Blüten aus Babylon - Günther Klößinger - E-Book

Blüten aus Babylon E-Book

Günther Klößinger

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Beschreibung

Eine Leiche im Dachzimmer, die eigene Tochter verschwunden: Zwei Fälle zur gleichen Zeit bringen Inspektor Prancock ans Limit. Der Tote war Mitglied im "Bund der Asketen", einer Glaubensgemeinschaft, die Verzicht und Bescheidenheit predigt. Bei der gerichtsmedizinischen Obduktion stellt sich jedoch heraus, dass der vorgebliche Asket kurz vor seinem Ableben noch Gänsebraten genossen hatte! Im Rahmen seiner Nachforschungen entdeckt Prancock mehr und mehr Ungereimtheiten und gerät schließlich in eine mörderische Falle. Jasmin Prancock, die Tochter des Inspektors, hat die Nase voll davon, im Leben ihres Vaters immer nur die zweite Geige neben der Kripo zu spielen. Sie beschließt, ihren Eltern eine Lektion zu erteilen. Die Botschaft ist eindeutig: "Kümmert Euch erst mal um den Fall Eurer verschwundenen Tochter!" Um ihr Auffinden zu erschweren, führt Jasmin ihre Eltern mit einem Krimirätsel in die Irre. Doch das Ablenkungsmanöver befördert sie unversehens in Lebensgefahr. Die Schlinge um die Familie Prancock zieht sich langsam zu, die Ereignisse überschlagen sich, die Zeit wird knapp. Und als schließlich alle Fäden zusammen laufen, muss sich Inspektor Prancock entscheiden, was ihm mehr bedeutet: die große Karriere oder das Wohl seiner Familie.

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Seitenzahl: 563

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Günther Klößinger

Blüten aus Babylon

epubli Berlin

Blüten aus Babylon

Günther Klößinger

Umschlaggestaltung: www.kreatyv.de

Copyright: © 2016 Günther Klößinger

published by: epubli GmbH, Berlin

Inhalt

Jetzt schlägt’s dreizehn! – Prancock endlich im Einsatz ...

Ortstermin

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Gründonnerstag

Karfreitag

Samstag

Ostersonntag

Ostermontag

Dienstag

Für Giuliana und Yann

... auch wenn ihr dieses Buch erst in einigen Jahren lesen könnt.

Als ich mit der Arbeit daran begann, wart ihr noch nicht einmal eine Idee – nun seid ihr das größte Geschenk meines Lebens.

Jetzt schlägt’s dreizehn! – Prancock endlich im Einsatz ...

Das geschäftige „Clickety-clack“ der Computertastatur erfüllt das Dachatelier, bis der Ringfinger entschlossen „Punkt“ tippt. Mit einem Male liegt Stille über dem Raum. Ich greife zur Kaffeetasse, nippe an dem mittlerweile nur noch lauwarmen Gebräu und lasse den letzten Absatz nochmals Revue passieren.

Ein merkwürdiges Gefühl: Meine Arbeit an „Blüten aus Babylon“ ist tatsächlich beendet. Einerseits fühlt es sich sehr befriedigend an, ein Werk abzuschließen, andererseits schwingt doch auch ein bisschen Wehmut mit. Man hat mit den Figuren der Geschichte für längere Zeit quasi zusammengelebt, mit ihnen gefiebert, gelitten und gelacht. So manche schließt man als Autor ins Herz, andere schreibt man ohne Gewissensbisse wieder aus der Geschichte hinaus. Gerade Charaktere, die man über die Zeit des Schreibens hinweg besonders lieb gewonnen hat, entfalten zuweilen eine Art Eigenleben und entwickeln sich etwas anders, als man ursprünglich geplant hatte. Und so ist der letzte Punkt eines Romans auch immer ein wenig wie der Abschied von guten Freunden.

Ich springe zurück an den Anfang des Textes: „Die Leiche lehnte, auf den linken Ellenbogen gestützt, in einer Ecke des winzigen Zimmers.“ Trotz meines noch immer leicht melancholischen Gemütszustandes muss ich doch ein wenig lächeln. Auch wenn ich es kaum fassen kann – es ist tatsächlich rund dreizehn Jahre her, dass ich, aus einer spontanen Laune heraus, diesen Satz in meinen alten Computer tippte. In diesem Moment hatte ich noch keinen konkreten Plan für die ganze Geschichte und doch begann sie in mir zu rumoren. Umgehend tauchte vor meinem inneren Auge ein ziemlich launischer Brite auf, der den Toten musterte, und schon hatte mein Ermittler das Licht der literarischen Welt erblickt. Zunächst schrieb ich einfach drauflos und bemerkte bald, dass der Stoff für ein längeres Werk reichen könnte. Ich weiß nicht mehr genau, an welcher Stelle der Story mein ursprünglicher Schreibrausch anfing, sich in konzentrierte und zielgerichtete Arbeit mit Recherchen, inhaltlichen Tüfteleien und durchtippten Nächten zu verwandeln. In jedem Fall war es eine höchst interessante Erfahrung, wie mich die anfänglich spontane Idee packte und im Laufe eines Jahres ein kompletter Kriminalroman entstand. Nachdem ich die Urfassung abgeschlossen hatte, ließ ich das Manuskript noch Korrektur lesen und begann zur gleichen Zeit, an einer Fortsetzung zu arbeiten – ich hatte bemerkt, dass es mir unglaublich viel Freude machte, Geschichten mit den Hauptpersonen aus „Blüten aus Babylon“ zu erzählen. So entstand in mehrjähriger Arbeit schließlich „Schnee von gestern … und vorgestern“.

Dass beide Romane dann erst einmal in die Schublade wanderten und dort lange Zeit zu verstauben drohten, ist eine Geschichte für sich, die ein andermal erzählt werden soll. Glücklicherweise jedoch eine mit Happy End, aber auch einigen weiteren Verwicklungen. Diese hatten zur Folge, dass vor einem Jahr zunächst der 2. Band der Prancock-Saga das Licht der medialen Öffentlichkeit erblickte.

Die Reaktionen darauf waren sehr vielfältig: In den Besprechungen diverser Zeitungen und Buchblogs sowie bei Live-Lesungen erhielt ich jede Menge ermutigendes Feedback. Und immer wieder stellten Leser und Zuhörer mir die Frage: „Was ist nun eigentlich mit der Vorgeschichte? Bekommen wir die auch irgendwann mal zu lesen?“

Meine Antwort lautete stets: „Natürlich!“, denn schließlich hatte der ursprüngliche Plan ja vorgesehen, die Romanserie „Fox & Crime“ mit dem vorliegenden Buch zu starten. Dass dann schließlich Band 2 das Rennen vor Band 1 gemacht hat, lag letztlich daran, dass ich kurz vor der geplanten Veröffentlichung von „Blüten aus Babylon“ erkannte, dass ich die Geschichte noch einmal generalüberholen wollte, sowohl stilistisch als auch inhaltlich. Mit der Endredaktion von „Schnee von gestern … und vorgestern“ hingegen war ich so gut wie fertig.

Nun aber ist es tatsächlich so weit: Inspektor Prancock steht in den Startlöchern, um diesen ungewöhnlichen Fall zu lösen.

Wie schon in „Schnee von gestern … und vorgestern“ stellte ich fest, dass die zugrunde liegenden Themen noch immer aktuell sind, lediglich an einigen Details ist zu erkennen, wie sich die Welt in dreizehn Jahren doch weitergedreht hat. Auch in „Blüten aus Babylon“ habe ich hier keine Aktualisierungen vorgenommen, sodass die Geschichte auch ein wenig zu einer Reise in die Vergangenheit werden kann.

Eine weitere Frage, die mir im Zusammenhang mit „Fox & Crime“ immer wieder gestellt wird, kann ich mittlerweile ebenfalls beantworten: „Wird es mit Prancock, Steffens und all den anderen Figuren aus diesem kleinen Universum weitergehen?“ – Ich habe es vor. Die Idee von Teil 3 hat schon konkrete Formen angenommen, und ich hoffe sehr, dass ich diesmal keine dreizehn Jahre benötige, um die Arbeit daran zu Ende zu bringen.

Mein herzlicher Dank geht an alle, die mich in den letzten Jahren unterstützt und mich bekräftigt haben, die Prancock-Romane zu veröffentlichen. Ganz besonders möchte ich hier meine Frau Cornelia bedenken, die mich stets ermutigt hat, weiterzumachen. Darüber hinaus Susanne, Laura und Jürgen Fechner für ihre riesige Unterstützung beim Erstellen der Urfassung sowie meine Lektorin Anne Baum für ihre höchst wertvolle literarische Stilberatung.

Und last but not least geht noch ein ganz besonderes „Danke“ an Giuliana und Yann, dass sie mir zwischen Spielen, Herumtollen, Schnullersuche und Windelnwechseln auch immer ein bisschen Zeit für die Arbeit an diesem Buch gelassen haben.

Günther Klößinger, Oberkaufungen, 20.03.2016

Ortstermin

Wir befinden uns in einer typischen deutschen Stadt. Viele nennen sie eine Kleinstadt, böse Zungen sprechen gar von einem etwas zu groß geratenen Dorf. Wohlwollende Mitbürger werden jedoch nicht müde, das besondere Flair hervorzuheben, das es so angenehm macht, hier zu leben. Die beschauliche Innenstadt mit ihren auf mondän getrimmten Boutiquen und nostalgisch anmutenden Läden vom Obstmarkt bis hin zum „New Age“-Shop wirkt durchwegs heimelig und vertraut. Die Gastronomie ist gediegen und gemütlich. Gerade in den kleineren Cafés und Lokalen werden die Kritiker und Spötter mit der stets spürbaren Provinzialität versöhnt, denn in den Gaststuben herrscht eine urige, persönliche Atmosphäre und die Leute hinter den Tresen kennen ihre Gäste meist beim Namen.

Das örtliche Tagblatt, „Die Allgemeine“, bemüht sich mehr oder minder redlich, das Sensationelle im Alltäglichen zu entdecken und kleine Ereignisse wortgewaltig in kulturell bedeutende Events umzumünzen. Da wird schon mal der Häkelkreis in der Seniorenresidenz zum sozialen Großprojekt.

