Blut des Lebens - Das Flüstern der Raben (5) - Malene Sølvsten - E-Book

Blut des Lebens - Das Flüstern der Raben (5) E-Book

Malene Sølvsten

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Beschreibung

Ein Muss für alle "Flüstern der Raben"-Fans: Die ergreifende Geschichte von Elias, einer der beliebten Schlüsselfiguren der Bestsellertrilogie Der Apotheker und Alchimist Elias ist sowohl Verführer als auch Verräter, und vor allem tut er nichts, ohne dafür eine Gegenleistung zu erhalten. Doch einst zerstörte ein verhängnisvoller Fehler sein Leben, und seither führt Elias einen jahrhundertelangen Kampf um die Wiedererlangung dessen, was er für immer verloren hat. Nichts darf seinem Vorhaben im Wege stehen. Bis er eines Tages jemanden trifft, der die Zeit kontrollieren kann. Will Elias seine Vergangenheit überwinden, kostet ihn das nicht nur seine Zukunft, sondern auch die von Anne ... 'Ansuz', der erste Band der "Flüstern der Raben"-Trilogie: Ausgezeichnet mit dem renommierten Jugendliteraturpreis BUXTEHUDER BULLE 2022!

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Malene Solvsten

Blut des Lebens

Ein Flüstern der Raben-Roman

Aus dem Dänischen von Dagmar Lendt und Dagmar Mißfeldt

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

Livets blod im Verlag Gyldendal, Kopenhagen.

 

Deutsche Erstausgabe

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

© Malene Sølvsten & Gyldendal, Copenhagen 2019

Published by Agreement with Gyldendal Group Agency

Übersetzung: Dagmar Lendt und Dagmar Mißfeldt

Covergestaltung: Mette Breth

Coverüberarbeitung: Niklas Schütte

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-180-1

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

Besaßen nicht Seele,

und Sinn noch nicht, Nicht Blut noch Bewegung,

noch blühende Farbe. Seele gab Odin,

Hönir gab Sinn, Blut des Lebens gab Lodur

und blühende Farbe.

 

Weissagung der Völva, 10. Jahrhundert

Prolog

Das Seidengespinst glänzte im Mondschein. Die Spinne zog mit dem hinteren Beinpaar einen fast durchsichtigen Faden aus ihrem Leib und hing daran schwebend über dem Wasser. Ihr Körper war so stark angeschwollen – es grenzte an ein Wunder, dass das Netz ihr Gewicht hielt.

Bevor der Abend sich dem Ende neigte, würde es eine noch schwerere Last tragen müssen.

Ihren hellen Rücken durchzogen unterschiedlich braune Streifen, die der Zeichnung auf den Flügeln von Nachtfaltern ähnelten. Die Spinne arbeitete sorgfältig und geduldig. Aus ihren Spinnwarzen zauberte sie eine beeindruckende Menge an glänzender Seide. Dann hielt sie inne und zog kräftig, als stecke etwas in ihr fest.

Elias beugte sich vor. Eine Brise zerzauste sein Haar. Im Schutz der Schatten beobachtete er die Spinne mit angehaltenem Atem. Im Kraghede Skov rauschten und knarrten Bäume, und der Tau legte sich wie ein Schleier auf ihn. Die Nacht zur Schwelle des Sommers war lau, und den nahenden Tag würde lauter Sonnenschein erfüllen.

Elias hielt seine Beobachtung in einem Notizbuch fest, ohne die Spinne aus den Augen zu lassen. Im Dunkeln konnte man das Papier ohnehin nicht sehen. Er hoffte nur, dass er am Morgen seine Schrift würde entziffern können.

Schließlich gelang es der Spinne, eine perlmuttfarbene Blase aus sich zu ziehen, die die Mondstrahlen widerspiegelte. Das Tier kroch ein paar Fingerbreit hoch, bevor es sich umdrehte, leicht schaukelte und die Perle am Ende des Fadens in Schwingungen versetzte.

Elias konnte nichts riechen, hörte aber das schnelle Schlagen von zarten Flügeln.

»Die weibliche Spinne sondert einen Stoff ab«, schrieb Elias im Dunkeln. »Er ist für Menschen geruchlos, aber meine Beobachtungen lassen keinen Zweifel zu: Sie fängt ihre Beute, statt sie zu jagen.«

Er befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze. In dem Augenblick kam ein männlicher Nachtfalter angeflogen. Er flatterte um die Falle. Viermal größer als die Spinne, sah er beeindruckend aus. Doch mit einem Bein klebte er schon am Faden, und durch sein hektisches Zappeln schnürte er sich schnell darin ein. Die kleine Spinne kletterte nach unten und umwickelte den Nachtfalter mühsam mit Seide. In einer tödlichen Umarmung schaukelten die Tiere hin und her, und für einen kurzen Moment glich es einem liebevollen Tanz.

Schließlich hingen sie bewegungslos; der Nachtfalter, den die weibliche Spinne fest umklammert hielt, war jetzt ganz und gar in weiße Fäden eingesponnen. Falls der Nachtfalter in seiner Hülle noch lebte, konnte oder wollte er sich nicht mehr rühren.

Elias schlug sein Notizbuch zu. Ein leiser Knall war im Schatten zu hören. Dann verließ er seinen Platz unter dem Baum, weil er in dieser Nacht noch mehr zu tun hatte.

Kapitel 1

Die Würfel fielen laut knallend auf das Holzbrett. Odin hielt sich die Hand vor den Mund. Sein schwarzes Haar hing über seinen Rücken, und die Haut um die eine leere Augenhöhle durchzogen feine Falten. Er saß auf einem Stein vor einem verzierten Brett, auf dem unterschiedlich geschnitzte und bemalte Spielfiguren standen. Eine stellte einen Mann mit einem Hammer dar, und eine andere war wie ein Eiskristall geformt. Wiederum andere sahen aus wie Wölfe, Vögel und Bäume. Gegenüber befand sich eine Reihe identischer hölzerner Menschenfiguren, die so grob bearbeitet waren, dass nicht zu erkennen war, ob sie Männer oder Frauen, Erwachsene oder Kinder darstellten. Auf Odins Schultern saß je ein Rabe. Einer pickte ihn ins Ohrläppchen, der andere betrachtete aufmerksam das Hnefatafl-Spiel.

