Blutfunde - Jutta Motz - E-Book

Blutfunde E-Book

Jutta Motz

4,9

Beschreibung

Schlepperbanden schleusen übers Mittelmeer Zehntausende von Flüchtlingen nach Italien ein. Wer die Torturen der Seefahrt überlebt, kann es mit reaktionären Bürgern zu tun bekommen. Jane und ihre Freundin, die Anwältin Gioia, werden in Rom Zeugen der Ermordung eines Flüchtlings. Sie retten zusammen mit Nonnen eines Karmeliterklosters eine Gruppe von Schiffbrüchigen, die im Süden an Land gebracht wurden. Eine spannungsreiche Geschichte und ein politisch aktueller Roman zu einem Drama, das sich an den Grenzen Europas tagtäglich wiederholt.

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Jutta Motz

Blutfunde

Roman

Elster Verlag • Zürich

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2013 by Elster Verlagsbuchhandlung AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.

Elster Verlagsbuchhandlung AG

Hofackerstrasse 13, CH 8032 Zürich

Telefon 0041 (0)44 385 55 10, Fax 0041 (0)44 305 55 19

[email protected]

www.elsterverlag.ch

ISBN 978-3-906065-69-4

Umschlag: dreh gmbh. Marc Droz | Regula Ehrliholzer, Zürich

E-Book-Herstellung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

No one shall be subjected to tortureor cruel, inhuman or degrading treatment or punishment.

«Niemand darf der Folteroder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.»

Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen, 10. Dezember 1948

Inhalt

Prolog

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Dienstag – Zwei Tage später

Mittwoch

Freitag

Samstag

Montag – Zwei Tage später

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Epilog

Nachwort

Literatur

Prolog

Ein Aprilsturm fegte über das Meer, kalt und schneidend. Er peitschte die Wellen. Die Windstärke betrug sieben Beaufort. Die Menschen kletterten langsam die Strickleiter hinunter und hangelten mit einem Fuß nach festem Halt auf dem kleinen Boot, das neben dem Frachtschiff festgemacht hatte. Zögernd ließen sie das Fallreep los, denn gerade war einer von ihnen beim Herabklettern zwischen die Boote gefallen und im Auf und Ab der schaukelnden Schiffe zwischen den Schiffswänden zerquetscht worden. Immer wieder trieben die Wellen das Fischerboot ab, mussten die Leinen nachgelassen und angezogen werden, mit denen das Boot an das Frachtschiff getäut war.

Zwei Männer jener Gruppe, die als erste von Bord gegangen waren, schienen Seeleute zu sein. Sie versuchten, den Motor des Fischerbootes zu starten. Mit Entsetzen beobachtete der Kapitän des Frachtschiffs, dass der ältere von ihnen die Abdichtung über dem Motor fachmännisch öffnete und mit einer Taschenlampe und einem Schraubenzieher begann, einen Fehler im Motorraum zu suchen.

Über eine Stunde dauerte das Umsteigen schon. Der Kapitän wurde nervös. Immer wieder hörte er auf den Wetterbericht, der knatternd aus dem alten Lautsprecher quäkte. Das Ende des Sturmes lag unmittelbar bevor. Die See drohte, ruhiger zu werden.

«Macht schneller! Schneller, es sind noch über fünfzig, die wir von Bord kriegen müssen», rief der Kapitän seinen Leuten auf arabisch zu. Die verängstigten Menschen ließen sich nur mit Mühe dazu überreden, bei derart schwerem Wetter das größere Schiff zu verlassen. Mit Unmut sah der Kapitän von oben, wie einer der Männer auf dem Fischerboot – er schien so eine Art Führer zu sein –, einigen Frauen und Kindern Schwimmwesten anlegte. «Allah möge dir große Sorgen bereiten», murmelte er wütend vor sich hin.

Der Zweite Offizier versicherte einem jungen Inder, der sich weigerte, von Bord zu gehen: «Ihr seid in Küstennähe. Jetzt ist kein Zollboot unterwegs, bei dem Wetter kommt ihr an Land, ohne aufgegriffen zu werden.»

Als der Kapitän sah, dass der Passagier immer noch zögerte umzusteigen, grummelte er ungehalten in seinen Bart: «Die Eier mögen euch allen abfrieren …»

Endlich kletterte der Zögernde über die Reling, sein Fuß suchte nach dem Brett der Strickleiter, und er stieg in das Fischerboot um. Ihm folgten die Letzten widerstandslos. In weniger als zwanzig Minuten war das Ausbooten der Passagiere beendet. Das Frachtschiff fuhr die Motoren höher, die Leinen wurden gelöst, langsam drehte sich sein plumper Schiffskörper von dem sehr viel kleineren Fischerboot weg, nahm Fahrt auf und entfernte sich. Plötzlich stoppten die schweren Dieselmotoren, das Schiff fuhr rückwärts, scherte bei der Drehung mit dem Heck nach Backbord aus und versetzte dem Fischerboot einen schweren Schlag vor den Bug.

