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Der Ermittler Tobias Blank soll im Auftrag einer Versicherung die Diebstähle bei einer Spedition im Emsland untersuchen. Als Lagerarbeiter getarnt, beginnt er die Ermittlungen. Zunächst deutet alles darauf hin, dass Betriebsangehörige Waren aus dem Lager verschwinden lassen. Doch der Verdacht bestätigt sich nicht. Ein Mitarbeiter kommt unter fragwürdigen Umständen ums Leben. Aus der Suche nach einem Dieb wird unvermittelt eine Morduntersuchung und aus Verdächtigen werden Verbündete. Mit tatkräftiger Unterstützung zweier Fernfahrer kommt Blank der Wahrheit immer näher. Das gefällt den Verbrechern aber gar nicht. Erst wird ein Freund überfallen. Dann gerät der Detektiv selber in einen Hinterhalt.
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Seitenzahl: 587
Veröffentlichungsjahr: 2015
www.tredition.de
Blütenträume
Eine Detektivgeschichte aus der Zeit, als 99 Luftballons am Schlagerhimmel aufstiegen
Erzählt von Hans-Joachim Haake
www.tredition.de
© 2015 Hans-Joachim Haake
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-7323-4916-6
Hardcover
978-3-7323-4917-3
e-Book
978-3-7323-4918-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
„Pension Edeltraud“ stand auf dem kleinen Emailleschild an der Hauswand.
Es war bereits die dritte und leider auch letzte Adresse.
Tobias Blank war auf der Suche nach einer Bleibe für die nächsten Wochen. Obwohl er keine besonderen Ansprüche stellte, war er in mancherlei Hinsicht wählerisch.
Da der Ermittler einer nicht alltäglichen Beschäftigung nachging, musste die Unterkunft einige Mindestvoraussetzungen erfüllen. Zum einen war er gern allein, um über die Ereignisse des Tages in aller Ruhe nachzudenken. Aber zuweilen brauchte er auch einen neutralen Gesprächspartner, der ihn auf andere Gedanken brachte.
Blank hatte nämlich die Erfahrung gemacht, dass ihm die banalen Probleme seiner Mitmenschen dabei halfen, die eigene Bodenhaftung nicht zu verlieren.
Ob es auch diesmal erforderlich sein würde, musste sich erst noch herausstellen. Der neue Auftrag hatte Blank in eine Region verschlagen, die er bisher noch nicht besucht hatte. Die Stadt hieß Schüttorf, in der Grafschaft Bentheim und lag nahe der holländischen Grenze.
Da Blank einen Sonntag als Reisetag gewählt hatte, an dem nicht alle Züge fuhren, musste er zweimal umsteigen. Es machte ihm nichts aus, da er mit kleinem Gepäck zu reisen pflegte. Dass es Leute gab, die selbst für einen kurzen Wochenendausflug mit mehreren Koffern unterwegs waren, konnte Blank nicht nachvollziehen. Zu gern hätte er einmal nachgesehen, was die so alles von ihrem Hausstand mitzuschleppen hatten. Nur so aus reiner Neugier. Sein Gepäck bestand lediglich aus einer Reisetasche mit dem Allernotwendigsten.
Allerdings gehörten dazu auch einige Dinge, die leicht zu falschen Rückschlüssen hätten führen können. Um Missverständnissen oder gar Misstrauen entgegen zu wirken, hatte Blank diese Gegenstände in einem Geheimfach seiner Tasche vor neugierigen Blicken verborgen.
Was Blank sonst brauchte, beschaffte er sich kurzfristig. Und zwar erst dann, wenn es wirklich erforderlich wurde. Genauso schnell konnte er sich dieser Sachen wieder entledigen, wenn sie nicht mehr benötigt wurden. So hielt sich der Umfang des Gepäcks stets in einem überschaubaren Rahmen.
Ohne sich lange mit lästigem Packen von unnützen Dingen aufzuhalten, konnte Blank innerhalb von wenigen Minuten seinen Aufenthaltsort wechseln. Vor etwa vier Stunden war genau das geschehen. Blank hatte seinen bisherigen Aufenthaltsort in der Nordheide verlassen.
Gleich nach der Ankunft, hatte Blank am Bahnhof das örtliche Telefonbuch durchgesehen und anhand des Stadtplanes solche Pensionen ausgewählt, die in der Nähe seiner zukünftigen Arbeitsstelle lagen. Da die Auswahl nicht besonders üppig war, hoffte Blank, dass er bei dieser Adresse Erfolg haben würde.
Die ruhige Wohngegend, mit Einkaufsmöglichkeiten in unmittelbarer Nähe, erschien auf den ersten Blick vielversprechend zu sein. Allerdings waren solche Rahmenbedingungen nicht der ausschlaggebende Faktor bei der Quartiersuche. Kurz gesagt, musste die Chemie stimmen.
Erwartungsvoll drückte Blank auf den Klingelknopf.
Kopetzki stand darauf und man brauchte nicht viel Fantasie, um auch den Vornamen zu erraten.
Es dauerte geraume Zeit, bis eine ältere, hagere Frau, die Eingangstür öffnete.
Frau Kopetzki wirkte gehetzt.
Sie schaute den offensichtlich unerwarteten Besucher fragend an.
Ihr ernster, besorgt wirkender Gesichtsausdruck entsprach so gar nicht den tiefen Lachfältchen, die sich um ihre Augen eingegraben hatten.
Vielleicht kam er ungelegen oder die Frau hatte irgendeinen Kummer, dachte Blank. Er war sich aber nicht sicher.
Jedoch beruhigte ihn ein anderer Umstand.
Gleich, als die Frau die Tür geöffnet hatte, sagte ihm sein Gefühl, dass er sich mit dieser Person verstehen würde.
Hierbei konnte sich Blank auf seine gut ausgeprägte Menschenkenntnis verlassen. Diese sympathische Zuneigung hatte er bei den anderen Adressen nicht gespürt.
„Ich bin auf der Suche nach einem Zimmer“, sagte Blank kurz und knapp.
„Wie lange wollen Sie bleiben?“, fragte sie ebenso zielgerichtet.
Da Blank nicht genau wusste, wie lange ihn sein Auftrag hier festhalten würde, antwortete er: „Erst mal einen Monat, vielleicht auch länger.“
Der Gesichtsausdruck der Frau veränderte sich schlagartig.
Die Aussicht auf einen Dauergast schien sie angenehm zu überraschen.
Frau Kopetzki lächelte freundlich und bat Blank herein: „Kommen Sie bitte näher. Zurzeit habe ich keine Gäste. Sie können daher zwischen drei Zimmern auswählen.“
Blank folgte gern der Einladung, ging die drei Stufen hinauf und betrat den Flur.
Frau Kopetzki war vorausgeeilt. Von der Küchentür aus rief sie: „Entschuldigen Sie meine Eile, aber ich habe einen Kuchen im Ofen, der sofort raus muss.“
Deswegen wirkte sie so besorgt, dachte Blank. Er schloss die Eingangstür und folgte ihr bis zur Küche. Im Türrahmen blieb er stehen.
Die Hausfrau öffnete gerade die Ofenklappe. Ein Schwall warmer Luft ergoss sich in den Raum. Gleichzeitig erfüllte ein betörender Duft von Frischgebackenem die Küche.
Blank fühlte sich in seine Kindheit versetzt.
Er musste an seine Mutter denken.
Trotz der vielen Arbeit hatte sie immer etwas Zeit erübrigt, um mit ihm, besonders in der Vorweihnachtszeit, zu backen. Es war für den kleinen Jungen das Größte gewesen, die selbst ausgestochenen Butterplätzchen durch die Glasscheibe des Ofens zu beobachten, wie sie langsam Farbe bekamen. Voller Ungeduld musste er dann abwarten, bis das Gebäck so weit abgekühlt war, dass man es endlich in den Mund stecken konnte.
Beim Anblick des Kuchens, den Frau Kopetzki soeben auf den Untersetzer vor ihm auf dem Küchentisch abstellte, spürte Blank, genau wie damals, dass Wasser im Mund zusammenlaufen.
„Puh, das war knapp“, stöhnte Frau Kopetzki und zog sich die dicken Handschuhe aus.
„Es duftet sehr verlockend“, stellte Blank fest.
„Wenn Sie möchten, stelle ich Ihnen ein Stück Käsekuchen zurück. Für mein Kaffeekränzchen heute Nachmittag bleibt noch genug übrig.“
Blank nahm das Angebot dankend an.
Mit einem Topflappen in der rechten Hand löste Frau Kopetzki den Verschluss der runden Springform und sagte: „Nehmen Sie doch Platz. Jetzt habe ich mehr Zeit.“
Blank zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich. Dabei schweifte sein Blick in der Küche umher. Die für das Backen notwendigen Gerätschaften: Mixer, Küchenwaage, Rührschüssel, sowie eine angebrochene Tüte Mehl und die Schalen mehrerer Eier, lagen noch neben und in der Spüle herum.
„Kann es sein, dass wir uns schon einmal begegnet sind?“, fragte Frau Kopetzki und setzte sich, wobei sie den Besucher forschend ansah.
Das passierte Blank hin und wieder. Wildfremde Menschen sprachen ihn an, weil sie glaubten, ihn zu kennen oder meinten, ihn schon einmal gesehen zu haben. Nicht etwa, weil Blank einer bekannten Persönlichkeit ähnelte.
Ganz im Gegenteil.
Sein Erscheinungsbild war eher farblos ohne irgendwelche individuellen äußerlichen Besonderheiten. So wie der nette Nachbar von nebenan, den man jeden Tag sieht und im nächsten Augenblick schon wieder vergessen hat. Durch und durch uninteressant. Gerade dieser Anschein eines ganz normalen Durchschnittseuropäers verleitete manchen Betrachter dazu, Blank mit einem Bekannten zu verwechseln, weil er von jedem Menschen irgendwie etwas abbekommen zu haben schien.
In der Menge schien Blank völlig unterzugehen, beinahe so, als ob er unsichtbar wäre.