Merkwürdig ist aber, dass sich ausgerechnet in diesem Provinznest mehr und mehr lichtscheue Subjekte breitmachen. Der erstaunlich hohen Kriminalitätsrate des Städtchens stellt sich ein eingespieltes Team von Ermittlern entgegen. Allerdings müssen Inspektor Prancock und seine Mitstreiter nicht nur gegen das Verbrechen, sondern auch zunehmend gegen leere Kassen ankämpfen. Das kleine Polizeirevier ist chronisch unterbesetzt und überlastet. Kein Wunder, dass die höchst engagierten Polizisten hier stets zwischen wahnsinnigem Stress und Urlaubsreife schwanken.

Kurzum: eine ganz normale deutsche Stadt, wie wir sie wohl alle kennen.

Mittwoch

Die Leiche lehnte, auf den linken Ellenbogen gestützt, in einer Ecke des winzigen Zimmers. Vereinzelte Sonnenstrahlen, die sich durch ein verstaubtes Dachfenster quälten, verpassten der Szenerie das Flair eines muffigen Museums. Inspektor Prancock, auch schlicht „Pranke“ genannt, beugte sich zu dem Toten hinab und blickte in ein starres, leicht hervortretendes Auge. Pupille und Iris waren von kränklichem Gelb umrahmt. Das zweite Lid war geschlossen. Zugleich zog sich ein groteskes Grinsen über die leblosen Züge, sodass der Verblichene dem Polizisten mit stummer Häme zuzublinzeln schien. Prancock ging in die Hocke und sah forschend in das ihm völlig unbekannte Gesicht, das zu einer makabren Fratze erstarrt war.

„Wahrscheinlich Gift!“, murmelte Steffens, der sich hinter seinem Vorgesetzten in die enge Kammer gezwängt hatte.

Prancock fuhr herum und warf seinem Kollegen einen vernichtenden Blick zu. „Wusste gar nicht, dass du unter die Ärzte gegangen bist, Steffens. Nun gut, fang am besten gleich mit der Obduktion an!“

„Aber …“

„Klappe, Kollege! Deine Klugscheißereien stinken mir sowieso schon lange. Hab’ noch nie erlebt, dass du auch nur ’nen Fingerabdruck exakt abgenommen hättest. Und wie war das noch mit den Zigarettenstummeln am Tatort des Zankert-Mordes? Echt grandios, sie einfach wegzuschmeißen – mitsamt den Spuren vom Lippenstift des schwulen Mörders. Deine stümperhafte Observierung des Hauptverdächtigen erwähne ich besser gar nicht! Und jetzt kommst du hier rein und erkennst auf den ersten Blick die Todesursache! Ich sollte dich zur Beförderung vorschlagen. Vielleicht kommst du dann in ’ne andere Abteilung und ich bin dich endlich los!“

Steffens verzog keine Miene. Seit der englischstämmige Inspektor zu ihnen versetzt worden war, geriet das Arbeitsleben für ihn und alle weiteren Kollegen immer öfter zu einer nervenaufreibenden Achterbahnfahrt. Ohne Zweifel war Prancock der unbeliebteste Bulle im ganzen Revier, dummerweise aber auch der erfolgreichste. Den Spitznamen „Pranke“ hatte er sich eingehandelt, als er in einem üblen Handgemenge beinahe den Adamsapfel seines Gegners zerquetscht hätte. Mochte die Arbeit mit diesem unbritischen Anti-Gentleman auch noch so anstrengend sein – das Ansehen der gesamten Mordkommission war in den letzten Jahren enorm gestiegen. Dabei hielten sich Nervenkrieg und Stolz meist die Waage in der gemeinsamen Amtsstube.

An diesem speziellen Tatort in der Blütenstraße 27b konnte Steffens kaum etwas falsch machen: ein absolut leeres Zimmer, in dem sich nur Staub und eine Leiche befanden. Keine Fingerabdrücke, außer denen des Opfers, keine angeschwulten Zigarettenkippen, keine Tatwaffe, die Kleidung des Toten unergiebig: leere Taschen, keine Papiere. Zudem fand sich nicht die geringste Spur äußerer Gewalteinwirkung. Es gab keine Schuss-, Stich-oder Bisswunden, keine Würgemale, keine Anzeichen von Drogenmissbrauch. Einfach nichts.

Prancock versuchte trotz seiner Plastikhandschuhe eine Zigarette aus dem fast leeren Päckchen zu fischen.

„Wenigstens Sie wollen hier Spuren hinterlassen, was?“, holte Steffens zum Gegenschlag aus.

Prancock hatte ausnahmsweise keine Lust auf weitere Wortgefechte und beendete den noch gar nicht losgebrochenen Streit mit einem erneuten „Klappe, Steffens!“.

„Wem gehört eigentlich das Haus, Chef?“

„Einem alten Ehepaar. Hatten dem Kerl das Zimmer erst seit vorgestern vermietet. Sagte, er wolle nicht lange bleiben. Zahlte bar im Voraus. Für vier Tage oder ’ne Woche oder so. Nannte keinen Namen, meinte aber, er wäre irgendwie in Not geraten. Aß einmal mit den Alten zu Mittag. Sprach kein Wort, ging nur auf das Zimmer und …“

„Warum vermietet man ein Zimmer ohne Möbel, ohne Bett, ohne Tisch und Stühle? Nicht mal ’ne Matratze gibt’s hier. Wie’s aussieht, hat der Kerl eine Nacht auf dem blanken Fußboden verbracht und …“

„Steffens, du bist ja gar nicht so blöd, wie ich dachte. Nur, deine Fragestellung ist trotzdem bescheuert. Dreh sie doch mal um: Warum mietet jemand so ein Zimmer ohne alles? Noch dazu gleich für ’ne Woche oder so?“

Prancock hatte es geschafft, die Zigarette in seinen Mundwinkel zu manövrieren. Steffens gab ihm Feuer. Beide schwiegen. Als Geste eines vorläufigen Waffenstillstandes hielt Prancock seinem Kollegen das Päckchen hin. Steffens nahm sich einen Glimmstängel, zündete ihn an und rauchte gedankenverloren. Bald hing der beißende Qualm von billigem Tabak wie eine trübe Denkblase in dem stickigen Dachzimmer.

Jasmin hatte die Nase voll. Unter ihrem beeindruckenden Blondschopf brodelte unbändige Wut. Nur mit Mühe konnte sie sich zu einer halbwegs sozial verträglichen Miene durchringen, um nicht die wenigen Besucher von Ginos Eiscafé zu verschrecken. Wieso sollte sie sich in der Schule überhaupt noch anstrengen? Letztes Jahr hatte sie einen vermeintlichen Durchhänger gehabt, klar. Dieses Jahr sah es aber anders aus: Ihre Mathenoten hatten sich extrem verbessert, in der letzten Ex war sie sogar Klassenbeste gewesen, aber das registrierte ihr Vater, der ach so erfolgreiche Kriminalinspektor, einfach nicht. Für miese Ergebnisse gab es jede Menge Ärger, Gebrüll und zynische Kommentare. Einsen und Zweien wurden hingegen gar nicht erst erwähnt – sie waren wohl selbstverständlich. Kein Wunder, dass Mutter letztes Jahr mit ’nem Mathelehrer abgehauen war: Der hatte in der Sprechstunde einfach eins und eins zusammengezählt. Gerüchte über das Eheleben im Hause Prancock waren zur Genüge im Umlauf gewesen. Der Pauker hatte nichts weiter tun müssen, als Frau Kommissarin einfach nur zu beachten. Ja, einfach nur zu beachten. Das hatte genügt, um ihrer aller Leben auf den Kopf zu stellen.

Seither war alles anders geworden, aber nichts besser. Else Müller-Prancock hatte nach der schicksalhaften Sprechstunde ihren Job bei der Polizei an den Nagel und einen Abschiedsbrief an die Kaffeemaschine gehängt. Er begann mit den Worten „Nie mehr Polizei“ und schloss mit „Das ist jetzt ganz und gar dein Revier, Herr Inspektor!“. Das „good“ von „goodbye“ hatte sie nachträglich noch durchgestrichen.

„Dumme Kuh!“, fauchte Jasmin in sich hinein. Mutter hatte den Mann längst vergessener Träume verlassen, weil er ihr nicht genug Zuwendung geschenkt hatte. Ein berechtigter Vorwurf, da gab es keinerlei Zweifel. Andererseits: Wann hatte Else schon Zeit für die Familie gehabt oder sich wirklich um ihre Tochter gekümmert? Echte Aufmerksamkeit hatte sie Jasmin nur dann zuteilwerden lassen, wenn in der Schule mal wieder nichts so gelaufen war, wie die erfolgsverwöhnten Eltern es sich erträumt hatten. So hatte das Mädchen im Vorjahr versucht, die beiden mit einem einfachen Trick dazu zu zwingen, sich endlich wieder mit ihm auseinanderzusetzen. Durch konsequente Leistungsverweigerung hatte sie erreicht, dass ihr Notendurchschnitt in den Keller gepurzelt war. Voilà – mit einem Mal hatten Vater und Mutter in trauter Einheit wieder mehr zu sagen gehabt als „Guten Morgen“ oder „Gute Nacht“. Gesprächsversuche, Gardinenpredigten und Gebrüll waren zu festen Tagesordnungspunkten geworden. Die Themenpalette hätte zwar etwas vielfältiger sein dürfen – Noten, Noten und nochmals Noten –, aber letztlich hatte Jasmin in dieser Zeit eine leise Ahnung davon bekommen, was „Familienleben“ bedeuten könnte. Zugegeben: eine sehr leise Ahnung inmitten lautstarker Auseinandersetzungen. Trotzdem waren ihr Kreischen und Gekeife fast lieber als die Grabesruhe zweier Erwachsener, die in ihre Karriereträume versunken waren.

