Die Wanderung der Frösche - Leif Oberlin - E-Book

Die Wanderung der Frösche E-Book

Leif Oberlin

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Beschreibung

Carla reist mit ihrem neuen Freund Hans nach Japan - in ein Land, das sie nur aus Geschichten kennt und in dem ihr alles fremd erscheint. Was ein aufregender Urlaub hätte werden sollen, entpuppt sich bald als Odyssee, wenn rätselhafte Ereignisse ihren Lauf nehmen und Carla sich einer finsteren Macht ausgesetzt sieht, die sie bis ans Ende ihrer Vorstellungskraft führen wird. So muss sie sich nicht nur dem Unbekannten und der drohenden Gefahr stellen - sondern vor allen Dingen auch sich selbst.

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Seitenzahl: 355

Veröffentlichungsjahr: 2022

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To whom I needed wanted you to be

Inhaltsverzeichnis

EVERYTHING ZEN

TEDDYBÄR UND SPINNENFRAU

DER TURM

HINTER VERSCHLOSSENEN TÜREN

DER TEMPEL

WILDLIFE

UNVERSEHRT ZURÜCK

DER SCHREI

DU BIST NICHT SCHULD

DIE TOTEN

DIE DICKEN EIER VON TANUKI – SAN

ZEIT ZU KOTZEN

TAXI DRIVE

FINDEST DU MICH SCHÖN?

DER WEG NACH HAUSE

MONJAYAKI

KEINE RÄTSEL MEHR

VERLASS MICH NICHT

ASCHE

NRT

EVERYTHING ZEN

Holz hacken und Wasser tragen.

Den gesamten Morgen hatte sie mit überzuckertem Automatenkaffee und Internetvideos über Zen-Buddhismus verbracht, ihr Kopf leer wie eine Leinwand, bevor der erste Pinsel angesetzt wurde. Nichts hiervon war sinnvoll, nichts inspirierte sie, nichts fühlte sich so an, als würde es sie auch nur den kleinsten Schritt weiterbringen. Draußen ertönte irgendein Jingle, als einer dieser Vans vorbeibrauste, der einen x-beliebigen Kandidaten für eine x-beliebige Lokalwahl anpries, in einer Sprache, die sie nicht verstand. Sie verstand nichts von alledem.

Du kannst den Pfad nicht beschreiten, wenn du nicht selbst der Pfad geworden bist.

Irgendwann klappte sie den Laptop zu, seufzte, räkelte sich und schälte sich dann aus den dünnen Laken.

Die Mittagssonne war grell und brannte unerbittlich auf sie herab, als Carla sich vor dem Hauseingang eine Zigarette anzündete und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein paar Senioren mit ihren Hunden passierten die Straßenecke und würdigten sie beim Vorbeigehen keines Blickes. Sie drückte die nur halb gerauchte Kippe aus und zog sich an dem Automaten um die Ecke einen weiteren Kaffee. Die erhitzte Dose ließ sich mit bloßen Händen kaum halten. Wieder entwich ihr ein langer Seufzer.

Tokio war zur selben Zeit ein Gigant und ein riesiges, aufgeblasenes Nichts, zu viele Menschen an den einen, viel zu wenige an anderen Stellen. Entweder alles blinkte und erstickte im Lärm, oder aber die gespenstische Stille zehrte an ihren Nerven. Immer dann, wenn es ruhig wurde, und das konnte sehr abrupt und unvorhersehbar geschehen, gruben sich ihre Zweifel nach außen. Dann zerbrach sie sich den Kopf über dieses Land, diese Stadt, diese Menschen und Hans.

Hans.

Als würde das Lächeln der Massen auf ihn abfärben, war er seit zwei Tagen erfüllt von solch einer Freude und Leichtigkeit, wenn er auf Wolkenkratzer, Hunde und Plastikessen in den Schaufenstern zeigte, dass sie sich fragte, ob sie diese Reise schlussendlich nur für ihn allein angetreten hatten. Während sie sich vergrub, blühte er auf – ein Andersherum gab es nicht. Und am schwersten lastete auf ihrem Gemüt, dass ihr aufgefallen war, wie wenig sie sich für ihn freuen konnte.

Sie hatten Frankfurt vor nicht einmal drei Tagen verlassen, und der beinahe vierzehnstündige Flug saß ihr noch immer in den Knochen.

»Wir haben einen Zeitunterschied von sieben Stunden, vergiss das nicht«, hatte Hans sie von dem Fenstersitz neben ihr aus ermahnt. »Das heißt, falls sie in Deutschland nicht aus Versehen die Uhr umstellen – dann wären es acht.« Er lachte. »Wir leben in der Zukunft.«

Sie stammelte ein fast unhörbares Ja.

»Erst dachte ich, es wäre besser, wenn wir uns vor Ort jeder eine SIM-Karte zulegen. Dann wiederum: Das öffentliche WLAN müsste reichen. Eigentlich. Das gibt es auch überall.« Manchmal musste er regelrecht brüllen, um das Tosen der Motoren zu übertönen.

Carla hatte nur zaghaft genickt und den Kopf in Richtung Gang gedreht.

»Und übrigens: Wir treffen Parker dann am Samstag in Akihabara, der weiß da so ein cooles Café. Er kennt sich ja wirklich schon aus nach vier Monaten. Ist das okay?«

Sie hatte nichts dagegen einzuwenden, aber Hans war nicht aufgefallen, dass ihr einfach nicht nach Sprechen zumute war. Lange Flüge schlugen Carla immer aufs Gemüt und auf den Magen, sie war einfach nicht fürs Fliegen gemacht, und jener war besonders anstrengend gewesen. Als die Maschine abhob, musste sie schlucken. Nach Wochen der Vorbereitung wusste sie ab diesem Moment, dass es kein Zurück mehr gab. Von Vorahnungen hielt sie zwar nicht viel, aber das Gefühl, dass auf der anderen Seite irgendetwas auf sie wartete, war sie schon den ganzen Morgen über nicht losgeworden. Vor allem nicht während der Zugfahrt zum Flughafen, als es unerträglich stark geworden war und wie ein fetter schwarzer Klumpen in ihrer Brust gesessen hatte. Was genau dieses Etwas war, und ob gut oder möglicherweise eine Bedrohung, konnte sie auch jetzt noch nicht sagen. Sie war sich nur sicher, dass sie es bald herausfinden würde.

Zen heißt, das Leben zu fühlen, und nicht, Gefühle über das Leben zu haben.