Dass diese unauffällige Erscheinung einmal für seine Tätigkeit von besonderem Nutzen sein würde, hätte sich Blank früher nicht vorstellen können. Heute war er froh darüber und nutzte es für sich aus.
Nur wenige Handgriffe genügten und Blank konnte sich mit Perücken, falschen Bärten oder einfach nur mit einer Brille, in eine andere Person verwandeln. Blank hatte diese Befähigung bis zur Vollkommenheit ausgebaut, wobei ihm sein schauspielerisches Talent und die Eigenschaft seine Stimme verstellen zu können, ebenfalls nützlich war.
Die überwiegende Zeit blieb er aber der natürliche Tobias Blank, so wie jetzt auch, als er Frau Kopetzki widersprach: „Ich bin das erste Mal in diesem Teil des Landes. Daher ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir uns schon einmal über den Weg gelaufen sind.“
„Es war auch nur so ein Gefühl,“ entschuldigte sich Frau Kopetzki, „irgendetwas hat mich wohl an einen Bekannten erinnert. Darf ich Sie dann fragen, was Sie in die Grafschaft geführt hat?“
Blank hielt es für angebracht so weit wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben.
„Mein Name ist Tobias Blank und ich bin auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz. Von Freunden habe ich gehört, dass hier die Aussichten dafür ganz gut sein sollen.“
„Es gibt hier zwar einige größere Unternehmen. Aber, ob dort neue Mitarbeiter gesucht werden, kann ich Ihnen nicht sagen. Wenn Sie wollen, kann ich mich gerne einmal umhören.“
Blank winkte ab und entgegnete: „Vielen Dank, aber das wird nicht notwendig sein. Ich habe bereits morgen ein erstes Vorstellungsgespräch.“
„Oh, da wünsche ich ihnen viel Erfolg.“
„Wenn ich mir dann die Zimmer ansehen könnte“, erinnerte Blank an den eigentlichen Grund seiner Anwesenheit.
„Natürlich. Wie ich schon sagte, können Sie zwischen drei Zimmern wählen. Alle mit getrenntem Wohn- und Schlafbereich, sowie einem Bad mit Toilette und Dusche. Das eine befindet sich gleich hier im ersten Stock. Die beiden anderen Appartements sind nebenan und durch separate Eingänge erreichbar.“
Blank war sofort angetan von dem Gedanken, eines der Zimmer nebenan zu nehmen. So konnte er vermeiden, der Frau ständig zu begegnen, falls es erforderlich sein würde, einmal ungesehen kommen und gehen zu müssen. Blank äußerte seinen Wunsch und Frau Kopetzki stand auf, um die entsprechenden Schlüssel zu holen.
Mit einem sehnsüchtigen Blick auf den noch immer dampfenden Kuchen folgte Blank der Frau. Seit dem Frühstück hatte er nichts mehr zu sich genommen und sein Magen erinnerte ihn daran, dass es Mittagszeit war.
„Wie sind sie eigentlich hergekommen?“, fragte Frau Kopetzki auf dem Weg nach nebenan.
„Mit dem Zug“, antwortete Blank und um die nächste Frage abzuwehren, ergänzte er: „Mein Gepäck befindet sich noch am Bahnhof in einem Schließfach.“
Es gehörte zu Blanks bevorzugter Arbeitsweise, erst am Einsatzort zu entscheiden, ob ein fahrbarer Untersatz erforderlich war. Einen PKW hatte Blank noch nie besessen. Wenn es notwendig erschien, mietete er einen Wagen. Wobei er darauf achtete, stets einen Autotyp auszuwählen, der seiner jeweiligen Tätigkeit entsprach. Trat er beispielsweise als einfacher Arbeiter auf, so war es sicherlich nicht angebracht, mit einer Luxuslimousine vorzufahren. Es würde nicht zu der Rolle passen, die er darstellte. Mit einem entsprechenden Auto als Statussymbol konnte man erfahrungsgemäß relativ einfach den Eindruck erwecken, der landläufig mit einer bestimmten Berufsgruppe in Verbindung gebracht wird.
Falls sich Blank für diese Unterkunft entscheiden würde, und alle Umstände sprachen bisher dafür, so wäre sein zukünftiger Arbeitsplatz etwa zwei Kilometer entfernt. Gerade noch im zumutbaren Bereich, um zunächst auf ein Auto verzichten zu können.
Während der Wohnungsbesichtigung erklärte Frau Kopetzki, dass die früheren Nachbarn vor einigen Jahren ausgezogen waren. Ihr Mann und sie hatten daraufhin die Haushälfte gekauft. Da sie kinderlos geblieben waren, hatten sie beschlossen Fremdenzimmer einzurichten, um von den Mieteinnahmen ihren Lebensabend zu bestreiten. Leider hatte ihr Mann nicht mehr viel davon gehabt, denn vor zwei Jahren war er ganz überraschend gestorben. Ihre Witwenrente reichte zwar gerade so aus, um selbst über die Runden zu kommen. Aber für die Erhaltung des Doppelhauses war sie auf die Mieteinnahmen angewiesen, denn ihre Ersparnisse waren für den Hauskauf aufgebraucht worden.
Bereits nach wenigen Minuten hatte Blank seine Entscheidung getroffen. Der untere Bereich dieser Doppelhaushälfte sollte für die nächsten Wochen sein neues Domizil werden.
Frau Kopetzki schien sehr glücklich darüber zu sein und machte auch keinen Hehl daraus. Etwas verlegen schaute Blank aus der Wäsche, als die Vermieterin noch ein Angebot unterbreitete: „Wenn Sie möchten, können Sie neben dem Frühstück auch die anderen Mahlzeiten bei mir bekommen.“
Blank wollte sich in diesem Punkt noch nicht festlegen, bedankte sich aber für das überaus freundliche Angebot.
Seine neue Wirtin übergab Blank die Hausschlüssel und verabschiedete sich.
In aller Ruhe inspizierte Blank die Räumlichkeiten. Was ihm sofort angenehm auffiel, war der direkte Zugang zum Garten. Eine gläserne Schiebetür im Wohnzimmer, durch einen Vorhang verdeckt, führte unmittelbar hinter das Haus. Ansonsten entsprach die Einrichtung vollauf seinen Ansprüchen. Damit war die wichtigste Aufgabe, die sich Blank für den heutigen Tag vorgenommen hatte, erledigt.
Zufrieden machte er sich auf den Weg zum Bahnhof, um die Reisetasche zu holen. Der Weg dorthin erschien ihm wesentlich kürzer zu sein. Das mochte daran liegen, das Blank nicht mehr suchend umherschauen musste. In der Nähe des Bahnhofs lockte ein Imbissstand mit frischer Bratwurst vom Holzkohlegrill. Blank nutzte die Gelegenheit für eine Zwischenmahlzeit, bevor er zum Schließfach ging.
Nach dem warmen und trockenen Sommer sollte der vor der Tür stehende Herbst, wenn man den Vorhersagen glaubte, ebenso schön werden. Blank vertraute den Prognosen und hatte dementsprechend nicht viel Kleidungsstücke eingepackt. Wäsche zum Wechseln und eine strapazierfähige Arbeitsmontur sollten fürs Erste reichen.
Der Rückweg zu seiner neuen Unterkunft dauerte etwas länger, da Blank einen Umweg machte, um sich den morgigen Weg zur Arbeit einzuprägen. Der Betrieb, der seinen Tagesablauf zukünftig bestimmen würde, lag im Gewerbegebiet von Schüttorf. Es handelte sich um eine Spedition, bei der sich Blank für einen Aushilfsjob im Lager vorstellen sollte. Er war sehr gespannt darauf, was ihn da erwarten würde.
Das Blank in immer neue Identitäten schlüpfen musste, war in seiner ungewöhnlichen Tätigkeit begründet. Als Mitbetreiber einer Detektei war Blank auf verdeckte Ermittlungen spezialisiert. Seine Hilfe wurde meistens dann angefordert, wenn der Verdacht bestand, dass Betriebsangehörige in Zwielichtige Geschäfte verwickelt sein könnten. Getarnt als Mitarbeiter, mit den bereits erwähnten besonderen Eigenschaften, war es für Blank vergleichsweise einfach möglich, unauffällig nach den Ursachen von Unregelmäßigkeiten innerhalb einer Firma zu suchen.
Warum er so gespannt darauf war, was ihn in Schüttorf erwarten würde, ist ganz einfach erklärt: Blank wusste nicht, aus welchem Grund die Spedition Holterberg die Dienste der Detektei angefordert hatte. Es mochte auf den ersten Blick etwas merkwürdig erscheinen, so ganz ohne konkreten Anfangsverdacht Ermittlungen aufzunehmen. Aber diese Vorgehensweise hatte durchaus Methode. Denn nur so konnte er unvoreingenommen nach eventuellen Schwachstellen ausschauen. Oftmals war es für einen Außenstehenden eher möglich, objektiv die Betriebsabläufe zu betrachten, um so auf Anomalien aufmerksam zu werden.
Die „Methode Blank“, wie sein Freund Miko die Herangehensweise gern bezeichnete, kam Blanks Fähigkeiten sehr entgegen. Denn aufgrund seines unscheinbaren Auftretens und seiner charismatischen Ausstrahlung gelang es Blank problemlos, das Vertrauen der Kollegen zu gewinnen. Allein diese Wesenszüge reichten selbstverständlich nicht aus, um Betrügereien auf die Schliche zu kommen. Dazu gehörte auch Blanks untrüglicher Instinkt für Heimlichkeiten. Wann immer jemand versuchen wollte, ihn hinters Licht zu führen, erwachte dieser Spürsinn und dann konnte Blank zu einem ernst zu nehmenden Gegner werden.
Wo und wann Blank seine Spürnase einsetzte, koordinierte sein Freund und Partner Miko. Eigentlich hörte er ja auf den Namen Maximilian Mikolajusewitsch. Aber, diesen Namen konnte kaum jemand fehlerfrei aussprechen, deshalb wurde er kurz Miko genannt. Also, dieser Freund, war der Initiator, das Rückgrat und der Motor - kurzum der Chef, einer landesweit operierenden Detektei.
