte sie sich seit Tagen eine Art Hausarrest verordnet und wollte deshalb ursprünglich auch auf das wöchentliche Training verzichten. Wenn sie ganz ehrlich war - und sie hielt Ehrlichkeit sich selbst gegenüber für unverzichtbar - , musste sie zugeben, dass Roller Derby trotz aller Faszination doch nicht so ganz das Richtige für sie war. Sie war immer sportlich gewesen und hatte sich auch nie für wehleidig gehalten, aber die Art und Weise wie die Rollergirls ihre Verletzungen zur Schau trugen, animierte sie nicht gerade zur Nachahmung. Blaue Flecken, Prellungen und Abschürfungen waren läppische Kleinigkeiten, über die man bestenfalls beim Duschen scherzte. Aber auch ein paar angebrochene Rippen oder Finger hielten kaum eine vom „Bier danach“ ab. Den Rekord hielt bislang ein Bout gegen die Bristol Harbour Harlots in dem fünf eigene Spielerinnen wegen Knochenbrüchen ausgeschieden waren.

Sie war eine überzeugte und sicher auch kämpferische Feministin, aber genau deshalb konnte und wollte sie nicht einsehen, warum junge Frauen Männer an martialischem Machogehabe übertrumpfen sollten. Aber ganz davon abgesehen, dass es ihr allein schon beim Gedanken an gebrochene Finger oder Abschürfungen flau im Magen wurde, konnte sie ja schlecht zu einer Sitzung mit einem blauen Auge erscheinen, oder bei einer Publikation um Aufschub bitten, da sie sich einen Finger gebrochen hatte. Irgendwie war es ja auch absurd. Da sollte sie mit den kaum 50 Kilo, die sie auf die Waage brachte, so ein Monster von über 70, das mit voller Geschwindigkeit und brutal glücklichem Gesichtsausdruck auf sie zuraste, abblocken. Ein Bodycheck von so jemandem fegte einen von der Bahn, wie einen Brotkrümel vom Tisch. Und wenn man hinterher nur ein paar Prellungen hatte, konnte man von Glück sagen.

Aber echte Rollergirls schreckten davor nicht zurück. Sie waren ja keine „Sissies“, „Prissies“, „Whiner“ - Englisch, besser eigentlich Amerikanisch war ganz groß in Mode - oder zur Not auf Deutsch Warmduscher, Weicheier - unter Frauen? - oder einfach Heulsusen. Obwohl ein halbes Dutzend Schiedsrichter darauf achteten, dass die Sache nicht völlig ausartete, waren Fouls die Regel. Wer nicht eine veritable Zeit auf der Strafbank gesessen hatte, hatte irgendwie nicht richtig gespielt, „prissy“ eben. Rollergirls spielten „bitchy“, das heißt sie jammerten nicht oder rannten zum Schiedsrichter, sie schlugen lieber zurück und am besten hart. Sie dagegen hatte einfach Schiss und kein Problem damit, dies auch zuzugeben. Deshalb würde sie auch sicher immer „Frischfleisch“ oder eben „fresh meat“ bleiben, wie die Anfänger beim Roller Derby genannt wurden.

Letzten Endes war das ja auch nicht wichtig; sie hatte ja nur einen tieferen Einblick in die Szene gesucht. In ihrem Projekt „Frauenräume“, das nach einer Reihe von Seminaren auch zu einem erfolgreichen Buch werden sollte, ging es um kulturelle Ausdrucksformen weiblicher Gruppen von den Literarischen Salons der Aufklärung bis zur Gegenwart. Bei der Diskussion in einem Seminar war sie von einer Studentin auf das Phänomen des Roller Derby aufmerksam gemacht worden. Zuerst hatte sie das Ganze für eine ziemliche Luftnummer gehalten; Frauen, die Volleyball spielten, konnte man ja auch noch nicht als Subkultur bezeichnen. Als sie sich später jedoch auf YouTube einige Videos angesehen hatte, war sie sofort von dieser kitschigen Mischung aus White Trash, Punk und Girl Power fasziniert gewesen. Hier hatte sie genau die Prise Subkultur, um ihrem Buch die richtige Würze zu geben. Auch das potentielle Bildmaterial war geradezu unbezahlbar.

Ihre Faszination hatte ausgereicht, dass sie sich fast sofort entschlossen hatte, aktiv mitzumachen. Die Gelegenheit O-Töne im Umkleideraum, in Kneipen und bei privaten Treffen zu sammeln war zu verführerisch. Außerdem wollte sie im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen nie eine reine Schreibtischgelehrte sein; ein paar Feldstudien an der Front waren genau das Richtige für sie. Vor allem wenn die Front so vital und sexy war.

