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Ein Geistlicher kämpft gegen seine Dämonen. Ein Punk kämpft gegen die verrinnende Zeit. Ein Playboy kämpft gegen den Verfall. Ein Internatsschüler möchte einfach nur schlafen. Jahrmärkte sind niemandem geheuer. Ein Neunjähriger schleicht sich in das verbotene Zimmer. Aya sucht den ganz besonderen Kick. Und, um Himmels Willen, liebt hier eigentlich irgendwer sich selbst? "Blut & Regenbögen" - aus den Untiefen des Geists von Leif Oberlin. Neun auf einen Streich.
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Seitenzahl: 162
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Nichts Böses
Lauf, Fabi, lauf!
Der Dandy und sein Henker
Das Flattern
Robin und die wilden Teufel
Reste von gestern
Eine ganze halbe Nacht
Waldos Grotte
#119
Die Wellen peitschten erbarmungslos gegen die Klippen und machten ein gigantisches Getöse, als könnten sie es kaum erwarten, diese nach Jahrhunderten endlich in den Untergang zu reißen, um dann freie Fahrt auf das Gelände zu haben. Dorthin, wo die Menschen waren. Im schimmernden Mondlicht sahen sie beinahe aus wie riesige, mit scharfen Krallen bestückte Pranken gigantischer Kreaturen, die aus einer anderen, jenseitigen Welt kamen und nach den Lebenden zu greifen schienen.
Padre Perez hatte großen Respekt vor dem Meer.
Schon seit seiner Kindheit, als er so oft mit Vater und Onkel auf kleinen Fischerbooten hinausgefahren war, empfand er das Meer als seinen treuen Begleiter – ewig, allwissend, gefürchtet. Das war Jahrzehnte her. Aber auch heute noch kam Perez, so oft es ging, zurück an den Strand. Um die Gedanken kreisen zu lassen, um Gott zu ehren, ihm zu danken – und manchmal auch, wie heute der Fall, weil es einen Auftrag zu erfüllen galt, der ihm von ebendiesem auferlegt worden war.
Hinter den Dünen, nicht mehr als einen Steinwurf entfernt, hatte der Sturm einige der Holzhütten umgerissen und Unmengen an Schlamm und Unrat durch die Straßen gespült. Es hatte mittlerweile zu regnen aufgehört, aber die Spuren der Verwüstung waren auch auf dieser Seite, direkt an der Küste, deutlich zu erkennen. Der für gewöhnlich schneeweiße Sand, der sich an guten Tagen unter den Strahlen der Sonne in einen meilenweit glitzernden Teppich aus Kristall verwandelte, war zu einer trüben grauen Masse geworden, aus der immer wieder zersplitterte Holzstücke oder Plastiktüten hinausragten. Noch immer heulte der Wind unerbittlich über das Schlachtfeld, und es klang, als riefen sie nach ihm: die Stimmen derer, die er nicht hatte retten können.
Padre Perez lockerte den Kragen seiner Soutane, damit sie ihm nicht länger den Atem abschnürte. Zu seinen Füßen war der Saum des Gewands schon fürchterlich ruiniert.
Die Sorge schien ihn beinahe um den Verstand zu bringen: Im Dorf setzten alle ihr vollstes Vertrauen in ihn, er durfte sich jetzt bloß keinen Fehler erlauben, Leben standen auf dem Spiel – nicht zuletzt sein eigenes. Die Schnittwunde auf seiner linken Wade schmerzte – da, wo ihn eines dieser Monster erwischt, ihn mit seinen spitzen, verdorbenen Krallen verunreinigt hatte, ihn, der sich bisher nicht das Geringste hatte zu Schulden kommen lassen. Zur Hölle mit ihnen, dorthin, von wo sie angekrochen kamen! Es durfte nicht noch schlimmer werden, und dafür würde er sorgen.