Mehrere Menschen, die dicht gedrängt an Deck des überladenen Bootes standen, stürzten schreiend über die niedrige Reling, verschwanden in den aufgewühlten, kalten Fluten. Das laute Gejammer und Gekreische, das jetzt anhob, störte den Kapitän nicht. Er befahl: «Volle Fahrt voraus!»

Mit einem Fernglas beobachtete er die Vorgänge an Bord des kleinen Kahns. Das überladene Boot lief mit Wasser voll, bekam Schlagseite. Erleichtert atmete er auf, als er sah, dass seine Arbeit zur Zufriedenheit seines Auftraggebers erledigt war. Diese Menschen hatten keine Überlebenschance, denn er wusste, dass sie mehr als hundert Seemeilen von irgendeinem Zipfel Land entfernt waren.

Irgendwo zwischen Nordafrika und Süditalien versank ein alter Fischerkahn mit über 200 Menschen an Bord in wenigen Minuten.

Wer nicht frei ist, wird niemals einen anderen achten –weder den Sklaven, denn dessen Unglück erinnert ihn an seine eigene Erniedrigung, noch den freien Menschen, denn dessen Glück ist für ihn eine Beleidigung.

Boualem Sansal, Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Frankfurt, Paulskirche 2011

Mittwoch

Die erste gemeinsame Reise war minuziös geplant gewesen. Statt mit ihrem Jonathan Rom zu genießen, saß Jane jetzt allein in einem Zug, der gerade in Mailand abfuhr. Mit über zwei Stunden Verspätung. «Ortsüblich», erklärte ein Mitreisender lächelnd. Sie lehnte sich in ihrem Erste-Klasse-Abteil im Fenstersitz zurück und schloss die Augen.

Sie grübelte. Was mochte Jonathan jetzt gerade tun? Ich glaube, ich bin wohl eine der dümmsten Frauen, die auf Gottes Erdboden herumlaufen, resümierte sie, die einzige, die eine Verlobungsreise allein antritt. Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre zerzausten Haare. Nein, Lady Montague hatte sich sogar auf ihre Hochzeitsreise allein begeben. Ihr Mann war bereits an der Hohen Pforte in Konstantinopel akkreditiert. Sie schmunzelte wegen des unpassenden Vergleichs.

Der Hochgeschwindigkeitszug erreichte nach einigen Stunden den Stadtrand von Rom und verlangsamte seine Fahrt. Missmutig packte sie Ingeborg Bachmanns Romanfragment «Der Fall Franza» in ihre große Handtasche.

Neben der Sprache, die sie als Germanistin begeisterte, fesselte sie die Thematik. Franza, im Faschismus groß geworden, musste alleine die Verantwortung für den jüngeren Bruder übernehmen. Sie war vollkommen auf sich selbst gestellt in einer kriegerischen, von Erwachsenen zerstörten Welt. Verlassen von einem in El Alamein gefallenen Vater und einer kranken Mutter. Der herbeigesehnte Frieden enttäuschte. Sie zerbrach an den Verheerungen der Zeit. Franza wurde erst zum geliebten, dann beiseitegeschobenen Studienobjekt ihres Mannes, eines bekannten Psychiaters.

Beeindruckt von der Sprachgewalt der Autorin, mitgenommen von dem wechselvollen und zum Scheitern verurteilten Leben der Heldin, versuchte Jane sich im Heute zurechtzufinden. Noch ein wenig benommen räumte sie ihren Sitzplatz am Fenster auf, legte die Zeitungen zusammen, schmiss die leere Wasserflasche und das Schokoladepapier in den Abfalleimer, zog ihren Blazer an und drängelte mit ihrem Gepäck Richtung Tür. Die Handtasche hängte sie um. Der Zug kam quietschend zum Stehen; fauchend entwich die Druckluft den Türen, die sich automatisch öffneten. Roma Termini, einer der schönsten Bahnhöfe, erwartete sie. Sie hievte ihr Gepäck auf den Bahnsteig. Ganz in der Ferne kam Gioia gelaufen, laut rufend, mit beiden Armen winkend.

Sie fielen sich um den Hals. Gioia sah sich suchend um, überlegte, welcher der vielen Männer auf dem Bahnhof wohl Janes Neuer sein könne. Der Dicke, der gerade schwitzend Koffer aus dem Zug schleppt? Der Jüngling da, der dümmlich lächelnd auf dem Bahnsteig steht? Oder der soignierte Vierzigjährige im Anzug mit Aktentasche? Jane deutete den suchenden Blick der Freundin richtig. «Jonathan konnte leider nicht mitkommen.»

«Auf eure erste gemeinsame Kennenlernreise?»

«Manche Dinge sind eben wichtiger!»

«Ich glaube, du spinnst. Ihr habt euch zerstritten?»