Gleich beim ersten Training war sie Nina begegnet, woraus sich praktisch aus dem Stand eine sehr persönliche Beziehung entwickelt hatte. Da sie beide gut 10 Jahre älter als der Durchschnitt der Rollergirls waren, hatte es sich irgendwie von selbst ergeben, dass sie später in der Kneipe ins Gespräch gekommen waren. Trotz ihres betont antiintellektuellen Gehabes war Nina beeindruckt, dass sich eine „echte“ Professorin von der Universität Rollschuhe anschnallte und sich mitten unters „einfache Volk“ mischte. Dass Subkulturen von wissenschaftlichem Interesse sein könnten, war ihr noch nie in den Sinn gekommen. Als Ingrid dann auch noch als Beispiel ihr Buch „Zombie Kultur - eine Reaktion auf die Globalisierung“ erwähnte, hatte sie rundum gewonnen.

Schnell stellte sich heraus, dass Nina ein absoluter Fan des Genres war und fast jeden Film zum Thema kannte. Ingrid auf bekanntem Terrain kam schnell ins dozieren über Zombies als Reflexionen des kannibalistischen modernen Kapitalismus, was unter anderem ikonographisch dadurch unterstrichen wurde, dass die gotischen Ruinen des klassischen Horrorfilms nun durch Shoppingmalls oder Industriearchitektur ersetzt worden seien. Nina konnte mit einer ganzen Reihe interessanter Details und auch Fragen aufwarten.

Sie hatten sich über Stunden die Köpfe heißgeredet und dabei kaum zur Kenntnis genommen, dass die anderen nach und nach verschwunden waren. Ähnliche Situationen hatte Ingrid nur einige wenige Male während ihrer Studienzeit erlebt. Man wusste irgendwann nicht mehr, ob man vom Alkohol, vom Reden oder vom Zuhören mehr betrunken wurde. Wahrscheinlich arbeitete alles Hand in Hand. Sie sprachen über Zombies, trashige Filme, seltsame Dinge, die einem passieren können, und auch über ihre Familien. Sie hatten viel zu lachen, fühlten sich aber auch unglaublich nah und verstanden. Vor allen Dingen aber erschien ihr Nina immer interessanter, sie erinnerte sie an diese russischen Matrjoschka-Puppen, die immer neue Ansichten zeigten, wenn man dachte, man sei zum Kern der Sache vorgestoßen.

Nina war eigentlich Spanierin und zweisprachig aufgewachsen, zum Teil bei ihrem Opa, einem alten Faschisten und bei ihrer Mutter, die einst als Hippie über Ibiza nach Deutschland gekommen war, und nun eine bessere Deutsche als die Einheimischen sein wollte. Außerdem hatte Nina ein gutes Jahr in England gelebt. Sie war also alles andere als ein unbedarftes Huhn aus der Provinz. Zur Zeit arbeitete sie im Bereich Security, was Ingrid zwar ein wenig anrüchig fand, in dieser Nacht aber ausgesprochen cool klang, ganz besonders da Nina sich recht trocken und witzig über einige ihrer „mit Anabolika aufgepumpten Kollegen“ äußerte.

So war es also eigentlich nur der ganz normale Lauf der Dinge, dass sie irgendwann zusammen im Bett landeten. Ingrid hatte zwar hauptsächlich sexuelle Beziehungen zu Männern gehabt, hielt aber Bisexualität für die einzig adäquate Form eines modernen Lebens. Wenn auch das meiste dieser Nacht durch Alkohol vernebelt war, so blieb ihr doch die Erinnerung an eine der intensivsten Liebesnächte ihres Lebens. Später folgten weitere, dennoch ließ sich der Zauber dieser ersten Nacht nie richtig wiederholen.

Es lag sicher nicht am Sex, der ihre bisherigen - zugegebenermaßen nicht gerade ekstatischen - Erfahrungen um einiges übertraf. Aber so sehr Ingrid das auch genoss, war sie doch nicht bereit, sich von sexuellen Bedürfnissen dominieren zu lassen. Eher im Gegenteil. Sie hatte ihr hübsches Gesicht, ihren schlanken Körper und manchmal eben auch Sex schon gelegentlich dazu benutzt andere Menschen - meistens Männer - ihren Wünschen geneigt zu machen; natürlich nur, wenn dies ihren eigenen Neigungen entsprochen hatte. Frau wäre ja wirklich zu dumm, wenn sie mit der Emanzipation ihre traditionellsten Waffen auf den Müll geworfen hätte. Kurz und gut, sie hatte ein gesundes, wenn auch nicht erschöpfendes Sexualleben. Aber der Volksmund bezeichnete Sex ja nicht ohne Grund als das „Brot der Armen“, essentiell wichtig also vor allem für all jene, die kaum interessante Alternativen hatten. Und sie hatte weiß Gott, mehr als genug Alternativen, Pläne, Träume.

Vor allen Dingen erforderte eine echte Beziehung einfach viel, viel mehr als gegenseitige sexuelle Anziehung. Fundamental waren eine emotionale Bindung, Achtung und natürlich eine starke Kongruenz von Interessen und Lebensplanung. Und hierbei war sie in ihrer Beziehung zu Nina recht schnell an unüberwindliche Grenzen gestoßen.