Da sich Miko mehr und mehr den organisatorischen Aufgaben zugewandt hatte, übernahm Blank die besonders heiklen Fälle.
Dass die Freunde Geschäftspartner waren, wusste allerdings keiner der Mitarbeiter. Innerhalb der Detektei trat Blank als normaler Kollege und Mitarbeiter auf. Dieses Verhalten hatte einen ganz besonderen Grund. Denn es gab ein Geheimnis, dass die Männer verband. Es war ihr äußeres Erscheinungsbild. Sie waren sich zum Verwechseln ähnlich. Mehr noch, sie hätten sich als eineiige Zwillinge präsentieren können, obwohl sie nicht miteinander verwandt waren.
Dieser außergewöhnliche Umstand hatte bei den Mitarbeitern schon mehrfach für Unruhe gesorgt und Miko einen legendären Ruf eingebracht. Manche behaupteten sogar, dass der Chef die Fähigkeit besaß, an zwei Orten gleichzeitig zu erscheinen.
Das war natürlich kein Selbstzweck oder gar lustig. Als Berater in Sicherheitsfragen waren die Freunde darauf bedacht, den eigenen Laden sauber zu halten und vor schwarzen Schafen zu schützen. Deshalb tauchten Blank und Miko gelegentlich an getrennt liegenden Orten auf, um die Mitarbeiter unangemeldet zu kontrollieren. Nur wenn sie gemeinsam in Erscheinung traten, musste sich einer jeweils verkleiden. Meistens traf es Blank und deshalb hatte er im Geheimfach seiner Reisetasche stets einige entsprechende Utensilien dabei.
Damit ihr Geheimnis so lange wie möglich unentdeckt bleiben konnte, war Blank als Einzelkämpfer unterwegs. Denn ein weiterer Geschäftszweig der Detektei waren verdeckte Ermittlungen in fast allen Bereichen der Wirtschaft. Wenn es darum ging, ungewöhnliche Vorkommnisse zu untersuchen wurde Miko gerufen. Er knüpfte die ersten Kontakte zu den Auftraggebern und verabredete die Einsatzmodalitäten. Erst dann kam auch Blank ins Spiel.
Doch bevor er einen Auftrag übernahm, wollte er sich ein eigenes Bild machen. Das war die einzige Bedingung, die Blank mit Miko vereinbart hatte. Bisher waren sie gut damit gefahren und genauso waren sie auch jetzt vorgegangen. Nur Miko wusste, was in der Spedition Holterberg vorgefallen war.
Blank musste erst seine Spürnase in den Wind halten, um festzustellen, wo es in dieser Firma stinkt. Er liebte solche Herausforderungen und freute sich auf den morgigen Tag.
Für die erste Kontaktaufnahme kannte Blank nur den Namen eines Mitarbeiters, bei dem er sich vorstellen sollte. Alles Weitere würde sich dann ergeben. Ach ja, einen Hinweis hatte Blank von Miko erhalten. Irgendwann hatte der Freund damit begonnen, Blank stets einen Spruch mit auf den Weg zu geben. Kein konkreter Ermittlungsansatz, nur ein Tipp, den es zu entschlüsseln galt. Diesmal lautete er:
Wie durch Zauberhand verschwinden Dinge durch die Wand.
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Frau Kopetzki hatte zum Frühstück alles aufgetischt, was ihre Küche hergab. Es hätte locker für vier Personen gereicht. Obwohl Blank ein ausgiebiges Frühstück zu schätzen wusste, fühlte er sich bei der Menge von Leckerbissen überfordert. Nach seiner obligatorischen zweiten Tasse Kaffee gab Blank auf und was da noch vor ihm auf dem Tisch stand, schien sich überhaupt nicht verringert zu haben.
Offenbar hatte sich die Frau vorgenommen dafür zu sorgen, dass Blanks schmächtiger Körper in den nächsten Wochen einige Pfunde mehr auf die Rippen bekam.
Nur gut, dass noch ein ordentlicher Fußmarsch vor ihm lag, dachte Blank, und bevor seine Wirtin auf die Idee kommen könnte, eventuell noch etwas aufzutragen, verließ er das Haus.
Aufgrund des gestrigen Rundgangs kannte Blank den Weg und zielstrebig durchquerte er die ruhige Stadtrandsiedlung. Die Zufahrtsstraße zum Gewerbegebiet führte in einem leichten Bogen stetig bergauf. Beiderseits der Straße waren Schrebergärten angesiedelt. Hohe Büsche an der Straßenseite versperrten die Sicht auf die Laubenkolonie. Offensichtlich war dieses Areal, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Gewerbegebiet, nicht attraktiv genug für Häuslebauer, dachte Blank. Wie zur Bestätigung donnerte in diesem Moment ein Lastwagen mit Anhänger an ihm vorbei und wirbelte eine Staubwolke auf.
Sein Treff war um sieben Uhr, bei einem gewissen Herrn Liefke.
Mit ausladenden Schritten ging Blank dieser Verabredung entgegen. Zwischen einigen hohen Pappeln hindurch, waren die Dächer von zwei größeren Gebäuden zu erkennen. Kurz bevor Blank die Baumreihe erreichte, hörte er ein Geräusch hinter sich. Das Klappern der Schutzbleche hätte eigentlich schon ausgereicht, um auf sich aufmerksam zu machen, trotzdem betätigte der Radfahrer noch eine Fahrradklingel.
Blank trat einen Schritt zur Seite.
Der keuchende Radfahrer trampelte vorbei. Er hatte es augenscheinlich eilig, sodass Blank die Person auf dem Sattel nicht näher betrachten konnte. Von hinten fiel nur die leuchtend rote Strickmütze auf. Ohne sich umzusehen, kurvte der Mann um die Bäume herum und war im nächsten Augenblick außer Sicht.
Ein weiteres Fahrzeug kam die Straße herauf und Blank beschleunigte seine Schritte.
Um nicht noch einmal eingestaubt zu werden, ging er rasch an den Bäumen vorbei und betrat einen großflächig gepflasterten Platz.
Linker Hand wurde der Platz von einer Tankstelle begrenzt. Daneben und dahinter parkten mehrere Lastwagen.
Offenbar ein Rasthof, vermutete Blank.
Sein Interesse galt allerdings mehr den zwei Gebäuden an der rechten Seite. Das Erste, umgeben von einem Maschendrahtzaun, beherbergte einen Gemüsegroßhandel, wie ein Schild an der Einfahrt anzeigte.
In der Nähe der holländischen Grenze eigentlich kein Wunder, dachte Blank. Holland war schließlich als Exportland von allerlei Grünzeug bekannt.
Blank setzte seinen Fußmarsch fort und erreichte das nächste Gebäude, dessen Stirnseite aus dunkelgrauen Backsteinen bestand. Zwischen steinernen Pfeilern, an der Vorderfront der lang gestreckten Halle, erkannte Blank drei massive Schiebetore. Vor den Toren befand sich eine überdachte Laderampe. An beiden Seiten jeweils eine Treppe. Der Hof war groß genug, um Lkws rückwärts an die Rampe fahren zu lassen. Ein Lastzugfahrer war auch gerade dabei den Anhänger von der Zugmaschine abzukuppeln.
Blank musste in einem weiten Bogen um das Fahrzeug herum gehen. Dabei schaute er auf das flache Dach der Halle. Ein Schild zeigte an, dass er sein Ziel erreicht hatte.
Dieses Gebäude gehörte zur Spedition Holterberg.
Als die ersten Sonnenstrahlen über den Pappeln aufblitzten, betrat Blank die Treppe und ging hinauf auf die Rampe. Das erste Schiebetor war einen Spaltbreit geöffnet und Blank trat hindurch. Sein erster Eindruck wurde bestätigt. Er befand sich in einer Lagerhalle. Der Raum wurde durch eine schmale Fensterreihe unter dem Dach nur notdürftig erhellt. In dem Dämmerlicht waren nur die Konturen von unzähligen Kartons, Kisten, Fässern und sonstiger Waren zu erkennen.
Angelockt von einem schwachen Lichtschimmer ging Blank weiter in die Halle hinein. Der Lichtschein kam aus einer einfachen Holzbaracke an der linken Wand. Die Bude diente offensichtlich als Büro, wie Blank feststellen konnte, als er durch die schmutzige Scheibe hinein sah. Im matten Licht einer Schreibtischlampe konnte er einen Stapel Papiere in der Mitte eines hölzernen Schreibtisches erkennen.
Vom Büroinhaber war jedoch nichts zu sehen. Das primitive Geschäftszimmer war genauso menschenleer, wie die ganze Lagerhalle.
Blank warf einen Blick auf seine Armbanduhr: drei Minuten vor sieben Uhr.
Die trügerische Ruhe währte nicht lange.
Eine Tür wurde zugeschlagen. Beinahe gleichzeitig wurde es taghell in der Halle. Unwillkürlich schaute Blank an die Decke. Zwischen der eisernen Stützkonstruktion konnte er eine Reihe Neonröhren dabei beobachten, wie eine nach der anderen kurz flackerte und dann hell erstrahlte.
Hinter der Bürobaracke musste es noch einen Zugang zur Halle geben, dachte Blank gerade, als ein grauhaariger Mann um die Ecke kam. Er trug einen abgetragenen dunkelgrauen Kittel.
So selbstbewusst, wie die Person auf ihn zu kam, konnte es sich nur um den Lagermeister Johann Liefke handeln, war sich Blank sicher.
Der misstrauische Blick, mit dem der Ältere den Fremden ansah, war nicht zu übersehen. Das änderte sich nur unwesentlich, als sich Blank vorstellte.
Ohne mit der Wimper zu zucken, ließ Blank die gründliche, kritisch prüfende Musterung, über sich ergehen. Dass er mit seiner schmächtigen Figur nicht gerade dem Musterexemplar eines Lagerarbeiters entsprach, darüber war sich Blank durchaus bewusst. Doch was ihm an Muskelkraft fehlte, konnte er durch Ausdauer und Zähigkeit wieder wettmachen. Es gab einige Zeitgenossen, die es bitter bereut haben, dass sie Blanks Fähigkeiten unterschätzt hatten.