«Mit Jonathan kann ich mich nicht streiten. Der perfekte Mann, ruhig, überlegt, sachlich. Außerdem ist er lieb, ja sogar zärtlich und immer verständnisvoll.»

«Ich glaube, ich will den perfekten Mann nicht, wenn ich dann alleine verreisen muss.» Gioia griff sich den Koffer. «Wieso kommst du mit dem Zug aus Mailand?»

«Die Flüge nach Rom waren ausgebucht. Ostern ist nach wie vor eine sehr beliebte Zeit, um nach Rom zu reisen. Dazu kommen die Pilger …» Jane trottete hinter der Freundin her.

Die Sonne schien, es war frühlingshaft warm, sie hoffte auf schöne Tage mit viel Sonnenschein und viele Besuche in Straßencafés und Trattorien. Wenn sie, die Engländerin, etwas an Italien begeisterte, dann war es das Leben auf der Straße, an jeder Ecke, in jedem Quartier. Jane hatte mit Gioia telefoniert und sich vergewissert, dass sie wenigstens den ersten Abend ihrer Reise nicht alleine in der Ewigen Stadt verbringen musste.

Mit viel Geschrei und übertriebener Gestik ergatterte Gioia ein Taxi vor dem Bahnhof. Kaum waren sie im dritten Stock in Gioias Eigentumswohnung in der Nähe des Corsos eingetroffen und die alte, schwere Wohnungstür ins Schloss gefallen, fiel die Freundin über Jane her. «Gib zu, du hast dir wieder den falschen Mann gegriffen? Du bist da in etwas hineingeraten, und nun hast du dich zu mir geflüchtet, weil du nicht weiterweißt.» Die beiden jungen Frauen standen sich in dem hohen Flur des alten Hauses gegenüber und musterten sich prüfend. «Nun erzähl schon! Sag, was los ist.»

«Bist du noch immer so zuverlässig, so verschwiegen, oder bist du zum römischen Klatschweib mutiert?»

«Verschwiegen, wie in Berlin, ich schwöre!» Gioia hob theatralisch die drei Schwurfinger, nachdem sie die Fingerspitzen abgeleckt und auf die Stelle ihres Pullovers gelegt hatte, wo sie das Herz vermutete.

«Dann mach mir einen Espresso und ich erzähle.» Sie ließen den Koffer im Flur stehen und gingen in die große, alte Küche, wo eine moderne Espressomaschine in kürzester Zeit fauchend und zischend die gewünschten Getränke herstellte. Sie saßen sich an dem alten Tisch gegenüber, an dem in grauer Vorzeit das Dienstpersonal die Mahlzeiten der Herrschaften vorbereitet hatte.

«Also … Ich höre.»

«Jonathan arbeitet im British Museum. Er ist Archäologe, wie mein Vater. Heute Morgen, also am Tag unserer Abreise, wurde er ins Museum gerufen. Er rief mich von dort aus an, sagte, ich solle alleine nach Mailand abfliegen und von dort nach Rom mit dem Zug fahren, er käme nach. Da hab ich mich aufgemacht und bin ins Museum, weil ich wissen wollte, was los ist.»

«Und …?»

«Ein irakischer Kollege hat sich mit zwei Koffern der feinsten griechischen und römischen Kleinkunst ins Museum geflüchtet. Er hat sie auf dem Seeweg nach Großbritannien geschafft. Sachen, die alle dem Nationalmuseum in Bagdad gehören.»

«Er hat sie geklaut?»

«Nein, im Gegenteil. Nachdem das Nationalmuseum nach der Besetzung des Iraks durch Amerikaner und Briten gestürmt worden war, nachdem alles, was halbwegs beweglich war, gestohlen und verschleppt wurde, hat er auf den Märkten, bei den Händlern, nach griechisch-römischen Exponaten gesucht und sie zusammengekauft.»

«Offenbar nicht gerade arm, der Flüchtling.»

«Die Not vieler Familien ist so groß, dass sie gezwungen sind, entbehrliche Dinge wie Antikes schnell wieder zu verhökern. Dieser Iraker ist Kustos des Museums für die Abteilung der griechisch-römischen Altertümer. Er kennt jedes Stück. Er hat mehr als die Hälfte der Kleinkunst, die verschwunden war, zurückgekauft, teilweise sogar spottbillig.»

«Und wieso ist er nach London gekommen? Kennt er da jemanden?»

«Nein, er wollte mit seinen Koffern zu meinem Vater. Die beiden korrespondieren schon lange miteinander über E-Mail. Er hat mal bei uns in Oxford gewohnt, als er zu einem Vortrag eingeladen war. Doch der arme Kerl fühlte sich verfolgt und hatte Angst. Er war in einer Pension gegenüber dem British Museum untergetaucht, von da rief er meinen Vater an. Der nannte ihm Jonathans Namen und riet ihm, Zuflucht im Museum zu suchen. Sozusagen der kürzeste Weg.»