Zuerst hatte ihre Faszination für Nina fast alles überdeckt, hatten sie diese wilde Kompromisslosigkeit, die Aggressivität, der ätzende Zynismus, der Hang zu Selbstzerstörung und Gewalttätigkeit irgendwie in ihren Bann gezogen, da es sich hier um Phänomene handelte, die sie eigentlich nur aus der Literatur kannte. Doch die glitzernde Fassade hatte schnell erste Risse bekommen, und dann bröckelten nach und nach ganze Stücke ab.

Am meisten störte sie Ninas Bequemlichkeit, das hieß genau genommen ihre massive Faulheit, die gepaart mit einer geradezu unglaublichen Gleichgültigkeit den meisten Dingen gegenüber daherkam. In ihrer eher reichlich bemessenen Freizeit machte Nina mit Begeisterung Sport: Roller Derby und Kickboxen. Beides eher abschreckende Full Contact Sportarten. Die restliche Zeit verbrachte sie bevorzugt vor dem Fernseher oder an der Theke. Ingrid zweifelte inzwischen daran, dass Nina jemals ein ganzes Buch gelesen hatte. Sie war zwar allzeit bereit, sich über die Missstände in Politik und Gesellschaft auszukotzen, blieb dabei aber gerne sehr vage und allgemein. Bei Spielfilmen und TV-Serien, die sie massenweise konsumierte, vermied sie nach Möglichkeit alle anspruchsvolleren Produktionen und bestand ausdrücklich „auf was Flachem mit Action“. Zusätzlich verstand sie sich darauf, dieser antiintellektuellen Vorliebe für das Banale einen pseudorevolutionären Anstrich zu geben. Currywurst und Bier waren proletarisch und damit OK, Weißwein und ein etwas elaboriertes Essen dagegen bourgeois.

Zu dieser Faulheit kam ein, zumindest für Ingrid, exzessiver Drogenkonsum. Man konnte hier sicher die Frage nach Ei oder Henne stellen. Nina trank täglich, meistens Bier, allerdings oft erst abends. Diese leichte Zurückhaltung kompensierte sie aber durch ihren Marihuanakonsum. Wenn sie den Nachmittag vor dem Fernseher verbrachte, rauchte sie gerne einen oder auch zwei Joints dazu, wodurch anscheinend auch die schwachsinnigsten Filme unterhaltsam wurden, oder vielleicht gerade diese. Abends, wenn sie Größeres vorhatte, nahm sie gerne Amphetamin, salopp als „Arbeiterkoks“ bezeichnet, von dem sie dann morgens mit Bier und Maria langsam wieder runterkommen musste.

Ingrid hatte selbst während ihres Studiums ein paar Mal Haschisch geraucht, sogar Ecstasy probiert, später gelegentlich Kokain, und Alkohol, wenn auch in Form von Weißwein, was sicher die Standarddroge deutscher Dozenten war. Sie war also alles andere als „spießig“, sondern durchaus offen diesen Dingen gegenüber. Sie hatte sich mit Nina oft genug betrunken und auch geraucht. Dennoch gab es für alles Grenzen, man sollte sich nicht von seinem Weg abhalten lassen, die wichtigen Ziele nicht aus den Augen verlieren. Leider schien Nina einfach keine Ziele zu haben, außer dem einen, sich selbst nach und nach zu zerstören.

Sie hatte genug darüber gelesen, „Live Fast, Die Young“, die Beat Generation, Rock'n Roll, Punk, Grundge. Als extreme Form des Hedonismus hätte sie es vielleicht - aber nicht sehr wahrscheinlich - akzeptieren können. Leider war aber Nina alles andere als ein glücklicher Mensch. Sie war fast konstant unzufrieden, beim geringsten Anlass bereit zu explodieren und jemandem an den Hals zu gehen. Außerdem hatte Ingrid an ihren Armen eine Menge Narben entdeckt. Viele waren dünne Linien, oft von den Tätowierungen gut überdeckt, andere hatten Form und Größe von Centmünzen. Nina hatte schließlich widerwillig zugegeben dass es Brandnarben von Zigaretten waren, angeblich Mutproben aus der Schulzeit. Ingrid glaubte das nicht so ganz, und sie wollte eigentlich gar nicht wissen, was jemanden dazu brachte sich selbst mit Zigaretten zu verbrennen und mit Rasierklingen zu schneiden.

Wenn Ingrid versuchte diese Probleme anzusprechen, reagierte Nina vollkommen gleichgültig; sie habe einfach eine Menge „mala leche“ - schlechte Milch. In Spanien bezeichnete man damit anscheinend eine Stimmung, die über 'schlecht drauf' weit hinausging und eine gehörige Portion aggessiver Bösartigkeit und Gemeinheit mit einschloss. Bei dem Versuch den Begriff zu erklären, hatte Nina selbst gesagt, sie fühle sich manchmal wie ein heimtückischer, bissiger Köter, und schien mit dem Vergleich recht zufrieden.