Mit immer neuen Katastrophenmeldungen von der Schulfront hatte Jasmin die beiden lange bei Laune gehalten. Die elterlichen Adrenalinspiegel waren fast dauerhaft am obersten Limit entlanggeschrammt. Sie hatte es eine Zeit lang richtiggehend genossen, mit den Gefühlsbarometern von Vater und Mutter zu spielen. Es hatte dabei nur einen Haken gegeben, und zwar einen entscheidenden: Auf eine Ehrenrunde hatte Jasmin nämlich dann doch keinen allzu großen Bock gehabt. Daher hatte sie ihre Leistungen rechtzeitig vor Schuljahresende drastisch gesteigert. Bingo: In einem entschlossenen Sprint hatte sie sich beim notentechnischen Hürdenlauf unmittelbar von „Versetzung gefährdet“ zu „Klassenziel erreicht“ durchgepowert. Damit war es aber wieder aus gewesen mit der Zuwendung von Daddy und Mum. Das Ende der Bildungsmisere hatte keine Begeisterungsstürme in den vorderen Rängen des Familientheaters hervorgerufen. Schule war seit dem Notenschluss nur noch Nebensache gewesen, zumindest bis zu Elses letztem Lehrersprechtag vor dem Zeugnistermin. Der Rest ist Geschichte.

„Reg dich doch ab, Jassy! Ist doch ’n geiles Gefühl, als Einzige ’ne Eins in Mathe zu haben. Und bloß weil’s deinen Alten nicht juckt, sitzt du da und schaust wie der Exorzist persönlich!“, unterbrach Nick die düstere Gedankenspirale seiner Freundin. Das Café war zu dieser Zeit nahezu menschenleer. Die Schüler, die sich hier für gewöhnlich nach dem Schlussgong bei Vanille-Whisky-Bechern oder Cappuccino „con Grappa“ von der Plackerei in der Penne erholten, waren größtenteils wieder gegangen.

Jasmin blickte noch eine Weile abwesend in die fast leere Tasse und versuchte mit dem Kaffeebesteck ein paar Reste von Sahneflocken zu erhaschen. Schließlich sah sie Nick an. Ohne etwas zu sagen, schob sie sich ihren Löffel in den Mund und schlürfte ungeniert vor sich hin. Das süßlich-milchige Aroma weckte Fernweh in ihr. Bella Italia – ja, das wär’s! Sommer, Sonne und Softeis schwirrten in werbewirksamen Bildern durch Jasmins Tagtraum. Ihre großen grünbraunen Augen waren auf Nicks Finger gerichtet. Der Junge drehte sich gerade umständlich eine Zigarette. Als er kurz aufsah und bemerkte, wie Jasmin mit dem Löffel im Mund dasaß, musste er unweigerlich grinsen.

„Ich geb’ dir auch gerne Papers und Tabak, dann brauchst du nicht ewig am Besteck zu nuckeln“, meinte er trocken.

Jasmin verschluckte fast den Löffel, so sehr musste sie lachen. Sie ließ ihre Linke in das Haar des Jungen gleiten und strich ihm leicht über den Kopf. Dann zog sie Nick entschlossen zu sich herüber und küsste ihn auf die Nasenspitze. Schließlich ging sie mit dem Mund ganz nahe an sein Ohr heran und flüsterte: „Ich liebe dich, aber vor allem deine schiefen Kippen!“

Jetzt war es an Nick, loszuprusten. Gino, der hinter der Theke gelangweilt Eisbecher poliert hatte, schrak aus seiner meditativen Starre hoch. Blinzelnd fragte er: „Darf’s noch etwas sein, Bambini?“

Donnerstag

Else Müller hatte das „Prancock“ so schnell es ging aus ihrem Namen eliminieren lassen. Jeder, der sie noch so ansprach, konnte mit vernichtenden Blicken rechnen, die selbst den abgebrühtesten Politprofi dazu gebracht hätten, auf der Stelle abzudanken. Tauchte der Name in einem Zeitungsartikel auf, zerknüllte sie umgehend das Blatt und warf es in den Müll. Dort tummelten sich meist eine Menge verknitterter Bällchen. Als sie den Schriftzug „Prancock“ allerdings an diesem Vormittag auf einem Briefkuvert entdeckte, feuerte sie das Schreiben nicht wie gewohnt in den Papierkorb. Der Absender war nicht in der Klaue ihres Exmanns geschrieben, sondern eindeutig in der Handschrift ihrer Tochter. Das schlechte Gewissen stieg in Else hoch wie gelbe Kotze.

Jasmin meldete sich bei ihr? Kaum zu glauben! Sie konnte die Bedeutung dieses Vorstoßes nicht einordnen. Sowohl ihr Ex als auch sie selbst waren stets zu selten für das gemeinsame Kind da gewesen. Zum Glück hatte Jasmin immer gute Freunde in der Schule und im Sportklub gehabt. Für die tagtäglichen Probleme eines Teenagers war im Leben zweier Kriminalbeamter kaum Zeit gewesen. Ständig hatten sie mit Mord, Vergewaltigung, Drogen und dem damit verbundenen Leid zu tun. Was war schon die erste Regelblutung der Tochter gegen das Blutbad eines Psychopathen? Die Erinnerung traf Else wie ein Schuss aus der emotionalen Pumpgun. Ein frisch aus dem Knast entlassener Vater hatte seine ganze Familie ausgelöscht. Die Eindrücke vom Tatort hatten sich zwischen die damalige Kommissarin und die Wirklichkeit ihres Alltags geschoben.

Schließlich war doch eine Stimme durch diese gedankliche Plakatwand voller blutiger Bilder gedrungen: „Mutter, ich habe heute …“

„Jetzt nicht, Jasmin!“

„Ich brauche eine Binde!“

„Lass mich in Ruhe, du weißt doch, wo die Schachtel steht!“

„Mensch, können wir nicht wenigstens einmal miteinander reden?“

„Ich habe vorhin zwei Kinder gesehen, tot, in ihrem eigenen Blut! Die Kehlen waren von einem Küchenmesser regelrecht zerfetzt worden, Jasmin. Die Augen! Du hättest diese Augen sehen sollen …“

„Mutter, vielleicht solltest du deinen Job sein lassen, wenn du das alles nicht mehr packst!“

Else hatte die Szene noch so plastisch vor Augen, als hätte der Wortwechsel erst vor wenigen Minuten stattgefunden. Ihre Erinnerung spielte die Ereignisse dieses denkwürdigen Nachmittags wie eine Liveschaltung direkt vom Ort des Geschehens ab. Alles war ihr plötzlich wieder vollkommen gegenwärtig: Die Bilder von jenem entsetzlichen Tatort, das abwesende Auf-und-abLaufen in der eigenen Küche, wo sie versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. Da konnte sie die neunmalklugen Ratschläge ihrer Tochter nun wirklich nicht gebrauchen. Manchmal trieb das Mädchen sie zur Raserei und Else verlor jegliche Beherrschung. Mit einem peitschenden Knall brachte sie Jasmin vier fingerdicke rote Striemen auf der Wange bei.

An dieser Stelle hätte Else die Übertragung am liebsten unterbrochen, doch die Doku lief unbarmherzig weiter. Eine Großaufnahme von Jasmins in Verwirrung erstarrtem Gesicht füllte die Mattscheibe im Kopf nun fast völlig aus. Der verstörte Blick des Mädchens warf eine stumme Frage in den Raum: „So weit sind wir also nun schon gekommen, Mutter?“ Wieder und wieder dröhnten die Worte durch Elses Bewusstsein, die Echos schwollen zu einem wilden Crescendo an.

„Mutter, bitte …“

Das hilflose Wimmern unterbrach den anklagenden Wortschwall, der bedrohlich in Elses Hirnwindungen tobte und ließ ihn platzen wie eine Seifenblase. Zurück blieben nur Scham und Selbstmitleid. Gnadenlos und gestochen scharf ließ der mentale Beamer das innere Video weiterlaufen.

„Verdammt, Jasmin, es tut mir leid“, flüsterte Else in sich hinein, „was habe ich dir da nur angetan?“ Der Regisseur aus dem Ü-Wagen ihrer Erinnerungen schaltete auf eine andere Kamera: Schnitt! Ohne Unterbrechung flimmerte das Geschehen weiter über den Schirm, nun allerdings aus Jasmins Perspektive.

Das Mädchen war von der Wucht der Ohrfeige benommen und hielt das schmerzende Gesicht in beiden Händen. Sie fühlte heiße Tränen über ihre Finger rinnen und hatte einen blutigen Geschmack im Mund. Den Stoß, den ihre Mutter ihr dann versetzte, spürte sie kaum noch. Sie glitt an der Wand des Wohnzimmers hinab zu Boden. Jasmin glaubte, in ein tiefes, dunkles Loch zu fallen. Als Else sie am Arm packte, blinzelte das Mädchen verstört. Die Umgebung nahm wieder schärfere Konturen an. Verängstigt blickte die Tochter der Mutter ins Gesicht. Gehörte diese Fratze, eine Maske aus Wut, Trauer und Verzweiflung, wirklich ihrer Mum? Und wo war eigentlich Dad? Else zerrte Jasmin aus dem Wohnzimmer hinaus auf den Flur. Am liebsten hätte das Mädchen laut aufgeschrien. Der Arm drohte aus dem Schultergelenk zu springen. Leises Wimmern verhallte unbeachtet in der Wohnung. Schließlich zog Else ihre Tochter ins Badezimmer. Direkt neben der Toilettenschüssel ließ sie das Mädchen los. Jasmin stöhnte leise auf und fiel vollends auf die kalten Fliesen. Schluchzend blieb sie liegen.

Plötzlich flog etwas unsanft in das tränenbenetzte Gesicht. „Da hast du deine verdammte Binde, Jasmin!“, krächzte eine Stimme. Wie eine geifernde Hexe stand Else im Raum. Sie glich kaum noch der Kriminalkommissarin, die dafür berühmt-berüchtigt war, dass nichts sie so schnell aus der Bahn werfen konnte.

Ein harter Schnitt unterbrach die Direktübertragung. Keine Schlussmusik, keine Werbespots. Das auszehrende Gefühl von Schuld und Versagen machte sich in Else breit. Einzelne Schlaglichter des familiären Dramas tauchten nochmals vor ihrem inneren Auge auf. Dass sie es zeitweilig aus der Sicht der eigenen Tochter neu durchlebt hatte, ließ ihr Unbehagen noch weiter anwachsen.