«Der kürzeste Weg? Mir wäre da das Museum in Bagdad eingefallen.» Gioias Pragmatismus wurde nur von ihrer Unkenntnis der irakischen Verhältnisse übertroffen.

«Das Land hat keine so gut funktionierende Regierung, die ihre Bürger schützen kann, geschweige denn das kulturelle Erbe. Anschläge nehmen zu, da kümmert der Museumsbesitz nicht viele. Dazu eine Unzahl an Raubgrabungen im ganzen Land, deren Funde auf Märkten oder über dunkle Kanäle verhökert werden.»

«Aber das Museum in Bagdad wurde mit internationaler Hilfe wieder aufgebaut.»

«Bis 2004 wurden über 15000 Kunstgegenstände als gestohlen aufgeführt, dann wurde der Keller des Museums aus Sicherheitsgründen zugemauert. Ein großer Teil wurde von den Irakern selber zurückgebracht. Die Imame verurteilten den Diebstahl. Vieles konnte in Europa, in den USA und in Asien im Kunsthandel sichergestellt werden.»

«Kann man die Antiquitäten im Kunsthandel erwerben, auf Auktionen?»

«Heute wird der Markt kontrolliert, aber die dunklen Kanäle sind nicht unterbunden.»

«Und was passiert nun mit dem Zeug in London?»

«Jonathan hatte die Idee, alles als Leihgabe des Museums von Bagdad zu deklarieren und ins Magazin zu nehmen. Demnächst will er eine Sonderausstellung vorbereiten. So sind die Fundstücke sicher. Gesichert ist damit auch, dass die Gegenstände zurückgegeben werden müssen, wenn dort normale Zustände herrschen.»

«Und deshalb konnte dein wundervoller Jonathan nicht mit dir reisen?» Gioia machte zwei neue Espressi und holte ein paar Plätzchen aus einer Blechbüchse, die sie auf einen Teller legte und vor Jane hinstellte.

«Das Museum darf nur Exponate annehmen, die versichert sind. Versicherungen kosten Geld. Ein Sponsor muss gefunden werden. Verträge müssen gemacht werden. Die Gegenstände müssen für die Versicherung einzeln beschrieben und bewertet werden, ein Versicherungsvertrag muss abgeschlossen werden. Hast du eine Ahnung, wie umständlich ein Museum arbeitet?»

Jane nahm einen Schluck Kaffee und verbrannte sich den Mund. Erschrocken atmete sie kühle Luft ein. Schnell nahm sie einen Schluck aus einem Glas mit kaltem Wasser, das Gioia vor sie hinstellte.

Die schüttelte abwehrend den Kopf. «Nur gut, dass der irakische Wissenschaftler nicht mit seiner wertvollen Fracht nach Italien gekommen ist. Bevor nicht drei bis vier Rechtsanwälte genug daran verdient haben, wäre keine Zeile eines Leihvertrages zu Papier gebracht worden.» Gioia musste es wissen, hatte sie doch Jura in Rom und an der Humboldt-Universität in Berlin studiert und machte jetzt ihr Praktikum in der renommierten Kanzlei ihres Vaters.

«Du bleibst bei mir, bis dein Typ nachkommt. Du willst doch nicht alleine in einem Doppelbett liegen und dich nachts zu Tode grämen?»

Die falsche Dramatik in Gioias Stimme reizte Jane zum Lachen. Andererseits, die Aussicht, nicht allein im Viersternehotel zu wohnen, alleine frühstücken und dinieren zu müssen, war verlockend. «Dann gehen wir aber heute Abend nach Trastevere, in unsere alte Trattoria», verlangte sie.

Die Freundin stimmte zu. Gemeinsam schleppten sie das Gepäck ins Gästezimmer, bezogen das Bett, räumten den Koffer aus und erzählten, erzählten und erzählten von vergangenen Studienzeiten und gemeinsamen Freunden aus Berlin.

***

Der Fischer brachte die Menschen mit seinem Kutter bis zur Landspitze, half den sechs Frauen beim Aussteigen und trug die drei kleineren Kinder an Land. Hakim Mahmud sprang von Bord. Er stand bis zu den Knien im Wasser und hielt die Leine des Bootes, das von den Wellen abzutreiben drohte.

Die Frauen liefen mit den Kindern Deckung suchend zu den Bäumen und Büschen. Dort kauerten sie sich hin. Ein am Arm verletzter Junge schüttelte die helfende Hand des Alten ab. Kopfschüttelnd sah der Fischer dem am Strand entlangtaumelnden Jungen nach.

«Wo haben Sie so gut italienisch gelernt?» Der Fischer wandte sich Hakim zu.

«Ich habe in Rom studiert.»

Der alte Mann lächelte, nickte dem jüngeren zu. «Nun wollen Sie zurück, zu ihrer Freundin?» Die Frage hatte amüsiert geklungen und war von ununterbrochenem aufmunterndem Nicken begleitet. Als Antwort stimmte er augenzwinkernd seinem Retter zu, der davon ausging, dass eine hübsche Frau alle Strapazen der Welt wert seien.