Das Traurigste aber war, dass Nina überhaupt nicht daran dachte, an ihrer Situation grundlegend etwas zu ändern. Sie war gereist, sprach Fremdsprachen, hatte eine schnelle Auffassungsgabe und war zweifelsohne recht intelligent. Trotzdem zog sie es vor, alle diese Talente brach liegen zu lassen. Viel lieber hasste sie die Reichen und die Schönen, verachtete die Glücklichen und die Schwachen. Auf Fragen und Anregungen reagierte sie mit Aggressivität oder Gleichgültigkeit. Gerne verschanzte sie sich dabei hinter einer Art vorgeschobenem Proletarierstolz - sie mochte alles Mögliche sein aber sicher keine Proletarierin -, und erklärte, dass sie nicht die allergeringste Lust habe, so glatt und schnullig zu werden wie die Masse der deutschen Bevölkerung, die Spanier seien allerdings auch nicht besser.

Dieses proletarisch pseudorevolutionäre Gebaren störte Ingrid zunehmend. Sie hielt es für unausgegorenes Geschwätz, das einzig dazu diente, gegen jeden und alles zu Felde zu ziehen. Mit irgendeiner Art von Analyse war es nie verbunden. Einmal hatte Nina zum Beispiel groß erklärt, dass es doch eine tolle Sache sei, mal in so eine Bankerbar eine Handgranate zu werfen, selbst wenn man ein, zwei Falsche erwische, würde es sich doch sicher lohnen. Außerdem gebe es nichts Geileres als mit Bankerblut bespritzte Thekenspiegel, vor allem, wenn das Blut langsam daran herunter laufe. Ingrid hatte daraufhin genervt gefragt, ob sie denn im Ernst glaube, dass so ein Wahnsinn irgendetwas zum Positiven ändere.

„Wenn sich nur jeder zehnte, den diese Schweine ruiniert haben, einen Banker vorknöpfen würde, anstatt sich still und leise aufzuhängen oder mitsamt seiner Familie zu erschießen, würde sich aber todsicher was ändern“, war Ninas rotzig coole Antwort gewesen.

„Natürlich würde sich was ändern, wir hätten hier einen Polizeistaat. Du kannst sicher sein, dass sich Banker nicht einfach von irgendwelchen armen Schweinen umlegen lassen. Es gibt genug Staaten, wo solche Verhältnisse herrschen, da bringen sich dann die Armen in den Slums gegenseitig um, und die Mächtigen schlemmen gelassen in ihren abgesicherten Luxusvierteln, nicht selten bewacht von solchen Organisationen wie WASP.“

Bei WASP handelte es sich um die Securityfirma, für die Nina arbeitete. Dort vermittelte man vor allem schlecht bezahltes Wachpersonal für Industrieanlagen und dickarmige Türsteher für Diskotheken. Da Nina wahrscheinlich mit Abstand die intelligenteste Person in dem ganzen Laden war - direkt nach ihr rangierten nach Ingrids Meinung die Schäferhunde -, außerdem eine der ganz wenigen Frauen und es auch in puncto Fitness mit einigen der Türsteher aufnehmen konnte, war die Tätigkeit für sie mit keinerlei Stress verbunden. Sie war dort sozusagen die Einäugige unter den Blinden. Den Schichtdienst verbrachte sie meistens in irgendwelchen Überwachungszentralen, wo sie sich ihre Zeit mit hirnlosen Ballerspielen oder Actionfilmen vertrieb. Anscheinend hatte sie auch Wege gefunden ihr Gehalt aufzubessern; ob sie in den alten Fabriken Buntmetall stahl und verkaufte oder vor den Diskotheken mit Drogen handelte, wollte Ingrid lieber nicht ergründen.

Wenn die Sprache auf WASP kam, war Streit praktisch unvermeidbar. Für Ingrid war es nicht nur eine stumpfsinnige und moralisch äußerst zweifelhafte Tätigkeit, sondern auch Ausdruck von Ninas Ambitionslosigkeit und Bequemlichkeit. Diese reagierte jedoch äußerst aggressiv auf jede noch so kleine Kritik an ihrem Refugium. Nach einigen Auseinandersetzungen wurde das Thema WASP von beiden gemieden. Es kam erst vor ein paar Wochen wieder aufs Tapet, als Nina stolz berichtete, dass sie den Sänger Hinterzartner als Bodyguard auf einer Tour durch die östlichen Bundesländer begleiten sollte. Ihr Chef hatte ihr den Auftrag in den leuchtendsten Farben ausgemalt. Er sollte der Einstieg von WASP ins angesehene Bodyguard-Business werden, weg vom reinen Wach- und Türsteherdienst.

Leider hatte Ingrid bereits zu viel Groll wegen WASP angesammelt und irgendwie auch einen schlechten Tag gehabt. Deshalb hatte sie sich nicht ganz beherrschen können und bissig bemerkt, dass Hinterzartner mit Whitney Houston ja nicht gerade viel gemein habe, dafür aber die ostdeutsche Provinz für ihre Kulturereignisse ja sicher berühmt sei, und sie selbst von dem kometenhaften Aufstieg von WASP und Nina tief beeindruckt sei. Nina war darauf auf dem Absatz umgedreht, wortlos gegangen, allerdings nicht ohne die Tür kräftig zugeknallt zu haben.