Die Teufel waren an diesem Morgen ohne Ankündigung über die Menschen gekommen. Zwar hatte den Padre die vage Vorahnung von etwas Bösem schon seit Tagesanbruch begleitet, und ihm war gewesen, als läge der zarte Geruch von Schwefel und Verderbnis bereits seit den frühen Morgenstunden in der Luft. Aber niemals hätte er für möglich gehalten, was ihm an diesem Tag widerfahren sollte, sagte man doch, die Gemeinde sei über Jahrhunderte verschont geblieben. Nur in alten Aufzeichnungen war er den Dienern der Unterwelt jemals begegnet. Als die Monster dann aus dem Hinterhalt zuschlugen, waren seine Gedanken schon zum Tagesgeschäft übergegangen, und so hatte ihn ihr heimtückischer Angriff mit voller Wucht getroffen. Hätte er doch nur auf seine Instinkte gehört! Die Stimme des Herrn, tief in seinem Inneren, hatte ihn doch zu warnen versucht! Aber er, der unverbesserliche Narr, hatte das Gefühl verscheucht und sich nicht weiter darum geschert.
Padre Perez umklammerte fest das Kreuz in seinen Händen. Sobald er das Unheil abgewendet hatte – sollte er es denn schaffen! –, würde er in Kauf nehmen, welches Schicksal der Herr ihm auch immer zugeteilt hatte. Für seine Unbedarftheit hatte er jegliche Strafe verdient.
*
Zu seiner täglichen Messe waren an diesem Morgen nicht viele Gäste erschienen. Vorwiegend die schon deutlich von Alter und Krankheit gezeichneten Bewohner der Siedlung nahmen seine Dienste noch in Anspruch – diejenigen, denen nur noch das Wort Gottes Halt verschaffen vermochte, nachdem alles andere sie verlassen hatte. Padre Perez fühlte eine innige Verbindung zu diesen Menschen, die meisten von ihnen kannte er seit Jahrzehnten. Er gefiel sich in seiner Aufgabe, ein Stückweit ihr Leid mildern zu können, indem er als Verbindung zwischen dem Jetzt und dem Danach auftrat, und ihnen, so gut er konnte, die Angst vor dem nahenden Ende nahm.
Sein Auftrag erfüllte ihn nicht bloß mit Sinn, sondern auch mit erhabenem Stolz. Jener Stolz hatte ihn auch an diesem Morgen beflügelt, als er das Wort an die Anwesenden richtete.
Doch weit sollte er dieses Mal nicht kommen.
Plötzlich stand der Altar vor ihm in Flammen. Die Frauen in der ersten Bank kreischten vor Entsetzen, und das Weiß in ihren Augen trat hervor. Der Padre riss die Hände nach oben und bat sie zurückzuweichen, Ruhe zu bewahren, aber auch er war kreidebleich. Die Flammen waren wie aus dem Nichts emporgeschossen.
Panisch kreiste sein Blick über die Wände des Gemäuers, und dann sah er sie, erst schemenhaft, dann urdeutlich: Am anderen Ende des Schiffes, hinter den Bänken, bäumten sich zwei Teufel auf. Etwa zwei Meter in Gestalt, die dürren Gliedmaßen mit viel zu vielen Gelenken, die grüne, schuppige Haut schimmernd von Schaum und Eiter, ihre Schnauzen bestückt mit spitzen, gelben Zähnen, und ihre Augen voll mit einer Finsternis, die ihm das Leben auszusaugen schien wie der Tod höchstselbst.
Schreie erfüllten die Halle, als auch die Gäste die Teufel in ihrem Rücken bemerkt hatten.
»Weichet!«, rief der Padre mit vor Angst brechender Stimme, griff nach seinem Kreuz und versuchte, um den lichterloh brennenden Alter herum zu eilen und sich den Angreifern zu stellen. Doch er kam zu spät. Eine der Kreaturen sprang in die Lüfte, völlig mühelos bis unters Gewölbe, und landete auf einer der Bänke zu seiner Rechten; das Holz barst unter seinem Gewicht, als seien es bloß Zweige. Ehe Padre Perez sich versah, hatten sich die Krallen des Teufels in manche der Siedlungsbewohner gebohrt. Die vor einem Moment noch nach Rettung – oder Vergebung – flehenden Stimmen verstummten augenblicklich, und dunkelrotes Blut platzte auf den steinernen Boden.