»Was hast du gewürfelt?«

»Tīwaz und Dagaz. Ich besitze also für einen Tag die Macht von Tyr.« Odin verschob die Spielfigur, die einen Mann mit fehlendem Unterarm darstellte.

Loki stand nackt mitten in der Höhle. Seine Haut bedeckten blaue Tätowierungen von Spiralen, Tieren und Pflanzen. An Knie, Bauch und Schultern war er an Mühlsteine gekettet. Seine Hand- und Fußgelenke waren mit verdorrten Gedärmen gefesselt. Über seinem Haupt lauerte eine Schlange, deren Körper den Umfang eines Eichenstammes und deren Kopf die Größe eines Pferdes besaß. Aus ihren Fangzähnen tropfte Gift. Eine Frau, die aussah wie ein wandelndes Skelett, fing die Tropfen in einer Schüssel auf. Ihre Kleider wurden nur noch von wenigen Fetzen zusammengehalten, und ihre Arme zitterten vor Anstrengung, die Schüssel in der richtigen Position zu halten. Da schwappte das fast volle Gefäß plötzlich über.

»Dein Gewinn nützt dir nichts, weil du bereits Tyrs Kräfte beherrscht«, kicherte Loki.

Odin sprach in seine Handfläche und unterdrückte so seine Flüche, die er offensichtlich ausspuckte. Das brachte Loki noch mehr zum Lachen.

»Thulr! Du alter Nörgler.«

Odin nahm seine Hand wieder herunter und sah Loki aus seinem einen Auge wütend an. »Du machst noch Witze, so, wie du dastehst? Du solltest froh sein, dass ich dich überhaupt besuche.«

»Ach, lass gut sein. Du liebst die Opfer, die die Menschlein dir bringen, jedes Mal, wenn du eine Naturkatastrophe oder einen Seuchenausbruch gewinnst. Aber nur einmal Glück beim Würfeln und die höchste Punktzahl, und ich bin frei.« Er sang: »Frei, frei, frei. Na, wer würfelt für mich?«

Die Raben auf Odins Schultern schlugen mit den Flügeln. Neben dem Hnefatafl-Brett stand auf dem staubigen Boden Mimirs abgehackter Kopf, der traurig von einem zum anderen blickte.

»Keine Arme – kein Würfelspiel.« Mimirs Stimme war dünn wie ein Blatt Papier.

Odin schüttelte die Würfel klappernd und schritt dabei langsam auf Loki zu. Sigyn war zwei Köpfe kleiner als der Gott und sah mit aufgerissenen Augen zu ihm hoch, als er Loki die Würfel auf der flachen Hand hinhielt.

»Puste.«

Loki legte den Kopf schräg. »Ich habe Haare in den Augen.«

Behutsam strich Odin ein paar graue Locken aus Lokis Gesicht. Als er dessen Haut berührte, schmiegte Loki seine Wange an Odins Hand, obwohl er die Würfel darin hielt. Sigyn schaute weg.

»Puste jetzt!«, flüsterte Odin.

Loki richtete den Kopf auf, schürzte die Lippen und blies langsam. Raureif erfüllte die Luft in der Höhle, die Goldwürfel bedeckte Frost, und die Haut auf Odins Handfläche schimmerte bläulich. Er ballte die Finger um die eiskalten Metallwürfel zur Faust und kehrte Loki und Sigyn den Rücken zu. Abermals beugte er sich über das Spielbrett und öffnete die Hand.

»Welche Runen kommen raus?« Loki hielt den Atem an.

»Jēra und Īsaz. Also Jahr und Eis.«

Loki blickte auf den Boden der Höhle und bewegte lautlos die Lippen, als würde er etwas zählen. Dann verkündete er das Ergebnis: »Ich spare meine Eisjahre für später auf.«

Odin hob den Kopf. »Bist du dir da sicher?«

»Nein. Die Natur ist niemals sicher.«

Odin zuckte mit den Schultern und würfelte noch einmal, diesmal für sich. »Hagal und Ōþala.«

»Was bedeutet das?«, fragte Loki.

»Hagel und Familie.«

»Das weiß ich, aber wie lautet die Auslegung?«

»Nur weil ich Runen lesen kann, heißt das nicht, dass ich sie immer deuten kann«, antwortete Odin. »Ich muss noch einmal würfeln, um den tieferen Sinn zu ergründen.«

»Mach das, aber ich wollte jetzt …«, begann Loki.

»Schh!« Odin würfelte. Sie zeigten Mannaz und Jēra.

»Mensch, Jahr, Hagel und Familie. Was in allen Welten bedeutet das?« Da Odin darauf keine Antwort wusste, wandte er sich an den Kopf auf dem Boden. »Mimir, hilf mir.«

Mimir räusperte sich. Sein schütteres Haar war verfilzt, sein Gesicht übersät von Wunden und unter der Haut wand sich Ungeziefer. Auf der Stirn trug er tief eingeschnittene Runen. Trotz der Makel war sein Antlitz weise.

»Ein menschliches Familienmitglied wird viele Jahre leben. Hagal steht für das Neue, das auf die Zerstörung folgt. Auf den Untergang der Welt. Auf Ragnarök! Das Alte vergeht, und das Neue entsteht.«

»Was ist mit mir?«, fragte Odin.

»Du bist das Alte.« Mimir verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Odin richtete sich wieder auf, verpasste dem wehrlosen Kopf einen Tritt und drehte in der Höhle mehrere Runden. Die Raben hatten Mühe, sich auf seinen Schultern festzukrallen. Der eine spreizte seine riesigen schwarzen Flügel, um das Gleichgewicht zu halten. Mimir rollte in einer Staubwolke rückwärts und landete auf der Seite, wo er in den festgetrampelten Lehmboden atmete.

»Roork«, schrie einer der Raben laut.

Genau in dem Moment sah Loki mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund jung und verletzlich aus. »Mit diesen Würfeln hättest du nicht würfeln dürfen. Jetzt ist es in Bewegung gebracht.«

»Die Zukunft ist immer in Bewegung. Der Unterschied ist nur: Ich weiß jetzt, dass da irgendwo ein Mensch lebt, der uns auf Ragnarök zutreibt.«

»Trotzdem habe immer noch ich die Kontrolle über den Fimbulwinter, und ich könnte ihn einfach nicht anbrechen lassen«, verkündete Loki.