Carla und Hans bezeichneten sich erst seit fünf Monaten vorsichtig als Paar. Der Sommer dieses Jahres markierte das allererste Mal, dass sie länger als bloß ein Wochenende lang zusammen verreisten – eine Idee, die aus der günstigen Gelegenheit heraus geboren worden war. Parker war ein Kommilitone von Hans, der gerade wegen eines Praktikums in einer Tokioter Anwaltskanzlei im Herzen der Mega-Metropole lebte und arbeitete. In Deutschland war sie ihm nur zweimal begegnet, irgendwann zu Beginn ihrer gemeinsamen Zeit mit Hans, und schon kurz darauf war Parker nach Japan aufgebrochen. Bei dem ersten Besuch in einem weit entfernten Land konnte es nur von Vorteil sein, einen Fixpunkt in der Fremde zu haben, und so hatte es nicht lange gedauert, bis Hans und Parker ihren gemeinsamen Plan geschmiedet hatten: In den Semesterferien würden sie nach Japan reisen.

Carla hatte kaum Bezug zu dem Inselstaat, anders als ihr Freund und eigentlich dessen gesamtes Umfeld. Sie mochte Sushi, und sie hatte auch schon den ein oder anderen Anime gesehen, aber das war soweit alles, was es von ihrer Seite darüber zu sagen gab. Hans jedoch besaß »ein gigantisches, an Besessenheit grenzendes Faible« für »alles aus Fernost«, wie es Carlas Mutter, die der Partnerwahl ihrer Tochter ansonsten nicht abgeneigt schien, auszudrücken pflegte. Sein Herz schlug vor allem für Computerspiele, die einen nicht unbedeutenden Teil seines Lebens ausmachten. Ja, Hans war das, was man abfällig auch gerne als Nerd bezeichnen konnte – aber die Art Nerd, an der Carla schon seit jeher Gefallen fand. Mit demselben heiligen Ernst wie seine Zockerrunden behandelte er sein Workout im Studio oder in freier Natur, Alkohol rührte er nur in Gesellschaft an, und er versäumte es auch nicht, regelmäßig mit seiner Mutter zu telefonieren. Hans war jemand, in den sie sich schon während der ersten Tage, die sie damals im winterlich-verregneten Frankfurt verbracht hatte, mit ganzem Herzen verlieben konnte. Bei dem sie sich immer sicher und aufgehoben gefühlt hatte. Doch zumindest in Bezug auf Letzteres erschien ihr diese Phase schon jetzt, als sei sie eine Ewigkeit her, wie aus einem längst vergangenen Leben. Um ehrlich zu sein: genau von dem Moment an, als die Räder der Maschine vom Boden abgehoben waren.

Es war Juli.

Während sie den Vormittag ihres insgesamt erst zweiten vollen Tages in Tokio im Hostel verbringen wollte, da sie in der letzten Nacht wegen der Hitze, ihres Jetlags und den Moskitos kaum eine Stunde am Stück hatte vernünftig schlafen können, waren Hans und Parker mit ihren Fahrrädern zu einem bekannten Tempel in einem anderen Stadtteil aufgebrochen, hatten aber versprochen, sie gegen Mittag abzuholen, um zusammen etwas essen zu gehen.

Carla spähte auf ihr Handy. Es war kurz nach halb zwölf. Eine Gruppe japanischer Hostelgäste kam die Straße herunter und unterhielt sich lautstark. Einer der Männer nickte ihr höflich zu, als sie das Gebäude betraten. Carla nickte zurück und beschloss, noch eine Zigarette zu rauchen, bevor sie sich wieder ins Innere zurückziehen würde. Die hohen Temperaturen machten ihr trotz ihres dunklen Teints zu schaffen, an die hohe Luftfeuchtigkeit würde sie sich aber bestimmt bald gewöhnt haben. Höchstwahrscheinlich würde sie sich bald an alles gewöhnt haben. Und selbst wenn nicht – zwei Wochen in diesem fremden Land, Hans zuliebe, das würde sie schon irgendwie durchhalten. Ihre Stimmungswechsel, ihre manchmal wie wild umherspringenden Gedanken – sie konnte sie deutlich spüren.

Das Fernsehen im Gemeinschaftsraum des Backpacker-Hostels zeigte eine japanische Spielshow.

Die Unterkunft war nicht unbedingt schäbig, für Tokioter Verhältnisse aber auch nicht gerade vornehm. In erster Linie war das zweistöckige Gebäude vergleichsweise günstig und nicht allzu weit ab vom Schuss, somit das Beste, das sich zwei deutsche Studierende knapp nach dem Ende der Vorlesungszeit leisten konnten.

Carla ließ sich mit ihrem mittlerweile ein Stück weit abgekühlten Automatenkaffee vor dem Fernsehapparat nieder. Zu dieser Zeit war sie die einzige Person im Raum, alle anderen Gäste schienen unterwegs.

In der Show mussten die Teilnehmer versuchen, so viel glaubte sie zu verstehen, aus den Bestandteilen von Kanji-Schriftzeichen Anagramme zu bilden. Es rang ihr ein Lächeln ab – solch eine Aufgabe schien ihr eine eher harmlose Idee verglichen mit dem, was Hans sonst über die offenbar recht mutige und mitunter zu bizarren Auswüchsen fähige Unterhaltungsindustrie in diesem Land berichtet hatte.

Um kurz vor zwölf bemerkte Carla einen unbeantworteten Anruf auf ihrem Handy. Sie schien so tief ins Fernsehen versunken gewesen zu sein, dass sie das Telefon nicht einmal vibrieren bemerkt hatte. Hans hatte es lediglich ein einziges Mal versucht und ihr weder eine Nachricht hinterlassen noch im Anschluss einen Text gesendet. Sie rief zurück.

Die drei verabredeten sich zwanzig Minuten später in einem Ramen-Restaurant nur zwei Straßen von der Unterkunft entfernt. Hans hatte ihr Bescheid geben wollen, dass Parker und er sich bereits auf dem Rückweg von ihrem Ausflug befanden. Carla ließ sich den genauen Standort der beiden übermitteln und machte sich gleich auf den Weg. An japanisches Essen würde sie sich auf jeden Fall schnell gewöhnen können, und ihre Vorfreude darauf konnte sie kaum unterdrücken.

Kurz darauf trieben ihr die dampfenden Nudeln auch schon den Schweiß auf die Stirn.

»Vor ein paar Jahren haben sie besondere Spezial-Ramen erfunden, die man im Weltraum essen kann, wusstet ihr das?«, referierte Parker zwischen zwei Bissen. Die beiden Männer waren gut gelaunt, offenbar war ihr morgendlicher Trip zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen. »Japaner sind ja gemeinhin dafür bekannt, nur schwer von alten Gewohnheiten lassen zu können. Da finde ich es schon verständlich, wenn ein Astronaut, ganz allein da oben, nicht auf seine heiß geliebten Ramen verzichten möchte. Ein kleines Stückchen Heimat, so weit draußen.«

»Zero gravity ramen«, stimmte Hans ein. »Kann ich mir aber eigentlich nicht vorstellen. Wie soll das denn aussehen, wenn du die Packung aufreißt und die Ramen dann wie Würmer durch die Gegend fliegen und um dich herumkreisen? Das ist doch ekelhaft.«

»Du könntest versuchen, sie mit deinen Stäbchen zu fangen«, erwiderte Parker. »Bestimmt lustig und eine willkommene Abwechslung zu deinem grauen und tristen Astronautenalltag.«

»Das wäre ein witziges Konzept für eine Spielshow«, hakte Carla ein.