Der Lagermeister schien seine Begutachtung abgeschlossen zu haben. Mit welchem Ergebnis war allerdings aus dem Gesicht nicht abzulesen.
„Na schön, Herr Blank. Dann wollen wir mal sehen, was Sie zu leisten imstande sind“, sagte der Kittelträger ohne irgendwelche Anzeichen von Emotionen.
Offensichtlich war der Mann jemand, die nicht vorschnell ein Urteil über andere Personen fällte, dachte Blank.
„Vor der Halle wartet bereits ein LKW, der abgeladen werden muss. Öffnen Sie das mittlere Tor und dann kann es losgehen.“
Blank nickte zur Bestätigung und wandte sich wortlos um. Auf dem Weg zum Tor blickte Blank über die Lagerwaren. Zu seiner Überraschung sah er am anderen Ende der Halle eine rote Mütze. Der Besitzer war zweifellos der Radfahrer von vorhin. Er hatte seinen fahrbaren Untersatz gewechselt und saß jetzt auf einem Gabelstapler. Mit traumwandlerischer Sicherheit lenkte der hagere Bursche das Gefährt an den Kistenstapeln und Stützpfeilern vorbei, ohne anzuecken.
Offenkundig legte man hier im Lager mehr Wert auf Geschicklichkeit als auf Körperkraft, dachte Blank ermutigt und wandte sich seinem Auftrag zu.
Die Lagertore waren an den Innenseiten mit einem eisernen Haken gesichert. Wie ihm aufgetragen worden war, entriegelte Blank das Mittlere. Am Boden befand sich eine Führungsschiene und oben waren die Schiebetore auf Rollen gelagert. Dadurch konnte das solide Tor mühelos bewegt werden.
Auf der Rampe wartete bereits der Lkw-Fahrer, den Blank vorhin beim Abkuppeln gesehen hatte.
„Wird auch Zeit, dass ihr endlich aufwacht“, sagte der Mann vorwurfsvoll.
Er machte einen gehetzten Eindruck.
Blank nahm ihm die Bemerkung nicht übel, wusste er doch, dass die Fahrer im Transportgewerbe stets unter Zeitnot standen.
Rotmütze brachte mit dem Gabelstapler einige leere Paletten, stellte sie auf der Rampe ab und war im Nu wieder weg. Der Fahrer begann sofort seine Ladung, welche aus handlichen Kartons bestand, darauf zu stapeln. Wortlos packte Blank mit an. Die Kartons waren nicht sehr groß, aber ziemlich schwer. Laut Beschriftung bestand der Inhalt aus jeweils sechs Einliterdosen Lackfarbe.
Innerhalb einer halben Stunde waren fünf Paletten vollgepackt.
Der Lagermeister erschien wie aus dem Nichts auf der Rampe. Offensichtlich hatte er aus seinem Bürofenster beobachtet, wie sich der Neue angestellt hatte, vermutete Blank.
Der erste Einsatz als Lagerarbeiter war beendet.
Blank fühlte sich geschafft, aber zuversichtlich, dass er sich ganz passabel geschlagen hatte.
Der Fahrer bedankte sich bei Liefke, als der den Lieferscheindurchschlag abgezeichnet zurückgab.
Rotmütze kam mit dem Stapler angebraust, nahm die erste Palette auf die Gabeln und hob sie etwas an. Mit einer schnellen Drehung am Lenkradknauf wurde das Transportgerät gewendet und verschwand in der Halle.
Blank stand mit dem Rücken an den Torpfeiler gelehnt und krempelte die Ärmel um.
Liefke forderte Blank auf, mit ins Büro zu kommen.
„Schon mal in einer Spedition gearbeitet?“, fragte er unterwegs.
Nach der Praktischen, also die theoretische Prüfung, dachte Blank und antwortete: „In einer Spedition noch nicht. Aber einige Erfahrung in der Lagerarbeit konnte ich bereits sammeln.“
Tatsächlich hatte Blank in der Vergangenheit bereits im Lagerbereich Ermittlungen durchgeführt und ohne zu viel über seine bisherigen Arbeitgeber zu verraten, erläuterte Blank dem aufmerksam zuhörenden Lagermeister, seine bereits erworbenen Kenntnisse. Das Blank auch mit den im Lagerbereich obligatorischen Gerätschaften, wie Gabelstaplern und Kränen umgehen konnte, machte allerdings nicht sonderlich viel Eindruck.
Im Büro setzte sich der Lagermeister gleich an seinen angestammten Platz hinter den Schreibtisch. Für Blank blieb ein alter Holzstuhl als Sitzgelegenheit. Mit kurzen, knappen Sätzen erklärte Herr Liefke die Aufgaben einer Spedition: Neben dem Transport von Waren und Gütern aller Art hatte sich die Firma Holterberg auch als Empfangsspediteur etabliert. Aus dem gesamten Bundesgebiet und bevorzugt von den Nordseehäfen wurden die Waren per Lkw angeliefert, sortiert und zwischengelagert, um dann mit kleineren Fahrzeugen an die Empfänger in der näheren Umgebung ausgeliefert zu werden. Die zu transportierenden Güter wurden im Nahverkehr auch Rollgut genannt und das Entgelt für den Transport als Rollgeld bezeichnet.
Oberstes Ziel war es, die Waren so schnell wie möglich umzuschlagen, damit die Kapazität des Lagers nicht überschritten wurde und die Kunden nicht zu lange auf ihre bestellten Lieferungen warten mussten.
Während des Vortrages war Blank aufgefallen, dass Herr Liefke seinen Kopf immer etwas zur Seite gedreht hatte. Nicht besonders auffällig, aber einem aufmerksamen Beobachter wie Blank, war es nicht entgangen.
Abrupt beendete der Lagermeister seine Erklärungen mit den Worten: „Und noch eins! Damit wir uns gleich richtig verstehen, Saufen und Qualmen dulde ich hier nicht. Da verstehe ich keinen Spaß.“
„Kein Problem“, entgegnete Blank wie aus der Pistole geschossen.
„Gut. Alles was Sie sonst noch wissen müssen, werde ich Ihnen erklären, wenn es so weit ist.“
Aus dem Stapel Papiere, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, fischte Herr Liefke drei Lieferscheine heraus, übergab sie Blank und erklärte ihm seine nächste Aufgabe.
Damit war er bis auf Weiteres entlassen.
Allzu viel hatte er nicht erfahren, dachte Blank beim Verlassen des Büros. Insbesondere, worin sein eigentlicher Auftrag bestand, war er nicht einen Deut nähergekommen. Aber, das würde sich schon noch ergeben, beruhigte sich Blank, schließlich hatte der Arbeitstag gerade erst begonnen.
Seine nächste Aufgabe erschien ihm nicht besonders schwierig zu sein. Die soeben angelieferten Farben mussten sortiert werden, da sie an drei verschiedene Empfänger ausgeliefert werden sollten. Wäre das beim Abladen schon bekannt gewesen, hätte man die Kartons gleich nach Empfängern sortiert, auf die Paletten packen können. So musste jeder Karton nochmals in die Hand genommen werden. In dieser Hinsicht gab es also durchaus noch Verbesserungsmöglichkeiten bei der Arbeitsorganisation, stellte Blank fest und nahm sich vor, das bei passender Gelegenheit dem Lagermeister gegenüber zu erwähnen.
In der für ihn noch unübersichtlichen Halle brauchte Blank eine Weile, bis er den Platz fand, wo Rotmütze die Paletten abgestellt hatte. Es steckte bestimmt ein System dahinter, allerdings war Blank noch nicht darauf gekommen. Die Lagerflächen zwischen den Pfeilern entsprachen der doppelten Palettenbreite. Dazwischen war der Weg frei für den Gabelstapler. An den Pfeilern sah Blank Schilder hängen, welche auf verschiedene Firmen und Städte im Umkreis hinwiesen. Noch sagte ihm das nichts.
Bei der Vielzahl von Gütern erschien es Blank fast unmöglich zu sein, den Überblick zu behalten. Noch unwahrscheinlicher kam es ihm vor, dass nur zwei Leute den Warenumschlag bewerkstelligen sollten. Blank kam zu dem Schluss, dass es noch weitere Mitarbeiter geben musste, und widmete sich seiner Aufgabe.
Anhand der farblichen Kennzeichnung war es zwar kein Problem die Kartons den jeweiligen Empfängern zuzuordnen, aber es brauchte eine geraume Zeit, bis Blank die fünf Paletten durchgesehen und neu sortiert hatte. Zu guter Letzt überprüfte er noch, ob die Anzahl der Kartons mit den Angaben auf den Lieferscheinen übereinstimmte. Er versäumte auch nicht zu vermerken, dass einer der Kartons beschädigt war. Danach ging Blank zum Büro.
Da der Raum leer war, legte Blank die Transportdokumente mitten auf den Schreibtisch, sodass sie der Lagermeister bei seiner Rückkehr nicht übersehen konnte.
Ein schreckhafter Mensch wäre vermutlich zusammengezuckt, doch Blank drehte sich nur neugierig um.
Jemand hatte ihm auf die Schulter getippt.
Bisher hatte er Rotmütze nur flüchtig und aus der Entfernung gesehen. Nun blickte Blank in ein freundlich lächelndes, mageres und von Sommersprossen übersätes Gesicht. Unter der roten Strickmütze lugten ein paar blonde Locken hervor. Das Alter des Kollegen dürfte irgendwo zwischen 30 und 40 Jahren liegen, schätzte Blank.
Auch Rotmütze musterte sein Gegenüber.
Dann erschrak Blank doch etwas.
„Grom mi“, stotterte Rotmütze plötzlich. Es klang gequält und er verzog dabei sein Gesicht zu einer Grimasse.
Blank verstand nur Bahnhof, denn offensichtlich hatte der Mann Probleme damit, sich zu artikulieren.