Das Bild vor Padre Perez’ Augen schien zu verschwimmen. Er wusste: Als erstes nahmen sie immer die Unschuldigen zu sich! Als der Teufel den Leib der freundlichen Miss Espinosa, der Mutter des kleinen Danilo, entzweiriss, musste er seinen Blick abwenden, aber gleichzeitig packte ihn ein Hass und ein verzweifelter Mut, den er nie für möglich gehalten hatte. Wenigstens einen der Eindringlinge musste er zu fassen bekommen, die Heerscharen der Unterwelt durften nicht ungeschoren davonkommen! Der Herr gab ihm Kraft und wies ihm den Weg – und auch, wenn er dankbarerweise das allererste Mal einem Diener der Hölle gegenüberstand, wusste der Padre instinktiv, was zu tun war.
Er hastete über die Bänke. Der Teufel erspähte ihn augenblicklich, rote Flecken zierten seine Gliedmaßen. Mit einem gellenden Schrei riss der Padre das Kreuz empor und presste es der Kreatur mit aller Kraft in die schuppige Haut. Ein Zischen ertönte, kochend heißer Dampf quoll hervor und hüllte beide ein. Der Teufel riss sein Maul auf und stieß ein markerschütterndes Grollen aus, das durch die Kirche halte und das Geschrei der Flüchtenden überdeckte.
Mittlerweile war es einigen der Leute gelungen, das Tor zu erreichen. Ein Spalt Tageslicht flutete ins Innere der Kirche. Andere waren über das Becken mit dem Weihwasser gefallen oder in ihrer panischen Flucht von dem zweiten Monster erwischt worden.
Der getroffene Teufel fuhr vor Pein zusammen, holte mit einer seiner Pranken aus und streifte den Padre am Bein. Stechender Schmerz durchfuhr diesen wie ein Blitz, aber er durfte nicht aufgeben, das Symbol Gottes in seinen Händen verlieh ihm Macht. Padre Perez zog das Kreuz zurück, die Haut des Teufels löste sich in Fetzen, und zurück blieb eine hellweiße Brandwunde in gleicher Form. Dann erklomm der Padre einen der hölzernen Trümmer, schwankte kurz, fand festen Stand – und schleuderte dem Monstrum seine Waffe mit voller Kraft ins Gesicht. Wieder ein Zischen. Dieses Mal konnte die Ausgeburt der Hölle nicht mal mehr das Grollen erklingen lassen. Eingehüllt von Dampf verkrampfte der schuppige Leib, die Kreatur zuckte und brach gefällt in sich zusammen.
»In nomine Iesu Christi Dei et Domini nostri«, flüsterte der Padre, doch dann barst sein Hass vollends aus ihm heraus, und er keifte: »Fahr zur Hölle!«, während er dem bereits toten Teufel das Kreuz mehrfach mit aller Kraft, die sein geschwächter Körper noch aufzubringen vermochte, ins Fleisch rammte. Kochende Fetzen spritzen ihm auf Gewand und Gesicht. Diese Menschen haben nichts Böses getan – nicht sie sind die Sünder, die es zu richten gilt! Jetzt war es an ihm, Gerechtigkeit walten zu lassen: Der Herr würde ihm seine Untat, seinen blutrünstigen Rausch, vergeben.
»Padre!«, hörte er eine Stimme rufen. Der weiche Klang durchdrang seine Rage und riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Durch die Schwaden erspähte er eine Frau, die auf allen Vieren kriechend auf ihn zukam, der Weg zu ihren Seiten gesäumt von zerstückelten Leibern. Es war die Amerikanerin, und sie stieg wie ein Engel inmitten des Infernos hinab, wie ein Strahl gleißenden Lichts, gesandt aus den Pforten des Himmels selbst.