Hans zog laut schlürfend den nächsten Schub Nudeln in seinen Mund, schluckte und lächelte sie beruhigt an. »Geht es dir jetzt besser? Das ist schön.«

Sie lächelte zurück und musterte ihn eindringlich. Das halblange, dunkelblonde Haar hatte er sich wie immer zu einem Bun gebunden, seine Bartstoppeln augenscheinlich seit ihrer Ankunft in Japan nicht ein einziges Mal rasiert, und sein Gesicht war leicht gerötet von der Fahrradtour in der prallen Sonne. Alles schien in bester Ordnung.

»Ich habe ein wenig ferngesehen, mehr nicht«, sagte sie, und da es sonst nichts zu berichten gab, fügte sie hinzu: »Bitte erinnert mich daran, dass ich mir direkt nach dem Essen bei der ersten Gelegenheit eine große Flasche Wasser besorge. Nur um sicherzustellen, dass ich nicht kollabiere, wenn ihr mich nachher durch die Straßen hetzt.«

Parker schlug grinsend mit der flachen Hand auf den Tisch, als hätte er nur auf ihr Stichwort gewartet. Auf der Tischplatte verteilten sich schlagartig Tropfen der trüben Ramen-Brühe. »Nun gut, lady and gentleman, wie lautet der Plan? Ich nehme ab sofort Vorschläge für heute Nachmittag entgegen.«

Obwohl Carla das Interesse an japanischer Popkultur, im Gegensatz zu ihrer Begleitung, eher abhanden ging – für Sightseeing in Ecken der Welt, in denen sie sich bisher nur wenig auskannte, war sie immer zu haben. Es tat gut, sich dabei auf die Expertise der beiden Männer verlassen zu können. Das riesige Monster, das Tokio war, bot natürlich wesentlich mehr, als man sich in den bloßen zwei Wochen, die ihnen zur Verfügung standen, überhaupt anschauen konnte, also wollte sie sich nicht noch dem Druck aussetzen, Entscheidungen darüber zu treffen, sondern das ganz Hans überlassen. Entscheidungen treffen müssen hatte sie während der letzten Monate genug – nicht zuletzt die, dass ihr erster gemeinsamer Urlaub als Paar keiner werden sollte. Und dass es sie ausgerechnet hierher verschlagen würde.

Schließlich einigten Hans und Parker sich darauf, eine weitere Runde auf ihren Rädern – dieses Mal sollte sie sie natürlich begleiten – zu einigen bekannten Kulturdenkmälern zu drehen und sich dann abends zum ersten Mal an das Nachtleben in Shinjuku zu wagen. Von Shinjuku hatte Carla gehört: Die U-Bahn-Station sollte die am schlimmsten überlaufene der ganzen Welt sein. In dieser Ecke kamen sie von überall her und alle zusammen, im Schmelztiegel Japans. Sie war aufgeregt, aber es war eine freudige Aufregung. So langsam hatte sie genug Energie gesammelt, um wieder an Hans’ Abenteuern teilnehmen zu können. Jetzt galt es, sein Glück nicht ihrem eigenen in die Quere kommen zu lassen.

Die letzten Wochen vor der Abreise war es schwierig gewesen zwischen ihnen, so viel stand fest, und sie war sich sicher, dass auch dieser ganze Stress ein Grund dafür sein musste, dass sie sich jetzt nicht richtig fallen lassen konnte. Aber trotz all der Anspannung war ihr auch klar: Sie konnte ihm vertrauen. Sie wollte es, und auf keinen Fall wollte sie nachtragend sein. Wenn sie sich bloß noch über ihre grundlegenden Gefühle zu ihm im Klaren wäre, vielleicht könnten die Dinge gerade tatsächlich so einfach und entspannt sein, wie Hans es ausstrahlte.

Holz hacken und Wasser tragen.

Holz hacken und Wasser tragen.

Holz hacken und Wasser tragen.

TEDDYBÄR UND SPINNENFRAU

Alle Geschichten waren wahr.

Es war kurz nach zehn, als Carla, Hans und Parker sich auf dem Shinjuku Square wiederfanden. Es hatte bereits milde zu dämmern begonnen, aber das machte keinen Unterschied inmitten all der Neonreklamen, die die Umgebung hell erleuchteten, so weit das Auge reichte, und die Nacht aufzusaugen schienen, als könne es niemals wieder dunkel werden. Das einzig Fehlende, um die Szenerie wie eine futuristischere und freundlichere Version von Gotham-City wirken zu lassen, war das Fledermauslogo am Himmel. Wer innerhalb des gigantischen unterirdischen Bahnhofs, den sie gerade verlassen hatten – der Shinjuku Station –, auch nur einen kurzen Moment stehen zu bleiben gedachte, musste damit rechnen, dass jemand einen von der Seite anrempeln, wenn in all der Eile nicht sogar gänzlich von den Füßen hauen würde. Die unzähligen Menschen hasteten eilig von A nach B, die meisten augenscheinlich auf dem Rückweg von ihrem Tagesgeschäft, vielleicht aber auch genauso viele unterwegs in die Nacht, um sich ebendieses Tagesgeschäft mittels Alkohols aus dem Gedächtnis zu tilgen.

Carla fühlte sich recht erschöpft wegen des vorangegangenen Fahrradtrips – ihre Kondition war in letzter Zeit nicht die beste, in diesem Klima erst recht nicht –, aber ihre beinahe kindliche Faszination für den ganzen Trubel verlieh ihr einen neuerlichen Energieschub. Die meisten Städte, die sie bisher kennen gelernt hatte, waren von der schieren Masse an Menschen und Eindrücken, die in Tokio den Alltag bestimmten, ein ganzes Stück entfernt. Den beiden Männern schien es ähnlich zu gehen. Hans hatte wieder dieses Grinsen im Gesicht, das immer dann zum Vorschein kam, wenn sich seine Erwartungen bestätigten. Der erste Kontakt mit Shinjuku, einer dieser klassischen Postkartenmomente – es war offensichtlich genau das, was er sich vorgestellt hatte.

Auf zwei riesigen Leinwänden an einem weit in den Himmel emporragenden Gebäude, allem Anschein nach einem Einkaufscenter, lief das Musikvideo einer Rockband um eine androgyn wirkende Sängerin mit Kurzhaarfrisur. Die Musik donnerte über die Köpfe der Passanten hinweg, aber nur wenige blieben stehen, um es sich tatsächlich anzusehen.