Der Gabelstaplerfahrer lächelte wieder und streckte Blank die Hand entgegen. Intuitiv ergriff Blank die Hand. Ganz offensichtlich war er dem Kollegen sympathisch und auch Blank war nach dem ersten Schreck durchaus angenehm überrascht.
Auch wenn Blank nicht verstand, was Rotmütze ihm mitzuteilen versuchte, die Geste war eindeutig. Blank sollte ihm folgen.
Gemeinsam gingen sie aus dem Büro in das Lager. Wie Blank richtig vermutet hatte, gab es hinter der Baracke eine Tür. Rotmütze führte Blank durch einen Gang. Von den zwei Türen, die sich hier befanden, wähle sein Führer die Rechte aus.
Der fensterlose Raum, den sie betraten, war mir einem länglichen Tisch und mehreren einfachen Holzstühlen möbliert. Das milchig-gelbe Licht der Deckenlampe spiegelte sich auf einer Reihe von fünf Blechspinden gegenüber der Eingangstür.
Rotmütze ging zielstrebig zu einem kleineren Tisch an der rechten Wand. Darauf standen, neben mehreren leeren Flaschen, eine Kaffeemaschine und eine Tasche.
Blank brauchte erst ein paar Atemzüge, um sich an den etwas eigentümlichen Geruch von Öl, Schweiß und abgestandener Luft zu gewöhnen.
Sein Kollege nahm die Tasche, setzte sich auf den erstbesten Stuhl und begann den Inhalt auszupacken: eine Thermoskanne und ein Paket mit belegten Broten.
Blank schloss die Tür und trat weiter in den Raum hinein. Jetzt konnte er auch den Getränkeautomaten sehen, der verdeckt hinter der Tür stand. Der rote Metallkasten nahm die Hälfte der Wand ein. In weißen geschwungenen Buchstaben konnte man den Namen eines weltweit bekannten Erfrischungsgetränkeherstellers lesen.
Unwillkürlich verspürte Blank ein Durstgefühl.
Hunger hatte er noch nicht nach dem umfangreichen Frühstück. Ein kühles Getränk wäre jetzt aber ganz nach seinem Geschmack. Blank schaute sich die Auswahl an, während er aus seiner Geldbörse etwas Kleingeld herausnahm. Als die Münzen in dem Geldschlitz verschwunden waren, drückte Blank einen der Auswahlknöpfe. Insgeheim hoffte er, dass hier auch regelmäßig nachgefüllt wurde, denn sein trockener Gaumen war bereit für eine Erfrischung.
Nach einigen undefinierbaren Geräuschen im Inneren des Automaten polterte eine Flasche in das Ausgabefach. Blank suchte nach einem Flaschenöffner und entdeckte die entsprechende Vorrichtung an der rechten Seite des Automaten. Durch die Kohlensäure begann der Inhalt der Flasche zu sprudeln, und noch bevor die dunkle Flüssigkeit den Flaschenhals erreicht hatte, setzte Blank die Öffnung an die Lippen. Er ließ einen großen Schluck durch seine Kehle rinnen und genoss das Prickeln des kühlen Getränks.
So vom Durst erlöst setzte sich Blank zu Rotmütze an den Tisch und nahm noch einen Schluck. Der Stuhl war zwar unbequem, trotzdem war Blank froh über die Ruhephase nach den ersten Anstrengungen des Tages.
Der Schmalgesichtige kaute gedankenverloren an einem Happen von seiner Wurststulle und sah den neuen Kollegen freundlich nichtssagend an.
Blank war unentschlossen und dachte, lieber schweigen, als etwas falsches sagen.
Rotmütze schien auch keine Lust auf ein Gespräch zu haben. Er schluckte den letzten Bissen seines Frühstücks herunter und griff nach dem Kaffeebecher auf dem Tisch.
Bald war es Blank doch unheimlich und er wollte den Kollegen ansprechen, da hörte er Schritte auf dem Flur.
Rotmütze nahm keine Notiz davon. In aller Ruhe öffnete er den Deckel der Thermoskanne und füllte den Becher mit dampfendem Kaffee.
Langsam kam Blank das Verhalten merkwürdig vor.
Schwungvoll wurde die Zugangstür zum Aufenthaltsraum geöffnet.
Neugierig drehte Blank seinen Kopf herum.
Erst jetzt zeigte Rotmütze eine Reaktion. Aus den Augenwinkeln sah Blank ein sorgloses Lächeln über das Gesicht seines Tischnachbarn huschen. Offenbar kannte er den Mann.
Für Blank war die Person unbekannt und Furcht einflößend.
Die riesige Gestalt des Mannes füllte den Türrahmen fast vollständig aus. Und das nicht nur in der Breite, sondern auch in der Höhe, wobei der Hüne den Kopf einziehen musste.
Der Mann trug eine blaue Latzhose, mit breiten Trägern und einem Reißverschluss auf der Brust. Es musste sich um eine Sonderanfertigung handeln, dachte Blank unwillkürlich. Denn er konnte sich nicht vorstellen, dass man diese Konfektionsgröße von der Stange kaufen könnte.
Obwohl Blank schon einigen groß gewachsenen Personen über den Weg gelaufen war, so einem wuchtigen Exemplar war er noch nicht begegnet. Trotzdem musste der erste Eindruck korrigiert werden.
Von diesem Riesen ging nichts Bedrohliches aus.
Eher im Gegenteil.
Mit den kurz geschorenen Haaren und den dunklen Bartstoppeln wirkte der Hüne wie ein zu groß geratener Teddybär. Der rundliche Kopf saß auf einem Stiernacken und die kleinen grünen Knopfaugen schauten irgendwie lustig aus dem Gesicht. All das erfasste Blank, als der Mann weiter in den Raum trat und den Kopf aufrichtete.
„Ich glaube, du sitzt auf meinem Platz“, dröhnte ihm die laute sonore Stimme des Goliaths entgegen.
Diese provokative Ansage brachte Blanks Eindruck ins Wanken. Als der riesenhafte Mann einen Schritt näherkam und drohend seine Hände an den Hüften abstützte, spürte Blank doch ein etwas mulmiges Gefühl in der Magengegend.
Er ließ sich allerdings nichts anmerken. Unbeeindruckt richtete Blank seinen Kopf nach oben und schaute dem Mann in die Augen. Sein Blick hatte ihn verraten, denn es war deutlich abzulesen, dass die drohend klingende Äußerung nicht ernst gemeint sein konnte.
Dass sein Auftritt nicht die erwartete Wirkung hervorgerufen hatte, schien den Riesen zu irritieren, glaubte Blank in dessen Gesicht abzulesen. Er hoffte inbrünstig, dass er sich in seiner Einschätzung nicht geirrt hatte. Denn mit den zwei annähernd klodeckelgroßen, schwieligen Händen, die an behaarten Armen von den breiten Schultern herunter hingen, wollte Blank keine Bekanntschaft machen.
Fast wie eine Erlösung erklang jetzt eine heiser klingende, krächzende Stimme: „Du brauchst keine Angst zu haben. Er will nur spielen.“
Hinter dem Hünen trat eine zweite Person hervor.
Blank musste all seine Beherrschung aufbringen und sich das Lachen verkneifen.
Gemessen an Blanks schmächtiger Statur, war dieser Mann zwar einen Kopf kleiner, dafür aber fast doppelt so breit. Dennoch erschien die Gestalt neben dem Riesen eher zwergenhaft. Wegen der geringen Größe wirkte die Figur des Mannes wie von einer mächtigen Presse zusammengedrückt. Der gedrungene Körperbau passte in den Proportionen nicht so recht zusammen. Die muskulösen Arme schienen übergangslos aus den Schultern zu wachsen, reichten beinahe bis zu den Knien und die relativ kleinen Hände wirkten wie aufgesteckt.
Das bartlose Gesicht war leicht gerötet. Der Kleine trug eine abgenutzte, flache Schirmmütze, unter der nicht der Ansatz einer Haarlocke auszumachen war.
Was Blank so amüsant fand, war der Umstand, dass der gnomenhaft wirkende Mann wie eine Miniaturausgabe des Größeren aussah. Das lag zweifellos daran, dass sie gleichartige Latzhosen trugen.
Für Rotmütze schien das Auftauchen der zwei Männer völlig normal zu sein. Gleichgültig biss er ein Stück von seinem Brot ab und kaute genüsslich weiter.
Das konnte nur bedeuten, dass die zwei Ankömmlinge hierher gehörten, dachte Blank.
Der Kleinere kam weiter in den Raum, trat an den Tisch und streckte Blank die rechte Hand entgegen.
„Hallo, mein Junge. Ich bin Horst Kullmann, Fahrer im Nahverkehr in diesem Laden.“
Dann deutete er mit dem Kopf nach hinten und sagte: „Mein kleiner Freund, heißt Karl-Heinz Grün - und du kannst ruhig sitzen bleiben.“
Der ganze Körper des kleinen Horst Kullmann erzitterte und sein schallendes Gelächter erfüllte den Raum.
Blank ergriff die dargebotene Hand und stellte sich ebenfalls vor: „Ich bin der Neue im Lager und heiße Tobias Blank.“
Während der Begrüßung war Karl-Heinz Grün um den Tisch gegangen, hatte sich neben Rotmütze gesetzt und legte jetzt seine riesige Pranke auf die Schulter des Kollegen.
„Und das ist unser gemeinsamer Freund Manni“, sagte der Hüne und lächelte Rotmütze an.
Sein Gesicht wirkte völlig entspannt und die vielen Lachfältchen bewiesen Blank, dass der Riese eben nur etwas angegeben hatte.
Horst Kullmann setzte sich auf den Stuhl neben Blank und erklärte: „Eigentlich heißt unser Freund Manfred Bollmann. Aber alle rufen ihn nur Manni.“
Wieder wollte sich Horst Kullmann ausschütten vor Lachen, über seinen vermeintlichen Witz, den Blank leider nicht verstand.
„Mach dich nicht wieder lustig über den armen Burschen“, tadelte Karl-Heinz Grün seinen Kollegen.