„Wie lange ist das nun schon her?“, überlegte sie laut, während sie mit einer Nagelfeile den Brief öffnete. „Drei Jahre, vielleicht schon vier?“

Else Müller-Prancock hatte damals fest damit gerechnet, dass Jasmin ihrem Vater von dem Vorfall erzählen würde. Dieser hätte sie danach bestimmt verlassen, und zwar garantiert zusammen mit Jasmin. Jeder Richter hätte diesen Schritt nach einer entsprechenden Aussage der misshandelten Tochter befürwortet. Auch mit beruflichen Konsequenzen hätte die Kommissarin rechnen müssen: Gewalt gegen Schutzbefohlene ist nicht gerade ein angesehenes Qualitätsmerkmal für Polizisten. Jasmin hatte geschwiegen. Noch nie zuvor hatte Else deutlicher gespürt, wie sehr ihre Tochter sie liebte.

Sie zog ein kleines, hellgrün gefärbtes Stück Papier aus dem Umschlag. Bevor sie den Zettel auffaltete, setzte sie sich an den Küchentisch, nahm ihre bereits begonnene Tasse Espresso in die Hand und trank einen Schluck. Sie bemerkte, dass ihre Finger leicht zitterten, als sie den Falz öffnete. Schließlich las sie Jasmins ersten Brief seit der Trennung.

Hallo, Frau Kommissarin!

Oder soll ich doch „Mutter“ schreiben? War eigentlich ganz klug von dir, den Dienst zu quittieren. Wenn ich mir anschaue, womit Vater sich so in letzter Zeit herumschlagen muss, sausen mir die Ohren. Für ihn gibt’s wie üblich immer nur seinen neuesten Fall – aber das kennst du ja. Du hast schließlich auch nicht über deinen Job hinausgedacht. Dir ist bestimmt total langweilig, ohne Mörder, Stricher und so. Und wenn der Bert im Bett so aufregend ist wie in Mathe, sind deine Tiefschlafphasen garantiert. Welch ein entspanntes Leben!

Aber damit ist jetzt erst mal Schluss, Frau Kommissarin. Du hast nämlich einen neuen Fall, und den kannst nur du lösen! Na gut, vielleicht auch zusammen mit deinem Exmann. Es geht um eure verschwundene Tochter! Da schaust du, was? Wenn ihr den Fall nicht annehmt – auch okay, dann bin ich eben weg. Solltet ihr aber bereit sein, noch einmal das Dreamteam der Kripo zu spielen, habt ihr vielleicht eine kleine Chance, mich wiederzusehen. Das ist kein Gag! Mir ist das sehr ernst! Denk dran: Weg ist weg – und wenn ich weg schreibe, meine ich auch weg!

Ciao, Jassy

Steffens saß an seinem PC, kaute an seinem Kugelschreiber herum und warf mit einem Bleistift auf die Dartscheibe.

„Fassen wir also noch mal zusammen“, nuschelte er in seinen Fünftagebart, der allerdings nur nach dreitägigem Wildwuchs aussah. „Wir haben eine Leiche ohne Ausweis in einem leeren Zimmer. Keine Spuren. Die Bude war gemietet, die Vermieter sind Herr und Frau Kabler, 76 und 74 Jahre alt. Sie kannten ihren Mieter nicht näher und nicht einmal namentlich. Angeblich gaben sie ihm das Zimmer aus reiner Nächstenliebe zu einem Spottpreis. Sie besitzen selbst kaum Möbel oder Luxusgegenstände. Keinen Fernseher, keine Bücher, nur eine alte Bibel. Als Verfechter eines asketischen Lebenswandels schlafen sie selbst lediglich auf Lattenrosten ohne Matratzen. Die zwei Alten behaupten, der Mieter wäre auch ein Asket gewesen, daher hätte er weder Bett noch weitere Möbel in seiner Stube gebraucht. Sein Name war in den Augen der Kablers völlig unwichtig. Namen seien nur Schall und Rauch. Mannomann, Prancock, das ist der durchgeknallteste Fall, den ich jemals hatte.“

Prancock wollte gerade etwas zum Thema „durchgeknallt“ erwidern, als sein Handy klingelte.

„Neuerdings Beethoven?“, fragte Steffens verblüfft.

„Das ewige ,Je t’aime‘ ist mir einfach auf den Keks gegangen“, zeigte sich der Brite ungewohnt auskunftsfreudig. Er räusperte sich und nahm das Gespräch entgegen: „Prancock.“

Steffens war verwundert, wie lange sein Chef in der Lage war, zu schweigen und zuzuhören. „Es geschehen doch noch Zeichen und Wunder“, nuschelte er in seine Bartstoppeln und nutzte die Gelegenheit, die als Dartpfeile missbrauchten Stifte einzusammeln. Als er schließlich wieder aufsah, erschrak er fast. Prancock erinnerte fatal an einen begossenen Pudel und starrte mit leerem Blick in die Dienststube. Solch einen Gesichtsausdruck kannte Steffens von dem ruppigen Engländer nicht: Die Miene zeugte von Verwirrung und – noch merkwürdiger – Sorge.

Sie liebte es, Nicks Hand warm im Rücken zu fühlen. Mit geschlossenen Augen genoss sie das zarte Kribbeln unter ihrem T-Shirt, das seine sanft herumwuselnden Finger hervorriefen. Jasmin gurrte zufrieden wie eine Taube, als sich eine Gänsehaut wohlig über ihren Körper ausbreitete. Halb lagen, halb saßen die beiden auf Nicks Bett. Mit einem flüchtigen Blick in die Augen ihres Freundes erkannte Jasmin, dass er zum Glück nicht böse mit ihr war. Die Schatten der Enttäuschung konnte er aber auch nicht ganz aus seinem Gesicht vertreiben.

„He, mein großer Zauberer! Sei doch nicht traurig! Du hast es immerhin geschafft, die schöne und begehrenswerte Märchenprinzessin in dein verwunschenes Schloss zu entführen …“ Jasmin wollte betont locker klingen. Ein Hauch von romantischer Poesie, gewürzt mit einer Prise Komik lag in den Worten, doch kam ihr sonst so feiner Witz diesmal nicht gerade überzeugend rüber.

Nicks Mundwinkel blieben unschlüssig in der Schwebe. Seine Miene wirkte so verdattert wie nach der Begegnung mit einer Dampframme.

Jassys Gehirn suchte fieberhaft nach den richtigen Worten. „Verdammt, wie komm’ ich bloß aus dieser Nummer wieder raus?“, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie war froh, als Nick ihre Grübeleien stoppte, indem er einen Finger sanft auf ihre Lippen legte. „Schon gut, Jassy. Eigentlich sind auch nur meine Hormone sauer.“

„Du bist ein Engel, Nick. Natürlich hätte sich so was später einmal gut in unserer gemeinsamen Biografie gemacht: Das erste Mal am Tage der dramatischen Entführung aus dem Serail …“

Mit einem Lächeln zog Nick die Hand aus Jasmins T-Shirt hervor und nahm Tabak und Papers vom Nachttisch. „Na ja“, murmelte er, „immerhin liebst du meine schiefen Kippen!“

Beide schwiegen, bis Nick mit zwei besonders schrumpeligen Exemplaren fertig war. Er gab seiner Freundin eine Zigarette und zückte sogleich das Feuerzeug. Sekunden später zogen bläuliche Schwaden zum geöffneten Fenster hin. Nick und Jasmin blickten dem Rauch versonnen nach. Ihre Vertrautheit brauchte momentan keine Worte. Nicks Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hätte seiner Freundin stundenlang zusehen können, wie sie so nachdenklich auf dem Bett saß und rauchte. Das grünbraune Glänzen ihrer Augen verlieh dem Tabakqualm ein Flair von übelstem Smog. Das Spiel blauer Dunstkringel mit Jassys märchenblonden Strähnen ließ ihn hingegen an mystische Feenwesen in den Schwaden eines sommerlichen Morgennebels denken.

Sie drehte sich etwas zur Seite und zog die Beine an. Dabei legte sie sich auf den Rücken und schmiegte ihren Kopf in Nicks Schoß. Der Junge parkte seine Zigarette im Aschenbecher und begann Jasmins Stirn zu streicheln. Das Mädchen funktionierte den ausgehauchten Rauch zur Sprechblase um: „Ich liebe dich, Nick. Aber für das hier, na, du weißt schon …“

„Sag doch einfach Sex, Jassy, oder bist du neuerdings so zurückhaltend?“, frotzelte der Junge.

„Mensch, wir sind hier nicht auf dem Schulhof! Dort labert vielleicht jeder einfach so herum! Aber dafür ist mir die Sache zu wichtig“, konterte die Märchenprinzessin und brachte ihren Hofzauberer damit zum Schweigen. Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn leidenschaftlich. Nicks allerletzte Zweifel wurden wie von einer erotischen „delete“-Taste kurzerhand gelöscht: Es würde sich lohnen zu warten.

Missmutig rührte Prancock in seinem Kaffee. Das schmierige Braun erinnerte ihn unweigerlich an eine seiner verzweifelten Rettungsaktionen für das zeitweilig verstopfte Klo seiner Wohnung. Zum Glück hatte er diesbezüglich nun schon seit mehr als vier Wochen Ruhe. Noch ein Schuss Milch und die Vision von der Sanitär-Apokalypse verblasste. Zudem war der Gedanke an ätzende Klempnerorgien immer noch angenehmer als die Vorstellung, sich mit Else in den ehemals gemeinsamen vier Wänden zu treffen. Allerdings hatten sie für das notwendig gewordene Gespräch dennoch einen Ort ausgesucht, der mit ihrer beider Vergangenheit zu tun hatte. Fredos Café war weniger ein Café als vielmehr ein Schnell-und Stehimbiss, wo sie sich manchmal in Dienstpausen getroffen hatten. Hier war so mancher Schlachtplan gegen kaltblütige Killer entstanden und hier hatten sie den ein oder anderen Fall durchgesprochen.