Mit der Amerikanerin hatte er sich ab und an vor den Messen unterhalten, und sie war ihm schnell ans Herz gewachsen. Die Frau war mutmaßlich um die vierzig Jahre alt und vor etwa zwei Monaten auf der Insel aufgetaucht. Erst hatte er sie für eine Europäerin gehalten, dann aber schnell herausgefunden, dass er sich geirrt hatte. Es waren immer ähnliche Gründe, die Fremde dazu brachten, hier, in der philippinischen Provinz abseits der Städte und Beach-Resorts aufzuschlagen. Diese Frau aber unterschied sich von den Ausreißern, den Junkies und den Jugendlichen mit ihren Rucksäcken. Auch ihre Liebe zum Herrn schien nicht bloß eine vorübergehende Phase zu sein – zum Beispiel, weil sie vor etwas auf der Flucht war –, sondern strahlte eine Ernsthaftigkeit aus, die dem Padre ungemein imponierte. Wenn er mit ihr sprach, öffnete sich etwas in ihm, und eine ungekannte Wärme breitete sich in seinem Körper aus.
»Padre«, flehte die Frau nun, und eine Träne lief ihre Wange hinunter.
Padre Perez stand über dem Kadaver des Teufels, durchnässt von dessen Blut, das Kreuz noch immer hoch über seinem Kopf erhoben.
»Du bist in Sicherheit«, flüsterte er ihr zu, aber glaubte seinen eigenen Worten nicht. Aus den Augenwinkeln sah er die verbliebenen Dorfbewohner, die kriechend und wimmernd in Richtung des Tores preschten. Der zweite Teufel war nirgends zu sehen. Mit dem Ärmel seiner Soutane wischte der Padre sich das dunkelrote Blut der erledigten Kreatur aus der Stirn, ging in die Knie und streckte beide Arme in Richtung der Frau aus. Ihr dunkelblondes Haar stand in alle Richtungen ab, und Staub zierte ihr Gesicht, auf dem er einen Ausdruck blanken Entsetzens las.
Auf den zweiten Blick verblasste auch der Rest ihres eben noch so hell erstrahlenden Glanzes: Die klaffende Wunde auf ihrer Schulter sprach eine deutliche Sprache, sie würde die Kirche nicht lebend verlassen. Ein gleißender Blitz durchfuhr Padre Perez’ Magengegend, und sein Herz pochte heftig bis in seine Schläfen. Von allen Menschen und allen Bemühungen zum Trotz hatte er ausgerechnet sie nicht retten können!
Die Frau stützte sich auf den Ellenbogen ab und schleifte ihren Körper die letzten Meter zu ihm, griff ihn an den Handgelenken und sackte in sich zusammen. Padre Perez zog sie an sich heran und ließ ihren zitternden Leib langsam auf seine Knie sinken. Stille kehrte ein.
»Padre«, wimmerte sie wieder, und ihr Atem wurde flach. »Warum nur? Was haben wir getan, dass wir dieses Unrecht über uns ergehen lassen müssen?«
Er verlor sich in ihrer Schönheit. Selbst im Angesicht des Todes war sie von einer Anmut und Eleganz, die er nie zuvor gekannt hatte, und auch jetzt, als sie mit weit aufgerissenen, aber schon glasigen Augen zu ihm aufsah, konnte er sich nicht von diesen Gedanken lösen. Ihr warmer Körper, das langsame Heben und Senken ihrer Brust, als sie nach Luft rang, ihr Geruch – ungeachtet der Situation um ihn herum berührte ihn ihre Anwesenheit tief im Innern, und das warme Gefühl durchfuhr ihn mit unausweichlicher Macht. Die Wut, die Anspannung, beide ließen nach.
Padre Perez strich ihr das Haar aus der Stirn. »Ich weiß es nicht, mein Engel, aber jetzt bist du in Sicherheit«, sprach er mit der ruhigsten Stimme, die er aufzubringen imstande war. »Ich bin bei dir. Der Herr ist bei dir.«
Und er verstand.
Die Gewissheit überrollte ihn wie eine Lawine, als berührte ihn die Hand Gottes selbst. In klare Gedanken oder gar Worte konnte er es zunächst nicht fassen, aber der Grund, warum die Teufel über die Gemeinde gekommen waren, lag auf der Hand: Seine Sehnsucht, seine unreinen Gedanken, der Sog, den diese Frau auf ihn ausgeübt hatte – all dies hatte seine Sinne verschleiert, hatte ihn vom rechten Weg abgeführt, hatte seine Gottesfurcht ins Wanken gebracht und seinen Geist mit weltlichem, fleischlichem Verlangen vergiftet. Und wider besseres Wissen hatte er es zugelassen, hatte seinen Auftrag vernachlässigt und aus Selbstsucht und Schwäche die ganze Gemeinschaft in Gefahr gebracht.