Diesmal bemerkte Blank den drohenden Unterton, der dabei mitschwang.
„Du hast ja recht, Kalle. Es tut mir leid“, entschuldigte sich Horst Kullmann.
Blank schaute verwirrt.
Der Kollege ging aber nicht näher darauf ein.
Stattdessen sagte er an Rotmütze gerichtet: „Wird auch Zeit, dass unser Manni endlich Hilfe im Lager bekommt. Oder was meinst du?“
Rotmütze hieß also Manni, speicherte Blank den Namen ab.
Manni nickte heftig mit dem Kopf und lächelte Horst Kullmann an.
„Wahrscheinlich hast du es schon gemerkt“, sagte Kullmann zu Blank: „Manni ist taubstumm. Rufen ist also zwecklos. Verstehste!“
Kullmann spielte auf seine Äußerung von eben an und musste sich zusammennehmen, um nicht wieder in Gelächter auszubrechen.
Karl-Heinz Grün schaute bitterböse über den Tisch.
Blank hatte sich so etwas in der Art gedacht, als Manni ihn so unverständlich angesprochen hatte.
„Trotzdem solltest du aufpassen, was du sagst, denn Manni kann von den Lippen ablesen“, erklärte Kullmann weiter und fügte hinzu: „Am besten du sagst gar nichts. Manni steht unter Kalles besonderen Schutz. Die beiden sind ein Herz und eine Seele, und Kalle versteht keinen Spaß, wenn man sich über Mannis Gebrechen lustig macht. Aber sonst ist das Riesenbaby ganz in Ordnung.“
„Halt endlich deine Klappe!“, rief Kalle Grün.
„Siehst du, so ist der Große. Da will man auch mal etwas Nettes sagen, prompt wird man angemault“, sagte Kullmann mit einem Augenzwinkern zu Blank.
„Dabei ist er gar nicht so. Haste vielleicht schon gemerkt. Kalle mimt gerne mal den Bösewicht. Im Grunde ist er aber ein Weichei, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Nur gib ihm niemals die Hand. Dabei besteht nämlich die Gefahr, dass er zu fest zudrückt, weil er nicht weiß, wo er mit seiner Kraft hin soll. Wenn du Pech hast, kannst du deine Finger danach wegwerfen.“
Kullmanns krächzendes Kichern durchdrang den Raum.
Kalle Grün war von seinem Stuhl aufgesprungen und hieb seine riesige Pranke dem Kleinen auf die Schultern. Bei jeder anderen Person wären jetzt vermutlich einige Knochen zu Bruch gegangen, dachte Blank. Aber Kullmann schien den Schlag überhaupt nicht gespürt zu haben.
Vielleicht lag es an Kullmanns dickem Fell, das er seinen großen Kollegen gerne provozierte.
Bevor die Situation eskalierte, mischte sich Blank ein, indem er fragte: „Ihr seid wohl schon lange in dieser Firma?“
„Lange reicht dafür nicht aus“, antwortete Kullmann und verschmitzt lächelnd fügte er an: „Ich glaube, wir sind hier geboren.“
„Wie üblich übertreibt der Zwerg“, mischte sich Kalle Grün ein und präzisierte: „So etwa zwanzig Jahre werden schon zusammengekommen sein. Ich kann es eigentlich nicht glauben, dass ich es schon so lange mit diesem Giftzwerg ausgehalten habe.“
„Den Giftzwerg nimmst du sofort zurück“, forderte Kullmann.
„Nur, wenn du das Weichei auch zurücknimmst“, entgegnete Kalle Grün.
„Na schön, dann bist du eben ein hartes Ei. Ein verdammt hartes Ei, mit einem kleinen weichen Dotter.“
„Der Kleine kann es einfach nicht lassen. Immer muss er das letzte Wort haben.“
Beide Männer stimmten in schallendes Gelächter ein.
Für Blank stand nun fest, dass die Zwei mehr als nur Kollegen waren. Offensichtlich verband sie eine langjährige Freundschaft. Ihr Lachen war so ansteckend, dass sich Blank unweigerlich beteiligen musste. Selbst Manni, der nichts von der Unterhaltung verstanden haben mochte, lachte ebenfalls mit.
Die allgemeine Heiterkeit wurde jäh beendet.
Von den Anwesenden unbeachtet hatte der Lagermeister den Aufenthaltsraum betreten.
„Hab ich mir doch gedacht. Hier hockt ihr also zusammen. Darf ich vielleicht mitlachen.“
Herr Liefke trat an den Tisch und schaute in die Runde.
„Den Pausenraum haben Sie ja schnell gefunden.“
Kein Zweifel, damit meinte der Lagermeister den Neuen.
Da er sich keiner Schuld bewusst war, zog es Blank vor, erst einmal nichts zu erwidern.
Das übernahm Kullmann. Er war der Kleinste von allen, hatte aber ganz offensichtlich die größte Klappe.
„Darf ich vorstellen: Unser Aufpasser und Antreiber betritt den Raum. Großer Meister, unsere Pause dauert exakt noch sieben Minuten und die lassen wir uns nicht vermiesen.“
„Das hatte ich auch nicht vor. Die Pause sei euch gegönnt. Ich hatte mich nur gewundert, dass keiner im Lager ist und die Tore weit offen stehen. Wie oft muss ich noch darauf hinweisen? Es ist schon genug verschwunden.“
„Ist schon gut, Jo. Reg dich wieder ab. Wir haben es verstanden. Aber am hellerlichten Tag wird schon niemand etwas klauen“, antwortete Kullmann kleinlaut.
„Trotzdem haltet euch gefälligst daran und schließt die Tore beim Verlassen des Lagers. Also, wenn ihr gleich rüberkommt, dann fährt Kulle zur Maschinenfabrik und Kalle hilft beim Abladen. Manni muss die Nachmittagstour noch zusammenstellen und Blank. Sie melden sich gleich bei mir im Büro.“
Der Lagermeister hatte die nächsten Aufgaben verteilt und verschwand so plötzlich, wie er aufgetaucht war.
„Hat wohl wieder Zoff gegeben“, meinte Kullmann, als sie wieder unter sich waren.
„Eigentlich ist Jo ganz verträglich. Stimmt doch Kalle. Oder?“
„Ja“, bestätigte der Hüne kurz angebunden und fügte hinzu: „Möchte jetzt nicht in seiner Haut stecken.“
Blank schaute Kullmann fragend an. Doch das war eigentlich überflüssig, denn der redselige Fahrer begann sogleich zu erzählen: „Jo ist die gute Seele in diesem Laden. Der Mann ist im Prinzip unbezahlbar. Manchmal habe ich den Eindruck, er kennt jede Kiste und jeden Karton höchstpersönlich. Er weiß genau, wo alles steht und hat immer den Überblick. Kein Wunder also, dass er sauer wird, wenn ohne sein Wissen etwas aus dem Lager verschwindet. Aber, ich glaube, noch schlimmer hat es ihn getroffen, dass ihm vorgeworfen wurde, nicht aufgepasst zu haben. Diese Sesselfurzer im Büro wissen doch überhaupt nicht, wie das im Lager abläuft. Wahrscheinlich haben sie ihm sogar Vorwürfe gemacht, weil er nur noch ein gesundes Auge besitzt. Aber lass dich davon nicht täuschen. Jo sieht trotzdem alles.“
Also, ein Glasauge. Deswegen hatte der Lagermeister etwas schräg geschaut, dachte Blank.
Bevor die Pause beendet wurde, wollte Blank noch eine Frage los werden: „Was ist eigentlich aus meinem Vorgänger geworden?“
Kullmann schaute seinen Kollegen an.
„Der hatte leider einen Unfall. Kalle war daran nicht ganz unbeteiligt, aber ihn trifft keine direkte Schuld. Der arme Junge ist genau so ein Hänfling wie du und hat wohl nicht aufgepasst, als er mit Kalle zusammen eine Kiste angehoben hat. Eine falsche Bewegung und Knacks war der Arm gebrochen. Scheinbar gibt es nur noch so halbe Portionen für die Arbeit im Lager. Ganze Kerle, wie wir scheinen im Aussterben begriffen zu sein.“
Kullmanns krächzendes Lachen ertönte und er sagte: „Jetzt wird es aber Zeit, sonst wird Jo noch ernsthaft böse.“
Die Männer erhoben sich.
Manni packte die Reste seines Frühstücks zusammen.
Im Gänsemarsch gingen sie durch den schmalen Gang zurück in die Lagerhalle und verteilten sich in verschiedene Richtungen.
Blank betrat das Büro des Lagermeisters, gespannt darauf, was als Nächstes auf dem Programm stand.
Herr Liefke saß über den Papieren gebeugt und blickte nicht auf, als Blank den Raum betrat.
„Scheinst ganz brauchbar zu sein“, sagte der Lagermeister.
Blank sah den Lieferschein mit seinem Hinweis auf den eingedellten Karton, den Herr Liefke gerade anschaute.
Anscheinend habe ich den Praxistest bestanden, dachte Blank.
„Ich werde dem Chef eine entsprechende Empfehlung geben. Jetzt kannst du Kalle beim Abladen zur Hand gehen. Aber pass ein bisschen auf. Der Große ist manchmal etwas ungeschickt, doch ansonsten ein guter Mann, wenn auch etwas redefaul.“
Blank ging aus dem Büro und blickte sich suchend um.
Nur die letzte Ladeluke stand offen. Davor hatte wie üblich ein LKW rückwärts vor der Rampe geparkt. Die Plane war hochgeschlagen und auf dem Wagen fand Blank den Hünen vor einem Berg von hellgrauen Papiersäcken. Was die Säcke enthielten, konnte Blank nicht erkennen, nur dass sie sehr schwer aussahen. Denn selbst Kalle Grün hatte Mühe die Säcke zu bewegen. Der Lagermeister hatte doch nicht ernsthaft gemeint, das Blank hier mit anpacken könnte.
Der Hüne warf gerade einen Sack auf die bereitgestellte Palette. Eine helle Staubwolke wirbelte auf.