Carla erspähte eine Frau, mutmaßlich um die dreißig, die ein mit Paletten verziertes, silberfarbenes Kleid trug, das an vielen Stellen zerrissen war. Ihre Wangen glitzerten von kleinen bunten Sternen aus Konfetti, und darüber zerlief ihr Make-up unter den leer in die Ferne starrenden Augen. In den Armen trug sie einen ähnlich verwahrlost aussehenden, überdurchschnittlich großen Teddybären. Die Menschen um sie herum würdigten sie keines Blickes, als sie langsam den Bordstein entlang schlich und ab und an kaum verständliche Wortfetzen in die Menge rief. Nichts an dieser Frau schien ihnen auffällig oder einer Rede wert. Carla starrte ihr nur hinterher. Zuhause würden die Menschen innehalten, lachen und mit dem Finger auf sie zeigen. Mindestens.

Ein helles Klirren ertönte, als sie nur wenig später in der erstbesten namenlosen Bar, die sie hatten finden können, ihre Schnapsgläser gegeneinanderstießen.

»Wir sind in der größten Stadt der Welt, und trotzdem ist in etwa zwei Stunden Schicht im Schacht«, lautete die nächste Belehrung aus Hans’ Tokio-Expertenlexikon, dessen Informationen er mühelos zu jeder Tages- und Nachtzeit abrufen konnte und die – wenn man sich ins Gedächtnis rief, dass er selbst zum ersten Mal vor Ort war – manchmal ein bisschen zu selbstbewusst klangen. »Länger als bis kurz nach Mitternacht fahren die Bahnen nicht, denkt da dran. Junge, du willst wirklich kein Taxi in Tokio nehmen, glaub mir. Von der gleichen Kohle können wir drei Tage lang unser Hostel bezahlen.«

Für einen kurzen Moment war sich Carla sicher, mit »Junge« würde er direkt Parker ansprechen und diese Ansage war nicht gleichzeitig auch an sie gerichtet, dann aber verwarf sie den Gedanken und gestand sich ein, dass sie seit ihrer Ankunft in Japan ein noch größeres Bedürfnis nach seiner Aufmerksamkeit zu haben schien als sonst. Der Wodka schmeckte bitter. Außerdem hatte sie das Gefühl beschlichen, der Barkeeper, der sie soeben bedient hatte, würde während des Polierens von Gläsern die ganze Zeit verstohlene Blicke zu ihr herüberwerfen.

»Wenn es sein muss und wir den letzten Zug verpassen sollten, laufen wir eben nach Hause«, witzelte Parker, und Hans strafte ihn mit einem tödlichen Blick. Angesichts der schieren Größe, die Tokio einem jederzeit mit aller Kraft ins Gesicht rieb, wirkte es auf Carla ein bisschen so, als kämen sie alle zusammen aus der letzten, hinterwäldlerischen Provinz, drei Landeier in der großen Stadt. Der Gedanke amüsierte sie. Noch das größte Großmaul hatte im Angesicht des Monsters klein bei zu geben.

Die Bar war bis zum Bersten gefüllt, was in Anbetracht von lediglich zwei Tischen mit Sitzgelegenheiten und bloß sechs Hockern an der Bar aber keine Seltenheit zu sein schien. Carla ließ ihren Blick schweifen: In einer Ecke stand eine knallbunte Jukebox amerikanischer Machart, die Musik aber kam von dem iPhone des Barkeepers, welches er an die Anlage hinter seinem Rücken angeschlossen hatte. Mit Ausnahme des Beats konnte sie die Konturen des Stückes, das gerade lief, inmitten des Stimmengewirrs kaum ausmachen. Die meisten Gäste schienen sehr jung zu sein und waren entweder Paare oder in kleinen Gruppen von drei oder vier Leuten unterwegs. Viele trugen eine Schuluniform oder Anzüge, manche schleppten Aktenkoffer mit sich herum. Das Studenten- oder Firmenselbst legt man in Japan auch während einer Kneipentour nicht ab, wusste Carla. Kurz dachte sie an ihre Klausuren von vor ein paar Wochen zurück und daran, dass die Vorbereitungen für jene inmitten all der Nervosität, bald das erste Mal in ihrem Leben Europa zu verlassen, deutlich in den Hintergrund getreten waren. Die Ergebnisse würden ernüchternd ausfallen – ja, ein bisschen Abstand von allem hatte sie sich durchaus verdient.

Parker hatte glücklicherweise bereits in seinem flüssigen Japanisch die nächste Runde Schnaps bestellt. Es faszinierte sie, wie einfach ihm die ihr zum größten Teil unbekannten Laute über die Lippen kamen.

»Hetz’ uns doch nicht«, ermahnte Hans Carla, als sie vorschlug, die Location zu wechseln und an einem anderen Ort auf japanisches Bier umzusteigen. »Und sowieso: Mach langsam. Du weißt, warum.«

»Nett, dass du dir Sorgen um mich machst, aber seit wann stehe ich dir in puncto Trinkfestigkeit in irgendetwas nach?« Carla gab sich schlagfertig, Parker jubelte, und sie dankte ihm still. Mit ihm verstand sie sich prächtig, selbst wenn sie vorher nur wenig miteinander zu tun gehabt hatten. Manchmal hatte Carla den Eindruck, dass es Hans gegen den Strich ging, wenn sie zusammen mit Parker Späße machte, beide laut über die Witze des jeweils anderen lachten oder in Gespräche vertieft waren, die Hans’ Beteiligung nicht zu erfordern schienen.

»Vorsicht! Da ist Kotze.« Parker riss sie rechtzeitig zur Seite, als sie wieder ins Freie getreten und von der Neonhölle umgeben waren. Tatsächlich waren Carlas Füße nur wenige Zentimeter von einer Pfütze Erbrochenem entfernt.

»Da hat jemand einen guten Abend gehabt«, amüsierte sie sich. »Dabei ist es noch gar nicht so spät. Außerdem war das vorhin noch nicht da, ich bin mir sehr sicher.«

Hans sagte nichts dazu.

»Wunderbar, was?« Parker drehte sich in Richtung der grell erleuchteten Eingangsfront einer Arcade-Spielhalle direkt neben ihnen und hob die Hände, als wolle er dieser eine Umarmung geben. »Alles blinkt und explodiert. Gut, dass keiner von euch beiden Epileptiker ist.«

»Du bist schon so lange hier, und das fasziniert dich immer noch?« Hans betrachtete ihn argwöhnisch.