Die gesamte Zeit dachte er, er sei reinen Herzens und hätte nichts Böses getan, aber er hatte gesündigt. Alles war allein seine Schuld, er allein hatte sich vor dem Herrn für den Angriff zu verantworten.
»Der Herr sei mit dir«, sprach Padre Perez mit brüchiger Stimme, als ihr Blick auch schon brach und sie still, fast lautlos, ihren letzten Atem aushauchte. Noch einmal hob und senkte sich ihre Brust, dann war sie fort. Mit zitternder Hand schloss er ihre Augen und wog ihren leblosen Körper noch einen Moment lang in seinen Armen.
»Es ist alles meine Schuld«, flüsterte er, und doch genoss er ihre Berührung, ihre Wärme, nur ein paar Sekunden noch, bevor sie für immer kalt werden würde. Ein flüchtiges Bild wie ein Tagtraum manifestierte sich in der hintersten Ecke seines Bewusstseins: Hätte er diese Berührung doch nur unter anderen Gegebenheiten erfahren, in einem anderen Leben, fernab seines strikten Amts und der Tragödie des heutigen Tages. Gott weiß, wie sehr er sie hätte genießen können.
»Nein!«, rief Padre Perez laut, und das Bild erlosch.
Richten müsse man ihn für sein Versagen, für seine Ignoranz, dafür, dass der Gehörnte ihn verführt hatte, ihn infiziert mit seinem Hass, ihm mit süßlicher Stimme zugeflüstert, er könne Dinge haben, denen er für immer abgeschworen hatte. Noch dazu hatte er in Gedanken gerade den Namen des Herrn missbraucht. Welch elendiger, jämmerlicher Scharlatan er doch war!
Als er sich endlich von ihr losreißen konnte, schleppte der Padre sich zum Tor, zog sein aufgeschlitztes Bein nach und versuchte, nicht auf die Gefallenen zu sehen, die es nicht rechtzeitig ins Freie geschafft hatten – die Unschuldigen, die nur seinetwegen ihr Leben hatten lassen müssen. Den Anblick ihrer Leichen hätte er nicht ertragen können.
Draußen tobte ein Unwetter, wie er es noch nie erlebt hatte. Padre Perez zog den Kragen seines Gewands hoch, nur ein schwacher Schutz gegen den sintflutartigen Regen, der ihm ins Gesicht schlug, aber auch von diesen Naturgewalten konnte er sich nicht von seinem letzten Gang abbringen lassen, seiner letzten Mission. Er musste den Herrn besänftigen, um jeden Preis. Ohnehin war diese Gemeinde ohne ihn besser aufgehoben, das wusste er nun.
Äste flogen ihm ins Gesicht, und gegen die Böen konnte er kaum ankämpfen, als er sich schweren Schrittes durch den Schlamm schleppte, weiter Richtung Küste, nicht nach links oder rechts blickend. Es zog ihn, es rief nach ihm – in der unendlichen Weite des Meeres würde er es beenden. Er war so fest entschlossen wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Die Spuren des zweiten Teufels waren schon nicht mehr zu sehen.
*
Padre Perez hatte großen Respekt vor dem Meer.
Er betrachtete die Krallen der Wellengiganten eine Weile. Sie waren merklich kleiner geworden, seit sich der Wind gelegt hatte, aber noch immer würden sie stark genug sein, ihn mit Haut und Haaren zu verschlingen. Die Schnittwunde auf seiner linken Wade schmerzte, da, wo ihn eines der Monster erwischt hatte – ihn, der bisher in seiner Anmaßung überzeugt gewesen war, nie etwas Böses getan zu haben. Wie sich der Mensch doch irren konnte, so klein und schwach angesichts der schieren Größe Gottes und seines Ozeans.