«Man darf im Frühjahr, bei den Stürmen, nicht mit einem zu kleinen Boot im Ionischen Meer herumfahren. Sie hatten Glück, dass Sie schon dem Golf von Tarent nahe waren, als Sie ihr Schiff verlassen mussten. Sonst hätte Sie niemand gefunden …» Diese Warnung des Fischers kam in jedem Fall zu spät. Sie enthielt aber zwei wichtige Hinweise für Hakim. Der geografische: Sie waren im Ionischen Meer, sogar bereits im Golf von Tarent, dem Stand der untergehenden Sonne nach zu urteilen, auf der westlichen Seite des Stiefelabsatzes. Und: Es mochte klüger sein, sich nicht als Flüchtling auszugeben. Sollten sie sich als Schiffbrüchige deklarieren? War das glaubwürdig?

Er ahnte, warum der Fischer sie in der kleine sandigen, unbewohnten Bucht, die von karstiger Hügellandschaft eingefasst war, abgesetzt hatte. Er wollte keinen Ärger wegen irgendwelcher Flüchtlinge haben, nicht mit ihnen im Hafen seines Dorfes einlaufen. Rettete er sie, lief er Gefahr, sein Boot zu verlieren, das hatte Hakim in der englischen Ausgabe der Zeitung seines Jachtclubs in Alexandria unlängst gelesen.

Welch eine Perversion des Seerechtes, überlegte er. Jeder Bootsführer müsste Schiffbrüchige aufnehmen, aber heute kann ein Skipper sein Boot verlieren, wenn er Ertrinkende rettet. Der gute Mann hatte ihnen geholfen, obwohl die anderen Boote abdrehten und taten, als hätten sie die Schiffbrüchigen in ihren orangefarbigen Schwimmwesten nicht bemerkt. Der Fischer stieg in sein Boot, ging in die Kajüte und kam mit einem Arm voll alter Decken zurück.

«Für die Kinder.» Er reichte sie Hakim, der sie auf den trockenen Sand trug. «Im April sind die Nächte kalt.» Er verschwand wieder in seiner Kajüte, kam mit einem schweren Bündel an Deck, reichte es dem Fremden, der bis zu den Knien im Wasser stand. «Das brauch ich nicht, ich bin in zwei Stunden zu Hause.» Er schmiss den Motor an und fuhr rückwärts auf die unruhige See hinaus.

Hakim sah dem alten Mann nach, der mit seinem kleinen Fang, der kaum die Familie ernähren dürfte, nach Hause tuckerte. Er, die sechs Frauen und die Kinder hatten die illegale Überfahrt von Kleinasien und Nordafrika nach Italien überlebt. Vermutlich als Einzige. Sie waren vom mehrstündigen Aufenthalt im kalten Wasser entkräftet und erkältet. Während der Bootsfahrt hatten sie sich auf Deck in der Mittagssonne aufwärmen können. Trotzdem, die Kinder fieberten stark. Hakim knotete das schwere Bündel auf. Der Fischer hatte ihnen einen Plastikkanister Wasser in die Decke gepackt, ein fast volles Röllchen Aspirin, und – in Blechbüchsen verschlossen – Brot und Kekse. In einem kleinen Behälter lagen Streichhölzer, geschützt vor der Feuchtigkeit. Hat dieser Mann uns seinen gesamten Vorrat an Lebensmitteln überlassen?

Schnell raffte Hakim alles zusammen, schleppte es über den Sand in die sichere Deckung, die Bäume und Büsche am Rande der Bucht boten. Er brach einen niedrig hängenden Ast ab, und mit wischenden Bewegungen tilgte er ihre Fußspuren im Sand. Kein zufällig vorbeifahrendes Boot sollte sehen, dass in dieser Bucht Menschen an Land gegangen waren. Kein Boot der Guardia Costiera durfte ihre Spuren entdecken. Noch wusste er nicht, wie es weitergehen sollte. Zunächst galt es, die kalte Nacht zu überleben. Er musste Hilfe holen, denn eine Frau und die Kinder waren krank.

***

Der Bummel in der Frühlingssonne in Trastevere war erholsam. Jane und Gioia durchstreiften die engen Vicoli und mieden die Straßen, in denen die Touristenströme sich bewegten. Bei einer Freundin von Gioia, einer Musikerin, klingelten sie. Renata non è qui, rief eine alte Frau von oben. Gioia bedankte sich. Lachend zogen sie weiter.

Vor ihnen ging ein Afrikaner, der einen blauen Plastiksack schleppte. Als sie auf eine breitere Straße kamen, blieb er stehen, sah sich sichernd um, dann holte er eine bunte Decke aus dem Sack, die er auf der Straße ausbreitete. Er kniete sich darauf, räumte sauber aufgerollte Gürtel aus geflochtenem oder glattem Leder mit polierten und matten Schließen aus, sortierte sie nach Farbe und Größe und ordnete seinen Schatz schön übersichtlich vor den Augen der Passanten auf der Straße.