Wie sollte er Kalle Grün zur Hand gehen, überlegte Blank.
Manni Rotmütze kurvte mit dem Stapler im Lager umher. Auf seine Hilfe brauchte er nicht zu warten.
Es gab allerdings noch eine Möglichkeit, wie man Paletten bewegen konnte, erinnerte sich Blank.
Er schaute sich im Lager um und entdecke an der rechten Seite der Halle tatsächlich, ein entsprechendes Gerät. Ohne Umschweife holte Blank den Hubwagen. Nach einigen Handgriffen hatte er den Mechanismus begriffen und lenkte das Gerät zum LKW.
Dort hatte Kalle Grün bereits die zweite Palette mit sechs Säcken vollgepackt. Langsam wurde es eng auf der Laderampe.
Mit den zwei eisernen Gabeln fuhr Blank unter die erste Palette. Durch pumpende Bewegungen mit der Lenkstange konnte man die Gabeln anheben. Als der Stapelgutuntersatz einige Zentimeter über dem Boden schwebte, versuchte Blank das Gerät nach hinten zu ziehen. Er legte sein ganzes Gewicht in die Waagschale, doch der Hubwagen bewegte sich keinen Millimeter. Er schien wie angewachsen zu sein.
Eher aus Versehen berührte Blank bei seinen Anstrengungen den seitlich angebrachten Hebel, der dabei nach unten rutschte. Nachdem diese Sperre gelöst war, bewegte sich der Hubwagen. Dank der rutschfesten Schuhe hatte Blank den notwendigen Halt, um sein Körpergewicht in Rücklage zu bringen und es gelang ihm, das Transportgerät wegzuziehen.
Da Blank nicht genau wusste, wo er die Paletten abstellen sollte, wählte er die einfachste Möglichkeit aus und ließ die Paletten gleich hinter der Lagertür stehen. Hauptsache sie waren runter vom LKW und im Lager.
Mit einer leeren Palette ging es zurück. Kalle Grün nickte zufrieden, ganz offensichtlich hatte Blank genau das getan, was man von ihm erwartete.
Insgesamt zwölf Mal wiederholte sich die Prozedur, dann war der LKW leer und Blank total geschafft. Erst jetzt konnte er einen Blick auf die Papiersäcke werfen und anhand der Beschriftung feststellen, was dort eigentlich drin war: 50 Kilo Kartoffelstärkemehl.
Wofür dieses Zeug gebraucht wurde, war Blank egal. Müde legte er sich lang ausgestreckt auf die Säcke, atmete tief durch und sein Blick fiel geradewegs an die Hallendecke. Die Neonröhren waren ausgeschaltet, trotzdem war es relativ hell im Lager. Durch diverse Glasbausteine im Dach und den schmalen Fenstern an den Außenseiten drang das Sonnenlicht in den Raum. Unterhalb der Fensterreihe entdeckte Blank zudem eine Laufschiene mit einem schmalen Gitterrost. Allem Anschein nach war die Halle früher einmal mit einem Kran ausgestattet gewesen.
„Haste schon genug?“, fragte Kalle Grün.
Blank, noch ganz in Gedanken, schreckte hoch und schaute den Riesen an.
„Ich bin wohl ein wenig aus der Übung“, antwortete Blank und stand auf.
Gerade noch rechtzeitig, denn aus der Halle kam der Lagermeister auf die Rampe. In der Hand hielt er ein Klemmbrett mit flatternden Lieferscheinen.
„Die Paletten können hier nicht stehen bleiben. Die werden erst übermorgen abgeholt. Manni hat hinten im Lager schon Platz gemacht. Wenn ihr die Säcke herübergebracht habt, könnt ihr Mittag machen. Und du Blank, hast um 13.00 Uhr einen Termin beim Chef.“
******
Eine halbe Stunde später stand alles an Ort und Stelle. Was zugegebenermaßen nicht Blanks Verdienst war, denn seine Tätigkeit beschränkte sich auf ein paar Rangieranweisungen. Kalle Grün zog die schweren Paletten so flott durch die schmalen Gänge, das Blank Mühe hatte, hinterher zu laufen. Ab und an musste er den Hünen auffordern anzuhalten, weil die Gefahr drohte, einer der Papiersäcke könnte an den herumstehenden Kisten aufgerissen werden.
Für Kalle Grün schien die Arbeitsaufteilung völlig normal zu sein. Allerdings fühlte sich Blank überflüssig. Überhaupt war er zu dem Schluss gekommen, nach dem er die beiden kräftigen Kollegen kennengelernt hatte, dass ein weiterer Lagerarbeiter nicht unbedingt notwendig war.
Blank sah sich unsicher um.
Noch war er unschlüssig, wie und wo er die Pause verbringen sollte. Leider hatte er nicht daran gedacht, etwas zum Essen mitzunehmen. Nach den Anstrengungen verspürte Blank jetzt doch Appetit auf eine herzhafte Mahlzeit.
„Auf was wartest du noch?“, fragte Kalle Grün und ging zielstrebig zum Hallentor, wo er mit einem beherzten Satz von der Rampe sprang.
Zunächst noch unentschlossen folgte Blank dem Kollegen schließlich doch. Wo immer Kalle Grün auch hingehen würde, es war allemal besser, als die nächste Stunde in dem miefigen Aufenthaltsraum zu verbringen.
Blank musste sich sputen, um mit dem Hünen Schritt zu halten.
Von den Fahrzeugen, die heute Morgen auf dem Rasthof gestanden hatten, war nur noch ein LKW, mit holländischem Kennzeichen, übrig geblieben. Die großflächige Beschriftung warb für frisches Gemüse aus dem Nachbarland.
Kalle Grün war bereits bei der Tankstelle angekommen, als Blank ihn eingeholt hatte. Sie gingen daran vorbei und erst jetzt erkannte Blank das Ziel. Vielmehr hörte er es zunächst nur. Die melodischen Klänge einer Musikbox dröhnten nach draußen. Von der Straße aus konnte man den flachen Anbau hinter der Tankstelle nicht erkennen. Dass sich hier eine Gaststätte befand, hatte Blank nicht erwartet. Doch eigentlich war es logisch, dass zu einem Rasthof auch ein Lokal gehören musste, dachte Blank und er folgte Kalle Grün in die Gaststube.
Die einfache Möblierung entsprach dem äußeren Erscheinungsbild. Da die Gäste ausnahmslos dem männlichen Geschlecht angehörten, wurde auf überflüssigen Schnickschnack verzichtet. Einfache robuste Stühle und Tische genügten den Besuchern. Wer hier seine kurze Pause verbrachte, wollte nur etwas Essen und Trinken, dachte Blank.
Kalle Grün grüßte den Mann hinter der Theke, gab ihm ein Zeichen und strebte einen Tisch am Fenster an.
Blank folgte dem Hünen und hörte noch, wie der Wirt etwas durch ein kleines Fenster hinter der Theke rief.
Sie waren nicht die einzigen Gäste. An einem runden Tisch, gleich vor dem Tresen, saßen fünf Männer in gleichfarbigen Arbeitsanzügen. Blank vermutete, dass sie Arbeiter beim Gemüsegroßhändler waren. Von den Ankömmlingen nahmen sie keine Notiz. Die laute Musik wurde nur noch durch ihr Gelächter übertönt. Offenbar hatte einer der Männer soeben einen derben Witz zum Besten gegeben.
Der Wirt kam hinter der Theke hervor, in den Händen hielt er ein Tablett mit Getränken, die er am runden Tisch ablieferte. Ein weiteres Glas Bier brachte der Wirt zu ihrem Tisch und stellte es Kalle Grün hin.
„Essen kommt gleich, Kalle“, sagte der beinahe kahlköpfige Mann. Vor dem Bierbauch trug er eine Lederschürze und erkundigte sich mit tiefer Bassstimme nach Blanks Getränkewunsch.
„Ein kleines Mineralwasser und die Speisekarte, bitte“, antwortete Blank und spürte sofort, dass er in ein Fettnäpfchen getreten war.
Der unverständliche Blick des Wirts war mehr als eindeutig.
„Lass gut sein, Uwe. Ist sein erster Tag.“
Der Wirt nickte verständnisvoll und wandte sich wortlos ab.
„Bei Uwe gibt es keine Speisekarte“, erklärte Kalle Grün und wurde noch ein wenig deutlicher: „Überhaupt wirst du diese Hinterhofkneipe in keinem Reiseführer finden. Trotzdem ist diese Raststätte weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt, zumindest bei den Truckern. Das einzige Gericht, das hier angeboten wird, sind Bratkartoffeln. Und was für welche.“
Der sonst eher schweigsame Kalle Grün geriet regelrecht ins Schwärmen bei dem Gedanken an die bevorstehende Mahlzeit.
Wenige Augenblicke später konnte sich Blank selbst davon überzeugen.
Doch erst wurde seine Aufmerksamkeit vom Anblick der Kellnerin abgelenkt. Eine blonde Schönheit, mit üppig gefüllter Bluse und einem atemberaubend kurzen Minirock betrat den Schankraum. Die Männer am runden Tisch verstummten und reckten ihre Köpfe, um einen Blick auf die langen, wohlgeformten Beine zu erhaschen.
Dann sah Blank den Teller, den die Frau mit beiden Händen haltend, zu ihrem Tisch trug. Allein die Größe des Tellers war schon beeindruckend, doch der dampfende Berg darauf übertraf alles, was Blank bisher gesehen hatte. Leider war von den Bratkartoffeln nicht viel zu erkennen. Denn sechs Spiegeleier, garniert mit Gewürzgurkenscheiben, krönten die gewaltige Portion.
Obwohl Blank einem ordentlichen Kartoffelgericht durchaus etwas abgewinnen konnte und auch sein Hungergefühl ausreichend erschien, würde er an solch einer Ration mehrere Tage zu knappern haben.