Prancocks Gedanken turnten in fixen Flickflacks von Synapse zu Synapse, doch blieb ihm die Angelegenheit unbegreiflich. Je länger er darüber nachdachte, desto bizarrer erschien ihm alles. „Der Fall eurer verschwundenen Tochter“ – was hatte Jasmin sich bloß dabei gedacht? Und wieso wandte sie sich ausgerechnet an Else? Die hatte sie doch im Stich gelassen, um mit ihrem Mathelehrer im Paradies der Primzahlen glücklich zu werden. Unpassenderweise fielen dem Inspektor nun ausgerechnet die schönen Momente seiner Ehe mit Else ein und er fragte sich, wie dieses erste Treffen „danach“ wohl werden würde.

„Ein Wiedersehen in Fredos Café, welch romantische Vorstellung“, dachte er sich. Wenn ihm nicht zum Kotzen zumute gewesen wäre, hätte er vielleicht sogar gelacht. Immerhin hatte er Glück: Zwei Barhocker an den runden Stehtischen waren frei. Es gab also Sitzplätze für dieses erste Face-to-Face-Treffen nach dem Scheidungsprozess. Als aus den Boxen der Anlage auch noch „Yesterday“ schmalzte, hätte Prancock am liebsten seine Dienstwaffe gezogen und das trällernde Musikmonster abgeknallt. Die Ballerei wäre eindeutig als Notwehr durchgegangen, da war sich der Bulle in ihm sicher. Ein Schluck vom immer noch zu heißen Kaffee überzeugte den Inspektor, auch noch das zweite Zuckertütchen in die Brühe zu entleeren. Er hatte definitiv nicht die leiseste Lust auf weitere Assoziationen mit überlaufenden Toilettenschüsseln, die der Geschmack ansonsten erneut wachrufen könnte.

Endlich sah er sie: Noch bevor Else durch die Glastür hereingetreten war, fiel ihm schlagartig wieder ein, was er damals an ihr geliebt hatte. Jede ihrer Bewegungen war folgerichtig und signalisierte unmissverständlich, dass diese Frau genau wusste, was sie wollte. Ihre Körpersprache betonte das bis ins kleinste Zehengelenk. Wenn es ihr möglich gewesen wäre, hätte sie wahrscheinlich auch ihren Nasenknorpel gezielt bewegt, um Gestik und Mimik zu unterstreichen. Diese berechnende Ausstrahlung verlieh Else auch eine etwas kühle Aura. Genau diese hatte Prancock, der frühere Schwerenöter vom Dienst, vor all den Jahren durchbrechen wollen. Und er hatte es ja auch geschafft. Zumindest damals.

Ja, die Ermittlerin war ihrem Inspektor in jener Zeit wahrhaft verfallen. Die Klatschpresse hätte ihre helle Freude an dieser wilden Romanze gehabt. Da dem englischen Polizisten allerdings von der Insel her sein Ruf als Journalistenfresser vorausgeeilt war, hatten sich die Aktivitäten der Skandalblätter doch in Grenzen gehalten. Die zeitweise höchst spektakulären Einsätze der beiden außergewöhnlichen Kriminalbeamten wurden von Zeitungen jeglicher Couleur jedoch von Anfang an bejubelt. Vor allem ihr Sondereinsatz vor dem Traualtar wurde nicht nur polizeiintern als legendär gehandelt. Nach dem salbungsvollen Sermon des Priesters hatte Prancock trocken geantwortet: „Sie haben vergessen, mich darauf hinzuweisen, dass alles, was ich von nun an sage, gegen mich verwendet werden kann!“ Die Gemeinde hatte getobt, nur die schwarz berockte Kirchenmaus war puterrot angelaufen. Feierliches Glockengeläut hatte verkündet, dass das Dienstverhältnis der beiden Ermittler nun auch auf das Privatleben ausgedehnt worden war. Im Job herrschte dennoch „business as usual“. Auch wenn sie offiziell nur selten gemeinsam ermittelt hatten, waren sie doch als das Traumpaar im Revier angesehen worden. Sozusagen „the Beauty and the Beast“ für alle Fälle. Beide waren als hart gegen sich selbst und andere bekannt. Einzig Prancock selbst – und später auch Jasmin – wusste, wie viel von Elses vordergründiger Toughness Schauspielerei war, nämlich nahezu alles. Der Preis dafür war hoch gewesen: Schlaflosigkeit, Depressionen, Paranoia. Bis heute hatte Prancock niemandem gegenüber die heimlichen Therapiesitzungen seiner damaligen Frau auch nur mit einer Silbe erwähnt.

Und trotz dieser Scharade hatte sie Karriere gemacht, hatte sogar ihren Mann überrundet: Während er einfach immer der ewige Inspektor blieb, hatte man ihr schon bald den Posten als Kommissarin angetragen. Das allein wäre bereits ein großer Schritt für eine Polizistin, war aber nur ein kleiner für Frau Müller-Prancock. Sie war schon dabei gewesen, ihren Fuß auf der Karriereleiter noch eine Sprosse höher zu setzen, als sie schließlich die Reißleine gezogen hatte. In die Welt von Romantik, Geometrie und Algebra abzutauchen, war ihr urplötzlich wie die Einladung in ein ewiges Märchenparadies erschienen. Beim Gedanken daran zog Prancock schnell und unauffällig seinen Flachmann aus der Manteltasche und goss sich heimlich einen Schluck Kognak in den Kaffee. Als sich die Türe öffnete, war das Fläschchen bereits wieder in den unermesslichen Abgründen des Trenchcoats verschwunden.

„Einen Kaffee, Fredo!“, bestellte Else schon beim Eintreten.

Fredo konnte sich seinen Uralt-Witz „Einen caffè freddo?“ auch nach mehreren Jahren immer noch nicht verkneifen, als er jedoch bemerkte, wer da bestellt hatte und zu wem sich die Dame gesellte, wurde Fredo tatsächlich freddo. Seit „Casablanca“ hatte er nicht mehr an rührende Wiedersehen à la „Hollywood“ geglaubt. Davon abgesehen war sein beengtes Lokal mit dem Charme einer unbeheizten Bahnhofstoilette ohnehin nicht unbedingt als Schauplatz einer solchen Szene geeignet. Verwirrung ergriff den Wirt, gepaart mit einem winzigen Funken Euphorie. Wie ferngesteuert schob er eine CD in den Player: „As time goes by“.

Als er dann den Kaffee servierte, raunzte Prancock ihn an: „Spiel das nicht noch mal, Fredo, sonst nenne ich dich Sam!“

Else sah ihren früheren Mann mit großen Augen an, dann kam die Reaktion, an die beide längst nicht mehr geglaubt hatten: Sie lachten so herzhaft und laut heraus, dass selbst der zunächst verdutzte Fredo nicht anders konnte, als mit einzustimmen. Einen Augenblick lang war für das einstige Paar fast alles vergessen – die unrühmliche Vergangenheit ihrer Ehe und die Sorgen um ihre Tochter.

„Mal was anderes, Nick: Wo soll ich denn hin, wenn deine Eltern zurück sind?“

„Mach dir mal keinen Kopf, Prinzessin, die sind noch bis übermorgen weg!“

Jasmin setzte sich auf, drückte ihren Zigarettenstummel im Aschenbecher aus und strich sich eine lange Haarsträhne von der Nase. Dann sah sie Nick in die Augen. Ihr Blick war ernst. „Großer Zauberer, das ist kein Spiel. Ich werde nicht in zwei Tagen bei meinem Alten antanzen und sagen: Da bin ich wieder, war alles nur ein Joke! Außerdem wird Daddy bald rauskriegen, dass du mein Freund bist. In der Schule pfeifen das ja eh die Spatzen von den Dächern. Und dann ist’s nur noch ’ne Frage der Zeit, bis er das Haus hier observieren lässt. Verstehst du, was das heißt? Ich muss schon möglichst bald woanders hin. Du hast doch gesagt, du kannst mich fast überall unterbringen. Was nun, mein mächtiger Magier?“

„Okay, da hätte ich noch das Wochenendhaus meiner Alten anzubieten …“

„Du hast mir doch erzählt, dass sie selbst noch bis übermorgen dort abhängen. Wo soll ich in der Zwischenzeit hin? Nächster Vorschlag!“

Nick sah seine Freundin leicht genervt an: „Warum bleibst du denn nicht hier? Wenn wir gut aufpassen, kriegt doch keiner mit, dass ich neuerdings eine Untermieterin habe!“

„Kapier doch endlich, meine Eltern sind Vollprofis! Wenn sie dieses Haus erst mal in der Schusslinie haben, lassen sie es vielleicht Tag und Nacht überwachen! Wie willst du mich denn dann hier rausbringen?“

„Schon gut, Prinzesschen, du hast gewonnen. Ich besorg dir ’ne Bleibe. Gib mir aber bitte bis morgen früh Zeit!“ Seine Augen blitzten sie kurz an.

Ihr war klar, dass er genau wusste, was seine Blicke mit ihrem Gefühlsleben anstellten. „Schuft“, dachte sie, „du weißt genau, dass ich dir so nicht widersprechen kann!“ Mit einem Seufzer ergab sie sich in ihr Schicksal und sagte: „Gut, morgen früh. Könnte knapp werden, aber ein bisschen Risiko gehört wohl einfach dazu.“

Das Lachen hatte gewirkt wie ein reinigendes Gewitter. Sie hatten sich beide nicht besonders auf dieses Treffen gefreut. Die Angst, sich trotz eines gemeinsamen Problems nur anzuschweigen, saß tief. Natürlich hätten sie auch den ganzen Abend lang ausschließlich damit zubringen können, sich gegenseitig die Schuld an Jasmins Ausbrechen zuzuschieben. Es gab jede Menge von Möglichkeiten, was anlässlich ihres Wiedersehens bei Fredo hätte passieren können. Mit einem Heiterkeitsausbruch aber hatte niemand gerechnet, und so verbuchten beide Prancocks kleinen Scherz als gutes Omen für das weitere Gespräch.

„Sag mal, Else, hättest du das für möglich gehalten?“, fragte Prancock, während er den letzten Schluck seines Kaffee-Milch-Kognaks trank.

„Jassys Verschwinden?“ Else hielt ihre Tasse mit beiden Händen, drehte sie hin und her. Sie blickte hinein, als ob sie die Antwort im Kaffeesatz vermutete.