Parker warf ihm daraufhin einen gespielt missbilligenden Blick zu und baute sich vor ihm auf, die Arme nun in der Bauchtasche seines Sweatshirts verschränkt. Dann grinste er. »Na klar! Das kickt mich immer noch. Vor allem, wenn ich betrunken bin. Die Gegend, in der ich arbeite, ist langweilig – da ist zwar auch alles groß, aber grau und gleichförmig. Hier in Shinjuku oder in Shibuya ist es immer wie auf dem Jahrmarkt. Du kommst hierher, wenn du von den Dingen, die dich jeden Tag umgeben, nichts mehr sehen möchtest.« Er sog genussvoll die sommerliche Nachtluft ein. »Apropos, was haltet ihr von einem Streifzug durch Kabukichō? Jetzt?«

Kabukichō war der bekannteste der Tokioter Rotlichtbezirke, das Amüsierviertel schlechthin, und ging nahtlos in Shinjuku über. Carla wusste, dass alte und einsame Männer hier wegen käuflichen Sex herkamen – das De Wallen Tokios, selbst wenn sie vermutlich keine in Schaufenstern tanzenden Prostituierten antreffen würden. In ihrer schnapsbeseelten Ausgelassenheit hatte sie nichts gegen Parkers Vorschlag einzuwenden, und Hans ebenso wenig.

Ihr Weg führte die drei an einem riesigen Kino vorbei, von dessen Dach aus ein gigantischer Godzilla-Kopf das Geschehen überwachte.

Der Übergang zwischen Shinjuku und Kabukichō schien tatsächlich fließend, schwerwiegende Unterschiede konnte Carla nicht ausmachen, als sie sich die verstopften Gassen entlang nach vorne arbeiteten. Die Farben, die Geräusche, das Chaos – all dies folgte ihnen auf Schritt und Tritt wie Nebel. Viele Menschen rauchten auf offener Straße, aber niemand lief dabei, wie sie es aus Deutschland gewöhnt war; stattdessen standen alle am Rand oder in einer Ecke. Zwar waren große Teile von Tokio designierte Nichtraucherzonen, in dieser Gegend aber schien man das Regelwerk ein bisschen weniger genau zu nehmen. Trotzdem entschied sie sich dagegen, sich jetzt eine Zigarette anzuzünden – das hatte Zeit, bis sie wieder in eine Bar eingekehrt waren. Erneut fühlte Carla sich von einigen der – meistens männlichen – Passanten angestarrt, aber das musste nur in ihrem Kopf sein: In Tokio wimmelte es an allen Ecken und Enden von gaijin, von Ausländern, und alle zwei Minuten konnte sie innerhalb der Menschenmassen nichtasiatische Gesichter erspähen. Wie auffallend sollte sie schon sein? Dennoch war sie froh darüber, in einer Ecke wie dieser nicht allein unterwegs sein zu müssen. Mit Hans an ihrer Seite und betreut von Parker, ihrem persönlichen »Mann in Tokio«, der sich entgegen all seiner vermeintlichen Coolness liebevoll um sie kümmerte, fühlte sie sich sicher.

Für eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her und musterten die Eingangsbereiche und Schilder der Läden, an denen sie vorbeikamen. Schließlich brach Hans die Stille. »Du datest keine Japanerin, oder? Parker?« Der Gedanke schien ihm spontan in den Sinn gekommen.

Parker reduzierte merklich sein Schritttempo und lachte sein unverkennbares Parker-Lachen, das immer ein bisschen so klang, als würde er einen Anflug von Nervosität überspielen wollen, obwohl er sonst meistens großes Selbstbewusstsein ausstrahlte. »Nein. Sieh mich doch an! Black boys haben einen schweren Stand bei den japanischen Frauen, glaub mir. Außerdem: Wer würde sich schon gerne mit einem Langweiler wie mir abgeben wollen? Ich bin Mädchen für alles bei einem Rechtsanwalt, weiter nichts. Und ich verdiene noch nicht einmal besonders gut.«

Darauf wusste Hans wohl nichts zu antworten, also lächelte er nur verlegen und stieß seinem Kumpel den Ellbogen in die Seite.

»Und du?«, erwiderte Parker die Frage. »Schon jemanden ins Auge gefasst?«

»Hey«, murmelte Carla kleinlaut. »Ich bin auch hier.« Mit Parkers Ironie hatte sie mittlerweile umgehen gelernt, trotzdem versetzte es ihr einen kleinen Stich.

Hans grinste nur und zuckte mit den Schultern. Parker brach in lautes Gelächter aus und legte ihm den Arm um die Schultern. »Ich mache nur Spaß, das wisst ihr doch.« Er drehte sich zu Carla um, richtete das Wort aber weiterhin an Hans. »Du hast die bezauberndste Freundin auf Erden, und das soll auch so bleiben.«

»Vielen Dank für die Blumen«, sagte sie. Jetzt wäre eine Zigarette doch genau das Richtige.

»Leute«, rief Hans plötzlich und zeigte auf einen Eingang, nur wenige Meter von ihnen entfernt. Rock & metal bar war in großen Lettern auf dem Schild zu lesen, ein lebensgroßer Pappaufsteller von Gene Simmons und seiner legendären, unmenschlich langen Zunge stand daneben; der Hals seiner Bassgitarre zeigte einladend eine Treppe hinunter. »Wie wäre es denn hiermit? Es ist höchste Zeit für Nachschub, findet ihr nicht auch? Allzu ewig können wir uns auch keine Zeit mehr lassen – denkt an die Züge.«

Carla trat vor ihn und fasste ihn an den Handgelenken – schon fast bettelnd nach seiner Aufmerksamkeit, wie sie sich erst später eingestehen würde. »Rock’n’Roll«, sagte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

Ein Schwall abgestandenen Zigarettenrauchs waberte ihr entgegen, als sie als Erste die überraschend schwere Tür zu Fuße der Stufen öffnete, und es stellte sie sofort zufrieden, eine weitere Raucherkneipe entdeckt zu haben. Es war schummrig in dem Keller, in den nur eine Theke und davor fünf hohe Stühle hineinpassten. Die Musik war bis zum Anschlag aufgedreht – Rage Against The Machine wummerten aus den Boxen –, und ein definitiv nicht wie ein Einheimischer aussehender, grobschlächtiger Kerl lächelte ihnen väterlich entgegen, als sie Platz nahmen. Ansonsten war kein einziger Gast zu sehen. In den Ecken hingen künstliche Spinnweben, und auf dem Tresen waren Plastikspinnen verteilt – offensichtlich hatte sich niemand die Mühe gemacht, die Halloween-Dekoration des vergangenen Jahres zu beseitigen, und das schien durchaus so gewollt zu sein.

»American?«, wollte der in die Jahre gekommene Barkeeper wissen und sah Parker erwartungsvoll an.

»Deutschland. Einfache Touristen. First-timers«, erwiderte dieser in ebenso perfektem Englisch und deutete mit dem Kinn in Richtung von Hans und Carla. Der alte Mann nickte nur, er schien mit dieser Antwort zufrieden.