Das war's dann wohl, hatte Ingrid mit einer seltsamen Mischung aus Erleichterung und Bedauern gedacht. Nina war offensichtlich mit ihrem VIP entschwunden und Ingrid hatte sich nicht weiter den Kopf zerbrochen. Bis ihr dann an einem Kiosk die Schlagzeile der Bild - auch im Zeitalter der neuen Medien immer noch unübersehbar - ins Auge gefallen war. „Hinterzartner von Kampfsport-Lesbe umgehauen!“ Wahrscheinlich war es die erste Bildzeitung, die sie in ihrem Leben jemals gekauft hatte, aber wahrscheinlich war ja Nina auch die einzige unter ihren Bekannten die es jemals auf die legendäre Titelseite geschafft hatte. Mein Gott, dachte sie, möglicherweise auch so ziemlich das erste Mal in ihrem Leben, als sie aufgeregt den Artikel überflog.

Viel gab's da allerdings nicht. Nach einem Konzert war Hinterzartner in seinem Hotel von seinem weiblichen Bodyguard, Angehörige einer Berliner Securityfirma übel zusammengeschlagen worden. Anschließend war er wegen einer gebrochenen Nase ins Hospital gekommen. Die Frau, Janina Rossbacher, Spanierin von Geburt, eine „militante Lesbe“ nach Aussage eines Bandmitglieds, übte mehrere Kampfsportarten aus. Was genau zu der Tat geführt habe, sei leider nicht bekannt, da sich sowohl der Star wie auch die Securityfirma in Schweigen hüllten und Frau Rossbacher verschwunden sei. Anklage sei bislang nicht erhoben worden.

Ingrid hatte natürlich sofort versucht sich mit Nina in Verbindung zu setzen. Handy, E-Mail, SMS, WhatsApp, alles vergeblich. Das war größtenteils verständlich. Wenn die Reporter der Bild hinter einem her sind, geht man sicher erst mal auf Tauchstation; manche würden ihr Handy sofort in die Spree werfen. Sie hatte mehrere E-Mails geschickt aber auch da keine Antwort erhalten. Es war natürlich möglich, dass Nina im Moment keinen Internet-Zugang hatte. Wahrscheinlicher war allerdings, dass sie immer noch etwas sauer war und einfach keine Lust hatte, sich irgendwelche Moralpredigten nach dem Motto „ich hab recht gehabt“, „habs dir gleich gesagt“ etc. anzuhören.

Nichts lag Ingrid ferner. Sie war mehr als bereit, die alten Streitereien einfach zu vergessen, wenn Nina nur ein wenig eingesehen hatte, dass ihre Tätigkeit für diese schäbige Securityfirma letztendlich nur in eine Sackgasse führten und weder ihren Talenten noch ihrem eigentlichen Charakter entsprach. Vielleicht waren so ein Skandal, eine Schlagzeile in der Bild ja notwendig gewesen um sie wachzurütteln, sie endlich etwas in Bewegung zu setzen. Ingrid hatte sich deshalb sofort entschlossen, diese Woche pünktlich zum Roller Derby Training zu erscheinen, da eine reale Chance bestand Nina dort anzutreffen, und falls nicht, konnte sie eventuell etwas mehr von den anderen Spielerinnen erfahren.

3

Zur Feier des Abends hatte sich Nina etwas Speed gegönnt und ihren Auftritt zugegebenermaßen mit ein wenig Dramatik geplant. Leicht verspätet, als alle bereits mit Dehnungsübungen angefangen hatten, schoss sie in die Halle und drehte mit erhobenen Armen eine Ehrenrunde. Alle klatschten, manche pfiffen auch durch die Finger. Es war klar, sie war der Star des Abends. Sie hatte natürlich sofort bemerkt, dass auch Ingrid erschienen war und ihr kurz zugenickt. Da Ingrid sofort den Gruß mit einem strahlenden Lächeln erwidert hatte, nahm sie mal an, dass der alte Streit beerdigt war. Das ließ einen perfekten Abend erwarten. Sie konnte erst einmal bei einigen Bieren die ganze Gruppe mit ihren Abenteuern unterhalten. Tja, und anschließend konnte sie sich noch ein wenig intensiver mit Ingrid beschäftigen. Sie war ja wirklich wieder süß heute Abend, so schmal in ihrem Kostümchen als Rollergirl, was sie ja sicher nie werden würde. Die letzten Wochen waren wirklich ein bisschen einsam gewesen, und etwas Frischfleisch auf die Nacht... Es war wie so oft auf Speed, in ihrem Kopf fiel alles an seinen Platz, alle Räder klickten ein und die Maschine zog voll los.

Sie drehte ihre Runde zu Ende und es klickte. Old Schweiß, der Trainer, der ihr wohlwollend zugesehen hatte, rief nun wieder alle zur Ordnung und die Übungen wurden fortgesetzt. Auch Nina reihte sich ein. Voll mit Adrenalin und mit Speed erschien ihr das durchaus harte Training eher wie ein Aufwärmen. Aber sie nahm's mit Schwung und Humor. Auch bei dem Trainingsspiel zum Abschluss war sie ungewohnt gnädig und verhielt sich, zumindest für ihre Verhältnisse, ausgesprochen rücksichtsvoll.