«Sieh mal, Gioia, ein Gürtel mit dem ‹G› von Gucci. Ob der hier teuer ist?!» Jane war begeistert.

«Der Gürtel vielleicht nicht, aber die Strafe, die du zahlst, falls du beim Kauf erwischt wirst, dürfte die Kosten deines Rom-Aufenthalts übertreffen. Die Ware hier ist gefälscht.»

«Woher weißt du das?»

Gioia schob die Freundin weg. «Ich habe ein paar solch junge Kerle vor Gericht vertreten, wenn die Polizei sie geschnappt hat. Aber in den meisten Fällen sehen die Carabinieri großzügig weg. Sie wollen sich die Mühe mit Berichte schreiben ersparen und die der Gerichtsverhandlung mit all dem Drum und Dran. Die jungen Männer sind Flüchtlinge, sie dürfen nicht arbeiten, müssen aber von irgendetwas leben. Viele haben keine Papiere, können sich nicht ausweisen, sagen nicht, aus welchem Land sie kommen, weil sie Angst haben, abgeschoben zu werden.»

Sie waren wieder in eine der ruhigeren Nebenstraßen eingebogen. «Wer gibt ihnen diese Gürtel und Taschen, die hier überall angeboten werden? Es sind preiswerte und interessante Artikel dabei, bei manchen könnte ich schwach werden.» Ist es nicht an der Zeit, meine alte Umhängetasche aus der Studienzeit durch etwas Eleganteres zu ersetzen? sinnierte sie. «Warum ziehst du mich dauernd hinter dir her? Warum darf ich nicht stehen bleiben?» Jane wandte sich wütend um. «Der Straßenhändler ist sicher viel preiswerter und seine Ware – egal, ob echt oder falsch …»

Gioia zog sie weiter. Sie waren vor ihrer kleinen Trattoria angekommen, in der Renata an manchen Abenden Gitarre spielte. «Lass uns was essen.» Gioia sprach mit dem Padrone, der ihr bestätigte, dass Renata und ihre Freunde heute erwartet werden, allerdings erst sehr viel später.

«Ich will aber noch gucken …» Jane drehte sich um, wollte zu dem Straßenhändler zurückgehen.

«Du machst ihm falsche Hoffnung. Die armen Kerle sind die Verlierer im Spiel. Sie zahlen, um nach Italien gebracht zu werden, oftmals mehr, als ihre ganze Familie aufbringen kann. Die wenigen, die je italienischen Boden unter die Füße kriegen, werden in Lager für die Rückschaffung oder, wenn sie fliehen können, heimlich in Großstädte verfrachtet. Dort müssen sie sich prostituieren oder diesen nachgemachten Kram teuer einkaufen und ihn verbotenerweise an Touristen verscherbeln. Jeden noch so kleinen Gewinn steckt der Verkäufer der Ware ein, lässt dem Straßenhändler kaum etwas und zwingt ihn, neue Ware von ihm abzunehmen. Wenn sie erwischt werden, gehen die jungen Leute in den Knast, aber wie ihr Lieferant heißt, wissen sie nicht einmal. Nach Verbüßung ihrer Strafe werden sie ausgewiesen. Da sie keine Auskunft geben, woher sie kommen, wurden sie bisher irgendwo in Nordafrika an Land gebracht.»

«Grauenhaft, was für eine unmenschliche Praxis.»

«Italien hatte unter Berlusconi mit Libyens Ghaddafi Verträge darüber gemacht. Die libyschen Partner haben die Flüchtlinge entweder in Gefängnisse gesperrt und misshandelt oder hilflos ausgesetzt. Médécins sans Frontières hat es herausgefunden, als über einhundert Menschen mit Bussen in die Wüste gebracht und ausgesetzt wurden. Weit entfernt von irgendwelchen Siedlungen, tausende von Kilometern von ihren Heimatländern entfernt, ohne Wasser, ohne Nahrung. Verdammt zum Verhungern und Verdursten.»

«Woher weißt du das nun schon wieder?»

«Ein paar aufgeweckte Typen packten mehrere Batterien ins Gepäck, haben sich daraus einen Transformator gebaut und mit einem Mobiltelefon über Satellit Hilfe angefordert. So ist diese Schweinerei aufgeflogen. Bestätigt hat es mir Fabio, mein Bruder, er ist Arzt. Freunde von ihm arbeiten in Nordafrika bei Médécins sans Frontières. Ich möchte nicht wissen, was die einzelnen Länder an diese Rückschaffungsorganisationen, die die abgewiesenen Flüchtlinge aufnehmen, zur Wiedereingliederung zahlen – alles nur, damit sie unwillkommene Menschen loswerden.» Gioia redete sich immer mehr in Rage. «Medizinische Versorgung und komfortable Rückreise garantiert. Von wegen.» Ihre Stimme wurde lauter und wütender. «Jetzt ist diese Abschiebepraxis vom Europäischen Gerichtshof verboten. Endlich.»