„Eigentlich meinte ich ja, ob’s dir im Traum eingefallen wäre, noch jemals über ’nen Witz von mir lachen zu können. Aber du hast recht, wir sind nur hier, weil unsere Tochter das so eingefädelt hat. Voilà, sie hat gewonnen.“

„Meinst du im Ernst, dass es das war, was sie wollte?“

Else schwieg einen Moment lang. Sie trank ihren Kaffee ebenfalls aus und stellte die Tasse auf dem Stehtisch ab. Wortlos zog sie den Brief aus ihrer Jackentasche und reichte dem Inspektor das Kuvert.

„Du bist ja jetzt der Boss. Also hier das Beweismaterial“, hauchte sie. Ein Anflug von Bitterkeit durchzog ihr Flüstern. Prancock ignorierte es und nahm den Umschlag entgegen. Er bemerkte allerdings sehr wohl, dass seine Exfrau es immer noch tunlichst vermied, ihn bei seinem Vornamen zu nennen.

Er zog die Nachricht aus dem Kuvert und wollte gerade anfangen zu lesen, als sein Handy begann „Amazing Grace“ zu singen – der dienstliche Klingelton. Ausgerechnet jetzt! Nahm er ab, würde Else ihm vorwerfen, der Job sei ihm wichtiger als die eigene Tochter. Drückte er das Gespräch einfach weg, würde Steffens bestimmt mit einer wichtigen Information falsch umgehen und wie üblich alles versauen. Er fühlte sich in einer Zwickmühle.

„Nimm schon ab“, ermunterte ihn Else.

Unverhohlen schlich sich Erstaunen in sein Gesicht und er starrte seine Exfrau fassungslos an. Im gleichen Moment wandte diese sich zu Fredo um und gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie noch einen Kaffee wollte.

„Hier Prancock, was gibt’s?“

Steffens unverkennbares Räuspern tönte aus der Muschel. In den Ohren seines Chefs klang der zweite Inspektor wie ein Zuchtbulle mit Verdauungsproblemen.

„Will nicht lange stören, Boss. Habe nur mal kurz eine Frage. Ist dir bei diesen Kablers in der Blütenstraße irgendetwas Besonderes aufgefallen?“

„Sag mal, Steffens, rufst du mich deswegen extra hier an?“, schnaubte der Inspektor, wobei er sich immerhin bemühte, seine Lautstärke im Zaum zu halten.

„Sorry Chef, aber mir ging gerade auf, was ich so merkwürdig fand, als wir am Tatort ankamen.“

„Und was, bitteschön?“

„Keine Journalisten, keine Schaulustigen, erst nachdem wir und der Arzt da waren, kamen ein paar Leute heraus.“

„Na und?“, gab Prancock gelangweilt zurück. „Die beiden Alten mögen eben keine Publicity. Hätten sie vielleicht ein Schild an ihre Gartentüre hängen sollen, ,Heute Leichenschau‘ oder so was?“

„Das nicht, aber sie haben uns angerufen!“

„Ich glaube fast, ,na und‘ wird heute mein Lieblingsausspruch, Steffens! Hätten sie das etwa nicht tun sollen?“

„Chef, die Kablers besitzen kein Telefon, und die nächste Zelle ist drei Kilometer entfernt. Sparmaßnahmen der Telekom und so, du weißt schon! Weder die Alten selbst noch ihr Gast hatten ein Handy! Auto ist bei diesen Asketen auch nicht angesagt. Bliebe also nur ein Besuch bei Nachbarn, oder?“

Prancock hatte vergessen, dass seine Tasse bereits leer war. Als er noch einen Schluck nehmen wollte, kam ihm nur ein vereinsamter bitterer Tropfen entgegen. Der Inspektor winkte kurzerhand Fredo zu. Dieser nickte und kippte frische Bohnen in die Maschine.

Dumm gelaufen, aber Steffens hatte recht! Egal, ob die Kablers einen Nachbarn aufgesucht hatten oder bis zur Telefonzelle gepilgert waren, in jedem Fall wäre es ein Schritt in Richtung Öffentlichkeit gewesen. Dass eine unbekannte Leiche in der leeren Dachwohnung unter diesen Umständen keinerlei Wellen geschlagen hätte, war zumindest unglaubwürdig, wenn auch nicht unmöglich.

„Alles klar, Steffens. Komisch ist das in jedem Fall. Bringt uns aber trotzdem nicht weiter. Schon was über die Identität des Toten rausgebracht?“

„Fotos der Leiche sind zentral verschickt worden, Vermisstenmeldungen werden ab morgen bundesweit überprüft. Vielleicht kommt ja was raus beim Abgleich mit unseren Bildern. Aber du weißt schon …“

„Jaja, diese ganze Bürokratiekacke dauert eben. Gut, Steffens, ich komme morgen ins Revier!“

„Wie bitte? Wenn ich mich recht erinnere, wolltest du eigentlich einen freien Tag wegen deiner Tochter!“, meinte Steffens.

Verflixt! Prancock brach der Schweiß aus. Er war wieder mal in die Falle getappt. Jetzt konnte Else ihm eben doch vorhalten, dass ihm die Arbeit mehr bedeute als Jasmin. Verzweifelt startete er einen letzten Versuch zur Ehrenrettung: „Ich komme ja auch nur kurz vorbei! Hab’ nur was auf ’m Schreibtisch liegen lassen!“ Grußlos schaltete Prancock sein Mobiltelefon ab und steckte es weg.

„Schau nicht so bedröppelt“, riss ihn Else mit einem wissenden Lächeln aus seinen Gedanken, „ich hab’ Jassy auch oft wegen unseres Jobs vernachlässigt.“

„Und jetzt rächt sie sich eben an uns. Oder hast du eine bessere Idee, was das Ganze soll?“ Ihm fiel ein, dass er Jasmins Brief noch gar nicht angesehen hatte. Er faltete ihn auf und las. Dabei kam er sich vor wie ein schuldbewusster Delinquent vor dem hohen Gericht. Er studierte soeben seine eigene Anklageschrift, auch wenn Jasmin ausdrücklich an ihre Mutter geschrieben hatte. Wann war seine Tochter eigentlich genau verschwunden? Wenn Else den Brief heute Morgen erhalten hatte, musste er am Vortag abgeschickt worden sein. Er versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, ob er Jasmin am betreffenden Morgen noch kurz gesprochen hatte oder nicht. Worüber hatten sie eigentlich zuletzt geredet? Wahrscheinlich über Schule oder Sport. Vielleicht auch über Musik. Egal: Der ewige Inspektor wäre in Gedanken ohnehin bei diesem neuen, verrückten Fall gewesen.

Nach wie vor konnte er sich keinen Reim auf die ganze Sache machen, aber er hatte im Urin, dass das Aufklären dieses Mordfalls der große Wurf sein konnte. Es war fast unwichtig, was hinter der Sache steckte – das Mysteriöse daran würde ihm Publicity genug bringen. Eine Leiche in einem leeren Zimmer, Todesursache unbekannt, und dann noch in einem merkwürdigen religiösen Umfeld. So was liebten die Leute. Er musste nur dranbleiben, alles auf die ihm eigene Art untersuchen und analysieren. Der Jubel der Öffentlichkeit wäre ihm sicher – und vielleicht auch endlich die lange überfällige Beförderung. Nur: Konnte er überhaupt dranbleiben? Immerhin war seine Tochter auf und davon. Blut war dicker als Wasser und väterliche Pflichten dringlicher als dienstliche Belange. Könnte er vielleicht auch zweigleisig fahren? Wie ernst war die Lage an der Elternfront eigentlich?

„Meinst du, wir müssen uns wirklich Sorgen machen?“, fragte Prancock.

Else stellte ihre Kaffeetasse ab, sah ihrem Exmann geradewegs in die Augen, und die Lockerheit des bisherigen Gesprächs war wie vom Winde verweht. „Jasmin würde so etwas nie aus einer Laune heraus tun, nur um uns kurz zu erschrecken. So gut solltest du deine Tochter eigentlich kennen, Herr Inspektor!“

„Ach, wer lebt denn hier jahrelang mit ihr alleine und teilt ihre Sorgen, während die Mutter …?“

„Halt die Klappe, wenn du nicht willst, dass ich auf der Stelle gehe!“

„Soso, Frau Kommissarin will den Fall bequemerweise an den kleinen, unbedeutenden Inspektor abgeben, was?“

„Okay, okay, Jasmin wohnt bei dir! Was sagt das schon? Kennen musst du sie deswegen noch lange nicht!“

„Aber du, aufgrund deiner häufigen Treffen mit ihr, oder?“

„Du weißt genau, dass es Jasmin war, die bis heute keinen Kontakt zu mir wollte!“

Schweigen. Selbst Fredos Espressomaschine gab keinen Pepsi mehr von sich. Schließlich wurde Prancock Zeuge eines seltenen Naturschauspiels: Seine frühere Weggefährtin weinte.

Jasmin lag friedlich in Nicks Armen. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Der Junge genoss es, die Hand seiner Freundin in den Haaren zu spüren. Die Prinzessin seiner Träume hatte ihn noch eine Weile sanft gestreichelt, dann war sie eingeschlafen. Vielleicht hatte er die Klappe wirklich zu weit aufgerissen, als er versprochen hatte, genügend Verstecke für die ganze Aktion zu kennen. Jedenfalls wurde ihm jetzt erst klar, wie ernst Jasmin die Sache wirklich war. Zudem hatte sie in einem anderen Punkt recht: Ihre Eltern waren Profis, da genügte ein einfaches Versteck nicht, um ihnen für längere Zeit zu entwischen. Stattdessen musste man für diese Superbullen einen kniffligen Fall konstruieren, ein Krimirätsel mit vielen Fallstricken für die Verfolger. Kurz bevor auch er einschlief, hatte Nick die Idee für ebenjenes Detektivspiel. Sie gefiel ihm so gut, dass er sogar noch beim Schnarchen lächelte.