Im Umkleideraum gab's dann erst mal eine Kurzversion. Hinterzartner hatte sie im Hotel massiv angegangen, und als er trotz mehrfacher Ermahnungen seine Finger nicht bei sich behalten hatte, hatte sie halt zugeschlagen. Zuerst mäßig aber als er zu klammern begann und seine über 100 Kilo zum Einsatz bringen wollte, hatte sie wie bei einem dezenten Foul den Ellbogen gebraucht. Voll in den Solarplexus. Der Schlag auf die Nase kam dann praktisch automatisch, mehr ein Reflex. Mehr Details gab's dann in der Kneipe. Dort erklärte sie schließlich auch die folgenden Ereignisse, die rechtlichen Komplikationen und ihren großen Abgang bei WASP.

Nachdem sie Hinterzartner also auf die Bretter geschickt hatte, war sie erst mal nach Berlin zurückgefahren. Sie hatte sich zwei Tage Auszeit gegönnt, bevor sie sich bei Fritze gemeldet hatte. Der hatte inzwischen nicht nur den Bildzeitungsartikel gelesen, sondern auch mit dem Anwalt von Hinterzartner ein längeres Telefonat gehabt und war völlig hysterisch. Anstatt groß ins Geschäft mit der VIP-Security einzusteigen, sah er einen schrecklichen Skandal und immense Schadensersatzforderungen auf sich zukommen. Um aus diesem Desaster mit möglichst geringen Verlusten rauskommen, hatte er, charakterloses Schwein, das er nun mal war, beschlossen, dass Nina den Sündenbock abgeben musste. War ja nur logisch meinte er; im Schach opfert man ja auch reihenweise Bauern um dem König eine Galgenfrist zu verschaffen. Ihren Standpunkt wollte er deshalb gar nicht hören, sie war eine völlig freie Mitarbeiterin, Ausländerin; genau betrachtet kannte er sie eigentlich gar nicht richtig.

Zum Schlachtfest, bei dem Nina ans Messer geliefert werden sollte, wurde für den nächsten Tag ein Treffen mit Hinterzartners Anwalt in Fritzes Büro vereinbart. Als sie dann dort pünktlich und allein eintraf, sah sie sich Fritze, seinem Anwalt und zwei Anwälten von Hinterzartner gegenüber. „Da saß ich also wie das arme Sünderlein, oder wie das Häschen in der Grube“, beschrieb sie genussvoll ihrem Publikum die Situation und nahm erst mal einen tiefen Schluck Bier. Rollergirls waren hart im Nehmen und alles andere als feige, aber Anwälten gegenüber wurde den meisten doch eher mulmig.

Während Fritze Wiegand gleich mit einer Art Deklaration begann, in der er alle Schuld und Verantwortlichkeit von WASP zu Nina schob, verhielten sich Hinterzartners Anwälte sehr reserviert und abwartend. Nachdem sie das Geseiere eine Zeit lang angehört hatte, wandte sich Nina direkt an diese, ohne Fritze weiter zu beachten.

„Wir sind uns sicher einig, dass sexuelle Belästigung ein äußerst ernstes Thema ist. Dass zweitens der gute Herr Hinterzartner hierfür ausreichend bekannt ist. Was Sie wahrscheinlich noch nicht wissen, sich aber vielleicht denken können, ist, dass mir die Bild bereits eine fünfstellige Summe für meine Version der Geschichte angeboten hat, natürlich mit allen möglichen schlüpfrigen Details angereichert.“

Fritze japste regelrecht nach Luft. Als er jedoch zu einer neuen Tirade anheben wollte, brachte ihn der ältere der beiden Anwälte mit einer kleinen Geste zum Schweigen und sah dann Nina nachdenklich an: „Natürlich ist sexuelle Belästigung ein ernstes Thema. Aber gegen Herrn Hinterzartner liegen hier weder Klagen noch Beschwerden vor. Es gibt dagegen Aussagen von Bandmitgliedern, dass Sie ihm gewisse Avancen gemacht haben sollen und er darauf äußerst korrekt reagiert hat.“

Nina lachte spöttisch. „Das sollte noch nicht mal einen Versuch wert sein. Ich bin ja inzwischen bundesweit als Kampfsport-Lesbe bekannt. Da wird wohl kaum ein Richter oder Geschworener glauben, dass ich nur den kleinsten erotischen Gedanken an Hinterzartner verschwendet habe. Außerdem hab ich immer noch das blaue Auge und ein paar Fotos davon, die ich gleich danach mit dem Handy in meinem Hotelzimmer gemacht habe. Aber wahrscheinlich wollten Sie ja nur darauf raus, dass man hier einfach alles behaupten kann, weil's keine echten Beweise oder Aussagen von Dritten gibt. Leider, leider täuschen Sie sich hier gewaltig.“

Sie zückte ein kleines schwarzes Notizbuch. „Hier habe ich Namen und Adressen von genau sieben Frauen, die mir zum Teil nach geradezu traumatischen Nächten mit Hinterzartner die Ohren vollgeweint haben. Morgens am Frühstücksbuffet oder wenn ich sie nachts noch nach Hause gefahren habe. Eine oder zwei von ihnen haben mir sogar blaue Flecken gezeigt. Was glauben Sie, was die vor Gericht erzählen?“