Jane schwieg. Sie musste über das, was sie gerade gehört hatte, nachdenken. Gioia zerrte sie ins Innere des Lokals, schob ihr einen Stuhl unter und setzte sich ihr gegenüber. Ohne einen Blick auf die Karte zu werfen, bestellte sie für beide das Menü des Hauses. Ein großer Krug Vino rosso della casa wurde unaufgefordert gebracht. Brot und Wasser standen bereits auf dem Tisch.

Bald kam ihr Essen. Jetzt erst merkte Jane, wie hungrig sie nach der langen Reise war. Erst gab es Pasta, dann Fleisch und Gemüse, ein Dolce rundete das Menü ab. Jane hatte sich für Tiramisu entschieden, Gioia nahm nur eine Macedonia di Frutta.

Später am Abend kamen Renata und ihre beiden Freunde, die wie sie Gitarre spielten. Sie ließen sich in der Mitte des Lokals auf den Stufen zur Küche nieder, sangen und lachten mit den Gästen. Gegen elf Uhr war das kleine Lokal voll, und der Padrone und seine mithelfenden Familienmitglieder hatten alle Hände voll zu tun.

Lange nach Mitternacht, mehrere Krüge Rotwein später, – der Wirt wollte schließen –, zogen sie zu Renata weiter, die ihnen ein neues, von ihr komponiertes Musikstück vorstellen wollte. Bisher hatte sie es noch niemandem vorgespielt.

***

Die Mutter Oberin hatte das Dankesgebet gesprochen und für das Abendessen ein Silentium verfügt. Sie brauchte Ruhe, kein Getuschel. Schwester Annunziata, die ihr heute ausnahmsweise gegenübersaß, hielt den Kopf gesenkt. Sie löffelte ihre Suppe, ohne ein Wort, ohne den Blick vom Teller zu nehmen, Tränen rannen über ihr Gesicht, tropften in die ohnehin dünne Speise. Was ist, wenn das, was Annunziata beobachtet haben will, wahr ist? Was ist, wenn der Bürgermeister mitgemacht hat? An wen wende ich mich? Was muss ich als gläubige Christin, Oberin eines Frauenklosters, in solch einem ungeheuerlichen Fall unternehmen? Wo zeige ich einen mehrfachen Mord an, den die Obrigkeit nicht nur billigt, sondern der in ihrem Auftrag erfolgte?

Apulien wurde straff in postfaschistischer Manier regiert. Auch nachdem Mister B. zum Rücktritt gezwungen worden war. Dafür waren die erhöhten Abgaben, die neuen Steuern schon bis in den Süden des Landes vorgedrungen, aber von einer neuen Liberalität, die sich die Oberin vom Machtwechsel erhofft hatte, war bisher nichts zu spüren.

Annunziata ist ein pragmatischer Mensch, überlegte sie, und sie ist gut bei der Arbeit im Klostergarten. Sie hat den grünen Daumen für unsere Kräuter, aber keine Imagination. Sie kriegt keine Visionen und wird nicht von irgendwelchen Engeln nachts heimgesucht, sondern allenfalls vom Sohn des Gärtners am Tage geküsst. Sie kann sich das nicht ausgedacht haben!

Nach dem Essen sprach die Mutter Oberin einige Gebete. Eines galt den Menschen, die heute gestorben waren, Bekannten wie Unbekannten, Geliebten wie Ungeliebten. Es war ein sehr persönlich gehaltenes Gebet, ein emotionales, und es verfehlte seine Wirkung nicht. Schwester Barbara, die Freundin von Schwester Annunziata, die mit ihr in der Landwirtschaft zusammenarbeitete, schluchzte laut auf. Ich werde mit ihr ebenfalls reden müssen. Annunziata hat das arme Mädchen sicher mit ihren Schilderungen verunsichert.

Die Oberin ließ dem Gebet die Ermahnung folgen, alles, was sich innerhalb der Klostermauern zutrage, worüber hier geredet werde, dürfe von niemandem nach außen getragen werden. Betretenes Schweigen oder verständnisvolles Nicken waren die Antwort. Sie bat die Schwestern darum, den Abend in der Kirche oder im Kreuzgang zu verbringen, um zu beten; Trost könnten sie nur im Gebet finden. Vorsichtshalber verlangte sie, das Silentium auf den ganzen Abend auszudehnen. Die Schwestern sollten zur Ruhe kommen. Am folgenden Tag, vor dem Mittagessen, gegen elf Uhr, wollten sie sich alle in der Mensa treffen. Dann, nach reiflicher Überlegung, die von Gebeten und innerer Einsicht bestimmt sein würde, wollten sie über das Gehörte sprechen. Aber jetzt: Silentium!