Der erste Zug ihrer Kippe schmeckte fantastisch, es fühlte sich an, als hätte sie seit Stunden nicht geraucht. Sie ärgerte sich selbst oft über ihr Laster, und auch Hans drückte nicht selten seine Abneigung aus, wenn ihre Küsse nach Tabak schmeckten. Aber was konnte sie schon tun? Jetzt waren sie schließlich im Urlaub, und es war nicht an der Zeit, über grundlegende Lebensveränderungen nachzudenken.

Alle bestellten sich ein Bier, eine japanische Marke, und unterhielten sich ausgelassen weiter, während die ein wenig zu laute, zu dröhnende Musik über sie hinwegfegte.

»800 Yen für ein gezapftes Bier finde ich definitiv übertrieben«, beschwerte Hans sich.

Ein Schnurrbart aus Schaum zierte Parkers Oberlippe. »Das sind klassische japanische Barpreise, vor allem in populäreren Ecken wie dieser. Wir können uns auf dem Rückweg ein paar Dosen im Konbini besorgen und die dann bei euch im Hostel vernichten. Auf einen Sprung würde ich euch noch begleiten, bevor ich nach Hause gehe. Ich muss morgen erst mittags auf der Arbeit sein.«

»Einverstanden.« Hans schien überzeugt.

»Sehr gut«, antwortete Parker. »Aber hört mal, warum habt ihr euch eigentlich kein günstiges Hotelzimmer besorgt? Dann hättet ihr wenigstens ein bisschen Privatsphäre, nur für euch zwei.«

Carla klopfte die Asche ihrer Zigarette ab. »Hast du eine Vorstellung davon, was das hier in Tokio kostet, wenn du nicht am anderen Ende der Stadt übernachten willst? Außerdem mag ich diese Backpacker-Geschichten. Du triffst so viele verschiedene Menschen, von überall her …« Ehrlich gesagt gab es keinen wirklichen Grund, dass sie nicht in einem Zweierzimmer übernachteten, und bestimmt hätten sie in derselben Gegend auch ein bezahlbares, ausgewachsenes Hotel finden können, aber Carla hatte die Buchung der Unterkunft Hans überlassen, und so waren sie eben in einer klassischen Herberge für Rucksacktouristen gelandet, in der man sich normalerweise nur zum Schlafen aufhielt. Der Wunsch nach Privatsphäre hatte für Hans offensichtlich nicht im Vordergrund gestanden.

»Aber wo habt ihr eure quality time?«, prustete Parker los. »Auf dem Klo?«

»Nachts, im Park direkt um die Ecke«, entgegnete Hans schnell, bevor Carla ihrer Empörung Ausdruck verleihen konnte. Seit sie in Tokio waren, war es tatsächlich zu keiner »quality time« gekommen, aber damit konnte sie sich arrangieren. Ihre Libido war ohnehin schon seit einer ganzen Weile im Keller, bereits bevor sie Deutschland verlassen hatten. Nichtsdestotrotz würde sie es begrüßen, wenn das Thema nicht immer wieder aufkommen würde – aber was konnte sie bei den beiden Jungs schon erwarten. Es war an der Zeit für den nächsten großen Schluck Bier.

Plötzlich stand der Barkeeper neben ihnen, Carla hatte ihn nicht näherkommen sehen, und stellte ein Tablett mit vier Schnapsgläsern vor ihnen ab. »Geht aufs Haus.« Es war offensichtlich, dass er die erstbeste Gelegenheit nutzte, nicht allein hinter der Theke trinken zu müssen, wie er es vermutlich sonst tat.

»Heute ist nicht viel los, oder?«, fragte Parker, nachdem sich alle artig bedankt hatten.

»Well, es ist Sommer«, erläuterte der Mann wortkarg. »Da ist draußen die Hölle los, hier unten aber meistens tote Hose. Ich hab’ mich daran gewöhnt. So in ein, zwei Stunden kommen ein paar Stammgäste. Die kommen fast jede Nacht. Ich hab’ keinen Grund zu meckern.«

Carla musterte den Mann eindringlich. Er war bierbäuchig, grob und robust, das ergrauende Haar fiel ihm in fettigen Strähnen in die Stirn – ein Auswanderer, von dem man annehmen konnte, dass er bereits seit einer Ewigkeit in diesem Keller hauste.

»Bin vor zwanzig Jahren hergekommen«, sagte er dann, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Hab’ ein Mädchen in Koto. Das Geschäft läuft nicht außergewöhnlich gut, aber es läuft. Schließlich seid ihr jetzt hier. Alles besser als in Amerika, da waschen sie dein Hirn. Da fressen sich alle gegenseitig. Hier lassen mich die Leute in Ruhe mein Ding machen.«

Carla dachte einen Moment darüber nach, ob es unangebracht war, dass der Alte ihnen seine Lebensgeschichte auftischte, und was genau »sein Ding machen« außer dem Job in der Bar bedeuten sollte, beschloss dann aber, dass es nichts sonderlich Ungewöhnliches war. Die Flüchtenden, die Nachteulen, die Kaputten – all jene kannte sie von zuhause, zumindest, wenn sie in einer ähnlichen Spelunke wie dieser gelandet war, und gerade von den Menschen jenseits des Tresens erfuhr man mitunter mehr, als man eigentlich hören wollte.

»Auf Amerika! Kanpai!«, feixte Parker. Alle stießen an und kippten den Schnaps hinunter.

Der Alte schien den Spaß zu verstehen und wankte zurück hinter die Theke. »Solange dieses Riesenarschloch das Sagen hat, geh’ ich dreimal nicht zurück«, brummte er zum Abschluss.

Die Playlist war einige Minuten später bei schrillem Heavy Metal aus den Achtzigern angekommen, als die schwere Tür aufschwang und zwei augenscheinlich schon sehr betrunkene japanische Männer um die vierzig lautstark ins Lokal gestürmt kamen – natürlich wieder in Anzügen und mit Aktenkoffern in ihren Händen. Sie begrüßten den Barkeeper freundlich und nahmen die beiden verbliebenen Hocker in Beschlag. Der Amerikaner begab sich umgehend ans Bierzapfen. Das waren also die Stammgäste? Wie Rocker sahen die nicht aus, fand Carla, und sie waren auch wesentlich früher aufgetaucht, als der Mann vermutet hatte.

Etwa weitere zehn Minuten später betrat eine von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidete Frau die Bar, inklusive eines an eine vornehme Hexe erinnernden Hutes, mit dickem Make-up im Gesicht und grellem roten Lippenstift. Sie fügte sich außerordentlich gut in das morbide Ambiente des Ladens ein.