Als der Anwalt auffordernd die Hand ausstreckte, lachte sie nur und steckte das Notizbuch wieder ein. „Damit Sie dort mit dem Scheckbuch auftauchen. Daraus wird leider nichts. Diese Damen sehen Sie erst bei Gericht, oder wenn die Bild eine Serie daraus macht. 'Der Stecher der Weißen Witwen auf Tour im Osten' oder so was in der Art. Aber nur für den Fall, dass Sie wirklich nicht genau wissen, was für einen Kotzbrocken Sie vor Gericht vertreten wollen, hier eine klitzekleine Kostprobe.“

Sie zog ein kleines Aufnahmegerät aus der Tasche, hielt es etwas hoch und drückte auf Wiedergabe. Man hörte eine schluchzende Frauenstimme: „Er ist so gemein, so gemein“, nach einem weiteren Schluchzen hörte man Ninas Stimme: „Na ja, ganz ruhig. Jetzt trinken Sie das erst mal.“ Dann hörte man wie eine Zigarette angezündet wurde. „Ich verstehe das nicht, zuerst war er so sympathisch...“ Hier stellte Nina das Gerät ab. „Mann, so was im Gerichtssaal. Was glauben Sie, was da an Schadensersatzforderungen auf Sie zukommt? Wenn erst mal eine angefangen hat. Im Moment sind diese Frauen wahrscheinlich alle damit zufrieden, dass ich diesem Schwein auf die Nase gehauen habe. Sie sparen sich also eine Menge Kohle und noch viel mehr Ärger.“

Es folgte ein längeres betretenes Schweigen, dann räusperte sich der Anwalt und sagte: „Ich sehe, dass Sie gut vorbereitet zu diesem Treffen erschienen sind, also nehme ich an, dass Sie sich auch schon überlegt haben, wie wir diese ganze unangenehme Angelegenheit zur gegenseitigen Zufriedenheit aus der Welt schaffen können.“

Und damit war die Schlacht gewonnen. Nach einigem Feilschen einigten sie sich auf ein ansehnliches Schmerzensgeld, im Gegenzug verzichteten alle Parteien auf weitere Rechtsmittel und Nina verpflichtete sich schriftlich zur Vernichtung aller Unterlagen. Fritze wurde dabei von allen übergangen.

Die Mädels waren von der Wendung der Dinge und Ninas cooler Strategie alle tief beeindruckt. Dennoch blieb eine seltsame Stimmung im Raum. Schließlich brachte es eine von ihnen auf den Punkt: „Aber warum hast du das Schwein nicht angezeigt? Schmerzensgeld hättest du auch vor Gericht rausholen können. Und dann wäre er richtig untergegangen.“

„Das stimmt natürlich - theoretisch. Leider hatte ich absolut nichts auf der Hand. Ich habe einfach geblufft. Die hatten alles, Hinterzartners Band hätte einen Meineid nach dem anderen geschworen. Mein schwarzes Notizbuch hatte ich mir am Tag vor dem Treffen gekauft und mit Fantasieadressen gefüllt. Bärbel Stövel aus Ilmenau, Schillerstraße 12. Straßen hab ich bei Google nachgesehen. Der Rest alles Fantasie. Die Tonaufnahme hab ich morgens mit meiner Nachbarin gemacht. Alles gefaket. Und sie haben es gefressen, weil sie wissen, dass der Typ ein Schwein ist. Aber vor Gericht wäre ich im kurzen Hemd dagestanden, aber im ganz kurzen. Und die Bild, na ja, keinen Pfennig.“

Jetzt war ihr die ungeminderte Bewunderung sicher. Sie mutterseelenallein gegen drei Anwälte und ihren Chef, und sie hatte alle ausgetrickst. Das Bier floss in Strömen und Nina ließ keinen Zweifel daran, dass heute alles auf ihre Rechnung ging, das hieß genau genommen ja auf die von Hinterzartner. Sie war die ungekrönte Königin des Abends und musste unter allgemeinem Gelächter noch einige Details genauer wiedergeben. Wie zum Beispiel Fritze zaghaft versucht hatte, auch noch etwas von der Entschädigung abzubekommen und sie ihn eiskalt hatte ablaufen lassen und anschließend gekündigt hatte.

Bald löste sich die Runde jedoch auf, einige mussten nach Hause, die übrigen verzogen sich in andere Ecken der Bar und ließen Nina allein mit Ingrid zurück. Obwohl dem ja keineswegs so war und sie auch nie in der Öffentlichkeit als Paar aufgetreten waren, wurden sie von den Mädels als solches wahrgenommen und stillschweigend akzeptiert. Nina hatte sogar gehört, dass manche sie „the Beauty and the Beast“ nannten. Das war zwar sicher eher liebevoll gemeint; man musste sich aber nicht den Kopf zerbrechen, wer dabei wohl mit Schöne und wer mit Biest gemeint war.