»Du hast nicht gerade besonders viel unter Kontrolle, so, wie du da jetzt stehst«, schnaubte Odin. Dann trabte er weiter im Kreis und murmelte vor sich hin. Die meisten Worte verschluckte sein langer Bart. Mimir und Loki sahen einander an, ohne etwas zu sagen.

»Wer ist es, Mimir?«, fragte Odin, als er sich wieder mehr im Griff hatte.

»Ein Vollblutmensch fordert den Allvater heraus«, erklärte Mimir von seiner ungünstigen Position, seitlich auf dem Boden liegend, aus. »Eine Person ohne jedwede übernatürliche Fähigkeiten. Du bist mit ihm verwandt.«

»Wie um alles in den Welten liest du das aus Hagal, Ōþala, Mannaz und Jēra heraus?«, fragte Loki.

Mimir stöhnte immer noch. Kleine Luftstöße kamen dort aus seinem Halsloch, wo unter normalen Umständen die Schlüsselbeine ansetzen würden. »Nicht nur die einzelnen Runen deute ich. Ich sehe auch die Verbindungen zwischen den Zeichen. Alles, was andere nicht sehen können, sehe ich.«

»Pah«, brach Loki aus. Er zerrte an seinen Fesseln aus Stein und Gedärm. »Du hältst dich wohl für besonders schlau.«

»Ich bin schlauer als du. Klüger als alle.« Mimir pustete ein paarmal nach oben, weil ihm ein zotteliges Haarbüschel ins Auge gefallen war.

»Wenn du so klug wärst, würden dir deine Arme nicht fehlen«, sagte Loki sanft.

Mimir schürzte die aufgesprungenen Lippen. »Wie viele andere abgeschlagene Köpfe kennst du, die noch leben? Ich war schlau genug, um den Tod zu überleben.«

Loki sah ihn voll tief empfundenem Mitleid an. »Deine Schläue ging nach hinten los. Genauso wie Unzuverlässigkeit für mich nach hinten losging. Wir haben uns immer nur unserer Natur entsprechend verhalten.«

»Unsere Zeit wird wiederkommen«, flüsterte Mimir. »Die Götter können uns nicht für immer fesseln. Am Ende gewinnt immer die Natur.«

Odin war stehen geblieben, während sich der Kopf und der Riese unterhielten. »Ich stimme Loki zu. Mimir, deine Weissagung muss falsch sein. In meiner Familie gibt es keinen Menschen.«

»Der Ziehsohn deines Sohnes«, kam es prompt von Loki. »Der Apotheker. Elias Eriksen. Er ist ein Mensch.«

»Elias ist nur adoptiert. Wir sind keine Blutsverwandten.«

»Wir beide sind doch auch Brüder, obwohl wir unterschiedlicher Herkunft sind«, konterte Loki. »Wir sind Blutsbrüder, oder etwa nicht?« Letzteres wurde vorsichtig ausgesprochen. Sigyn, die sich auf die Zehenspitzen gestellt hatte und die Schüssel über Lokis Kopf im Auge behielt, neigte das Gefäß leicht, und ein kleiner Gifttropfen fiel auf seine Nasenspitze.

»Aua!« Die Felswand bekam einen Riss, als er vor Schmerz zitterte und an den Fesseln zerrte.

Odin musterte Loki, als der stöhnte. Ein leichtes Zucken um die Mundwinkel verriet, dass es ihn kalt ließ, Loki leiden zu sehen. Dann wandte sich Odin dem einen Raben zu: »Hat Mimir recht? Was wird passieren, Hugin?«

Der Rabe betrachtete ihn. Seine Knopfaugen funkelten und er drehte den Kopf. »Roork. Elias wird dich herausfordern. Er strebt danach, die Toten wieder zum Leben zu erwecken.«

Daraufhin stieß Odin einen ganzen Schwall von Obszönitäten aus. Nach einer Weile hatte er sich wieder so weit beruhigt, dass er Klartext reden konnte. »Kann ich den Lebensweg des Apothekers verändern?«

»Roork. Die Zukunft kann immer verändert werden. Aber das kannst du nicht allein.«

Odin wandte sich Loki zu.

»Nein, nein, neinneinneinnein!« Loki schüttelte den Kopf, sodass ihm die grauen Locken um die Ohren flogen. »Ich will mit deinem Irrsinn nichts zu tun haben. Außerdem gefallen mir Elias und all seine Umtriebe. Der Mensch folgt seiner Natur. Manchmal glaube ich, er hat einen Spritzer Riesenblut in sich.«

»Du bist mein Blutsbruder. Wenn das Leben von einem von uns bedroht ist, kommt der andere ihm zu Hilfe.«

Loki musterte Odin von Kopf bis Fuß. »Dein Leben ist doch nicht bedroht. Ihr Götter. Ein erbärmlicher Mensch geht dir nur ein bisschen auf die Nerven. Nichts weiter.«

Odin setzte eine hinterlistige Miene auf. »Ich erkläre mich selbst für gefährdet. Ganz Asgard ist bedroht. Ha! Dann MUSST du helfen.«

»Ihr Herrscher ruft immer den Ausnahmezustand aus, wenn ihr euren Willen durchsetzen wollt«, schmollte Loki.

»Du hast Mimir doch gehört. Ich bin das Alte, das vergeht.«

Loki sagte verärgert: »Mimir ist ein Orakel. Die faseln doch immer was von Untergang und Verderben. In allen Religionen, deren Anhänger ich einmal war, habe ich nie was anderes zu hören gekriegt als: Oh, der letzte Tag bricht an. Oh, der Tag des Jüngsten Gerichts ist nahe.«

»Ich will nichts von deinen anderen Religionen hören.« Eifersucht brannte in Odins Auge. »Du hilfst mir, wenn ich Hilfe brauche. Die andere Zeit stehst du hier. Sigyn nimmt deinen Platz ein, wenn du mir zur Hand gehst.«

Sigyn zuckte zusammen und schaute zur Schlange hoch, die sie bedauernd anblickte. Dann öffnete das Reptil sein Maul, entblößte die Zähne und ließ ein paar Tropfen schillernden Giftes mit einem lauten Plopp in die Schüssel fallen.

»Wer hält mir währenddessen die Schüssel über den Kopf?«, fragte sie schüchtern.