Steffens versuchte, seinen Feierabend betont lässig anzugehen. Die Vorstellung, dass sein Boss sich wahrscheinlich gerade aufs Heftigste mit der Ex zoffte, ließ ihn wieder einmal Frieden mit seinem Dasein als Junggeselle schließen. Geübt entkorkte er eine Flasche seines Lieblingsweines – Pays de Norma – und zappte sich durch das Abendprogramm. Hier ein Krimi, da ein Thriller, dann noch jede Menge Gangsterfilme. Auf dem einen Kanal war Commissario Brunetti am Tatort, auf dem nächsten Miss Marple.

„Lässt einen dieser blöde Beruf denn nie in Ruhe?“, grunzte Steffens in sein Weinglas und schaltete die Mattscheibe ab. Er hob die Fernbedienung seiner Stereoanlage vom Fußboden und startete seinen CD-Player. Genau in diesem Moment zerfetzte ein Schuss die Feierabend-Idylle. Steffens schrak zusammen und ließ das noch halb volle Glas fallen. Er sprang aus seinem Fernsehsessel und verschanzte sich hinter dessen Lehne. Auf dem Sideboard lag seine Dienstwaffe. In Sekundenbruchteilen ergriff er die Pistole und entsicherte sie.

Schließlich hörte er eine raue Männerstimme mit eindeutig englischem Akzent: „Hallo! Hier spricht Edgar Wallace!“ Ohrenbetäubend laut setzte die Filmmusik zu „Der Hexer“ ein. Anscheinend hatte Steffens gestern vergessen, seine neue CD „Krimi-Hits vol. 3“ aus dem Player zu nehmen, die er ebenso wie den Wein als Schnäppchen beim Discounter seiner Wahl ergattert hatte. Ihm war eigentlich der Sinn nach „Beatles“ gestanden. Seufzend akzeptierte er, dass sein Job ihn an diesem Abend wohl tatsächlich nicht mehr loslassen würde, und so schaltete er seine Hi-Fi-Burg wieder auf Stand-by. Zerknirscht ging er an seinen Schreibtisch.

„Wenn das Schicksal es denn so will, werde ich eben nicht Feierabend machen, sondern noch etwas im Internet recherchieren.“ Sein alter Pentium fuhr ächzend hoch. Steffens ging sofort online, dann stutzte er. Wonach sollte er eigentlich suchen?

Könnten die Kablers vielleicht sogar die Täter gewesen sein? Steffens beantwortete sich die Frage umgehend selbst: Durchaus! Die Gelegenheit hätten sie gehabt, schließlich hatte das Opfer für einige Tage bei ihnen gewohnt. Ein klitzekleines Detail widersprach allerdings dieser Theorie: Wenn die Kablers selbst die Killer wären, hätten sie wohl kaum die Polizei gerufen, sondern eher die Leiche verschwinden lassen.

Eine weitere Frage schlich sich in Steffens Überlegungen: Wie wurde das Opfer eigentlich genau getötet? „Wahrscheinlich Gift“, brummelte der Beamte trotzig in sich hinein, „und wenn Prancock sich auf den Kopf stellt, mit den Ohren wackelt und Shantys singt!“ Sollte die tödliche Dosis eines eventuellen Toxins aber nicht beim asketischen Nachtmahl im Hause Kabler verabreicht worden sein, wer hatte dann wann, wie und wo die Gelegenheit gehabt, dem Opfer die mörderische Substanz unterzujubeln? Hätte sich das Gift ohne Wissen der Kablers in dem fatalen Abendessen befunden, wären sie jetzt mit größter Wahrscheinlichkeit höchstselbst jenseits der Leichenstarre.

Steffens seufzte. Wie gern würde er morgen oder übermorgen zu seinem Chef sagen: „Okay, Pranke, die Sache ist erledigt! So war’s: …“ Von diesem Tag träumte er schon, seit Prancock und er zusammenarbeiten mussten. Nahezu regungslos saß er vor seinem Keyboard und starrte auf den Bildschirm. Die Onlinewerbung pries gerade eine Schlemmerfahrt für Feinschmecker an. Steffens blinzelte, kontrollierte kurz den Schmirgelfaktor seines Kinns und tippte dann einen Suchbegriff ein: „Askese“.

Prancock fühlte sich absolut mies. Er hatte zwei Dinge getan, die er in seinem ganzen Leben nicht mehr hatte tun wollen: Er hatte seine Exfrau umarmt und er hatte sie nach Hause gebracht. Immerhin wusste er nun, wo Mr. Mathe wohnte. Dass er somit seine Rachefantasien wenigstens theoretisch in die Tat umsetzen könnte, hatte ihm ein Schmunzeln abgenötigt. Else war das zum Glück entgangen.

Im Auto hatten sie noch einen kurzen Schlachtplan für die ersten Ermittlungen im Fall Jasmin gemacht: Da Else verständlicherweise keine Lust hatte, im Lehrerkollegium von Jasmins Schule Untersuchungen anzustellen, hatte er sich breitschlagen lassen, das zu übernehmen.

„Okay, ich entehre das Lehrerzimmer! Kannst du im Gegenzug dafür bei Robert Schultes vorbeischauen?“, hatte er wie beiläufig gefragt.

„Robby? Sind Jasmin und er noch zusammen?“

„Na klar – die beiden sind ein Herz und eine Seele“, betonte Prancock.

In Wirklichkeit hatte er keine Ahnung, wie es um das Beziehungsleben seiner Tochter stand. Allerdings gab es ausreichend Gründe, warum er nicht bei Familie Schultes vor der Tür stehen mochte. Prancock hatte den Jungen einmal bei einer Party aus der Wohnung geworfen, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Das Ganze war ein höchst peinliches Missverständnis gewesen. Prancock hatte gedacht, der Schüler hätte sich einen Joint gedreht.

„Mensch, Daddy“, hatte Jasmin nach dem ersten Schock ihren Vater angebellt, „das war doch nur ein Gesellschaftsspiel!“

„Ach ja? ,Dealer ärgere dich nicht‘ oder was? Für wie blöd hältst du mich eigentlich?“

„Kennst du das nicht? Man zündet eine Serviette an und die schwebt dann wie ein Heißluftballon zur Decke! Mehr nicht! Da war kein Haschisch drin!“ Die übrigen Gäste waren nur noch mit offenen Mündern dagesessen, und Jasmin hatte Mühe gehabt, sich nicht weiter in Rage zu reden.

Missmutig war Prancock nach dieser Erklärung zur Wohnungstüre geschlurft, um den Jungen zurückzuholen. Aber zu spät: Jasmins Freund war schon abgezogen. Prancock hatte sich nie für diesen unüberlegten Rausschmiss entschuldigt. Insofern war es wirklich geschickter, wenn Else bei Robert und seiner Familie nachfragte.

Ratlos kaute Steffens an seinem Bleistift herum. Auf seine Eingabe hin hatte die Suchmaschine seitenweise Adressen aufgelistet, so etwa „Siddharta Gautama – ein Leben für die Askese“ sowie die Homepages nahezu aller registrierten buddhistischen Gemeinden, Vereine und Bildungszentren. Und das war nur der Anfang.

„Ein Fass ohne Boden“, stöhnte Steffens.

Er überlegte, wie er die Fülle der angebotenen Treffer sinnvoll reduzieren könnte. Die Kablers waren jedenfalls keine buddhistischen Asketen, also erst mal alles eliminieren, was mit Buddha zu tun hat.

Ein paar Mausklicks und Tastatureingaben später hatte der Polizist eine deutlich entschlackte, aber immer noch unübersichtliche Aufstellung auf dem Bildschirm. Er las sich selbst im Flüsterton vor, als würde er ansonsten jemanden stören: „Askese und Bio-Food, Askese unter Palmen, Askese von Reliabilität, ein pragmatisch-philosophischer Deutungsansatz der Werke Hämmerers, Askese, Vollwertkost und Nulldiät …“

Seufzend ließ Steffens den Stift fallen. Er zog seine Stirn in Falten und setzte sein Selbstgespräch fort: „So kommste nicht weiter, Alter! Außerdem stellt sich noch die Frage: Sind die Kablers lediglich aus persönlicher Überzeugung heraus asketisch oder sind sie Teil einer Gruppe? Das Ganze riecht ohnehin irgendwie nach einer Sekte. Die zwei Oldies sagen, das Opfer sei auch Asket gewesen. Nicht etwa Christ oder Buddhist oder Baptist, nein, Asket …“

Verwundert starrte er schließlich auf das Kunstwerk, das er während des intensiven Nachdenkens auf seinen Notizblock gekritzelt hatte: Es sah aus wie ein Buddha im Haus vom Nikolaus, umgeben von einer Girlande frischer Bratwürste. Buddha biss gerade von einer ab, neben ihm stand ein Fläschchen mit einem Totenkopfemblem auf dem Etikett. Steffens grinste und gab einen neuen Suchbegriff in den Computer ein: „Asketen“.

Prancock stand vor der eigenen Haustüre. Er hatte keine Lust, in seine garantiert leere Wohnung zu gehen, nur um über sich, die Beziehung zu seiner Tochter und das Leben im Allgemeinen nachzugrübeln. Nicht einmal die Aussicht auf eine Flasche „Porter Import Ale“ wirkte noch verlockend. Er stand da, trat von einem Fuß auf den anderen und blickte auf den Schlüssel in seiner Hand, mit dem er nebenbei herumspielte. Schließlich kam ihm ein Gedanke: Was hatte er als Kind in solchen Fällen immer bemüht? – Ein Gottesurteil.

„Okay, zur Debatte stehen Bett und Bistro.“ Er warf den Schlüssel in die Luft und ließ ihn auf den Gehweg fallen. Die Spitze zeigte zwar nicht direkt in Richtung seiner Stammkneipe, aber erst recht nicht auf seine Wohnungstür. Der Fingerzeig Gottes wies ihm den Weg in eine düstere Nebenstraße.

„Na gut“, sagte er zu sich selbst, als er sich bückte und den Schlüssel aufhob, „dann eben nicht mein geliebtes Bistro. Mal sehen, ob ich dort was Gemütliches finde.“

Er steckte seinen Schlüssel in die Manteltasche und gaukelte sich mit dem Pfeifen alter Seemannslieder gute Laune vor. Dennoch spürte er, wie seine Ängste ihm im Nacken saßen – die Angst um seine Tochter, aber auch die, dass Steffens den mysteriösen Mordfall tatsächlich ohne ihn lösen könnte.