Egal, heute würde das Biest jedenfalls auf seine wohl verdienten Kosten kommen. Von wegen „Losermentalität“, „Schlägertruppe der herrschenden Klassen“, laber, laber. Sie hatte Fritze den Job einfach so vor die Füße geworfen. Vor allem aber war sie angetreten gegen eine ganze Bande von Winkeladvokaten, mit ihren Boss-Anzügen, ihren beschissen rosa-gestreiften Hemden, ihren Aktenköfferchen und Organizern. Sie allein wie das tapfere Schneiderlein, nur mit einem gefaketen Notizbuch und einem Billigrekorder. Genau genommen, hatte sie einen guten Teil der Show vor den Mädels hauptsächlich für Ingrid abgezogen. Damit sie endlich einsehen konnte, wie sehr sie sich getäuscht hatte, wie sehr sie ihr Unrecht getan hatte. Scheiß auf das Schmerzensgeld, heute Nacht würde sie ihre echte Belohnung kassieren. Nein, sie erwartete keine Entschuldigung - scheiß auf Entschuldigungen! - aber ein wenig Respekt, einfach so wie's am Anfang war, als sie sich kennen gelernt hatten.

„Ich freue mich wirklich, dass du so gut aus der Sache rausgekommen bist. Ich hatte mir wirklich Sorgen gemacht, als ich die Bild gesehen habe. Ich habe versucht dich anzurufen und überlegt, welchen Anwalt ich dir empfehlen kann. Aber du hast es ja alles alleine hinbekommen. Du bist intelligent genug, wenn's drauf ankommt. Jetzt hast du sogar ganz gut Geld bekommen.“

Ingrid sah etwas müde aus, etwas mitgenommen. Na ja, nicht jeder konnte ja auf einem Adrenalinrausch daherschwimmen. Aber möglicherweise konnte sie das ja ändern. Sie legte Ingrid die Hand auf den Arm und sagte: „Ey, es ist erledigt, ich hab gekündigt, hab Kohle, sobald du dir ein paar Tage freimachen kannst, können wir ein wenig rausfahren. Den ganzen Scheiß einfach vergessen.“

„Deine Aufnahme da, das war nur ein bedingtes Fake. Du hast solche Gespräche geführt, wahrscheinlich hast du sogar die blauen Flecken gesehen. Warum hast du eigentlich gewartet, bis er dir selbst an die Titten langt?“

Abrupt zog Nina ihre Hand zurück. Dieser unerwartete Vorwurf hatte sie wie ein Tiefschlag getroffen. „Was soll der Scheiß? Musst du hier mit aller Gewalt alles kaputtdiskutieren? Natürlich hat's mir nicht gefallen. Aber was glaubst du, wie das ist? Ich bin am Künstlereingang gestanden und da kamen sie aufgetakelt wie sonst noch was. Ich hab einige weggeschickt, war unfreundlich wie sonst was. Eine, die ich weggeschickt habe, ist dann im Hotelfoyer an Hinterzartners Arm triumphierend an mir vorbeigezogen. Also was geht’s mich an? Du kannst Frauen nicht helfen, bevor sie es nicht wirklich satt haben. Und genau hier kommen wir zu unserem Oberarschloch Hinterzartner. Er ist, wenn du mich fragst, genau das richtige Brechmittel, von dem es vielen Frauen schlecht wird, ohne aber bleibenden Schaden anzurichten.“

Erst jetzt fiel Nina auf, dass sich Ingrids Gesichtsausdruck merklich verändert hatte. Augen und Munde waren etwas verkniffen und sie schien sich krampfhaft an ihrem Bier festzuhalten. „Es wundert mich immer wieder“, begann sie und ihre Stimme klang deutlich verärgert, „wie du dir die Welt zurechtbiegst. Du führst diesem Schwein irgendwelche unbedarften Frauen zu, wirfst sie am 'Morgen danach' wahrscheinlich sogar noch raus. Und dann verkaufst du dies auch noch als notwendige Lehrstunde auf dem steinigen Pfad zur Emanzipation.“

„Ich hab ihm überhaupt niemand zugeführt. Ich hab, wie gesagt, im Gegenteil noch einige abgehalten. Aber während ein paar, die vorher ja unbedingt nicht hören wollten, sich nur die Wimperntusche mit ein paar Tränchen ruiniert haben, hab ich dem Schmierlappen gut aufs Maul gegeben. Und das war gar nicht so einfach, wie du vielleicht glaubst. Der bringt mindestens 30 Kilo mehr auf die Waage als ich und war mal ein gefährlicher Rocker.“ Sie lachte spöttisch. „Entschuldigung, Scherz für Insider. Wirst du leider nie verstehen.“

„Das ist so dein Universalmaßstab: aufs Maul schlagen. Wer das macht, ist im Recht, der jämmerliche Rest ist dagegen selbst schuld. Mit dieser Mentalität und deinen einschlägigen Erfahrungen bei Hinterzartner könntest du auch als Madam in einem Bordell arbeiten. Da muss man wahrscheinlich auch manchmal ein wenig hinlangen.“