Keiner der Männer würdigte sie auch nur eines Blickes oder einer Antwort.

»Dann steht es fest. Du wanderst hin und wieder auf der Erde herum. Somit bringen wir Elias schnell wieder richtig auf Spur.«

»Du wagst es wirklich, mich herumwandern zu lassen? Du willst der Natur freien Lauf lassen?« Loki bleckte seine langen Raubtierzähne zu einem weißen Grinsen. »Ich bin ungefähr so zuverlässig wie die Schlange über meinem Kopf.«

Odin beugte sich vor und drehte sein Haupt zur Seite, sodass er mit seinem einen noch verbliebenen Auge Loki fixieren konnte. Bei der Bewegung glich er einem Vogel. »Ich brauche deine Kraft. Und ich kann dich knechten, wenn es mir passt.«

»Bist du dir da so sicher?«

Odin drehte sich um, zog seinen Umhang zu und stapfte zum Ausgang der Höhle. Hugin krächzte, was wie Gelächter klang.

»Roork. Wenn das Gjallarhorn erschallt, wird Ragnarök ausgelöst.«

»Das Gjallarhorn?« Odin stutzte, im Weggehen. »An das alte Stück Blech habe ich schon lange nicht mehr gedacht.« Er griff geistesabwesend nach oben und strich die Federn unter dem Kinn des Raben glatt. Als Antwort pickte der Vogel in seinen Finger.

»Aua, fahr nach Nifelhel«, fluchte er. »Du verbiestertes Federviech. Verzieh dich! Flieg runter zu Elias und zieh in jemanden ein.«

Hugin hob von Odins Schulter ab und flog durch den Höhleneingang. Odin zeigte auf den anderen Raben.

»Du fliegst mit dem Tod. Nimm Elias mit, wenn du kannst.«

Der Rabe breitete seine Schwingen aus, schwebte über Odin und kreiste dann in der Höhle. In dem Moment beugte sich Sigyn zur Seite, um die Giftschale zu leeren. Der Rabe sauste blitzschnell an der großen Schlange vorbei, die zischend nach dem Vogel schnappte und Gift aus ihren Fangzähnen versprühte. Der Rabe wich aus, Loki jedoch, der ohne die schützende Schale gefesselt dastand, traf ein großer Spritzer grünen Giftes, das zischend auf seiner Stirn landete, sodass er sich brüllend wand. Dabei bebte der Boden und die Steinwände zitterten.

Die Erschütterung setzte sich von Midgard bis nach Jotunheim fort.

Kapitel 2

Das Schlimmste war nicht die Atemnot. Schlimmer noch war, dass Karen die Luft aus der Lunge nicht vollständig ausstoßen konnte und die sich beim Einatmen so immer weiter aufblähte. Sie hustete, um wenigstens einen Großteil aus der Lunge zu entlassen. Doch das verursachte nur schmerzhafte Flammen, die nach oben in den Rachen und nach unten in den Magen züngelten. Zugleich durchzog sie Kälte, sodass sie mit den Zähnen klapperte. Sie stöhnte, aber das tat nur noch mehr weh, also konzentrierte sie sich am Ende darauf, bewegungslos dazuliegen. Karens ältere Schwester erschien im Türrahmen. Hinter ihr flackerte das Licht in der Küche, aus der ein gedämpftes Gespräch zu hören war.

»Er ist unterwegs.« Die Schwester trat einen Schritt vor.

Für einen schrecklichen Moment konnte sich Karen nicht an ihren Namen erinnern. Sie hatte keinen Schimmer mehr, wie ihre geliebte Schwester hieß, obwohl sie immer unzertrennlich gewesen waren. Sie spürte nur die Kälte auf der Haut und das Brennen in der Brust.

»Kommt der Tod?«, krächzte sie.

»Was redest du da?« Die Schwester näherte sich dem Alkoven in der niedrigen Wohnstube.

»Du darfst sie nicht anfassen.« Eine Stimme erklang hinter Inge. Inge! Natürlich.

»Inge, Inge, Inge«, flüsterte Karen. »Der Tod holt mich jetzt.«

Die Türöffnung verdunkelte sich nun vollends. Im Schatten nahm sie eine Bewegung wahr, die näher kam. Sie rollte sich im Bett zusammen und wäre am liebsten davongekrochen; doch dazu fehlte ihr die Kraft. In einer Wolke von Wachtelblüten- und Engelwurz-Duft näherte sich eine Gestalt und beugte sich schließlich über sie.

Der Tod sah überraschend hübsch aus. Seine graublauen Augen funkelten frech, engelsgleiche, weiche Locken liebkosten seine Stirn, und wohlgeformte Lippen flüsterten unchristliche Formeln. Aus dem rauchenden Gefäß in seiner Hand stieg der Duft von Lavendel und Nelken, und unter dem kleinen Topf brannte eine helle Flamme. Er stellte alles auf dem Nachttisch ab, wo die Flamme ein wenig flackerte.

»Ich entsage dir und all deinem Wesen«, flüsterte Karen.

»Das ist der Apotheker«, erklärte Inge, aber Karen betete leise Richtung Zimmerdecke. »Mein Gott. Hilf mir, mein Gott.«

»Schhh.« Der Laut kam aus dem weichen Mund des Mannes. Er richtete einen langen Stock auf Karen. An dessen Spitze saß eine Nadel. Sie konnte sich zur Ablehnung noch aufbäumen, bevor die ihr in den Hals stach.

»Das hilft.« Die Stimme des Todes war sanft. Dann hielt er seinen Mund ans andere Ende des Stocks und blies hinein.

Karen wollte schimpfen, doch dann setzte die Wirkung ein. Hitzewogen vertrieben die Kälte, der Schmerz in ihrer Brust ließ nach, und sie konnte wieder Luft holen. In einem großen Ausatmer entleerte sie ihre Lunge und sog frische Luft ein. Der Mann betupfte ihre Lippen mit einem weißen Taschentuch und dunkle, rosenrote Flecken breiteten sich auf dem hellen Gewebe aus. Seltsamerweise schluchzte Inge.

»Karen ist noch so jung«, weinte sie. »Es ist viel zu früh.«

»Lass uns allein«, sagte der Teufel oder der Tod, oder wer auch immer er sein mochte.