Kalle Grün konnte es kaum erwarten, bis der Teller vor ihm stand, und schaute ungeduldig zu, wie sich die Bedienung über den Tisch beugte, um den Teller abzustellen. Das der üppige Busen der Kellnerin, zwangsläufig der Schwerkraft gehorchend, die Bluse noch weiter nach unten drückte und einen sehr freizügigen Einblick gewährte, quittierte Kalle Grün mit einem zufriedenen Blick.
„Danke, Monika“, sagte der Hüne.
„Gern geschehen, lass dir`s schmecken“, hauchte die Kellnerin.
Betont langsam richtete sie sich wieder auf und blickte Blank mit rehbraunen Augen an.
„Und was möchtest du?“, säuselte die Blondine.
„Haben Sie es auch etwas kleiner?“, fragte Blank.
„Oh! Du wärst der Erste, der sich über die Größe beschwert“, antwortete die Kellnerin schlagfertig.
Kalle Grün hätte sich beinahe an seinem ersten Bissen verschluckt und musste husten.
Unbemerkt war der Wirt an den Tisch gekommen und besorgt fragte er: „Ist etwas nicht in Ordnung, Kalle?“
„Alles bestens, Chef“, sagte Monika und deutete dabei auf Blank: „Der Kleine hier, mag es nicht so üppig.“
„Wer es zum ersten Mal sieht, dem kann dieser Anblick schon Angst und Bange einjagen“, meinte der Wirt ahnungslos und stellte Blanks bestelltes Mineralwasser auf den Tisch.
„Die Hälfte würde mir schon genügen“, entgegnete Blank, blickte erst zur Kellnerin und dann auf den dampfenden Teller.
„Pah!“, sagte die Blondine pikiert, wandte sich um und ging zurück in die Küche.
„Selbstverständlich, bei mir gibt es für jeden Geschmack die richtige Menge“, entgegnete der Wirt geschäftsmäßig.
„Ist sie nicht toll“, meinte Kalle Grün, als sie wieder allein am Tisch saßen.
Blank nickte nur und dachte, dass die Männer bestimmt nicht nur wegen des Essens gerne hierher kamen.
Wie zur Bestätigung orderte die lustige Runde am Nebentisch noch eine Runde Getränke bei der Kellnerin.
Kalle Grün schaufelte eine Gabel nach der anderen in sich hinein und zwischendurch erklärte er: „Die Gemüsejungs haben schon Feierabend. Ihr Arbeitstag beginnt bereits morgens um vier Uhr.“
Mit Bewunderung schaute Blank zu, wie der Berg Bratkartoffeln immer kleiner wurde. Noch bevor der Wirt Blanks wesentlich kleinere Portion servierte, hatte Kalle Grün seinen Teller bis auf den letzten Krümel verputzt. Doch damit noch nicht genug.
Blank wollte seinen Ohren nicht trauen.
Gerade erst hatte der Hüne den letzten Bissen mit einem Schluck Bier herunter gespült. Nun bestellte er sich doch tatsächlich noch ein Schnitzel, selbstverständlich mit Beilage. Zum Nachtisch, wie Kalle augenzwinkernd feststellte.
Der Wirt schien den gesegneten Appetit zu kennen und ging ohne sich zu wundern sofort wieder in die Küche.
Das Essen duftete verführerisch und Blank probierte sogleich eine Gabel voll. Kalle Grün hatte nicht übertrieben, die Kartoffeln schmeckten vorzüglich.
„Du scheinst Jo beeindruckt zu haben“, stellte Kalle unvermittelt fest.
„Wie kommst du darauf?“
„Na ja, die beiden anderen Kandidaten, die sich letzte Woche vorgestellt haben, hat Jo nach ein paar Stunden in die Wüste geschickt.“
„Warum?“, wollte Blank wissen.
„Sie sahen zwar kräftig aus, hatten aber keine Lust zum Arbeiten.“
„Das hat der Lagermeister nach so kurzer Zeit schon festgestellt.“
„Jo hat ein Auge dafür, wie Kulle vorhin bereits erwähnt hat“, entgegnete der Hüne und lächelte verschmitzt.
„Wo steckt der übrigens?“, fragte Blank neugierig, ohne weiter darauf einzugehen.
„Jetzt wo du fragst, wundere ich mich allerdings. Normalerweise lässt er keine Gelegenheit aus, um mit Monika zu schäkern. Wahrscheinlich ist er aufgehalten worden.“
„Die anderen Kollegen Essen wohl nicht hier“, stellte Blank fest.
„Eher selten. Manni wohnt noch bei seiner Mutter, ganz in der Nähe und fährt mittags meistens nach Hause. Jo bringt sich seine Stullen mit, um ein wachsames Auge auf das Lager zu haben.“
Gerne hätte Blank noch weitere Fragen gestellt, doch er wollte gleich am ersten Tag nicht zu neugierig erscheinen. Außerdem würde das bevorstehende Gespräch mit dem Chef bestimmt aufschlussreicher sein.
Blank widmete sich wieder seiner Mahlzeit.
Gleichzeitig mit dem Wirt, der die zweite Portion für Kalle Grün brachte, erschien auch Kullmann in der Gaststube.
Er winkte der Blondine zu und rief: „Moni, bringst du mir ein Bier!“
„Wo hast du dich so lange herumgetrieben?“, fragte Kalle Grün, als sich der Kollege an den Tisch setzte.
„So ein saublöder Kunde mit einer uralten Karre war gerade da. Ich musste ihm zwei Kisten aufladen“, antwortete Kullmann ärgerlich und schaute begierig auf die Teller: „Während ich eure Arbeit machen musste, schlagt ihr euch die Wampe voll.“
„Aber Kullerchen! Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“
Die Kellnerin stellte das Bier auf den Tisch und beugte ihren Oberkörper absichtlich tiefer, als es eigentlich notwendig war.
Schlagartig verbesserte sich Kullmanns Laune.
„Ach Moni, du bist der erste Lichtblick heute.“
„Kann ich noch etwas für dich tun?“, fragte sie aufreizend.
„Oh, da wüsste ich schon einiges. Darüber sollten wir aber später allein reden. Was gibt es denn heute in der Giftküche?“
„Wie wäre es mit einer richtigen Männerportion“, schlug die Kellnerin vor und schaute ziemlich geringschätzig auf Blanks kleine Portion.
„Dir kann ich doch nichts abschlagen.“
Monika trippelte davon und Kullmann trank einen Schluck Gerstensaft.
„Na Kleiner, wie gefällt es dir bei uns?“, fragte er und wischte sich den Schaum von der Oberlippe.
Blank schluckte den letzten Happen hinunter und entgegnete: „Ich glaube, das kann ich erst nachher beantworten.“
„Er muss doch gleich zum Chef“, mischte sich Kalle Grün ein.
„Na dann, viel Glück“, meinte Kullmann und fügte noch an: „Lass den Kopf nicht hängen, wird schon schief gehen.“
******
Die Büros der Spedition schlossen sich unmittelbar an der linken Seite der Lagerhalle an. Auf dem Parkplatz vor der Fensterfront standen einige Pkws. Den Zugang säumten Blumenkübel. Blank öffnete die gläserne Eingangstür und betrat einen Gang, von dem vier Türen abgingen. Von Herrn Liefke hatte Blank erfahren, dass der Chef sein Büro gleich neben der Buchhaltung hatte.
Vor der Tür verharrte Blank einen Augenblick. Jetzt sollte er den Grund für seine Anwesenheit erfahren und musste entscheiden, ob er den Auftrag übernehmen würde. Obwohl sich Blank schon öfter in solch einer Situation befunden hatte, war es immer wieder neu.
Er klopfte kurz und fest, wartete einen Moment und öffnete die Tür.
Das Zimmer war relativ klein. Augenscheinlich legte der Chef keinen besonderen Wert auf repräsentative Äußerlichkeiten, dachte Blank. Einzig das überdimensionale Foto an der Wand hinter dem Schreibtisch zeigte an, womit man hier die Brötchen verdiente. Vor fünf Lastzügen standen eine bunt gemischte Reihe Männer, ohne Zweifel die Fahrer. Im Vordergrund lächelten zwei Herren in dezenten Anzügen in die Kamera.
Die Aufnahme musste schon einige Jahre alt sein, konstatierte Blank, denn der Zahn der Zeit hatte an dem äußeren Erscheinungsbild der Personen bereits einiges abgeknabbert.
Ganz offensichtlich wurde das bei dem älteren Herrn, der jetzt hinter dem Schreibtisch sitzend aufblickte und den Besucher an der Tür anschaute. Auf dem Foto trug der Mann noch volles Haar, wovon nur noch eine Halbglatze übrig geblieben war. Den verbliebenen ergrauten Haarkranz hatte sich der Chef, mit einem exakten Mittelscheitel auf dem Kopf verteilt. Sein freundliches Lächeln wirkte gekünstelt. Den Mann plagten ernsthafte Sorgen, dessen war sich Blank sicher.
„Guten Tag, Herr Blank. Bitte nehmen Sie Platz.“
Dabei deutete Herr Holterberg auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.
Die leise, ruhige Stimme erinnerte Blank unwillkürlich an seinen Vater und löste unweigerlich erste Sympathieempfindungen aus.
Blank ließ die positive Ausstrahlung auf sich einwirken und erwiderte den Gruß, während er sich auf den gepolsterten Stuhl setzte.
Herr Holterberg setzte sich eine altmodische Hornbrille auf und begann in einem Schnellhefter zu blättern.
„Wie ich aus Ihren Referenzen ersehen kann, haben Sie bereits bei einigen Firmen im Lager gearbeitet.“
Für Blank kam diese Aussage zunächst etwas überraschend.
Worauf will der Mann hinaus?
Was hatte sein Partner wieder ausgeheckt?
Natürlich wusste Blank, dass Miko bei der Gestaltung einer Legende nichts dem Zufall überließ. Nur was sollten die Referenzen? Wenn Holterberg jetzt nach Einzelheiten fragen würde, wäre Blank aufgeschmissen denn er hatte keinen blassen Schimmer, was Miko sich da ausgedacht hatte.
Das entsprach nicht der üblichen Vorgehensweise. Trotzdem ließ sich Blanks nichts anmerken und nickte bestätigend.