»Ah, Michiko-san.« Der Alte richtete ein paar Worte an den Neuankömmling – ob er dabei einwandfreies Japanisch benutzte oder nicht, vermochte Carla nicht zu sagen – warf ihr einen Kuss zu und machte sich anschließend daran, mit mehreren Flaschen aus dem Schnapsregal einen Cocktail zusammenzumixen. Die Frau lehnte sich ein paar Meter von den dreien entfernt an die Wand – schließlich waren alle Plätze schon besetzt, die beiden Anzugträger auf der linken Seite schienen, im Gegensatz zu ihrem ausgelassenen Hineinplatzen zuvor, nun in ein ernstes Gespräch vertieft –, zündete sich eine Zigarette an und musterte sie aufmerksam. Sie hatte etwas Spinnenhaftes an sich, fand Carla, und das Bild einer schwarzen Witwe kam ihr in den Sinn, einer unnahbaren Königin, die ihre Männer auffraß, nachdem sie sich mit ihnen gepaart hatte. Ihre eigene Vorstellungskraft amüsierte sie. Was würde sie tun, sollte Hans in Japan von einer riesigen Spinne gefressen werden?

Carla entschuldigte sich kurz und suchte die einzige Toilette auf, einen winzigen Raum, in dem sie sich kaum umdrehen konnte. In dem mit Stickern verzierten Spiegel musterte sie ihr eigenes Gesicht, ihre immer ein wenig müde aussehenden Augen, ihre dunkelbraunen Locken, die sie so liebte. Sie übte ein Lächeln – es fiel ihr schon beinahe leicht. Du hast tatsächlich Spaß, bestätigte sie sich selbst, das ist gut. Parker war ein cooler Typ und Hans weniger anstrengend als sonst. Es geht doch, Japan. Es geht doch, Carla.

Nachdem sie sich erleichtert hatte, kehrte sie in die Bar zurück, nur um zu sehen, wie sich die Spinnenfrau, offenbar in derselben Sekunde, als Carla sich entfernt hatte, zur Theke begeben hatte und sich jetzt unter den wachsamen Augen des Amerikaners mit den beiden Männern unterhielt.

»Da bist du ja«, begrüßte Parker sie, als Carla wieder Platz auf ihrem Hocker genommen hatte und die Fremde mit einer Mischung aus Irritation und Neugier ansah. »Wir wollten schon einen Suchtrupp losschicken! Michiko hat nach dir gefragt.«

»Ach ja?«

Die Japanerin hatte eine neue Zigarette im Mund und musterte Carla nun eindringlich, ihre Pupillen so schwarz wie das Kajal um diese herum. Carla überkam das Gefühl, die Frau könne aus irgendeinem Grund tatsächlich wissen, was ihr gerade durch den Kopf ging. Langsam merkte sie, wie der Alkohol zu wirken begann.

Michiko sagte etwas, das natürlich nur Parker verstehen konnte, und ihre Stimme klang ungewöhnlich hoch. Hans schien sich zwar allergrößte Mühe zu geben, ihr zu folgen, davon ausgehend, wie angestrengt er sie beim Sprechen anstarrte, aber sein Japanisch, so wusste Carla, war aller Ambition zum Trotz den Kinderschuhen längst noch nicht entwachsen.

Parker übersetzte. »Michiko fragt, was euch besser gefällt, Deutschland oder Japan.«

»Was ist denn das für eine oberflächliche Frage?« Hans klang enttäuscht. Von der ersten Begegnung mit einer Einheimischen hatte er sich offenbar mehr erhofft.

Parker setzte sein Parker-Grinsen auf. »Eine sehr übliche. Also?«

Auch Carla war ein bisschen verwundert über die Frau, die so mysteriös aussah. Man hätte erwarten können, sie wollte die Touristen auf einen Underground-Rave einladen oder ihnen zumindest Drogen verkaufen. Das wäre um einiges spannender gewesen.

Trotzdem spielte sie mit. »Nun ja, ich bin erst eineinhalb Tage hier, ich habe noch kaum etwas kennengelernt. Wie soll ich mich jetzt schon entscheiden können?« Sie drehte eine noch nicht angezündete Zigarette zwischen den Fingern.

Parker übersetzte.

»Japan ist nicht gut«, ließ Michiko daraufhin in gebrochenem Englisch verlauten, zur Verwunderung aller. »Nein, anders: Tokio ist nicht gut. Geht nach Norden. Norden.« Sie lächelte und hielt zur Verdeutlichung einen Zeigefinger nach oben.

»Nach Hokkaido? Kommst du von dort?« Hans hatte die Arme verschränkt und sich zurückgelehnt, er musterte die Frau skeptisch. Michiko schien mit seinem Englisch ihre Probleme zu haben und sah Parker hilfesuchend an, welcher sich in seiner Funktion als Dolmetscher sichtlich wohlzufühlen schien und weiter übersetzte. Sie antwortete auf Japanisch, bestimmt eine Minute lang schien sie ihm etwas zu erzählen, und Parker hörte aufmerksam zu.

»Michiko kommt nirgendwo her«, lachte er, als sie zu Ende gesprochen hatte. Man konnte merken, wie wenig ernst er das Gespräch nahm. »Aber sie sagt, es ist egal, wo jemand herkommt. Alle landen sie hier. Alle werden sie in Tokio angespült, manche früher, manche später, und die meisten können einfach wieder gehen. Andere aber nicht – die werden gefressen.«

»Gefressen?«, hakte Hans ein. »Gefressen von wem?«

Schwarze Witwe, ertappt!, schoss es Carla durch den Kopf.

Parker übersetzte die Nachfrage, aber Michiko breitete nur die Arme aus und fing lauthals an zu lachen sowie mit ihrer sehr hohen Stimme irgendwelche Worte zu rufen, die schon beinahe wie ein Mantra oder eine Art Gesang klangen. Dazu begann sie, von einem Fuß auf den anderen zu treten, als würde sie auf der Stelle tanzen.

Carla versuchte sich zusammenreißen, musste dann aber auch losprusten und stimmte in das Gelächter mit ein. Hans verdrehte die Augen, während die anderen lachten. »Die Alte ist ja übergeschnappt. Wieviel Zeit haben wir noch?«, knurrte er.

Parker japste nach Luft. »Nicht mehr viel, aber habt ihr nicht Bock auf Clubbing? Ich bin jetzt richtig in Feierlaune!«

»Sagtest du nicht, du musst morgen arbeiten?«

Die Japanerin drehte sich einmal im Kreis und eilte dann ein Stück an der Theke entlang, wo sie den alten Barkeeper, der die ganze Zeit weder etwas gesagt noch eine Miene verzogen hatte, in ein Gespräch zu verwickeln schien. Carla sah ihr hinterher. So eine seltsame Person.