Inge schloss die Tür hinter sich, und nur ihr gedämpftes Schluchzen war noch zu hören. Der Mann tastete seine Taschen ab, weil er etwas suchte; und die Alltäglichkeit dieser Bewegung brachte Karen zum Kichern. Plötzlich kam ihr das alles ganz lustig vor.

»Hallo, Satan?« Im Bauch kitzelte es angenehm, als würde sie mit dem Bösen flirten.

»Ich bin der Apotheker.«

Sie fing wieder an zu lachen. »Du kriegst mich nicht in die Hölle.«

»Ich bin nur ein Apotheker.«

Karen konnte ihn jetzt problemlos erkennen, weil die Schmerzen etwas abgeklungen waren. Er schaute unter langen, dunklen Wimpern nach unten und sein hübsches Gesicht war in den Schein der Lampe getaucht. Karen sah ihn wie von goldenen Funken umgeben.

»Ich bin Elias Eriksen.«

»Das weiß ich doch schon!« Sie hatte das Gefühl, als würde sie ein großes Geheimnis preisgeben.

»Was weißt du, Karen Nielsdatter?«

»Dass ich im Sterben liege.«

Elias Eriksen ergriff ihre Hand. Mit dem Zeigefinger drückte er auf ihr Handgelenk. »1–2–3«, zählte er leise. Zwischen den Pulsschlägen wurden die Zeitabstände immer größer; Licht schien, das jetzt nicht von der Lampe auf dem Tisch kam, sondern vom Rand ihres Sichtfeldes. Ganz langsam schwebte sie wie eine Schneeflocke in einer windstillen Winternacht hinab. Elias’ Stimme war leise.

»Wie fühlst du dich?«, fragte er wie ein Geliebter, der seiner Auserwählten etwas zuflüstert.

»Jetzt, da die Schmerzen fort sind, geht es mir gut.«

»Ist da eine Seele, die deinen Leib verlässt?«

Karen konnte die Augen nicht länger offen halten, also senkte sie die Lider. Gleichzeitig verschob Elias seine Hand so, dass er ihre in seiner hielt. Der Griff war fest und sicher. Er legte seinen Mund ganz dicht an Karens Ohr. Sein Atem traf ihre Wange.

»Erzähl mir alles.«

»Meine Seele befreit sich.« Das war richtig. Sie fühlte, wie sich ihre Seele vom Fleisch löste.

»Was noch?« Er atmete schnell, und jetzt hielt lediglich seine Hand um ihre sie davon ab, auf und davon zu schweben. »Wo bist du? Beschreib es.«

»Hier geht ein lauer Wind, in der Sonne ist es warm, und der Himmel ist so blau, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Der Sand ist weiß, das Meer rauscht, und es duftet herrlich.«

»Nach was?«

»Nach Gras, Meer und frischer Luft.«

Er streichelte ihr über die Stirn. »Hast du Angst, Karen?«

»Nein.« Sie hatte keine Angst. Überhaupt keine. »Da kommt jemand.«

»Wer?« Das Wort blieb ihm im Hals stecken, als bekäme er keine Luft mehr.

»Ich kann niemanden sehen, aber ich kann Federn fühlen. Weiche Federn an meinem Hals.«

»Sind sie von einer Taube?«

Der Vogel zog in Karens Körper ein, und jetzt strichen dessen Gedanken durch ihren Sinn. Das Tier lachte krächzend. »Ich bin ganz bestimmt keine Taube.«

Elias sagte eine Weile keinen Ton. Wahrscheinlich suchte er nach Worten. »Bist du ein Spatz?«

»Endlich redest du mit mir. Das fehlte nach allem, was wir durchgemacht haben, und allem, was wir noch zusammen erleben werden.«

»Dann sag schon! Was für ein Vogel bist du?« Elias’ Stimme war grell.

»Ein Rabe.« Karen konnte die Hand kaum noch halten. Eine gewaltige Kraft zerrte an ihrer Seele.

»Natürlich ist der Tod ein Rabe«, sagte er vor allem zu sich selbst.

Wieder war Karen von Federn und Schnabel erfüllt. »Wir sehen uns in vielen Jahren wieder, Elias.«

»Karen Nielsdatter und ich sehen uns in vielen Jahren wieder?« Er drückte fester ihre Hand.

»Du und ich, wir sehen uns wieder. Bis dahin bin ich viele Male gestorben und wiedergeboren worden.«

»Bleib! Ich habe so viele Fragen an dich.«

Der Vogel in Karen hatte nicht die Absicht, darüber noch mehr Worte zu verlieren. Stattdessen lachte das Tier ein lautes Roork.

»Was bist du?«, fragte Elias.

»Ich bin dein Leben und dein Tod. Ich bin Ragnarök. Ich bin der Untergang.« Karen ließ die Hand los und flatterte mit rauschenden, mitternachtsschwarzen Flügeln davon.

Elias’ Schrei gellte in weiter Ferne: »Wer bist du?«

Kapitel 3

Elias stahl sich ins Zimmer. Er sah Cecilie von hinten. Der Schnitt des Kleides betonte ihre Taille, und weil sie ihre Haare hochgesteckt hatte, konnte er sehen, wie die Wirbelsäule vom Hals an unter dem Stoff des Kleides verschwand. Bei einem kleinen Schritt zur Seite bauschte sich der Rock. Er näherte sich Cecilie und stellte fest, dass sie rosige Wangen hatte. Eine ganz andere Farbe als das helle Grau von Karen Nielsdatters Gesicht, kurz bevor sie ihren letzten Atem ausgehaucht hatte. Nachdem der Tod eingetreten war, war Karen schnell wachsgelb geworden.

In Cecilies Schlafzimmer hing ein schwerer Blumenduft. Neben dem Tisch stand ein Korb, dem der Wohlgeruch entströmte. Cecilie beugte sich über ein Buch und hob dann den Blick zu einem hellbraunen Stoffkissen, auf dem eine lila Blume lag. Danach zog sie die Lampe näher heran. Elias spürte, wie sich ihm die Schatten aufdrängten, also trat er dichter an das Licht und Cecilies warmen Körper heran.