Er ließ den Blick schweifen. Die Taschen seines Gewands waren klein, aber bestimmt konnten sie den ein oder anderen Stein fassen, sein Wille und deren Gewicht würden ausreichen, nach nur wenigen Schritten würde es ihn in die Tiefe ziehen, und –
»Herr Padre! Padre Perez!« Er hörte eine Stimme durch das Brausen erklingen. Erwartungsvoll drehte er sich um, der Wind peitschte ihm ins Gesicht.
Eine Gruppe Dorfbewohner kam auf ihn zu, vielleicht sieben oder acht Menschen, ihre Gesichter besorgt. Er erblickte Frauen, Kinder, ihre Kleidung makellos und nur ein wenig klamm vom Regen. Sie lebten. Ein Zeichen – der Herr ließ ihn Abschied nehmen. Diese Gnade hatte er nicht verdient.
»Ihr seid den Monstern entkommen!«, jauchzte der Padre, und Freude erfüllte sein Innerstes. »Ihr habt es geschafft, den Klauen des Todes zu entrinnen. Oh, danket dem Herrn!«
»Herr Padre …« Ein kleiner Junge, etwa sechs Jahre alt, stolperte auf ihn zu und zupfte am Saum seines Gewands. »Geht es Euch gut?«
Dem Padre wurde schwer ums Herz. Er schlang seine Arme um das Kind, zitternd, und salzige Tränen schossen ihm in die Augen. Wie auch immer diese Menschen der Heimsuchung hatten entkommen können, sie mussten krank vor Angst sein.
»Vergebt mir«, wimmerte Padre Perez, und die Schuld stürzte auf ihn ein wie eine Lawine. »Bitte vergebt mir. Ich habe gesündigt, und ihr habt den Preis dafür zahlen müssen. Ich werde es nie wieder gut machen können.«
Einen Moment herrschte Stille, nur das Brausen der Wellen war zu hören, dumpf und träge, als wäre das Meer plötzlich Meilen entfernt.
»Wovon sprichst du?« Eine der Frauen trat hervor, packte den Padre an den Schultern und sah ihm fest in die Augen. »Perez! Wovon sprichst du?«
Doch der Padre begann nur zu wimmern, drückte sie und das Kind noch fester an sich und ging in die Knie. »Es tut mir so leid«, flehte er mit tränenerstickter Stimme, »bitte, bitte vergebt mir.« Alle Kraft verließ ihn, er krümmte sich und sackte zusammen. Die Dorfbewohnerin schüttelte seine erschlaffenden Arme ab und zog den Jungen zu sich. Beide wichen einen Meter zurück und betrachteten mit Entsetzen, wie Padre Perez, der geschätzte Beschützer ihrer Gemeinde, wie ein Kind schluchzte und in den nassen Sand fiel.
»Mama, was hat er denn?«, fragte der Junge, doch sie schwieg.
»Ich sagte doch, wir finden ihn am Meer«, zischte einer der Männer abfällig und rümpfte die Nase. »Ich habe es schon heute früh gesagt, als wir ihn nicht in seiner Kirche finden konnten. Der alte Mann ist bereits seit geraumer Zeit dem Wahnsinn anheimgefallen. Jetzt ist er endlich völlig verrückt geworden! Das können wir nicht länger dulden, sage ich euch! Und so jemand will unser Hirte sein. Zum Teufel mit ihm!«
Viele der Dorfbewohner murmelten zustimmend.
»Er ist verletzt.« Eine blonde Frau mit heller Haut kam auf den zitternden Padre zu und beugte sich zu ihm herab. »Seht nur, sein Bein. Er muss durch das Dickicht geirrt sein und sich an einem Zweig geschnitten haben. Bringen wir ihn ins Dorf zurück.«
»Lassen wir ihn einfach hier!«, ergriff der Zornige wieder das Wort und wandte sich der Gruppe zu. »Dann erledigt sich unser Problem ganz von selbst! Und du? Wer glaubst du, dass du bist, uns herumkommandieren zu können? Du bist bloß zu Gast in dieser Gegend, vergiss das nicht.«