»Muss ich, und das war auch nur ein Spaß«, hörte sie Parker sagen, ohne den Blick von der schwarzen Witwe abwenden zu können. »Warten wir das Wochenende ab. Dann zeige ich euch den richtig coolen Kram in Tokio. Freut euch drauf!«

Die Straßen waren merklich leerer geworden, als sie sich auf dem Weg zurück zur Shinjuku Station befanden. Ein paar Radfahrer waren unterwegs, dieselben Raucher standen noch immer in ihren Ecken und rauchten, aber der große Ansturm hatte sich gelegt – so als hätte eine Lautsprecherstimme, der man unbedingt Folge leisten musste, den Notstand ausgerufen und die Menschen angewiesen, in ihren Häusern zu bleiben. Gleichzeitig flackerten die Neonreklamen unbeirrt weiter, aber die ganze Szenerie strahlte nun eine andere Atmosphäre aus als zuvor. Carla fühlte sich schläfrig und konnte den Alkohol deutlich spüren. Tokio hatte nun etwas Friedliches, Gemütliches an sich, und auch sie war nicht mehr ansatzweise so aufgekratzt wie den Rest des Tages.

Das Angebot des amerikanischen Barkeepers auf einen letzten Schnaps hatten sie ausgeschlagen, und Parker schien auch von seinem Vorschlag, auf einen Absacker noch mit ins Hostel zu kommen, nichts mehr wissen zu wollen (in seiner freundlichen Absage fiel wieder mehrfach das Wort »Langweiler«). Sie umarmten sich zum Abschied, und nur wenig später fand sich Carla allein mit Hans in der U-Bahn wieder, seitwärts nebeneinandersitzend. Ein paar Geschäftsleute und Studenten waren in ihre Smartphones oder telefonbuchdicke Manga-Bände vertieft, niemand schenkte dem eindeutig als solches zu erkennenden Touristenpärchen Beachtung. »Touristenpärchen« klang irgendwie merkwürdig, kommentierte Carla im Stillen ihre eigenen Gedanken. So austauschbar und wenig einzigartig.

»Ich hoffe, dieser Australier auf unserem Zimmer schnarcht nicht wieder so gemein wie letzte Nacht«, knurrte Hans und musste laut gähnen. Seine Hand ruhte die ganze Fahrt über auf ihrem Bein.

»Ich wünschte nur, ich könnte die Leute besser verstehen«, sagte Carla, ging nicht auf seine Anmerkung ein und schaute ausdruckslos aus dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Waggons. Schilder und Lichter zogen vor pechschwarzem Hintergrund rasend vorbei. »Bestimmt haben sie alle ihre Geschichte zu erzählen. Diese Stadt ist einfach so verflucht groß.«

Hans antwortete nicht. Sie hätten sich darüber unterhalten können, wie ihnen das erste Mal auszugehen in Tokio gefallen hatte, aber entweder waren sie zu müde, zu angetrunken, oder aber es bestand einfach keine Notwendigkeit, ihre Erfahrungen schon gemeinsam auseinanderzunehmen und analysieren zu müssen. Vor ihrer Abreise, so ging es Carla durch den Kopf, hatten sie mehr miteinander gesprochen.

Als sie etwa eine Stunde später im Bett lag und das Schnarchen des Australiers besonders ruhig und gleichmäßig geworden war, hatte sie, verglichen mit der Nacht zuvor, wenige Probleme einzuschlafen. In ihrem Traum begegnete sie Teddybären und Spinnenfrauen.

DER TURM

Die Strahlen der Morgensonne, die durch den Spalt ihres Bettvorhangs fielen, streichelten zart ihre Wange. Carla lag bereits seit einer guten Stunde wach.

Es war ein ständiges Kommen und Gehen in dem gemischten Achtbettzimmer, und als ein anderes Paar um sieben in der Früh lautstark zu streiten begonnen hatte, war sie jäh aus dem Schlaf gerissen worden. Eine Weile lang hatte sie die Fugen in der Holzdecke ihrer Schlafzelle betrachtet und, noch halb träumend, keine Lust verspürt sich zu bewegen, obwohl ein neuer Tag bereits angebrochen hatte und die Zeit, die ihr zur Verfügung stand, begrenzt war. Möglicherweise wäre sie auch wieder eingeschlafen, mittlerweile aber dämmerte ihr, dass das wohl eher Wunschdenken war. War das tatsächlich ein kleiner Kater, den sie in ihren Gliedmaßen spürte?

Schlussendlich raffte Carla sich auf und machte sich auf den Weg nach unten – ein Automatenkaffee und eine frühmorgendliche Zigarette würden sie zu den Lebenden zurückholen.

Der Vorhang zu Hans’ Kapsel war vollständig zugezogen, aber an seinem linken Fuß, der daraus hervorstach und ohne ein Anzeichen von Bewegung in die Luft ragte, konnte sie erkennen, dass er sich noch im Land der Träume befand. Zwar besaß das Hostel keiner dieser klassischen Schlafkapseln, die sich mit einer Tür verschließen ließen, aber die aufeinandergereihten Holzzellen mit Vorhängen kamen dem recht nahe. Carla wollte Hans noch nicht wecken. Für den heutigen Tag hatten sie noch keinerlei Pläne geschmiedet. Parker stand nicht zur Verfügung, also würden sie etwas zu zweit unternehmen müssen, so viel stand fest. Sie stellte sich bereits auf Cosplayer, Videospiele und quietschbunten, möglicherweise nervtötenden Kram ein, für den Hans so brannte. Sollte er sie nicht tatsächlich überraschen und von einer ganz anderen Idee überzeugen können.

Die Morgenluft war frisch, und der Lärm der schon längst hellwachen Stadt drang aus der Ferne an sie heran. Das Hostel befand sich in einer eher ruhig gelegenen Seitenstraße im Bezirk Asakusa. Zwar war der Sensō-ji-Tempel – eines der absoluten Wahrzeichen der Stadt und ein beliebter Touristenmagnet – nur wenige Minuten entfernt, in jene Straße aber verliefen sich dennoch nur wenige Menschen. Es gab ein paar Restaurants und Klamottenläden, natürlich einen Convenient Store, sonst aber nichts, das die Aufmerksamkeit der Massen erregen würde. Wieder fielen ihr Senioren auf, die ihre Hunde ausführten. Eine Schulklasse – die Kinder waren vielleicht um die sechs oder sieben Jahre alt – tummelte sich an der Straßenseite. Die Schüler liefen Hand in Hand als Zweierpärchen in Reih und Glied hintereinander her, und alle trugen gelbe Plastikhelme, die an Bauarbeiter erinnerten. Zwei Lehrerinnen oder Erzieherinnen, die ihrerseits nicht wesentlich älter als Carla aussahen, liefen voran und redeten aufgeregt auf die Meute ein.

Carla blies den Rauch durch die Nase aus. Schon dreimal morgens wach geworden und immer noch in Tokio – beeindruckend. In ein paar Stunden, sobald es in Frankfurt Morgen war, würde sie mit ihrer Mutter telefonieren, das hatte sie versprochen. Ansonsten lag der Tag ausgerollt wie eine schlohweiße Tapete vor ihr, und sie wusste noch nicht, mit welchen Farben sie ihn würde füllen können.