Unter ihm knarrte eine Bodendiele, Cecilie aber war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie es nicht hörte. Das Papier im Buch war fleckig vom Pflanzensaft, und die aufgeschlagene Seite zeigte Zeichnungen von verschiedenen Kräutern und Blumen. Cecilie beugte sich ganz zu der Blume, die sie am Stiel mit einer Nadel befestigt hatte. Sie spreizte die Blütenblätter mit einer Pinzette und steckte auch diese eins nach dem anderen fest, bis die Blüte vollständig aufgefächert war. Mit der Pinzette fuhr sie die seidigen Blätter entlang. Die hellvioletten Blütenblätter wurden zur Mitte hin immer weißer. Sie schnitt die vordersten ab, sodass die Samenkapsel und die Staubblätter der Blüte freigelegt waren. Vorsichtig legte sie das Skalpell zur Seite und nahm die stumpfe Schere, die sonst bei Operationen dazu verwendet wurde, die Blutgefäße abzuklemmen. Damit teilte sie die Staubblätter.

»Monandria, Diandria, Triandria«, zählte sie, als sie einen Staubfaden nach dem anderen mit der Pinzette vorsichtig abknipste und auf ein kleines Metalltablett auf dem Tisch legte. »Vier, fünf, sechs, sieben, acht.« Sie stieß ein gedämpftes »Ja!« aus.

»Hast du sie gefunden?«

Sie zuckte zusammen und unterdrückte einen Schrei, indem sie sich den Handrücken vor den Mund hielt. Dann wirbelte sie – immer noch mit Pinzette und Schere bewaffnet – zu ihm herum. »Was machst du hier?«

»Ist es eine gewöhnliche Kornrade?« Elias blickte auf die fixierte Blume.

»Ich habe dich über eine Woche nicht gesehen«, rief Cecilie aus. »Und dann fragst du zuallererst, ob ich deine Aufgabe gelöst habe.«

Elias blickte hoch. »Die Tür stand offen. Ich dachte, du würdest auf mich warten.«

Cecilies Lippen wurden schmaler und er streckte die Hand aus. Sie ließ ihn trotz allem ihre Hand nehmen, doch sie lag schlaff in seiner.

»Ich bin ohne Umwege hierhergekommen, sobald ich wieder in Aalborg war.«

»Man sagt sich, du hättest Karen Nielsdatter auf dem Sterbebett besucht, bevor sie in den Himmel auffuhr. Jetzt schau doch nicht so erstaunt. Du weißt doch, wie rasch sich Klatsch und Tratsch herumsprechen«, sagte Cecilie.

»Das Gerede verblüfft mich nicht. So weit ist es schlichtweg nicht gekommen.«

»Karen ist nicht gestorben? Es heißt auch, sie sei unheilbar an Schwindsucht erkrankt gewesen.«

»Sie starb, aber sie fuhr nicht in den Himmel auf. Ich weiß nicht genau, wohin sie gegangen ist.« Elias starrte gedankenverloren an die Wand, deren Holzvertäfelung rosa gestrichen und mit grünen Pflanzen auf vertikalen, hellblauen Streifen bemalt war. In der Ecke stand Cecilies Himmelbett, dessen roter Web-Vorhang zur Seite gezogen war.

Cecilie schnipste vor seinem Gesicht. »Elias!«

»Verzeih.« Er blinzelte ein paarmal. »Ich hätte zuerst zu dir kommen sollen.«

Sie lächelte sanft. »Natürlich musst du deiner Arbeit nachgehen. Ich kann warten.«

»Vielleicht kann ich nicht warten.« Er strich mit dem Daumen über ihre Knöchel. Sie holte tief Luft. Ihre Pupillen verengten sich, und die feinen Härchen auf den Armen sträubten sich. Weil er Cecilies Hand hielt, fühlte er ihren kräftig pochenden Puls schnell steigen. Ganz im Gegensatz zu Karens schwachem und ungleichmäßigem.

Sie zog ihre Hand zurück. »Wir schauen uns besser die Blumen an.«

»Dein Wunsch sei mir Befehl.« Er verneigte sich steif.

Dann deutete sie auf das Kissen. »Das ist eine Octandria.«

»Wo ist der Saft?« Er linste über ihre Schulter.

»Die hat eine fünfzackige Samenkapsel.« Sie schnitt das Hellgrüne in der Mitte der Blüte ab, sodass eine klare Flüssigkeit hervorperlte. Mit routinierten Handgriffen fing sie den Tropfen mit der Scherenspitze auf und ließ ihn in ein Schälchen fallen. Elias betrachtete die Werkzeuge.

»Du hast wieder die Operationsinstrumente deines Mannes stibitzt. Was sagt denn der Herr Doktor dazu?«

Sie blickte auf Schere und Pinzette in ihren Händen und legte sie schnell auf den Tisch. »Was mein Mann nicht weiß, macht ihn nicht heiß.«

Elias biss sich auf die Lippe. »Meine Worte.« Er fühlte Cecilies Blicke auf sich; sie schaute aber nach unten, als er sie erwiderte. Er spürte ihre Verärgerung. »Cecilie …«

»Eigentlich solltest du nicht hier sein«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.

»Hast du Angst, dein Gemahl erwischt dich spät in der Nacht dabei, dass du das Schlafzimmer in ein geheimes Labor verwandelst? Du führst verbotene alchemistische Arbeiten für einen schönen jungen Apotheker durch«, schäkerte Elias.

Ein Lächeln huschte über ihre Mundwinkel. »Du musst recht selbstgefällig sein.« Sie wandte sich wieder dem Kissen mit der Blüte zu. »Von einem ganzen Korb hatten fast alle zehn Staubblätter. Decandria. Das sind die gewöhnlichen Kornradeblüten, von denen einem nur übel wird.«

Wieder stand er so dicht neben ihr, dass sich ihre Schultern berührten. Er nahm den Duft von Sandelholz und Lavendel wahr. Da sie stehen blieb, legte er ihr eine Hand auf den Rücken. Mit einem Finger fuhr er auf dem Stoff die Wirbelsäule entlang. Obwohl er sie berührte, sprach sie weiter, wenn auch etwas atemloser.