„So eine Chance gibt’s nur einmal in hundert Jahren, und dann soll diese Knalltüte den ganzen Ruhm absahnen? Und am Ende noch Kommissar werden?“

Prancock bemühte sich, die bedrückenden Gedanken abzuschütteln. Endlich erblickte er eine bescheidene kleine Kneipe. Nur einige Männer saßen vereinzelt oder in kleinen Grüppchen an speckig schimmernden Tischen. Keine Pärchen – perfekt! Der Inspektor atmete noch kurz die angenehm abgekühlte Abendluft ein. Dann schnaubte er und ging in die Gaststube.

Freitag

Sie saß alleine und frierend in einem dunklen Loch. Jegliche Orientierung war ihr abhandengekommen. Das hohle Geräusch von Tropfen, die in schwarze Lachen fielen, hallte in einer bizarren Rückkoppelung zwischen den Ohren hin und her. Der Klang wurde durch das Dröhnen in ihrem Kopf so sehr verstärkt, dass man dieser unwirklichen Soundkulisse nur einen Namen geben konnte: Angst.

Sie presste ihre Hände auf die Ohren, aber der Soundtrack des Schreckens blieb. Sie sank auf die Knie, fühlte, wie Matsch und Wasser durch den Stoff ihrer Jeans drangen. Ihr Wimmern mischte sich in die düstere Symphonie aus Hall und tropfendem Wasser. Unvorbereitet spürte sie etwas auf ihren Körper klatschen. In Panik wollte sie aufspringen, aber sie verhedderte sich in unzähligen nassen und schmierigen Schnüren.

„Nein!“, schrie sie und versuchte sich zu befreien. Ihr war von Anfang an klar gewesen, dass es aus diesem Netz kein Entrinnen gab. Ein weiterer Versuch, sich aufzurichten, misslang. Sie fiel vornüber. Wasser spritzte auf, nasse Erde verschmierte ihr Gesicht. Bei dem Versuch, laut zu schreien, drang ihr säuerliche Matschbrühe in den Mund. Ein leises, ersticktes Gurgeln war alles, was sie noch hervorbrachte. Es war hoffnungslos: Sie lag in dieser Fallgrube, gefangen in einem unzerstörbaren Netz, und würde unter Qualen ertrinken.

Gerade als sie schon aufgeben und das schlammige Wasser einatmen wollte, nahm ihr frierender Körper einen leichten Ruck wahr. Sie löste sich schließlich sanft aus dem durchweichten Erdboden. Tatsächlich: Sie wurde nach oben gezogen. Ein plötzlicher Impuls durchzuckte sie: strampeln, schreien und um sich schlagen, sich befreien! Doch gleichzeitig wusste sie, dass jeder Widerstand zwecklos war. Sie öffnete ihre Augen. Durch einen Schleier aus Wasser und Schmutz blickte sie nun zum Boden der Fallgrube hinunter, der zunehmend in der Ferne zu verschwinden schien. Ein leichter Schimmer morgendlicher Sonnenstrahlen drang jetzt zu ihr herein. Sie erkannte eine Gestalt, die reglos am Boden kauerte, ganz nahe der Mulde, aus der jemand sie gerade erst gezogen hatte.

Das Mädchen kniff die Augen zusammen, um im schwachen Licht besser sehen zu können. Wer hockte bloß da unten? Als sich der Schatten zu bewegen begann, drang eine erschreckende Erkenntnis in das vor Angst gelähmte Denken: Das war kein Mensch. Eine riesige, unförmige Kreuzspinne räkelte sich in der Tiefe. Das borstige Monstrum hatte bemerkt, dass seine Beute soeben entschwand und setzte sich unverzüglich in Bewegung. Es begann die Wände der Fallgrube hinaufzuklettern. Das Mädchen erstarrte und jegliches Zittern erstarb in einem lähmenden Schock. Die Blicke klebten an dem tödlichen Etwas, das auf sein Opfer zukrabbelte. Zielstrebig zogen haarige Beine das gefräßige Biest höher und höher. Unglaublich flink kam es näher. Das Netz baumelte noch immer auf halber Höhe in dem modrigen Loch. Die Augen der Gefangenen weiteten sich vor Schreck und Entsetzen. Sie erkannte, dass das ekelerregende Spinnentier zwei Köpfe besaß. Der Schock brach in einem gellenden Schrei aus ihr heraus – die Gesichter gehörten ihren eigenen Eltern.

„Jasmin, um Gottes Willen, was ist denn los?“ Eine vertraute und geliebte Stimme schob sich in die Szenerie des Grauens. Das Netz um sie herum löste sich in nichts auf. Dennoch fiel sie nicht zurück in eine Grube voller Matsch und Brackwasser. Stattdessen sank sie nur noch tiefer in starke Arme. Kein Schlamm verschmierte ihr das Gesicht, da war nur eine Hand, die ihre Wange liebkoste und vorsichtig die Tränen fortwischte.

„Nick! Oh, Nick! Ich glaube, ich …“

Ein Weinkrampf schüttelte Jasmin. Ihr Freund zog sie behutsam näher an sich heran. Wortlos hielt er sie einige Minuten lang umschlungen, bis genügend Tränen geflossen waren. Sie löste sich sachte aus der Umarmung und sah Nick in die Augen.

Erleichtert stellte dieser fest, dass bereits wieder eine klitzekleine Spur von Lächeln in Jasmins Zügen lag.

„Ich glaube, du brauchst erst mal eine meiner schiefen Zigaretten, Prinzessin. Dann zaubere ich dir das beste Frühstück auf den Tisch, das du dir wünschen kannst. Mein Cappuccino ist legendär; bei dem würde selbst Gino erblassen …“

„Weil Gift drin ist?“

Jasmin grinste den nun doch etwas verdutzten Romantiker an. Daraufhin entlud sich der Schrecken der Nacht in einer ausgelassenen Kissenschlacht. Leider musste im Kampfgetümmel eine von Nicks „Star Wars“-Figuren dran glauben.

„Kompliment, Prinzessin. Du hast soeben Darth Vader geköpft. Das hat noch nicht mal Han Solo hingekriegt. Du bist wirklich bereit für das Abenteuer, das vor dir liegt. May the force be with you!“

„Das soll alles sein? Damit locken Sie ja nicht mal mehr ’ne Rentnerin an den Zeitungskiosk!“, schnaubte Gregor Brand seine Volontärin an.

Ilka Trebes sah starr an ihrem Vorgesetzten vorbei. Sie fixierte das Gemälde, das die Redaktionsräume schon seit Jahrzehnten schmückte, als gäbe es dort etwas Neues zu entdecken.

„Tut mir leid, Herr Brand, ich habe ja alles versucht!“

„Ach ja? Wieso stehen dann in diesem Artikel nicht mehr Fakten als man sowieso in jeder Vorstadtkneipe am Tresen erfährt?“ Brands Ton schwoll bedrohlich an.

Die junge Reporterin rang nach Worten. Sie hätte sich allzu gerne gerechtfertigt, brachte aber keinen Ton heraus. Mit einer hastigen Bewegung, die ihre Unsicherheit noch unterstrich, fuhr sie sich durch die langen, schwarz glänzenden Haare. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte so, die herannahenden Tränen zurückzuhalten.

„Da gibt man Ihnen eine einmalige Chance“, fuhr Brand fort, „und zwar eine Story, nach der sich jeder Profi die Finger lecken würde! Und was kommt dabei heraus? Nichts!“ Sein Schnauben befand sich hart an der Grenze zu cholerischem Gebrüll.

„Tu nicht so gönnerhaft. Die Story hab’ ich doch nur gekriegt, weil deine tollen Profis alle unabkömmlich waren. Ansonsten wäre für mich wieder bloß ein Artikel aus der Provinz übrig geblieben. ,Benefizstricken der Seniorinnen im Katharinenstift großer Erfolg!‘ Wow – welch eine Schlagzeile“, hätte Ilka am liebsten geantwortet, aber ihren sofortigen Rausschmiss wollte sie dann doch nicht riskieren. Zum anderen wusste sie genau, dass sie sich ohnehin nicht getraut hätte, so frech zu sein. Der Chefredakteur forderte zwar ebendiese Art von Dreistigkeit immer von seinen Reportern, doch er selbst würde sie wohl kaum ertragen.

„Ich habe ja vor Ort recherchiert …“, stammelte Ilka, um wenigstens etwas zu sagen.

Noch bevor sie weiterreden konnte, fiel ihr Brand auch schon wieder ins Wort: „Oh ja – sie waren in der Blütenstraße. Toll! Und warum haben Sie diese Kablers dann nicht interviewt?“

„Sie sagten, alles Wichtige hätten sie schon der Polizei erzählt und ich solle aufs Revier, wenn ich …“

„Sie haben sich abwimmeln lassen wie ’ne Anfängerin. Diese Tattergreise hätten Sie doch dazu überreden können, auszupacken! Notfalls stellt man auch mal den Fuß in die Tür, bevor es heißt ,Klappe zu‘!“, grölte Gregor Brand.

Um seine Rhetorik noch zu unterstreichen, zerknüllte er den Artikel der Volontärin und warf ihn gezielt in einen bereits fast überquellenden Papierkorb.

„Verzeihung, Chef, aber diese Leute haben auch eine gewisse Privatsphäre!“, verteidigte die Reporterin ihr Vorgehen.

„Privatsphäre? Mensch, Mädchen, mit dieser Einstellung wirst du vielleicht mal Startippse in der Monatsschrift der Heilsarmee, aber bei uns …“

Kühl, aber ungewohnt scharf unterbrach Ilka ihren Vorgesetzten: „Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen das ,Du‘ angeboten zu haben.“

Brand hielt inne. Damit hatte er nie und nimmer gerechnet: Die Volontärin war zwar nicht plötzlich zu einer Heldin der Frauenbewegung mutiert – dazu verrieten Gestik und Mimik noch immer viel zu große Nervosität –, aber einen winzigen Respektpunkt hatte sie sich in diesem Moment doch eingeheimst. Der Lohn für den Überraschungserfolg war, dass Brands Brüllen erst einmal versiegte.