»Es gab nur eine Handvoll Octandria. Ich habe zwei Nächte gebraucht, um sie zu finden, aber die, die es dort gab, haben viel abgegeben. Wenn du noch mehr Kornradeblüten holst, kann ich die Substanz extrahieren. Die ist kräftig, du musst sie mit Opium mischen, wenn du nicht willst, dass es die Leute hypnotisiert.«

Elias nickte nachdenklich. »Ich könnte von der Mischung mit Opiaten Stjórna herstellen. Mit Alkohol verdünnter Kornradesaft dämpft die Fähigkeiten der Leute.«

»Welche Fähigkeiten?«

Elias winkte ab. »Ach, nichts.«

»Was, meinst du, kann reiner Kornradesaft bewirken?«

Elias schaute weg. »Das weiß ich nicht.«

»Warum bittest du mich um Hilfe, wenn du mir nicht verrätst, woran du arbeitest?«

»Weil du eine viel bessere Botanikerin bist als ich.« Die Worte kamen unvermittelt und ehrlich. »Und weil alle Gauner einen Helfershelfer brauchen«, fügte er schnell hinzu, um die Stimmung aufzuhellen.

»Ich bin nur deine Helfershelferin? Und ich dachte, ich sei hier die gerissenste Gaunerin.«

Elias strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich bei der Arbeit gelöst haben musste. Sie schloss die Augen, als seine Fingerspitzen ihre Haut berührten.

»Wir sind beide Gauner«, flüsterte er und legte den Mund auf ihr Schlüsselbein. Liebevoll küsste er ihren Hals hinauf. Er öffnete die Spange in ihrem Haar, und die Locken fielen in sanften Wellen auf ihre Schultern. Erst schnupperte er daran und genoss den Duft. Dann fand sein Mund ihren.

Sie erwiderte seinen Kuss und zog ihn dann mit sich zum Bett, ohne ihre Lippen von seinem Mund zu lösen. Als sie die roten Web-Vorhänge streiften, zog sie an einer Schnur, damit sie rund um das Himmelbett nach unten glitten. Vom Stoff umgeben, waren sie dort wie in einer Höhle, zogen sich langsam gegenseitig aus und wechselten nur wenige leise Worte.

 

Danach lagen sie eng aneinandergeschmiegt da. Elias entspannte sich mit Cecilie im Arm. Jetzt war es spät in der Nacht, und Dunkelheit hüllte das Haus wie eine Decke ein. Elias versuchte, wach zu bleiben, aber ihm fielen immer wieder die Augen zu. Cecilie musste genauso müde sein, denn sie gähnte.

»Ich suche wohl besser mein eigenes Bett auf«, murmelte Elias. »Die müssen mich hier nicht unbedingt entdecken.«

»Halt mich einen Moment fest«, flüsterte Cecilie.

Elias drückte ihren nackten Körper an sich und atmete langsam aus. Eins, zwei, drei und dann los …

Er glitt so leicht in den Schlaf wie ein Blatt, das vom Baum auf den Waldboden segelt. Im Traum durchstreifte er goldene Getreidefelder, deren Ähren höher waren als er. Odinshöhe tauchte vor ihm auf und erschien ihm so groß wie ein Berg. Den Hügel bedeckten lila Blüten. Mühsam krabbelte er ihn hoch und legte sich auf den Rücken. Über ihm kreisten Raubvögel, und die Sonne brannte. Ein Schmetterling flatterte über sein Gesicht und setzte sich in der Nähe auf einen Stein, in den jemand Runen geritzt hatte. Vorsichtig drehte er sich auf die Seite und betrachtete das Insekt. Im Sonnenschein funkelte Staub auf seinen Flügeln. Sie waren weiß mit einem schwarzen Oval darauf. Der Fleck glich einer leeren Augenhöhle und die Flügel einem Schädel.

»Ziehsohn meines Sohnes«, erklang es.

Elias war sich nicht sicher, ob die Stimme von dem Schmetterling, dem Hügel oder vielleicht der Sonne kam. Er kauerte sich ganz klein zusammen.

»Was habe ich getan?« Elias hörte, wie hell seine Stimme war. Erschrocken hielt er seine Beine umklammert und duckte den Kopf hinter die Knie.

»Sag meinen Namen«, befahl die tiefe Stimme.

»Odin. Allvater«, flüsterte Elias.

»Nur ich allein herrsche über Leben und Tod. Nur ich.« Das letzte Ich wurde so laut geschrien, dass Elias sich vor Schreck ganz tief ins Gras drückte wie ein verlassenes Hasenjunges. Ein lauter Knall ertönte.

Elias blickte sich verwirrt um. Er wachte davon auf, dass die Tür zu Cecilies Kammer mit einem schallenden Dröhnen gegen die Holzvertäfelung schlug. Er richtete sich halb auf. Neben ihm im Bett schlief Cecilie noch immer. Sie lag mit entblößtem Rücken auf dem Bauch und ihre Haare waren ein einziges Wirrwarr. Die Sonne schien durch das Fenster, das war durch die transparenten Bettvorhänge zu erkennen. Elias’ Blick wanderte zur Tür.

Dort standen zwei identische Mädchen mit einem Mann, der ein kleines Kind auf dem Arm trug. Der Mann öffnete den Mund, wogegen die Mädchen die Augen weit aufrissen.

Kapitel 4

»Vaaaaater.« Die Mädchen stürmten ins Zimmer und warfen sich zwischen Elias und Cecilie.

Cecilie schlug die Augen auf, als sich die kleinen Körper im Bett an sie kuschelten. Elias brauchte etwas, um zu sich zu kommen. Odins Warnung aus dem Traum hallte noch in seinem Kopf wider.

»Endlich! Wir haben dich vermisst«, sagte Sofia mit einem Stirnrunzeln. Die Zwillinge glichen sich wie ein Ei dem anderen, obwohl Sofias Mund ein hartnäckiges Zucken umspielte und Amalie eine unstillbare Neugier besaß. Beide hatten lange, hellbraune, große Locken. Carl, der auf Benedikts Arm saß, streckte die Hand nach seinen Eltern aus. Benedikt ließ ihn über den Boden zu Amalie krabbeln, die ihn ins Bett hob. Elias’ dunkelhäutiger Diener schloss die Tür und lehnte sich an die Wand, während er die Familie im Bett mit kaum verhohlenem Vergnügen beobachtete. Seine schwarzen, gelben und roten Dreadlocks hatte er im Nacken zusammengebunden. Er trug eine grüne Seidenjacke und ein Hemd, das am Hals so eng zugeknöpft war, dass man seine vielen Tätowierungen nicht sehen konnte.

Wenn er lachte, funkelten seine Goldzähne im Sonnenlicht. »Dem Pastor würde das missfallen. Ein Mann muss seine Frau in Ruhe lassen, bis das jüngste Kind über ein Jahr alt ist.«

»Der Pastor ist mir gleichgültig.«

»Gott?«

»Einige Götter machen mir Angst, aber nicht der in der Kirche.«

»Ins andere Zimmer.« Cecilie warf Elias einen scharfen Blick zu und scheuchte die Kinder aus dem Himmelbett. »Wir müssen uns ankleiden.«

»Aber …«, beschwerten sich die Zwillinge.

»Hinaus! Wir sind gleich wieder da.«

Die Kinder stapften durch Cecilies schönes Gemach. Benedikt nahm Carl auf den Arm, der im Vorübergehen nach Cecilies Botanikbuch die Hand ausstreckte. Amalie betrachtete lange die aufgeschnittenen Blumen. Benedikt scheuchte sie weiter, obwohl sie den Hals reckte, damit ihr kein Detail entging.

Als sie sich aus dem Zimmer entfernt hatten, entfuhr Cecilie in gereiztem Ton: »Das sollte nicht vorkommen. Die Kleinen dürfen dich nicht in meinem Bett schlafen sehen.«

Elias suchte nach seiner Hose, die unerklärlicherweise weit unter dem Bett gelandet war. »Für die Kleinen ist es von Vorteil, wenn sie eine glückliche Ehe erleben.«

»Glücklich?« Cecilie zog eine Augenbraue hoch. »Eine Ehe, in der sich der Mann wie ein Dieb in der Nacht hereinschleicht.«

Elias zog seine Hose an, stand barfuß und mit nacktem Oberkörper vor ihr. Er wollte nach ihr fassen. »Wenn ein Mann seine Frau nicht ab und zu verführen darf, hat es nicht viel mit einer Ehe zu tun.«

Cecilie wich seiner Hand aus.

»Das war ein Scherz. Ich dachte, auch du findest Gefallen an dem Spielchen. So schien es mir jedenfalls.«

»Natürlich habe ich daran Gefallen, aber …« Sie verstummte.

»Bist du nicht glücklich mit mir?«

»Ich bin glücklich«, sagte sie schnell. »Wenn du endlich einmal hier bist.«

»Was soll das heißen?«

Sie straffte ihre Schultern. »Bei unserer Heirat waren wir uns einig, dass wir zusammenarbeiten wollen. Wir wollten alles untersuchen und alle Bücher lesen.«

»Das machen wir doch auch.« Er zeigte auf ihren Arbeitstisch mit den Blumen und Heilmitteln.

»Du erteilst mir Aufträge. Du fragst mich nie, was ich gern möchte.«

Elias verschränkte die Arme. »Du kannst von Glück reden, dass ich dich überhaupt einbeziehe. Die anderen Frauen sitzen schlecht gelaunt mit Näharbeiten zu Hause und beten zum Herrn.« Elias deutete mit einer spöttischen Geste nach oben. »Wenigstens lasse ich dich lesen und Pflanzen untersuchen, obwohl es für Frauen verboten ist. Ich weiß, dass der Teufel dich nicht verführen wird.«

Cecilie stand auf. »Darüber freue ich mich auch, aber du hast versprochen …« Ihre Stimme versagte, und sie musste sich sammeln, bevor sie weitersprechen konnte. »Ich habe deinen Antrag angenommen, weil du anders warst als meine anderen Verehrer. Dein Diener ist ein Zauberer aus Afrika, und du kannst die kompliziertesten Arzneien herstellen. Der Demigott Od Dinesen ist dein Ziehvater …«

Elias unterbrach sie: »Dir ist bekannt, dass ich nicht über Od reden möchte.«

»Verzeih.« Cecilie versuchte, langsamer zu sprechen. »Du bist hundertdreißig Jahre alt und immer noch neugierig. Das liebe ich an dir; aber vor allem, was du im Labor machst, habe ich Angst.«

»Die Versuche sind völlig harmlos.«

Cecilie verschränkte die Arme vor der Brust. »Du bist nie ganz unschuldig.«

»Ich forsche.«

»Dann verrate mir, woran du forschst, wenn es so harmlos ist.« Da Elias keine Antwort gab, schüttelte sie bitter lächelnd den Kopf. »Schau an. Du willst mir nicht sagen, was du machst.«

»Nur zu deinem Schutz.«

Cecilie senkte ihre Stimme und sprach langsam, was sie nur in allergrößter Wut tat. »Ich bin nicht zartbesaitet, und ich bin eine gute Assistentin.«

Elias stülpte sich umständlich das Hemd über, schüttelte die Jacke so heftig aus, dass der Stoff knallte, zog sie an und drehte sich um.

»Die Kinder warten auf dich. Sie haben dich vermisst«, protestierte Cecilie, als er auf die Tür zum Flur zuging.

»Sag Benedikt, er soll ins Anatomische Theater kommen. Ich habe verschlafen. Was wir zu tun haben, muss innerhalb der nächsten Stunde geschehen.«

»Ich muss dir etwas über Carl erzählen.«

»Das muss warten.« Elias öffnete die Tür.

»Elias!«, rief sie, doch er war schon fort. Die Tür schlug er hinter sich zu. Er stampfte den Flur entlang. Von den Wänden starrten ihn die Porträts längst verstorbener Apotheker mit ernster Miene vorwurfsvoll an.

»Hört auf zu glotzen«, knurrte er. »Ich weiß, dass eure Geister anwesend sind, obwohl ich sie nicht sehe.« Er erreichte das Auditorium, wo sich sein Laboratorium befand. Vor der Tür atmete er langsam aus, um sich zu beruhigen. Schon jetzt war ihm klar, dass Cecilie recht hatte. Später würde er sich entschuldigen, zuerst hatte er aber noch etwas zu erledigen. Er öffnete die Tür zum großen Hörsaal, der wie ein Amphitheater gebaut war.

Um diesen Raum hatte er das Apothekerhaus nach dem Kauf des Anwesens zuerst erweitert. Hier nahm er Sezierungen vor und unterrichtete die wenigen Aspiranten, die es in Nordjütland gab. Er forschte auch, wenn außer Benedikt keine anderen Augenzeugen anwesend waren.