Kein Widerspruch, nur unwillige Blicke und Gemurre von den jüngeren Schwestern. Sie verließen in geordneten Reihen die Mensa, gingen zum Kreuzgang, zur Kirche oder in die Klausur. Wie stand sie selbst zu dem Gehörten? Sie musste nachdenken. In ihr Zimmer zurückgekehrt, griff sie nach der Schweizer Tageszeitung, die eine durchreisende Schwester vor drei Tagen in ihrem Zimmer hatte liegen lassen. «Ohne Wasser und Nahrung auf hoher See ausgesetzt», lautete eine Titelstory. Dieser Artikel befasste sich mit muslimischen Flüchtlingen, die vor Thailand ausgesetzt wurden. Sie blätterte weiter. Da! Da stand es: «Menschenhändler werfen Flüchtlinge ins Meer.» Vor der sizilianischen Küste hätten Schlepper siebzehn Menschen über Bord geworfen. Über 14000 Flüchtlinge seien von Tripolis aus auf Booten zum 300 Kilometer entfernten Lampedusa aufgebrochen. Über 1200 würden vermisst. Jede Zeile des Artikels las sie jetzt noch einmal.

Die Oberin ließ die Zeitung sinken. Menschen wurden über Bord geworfen, weil nicht genug Proviant für die zwanzigstündige Reise mit den einfachen Fischerbooten mitgeführt werden konnte, da sie hoffnungslos überladen waren. Laut UNHCR seien unliebsame Mitbürger von Soldaten der libyschen Armee aus ihren Häusern geholt und gezwungen worden, die Flüchtlingsboote zu besteigen. So hatte der Machthaber seine Kritiker aus dem eigenen Land entfernt und sich vermutlich gleichzeitig deren Vermögen angeeignet. Und jetzt? Nach dem Sturz? Kehrten die Flüchtlinge von Lampedusa nach Libyen zurück? Davon hatte sie bisher noch nichts gelesen.

Ich brauche Hilfe, daran besteht kein Zweifel. Aber woher? Aus der Diözese? Aus Rom? An wen soll ich mich wenden? Eher unwahrscheinlich, dass sie von einer übergeordneten Instanz mit Unterstützung rechnen konnte. Ganz langsam wurde ihr klar, dass sie in einer so schwierigen Frage auf sich alleine gestellt sein dürfte. Ich kann das Gehörte nicht auf sich beruhen lassen. Die Oberin war ans Fenster getreten, blickte auf den Kreuzgang, wo einige der Schwestern noch im Gebet langsam herumgingen. Sie gab Annunziata, die zu ihrem Fenster aufblickte, ein Zeichen, zu ihr zu kommen. Kurze Zeit später klopfte es an der Tür ihres Arbeitszimmers.

Erst nach mehrmaligem, lauten «Herein, herein!» betrat die junge Frau den Raum. Annunziata schloss die Tür, blieb mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf mitten im Zimmer stehen. So aufmunternd die Oberin sie auch ansah, kein Wort kam über Annunziatas Lippen.

«Für dich gilt das Silentium nicht, da ich mit dir reden möchte.»

«Verzeihen Sie, Mutter Oberin. Ich hätte nicht so einen Wirbel machen sollen. Ich habe Unrecht getan.»

«Unrecht, mein liebes Kind, war, was da geschehen ist, was du mit ansehen musstest.»

«Sie glauben mir?» Annunziata sah vollkommen überrascht auf. «Ich dachte, sie verhängen das Silentium, damit wir lernen, kein dummes Zeug zu reden.»

Die Mutter Oberin schüttelte ihren Kopf, hob ihn plötzlich, legte ihn leicht nach hinten und lauschte. Der Zeigefinger an die Lippen bedeutete, dass Annunziata schweigen möge. Beide lauschten angestrengt.

Auf dem Flur näherten sich schlurfende Schritte, ein Klopfen an der Tür. Dann wurde diese ganz langsam geöffnet und der Kopf der alten Schwester Maria-Gabriella lugte herein. «Darf ich …?»

Die Mutter Oberin winkte die alte Frau zu sich, schob ihr einen bequemen Sessel hin, holte einen zweiten für Annunziata, die nur sehr zögerlich Platz nahm. Dann ging sie an ihren Medizinschrank. Sie nahm drei kleine Süßweingläser und eine Flasche Portwein heraus, der ihr zur Bekämpfung von allerlei Krankheiten diente, und vor allem im Kampf um die Schwermut hervorragende Dienste leistete.

«Annunziata, ich möchte dich bitten, über das was wir hier diskutieren, mit niemandem zu sprechen.»

Die Angesprochene nickte, verschwörerisch lächelnd. Die Mutter Oberin war sich nicht sicher, ob sie richtig verstanden worden war, denn es ging ihr nicht darum, dass Annunziata Schweigen über das Getränk, das der moralischen Stärkung dienen sollte, bewahrte. Es ging ihr um das Gespräch, das sie mit dem verwirrten und verängstigten Mädchen führen wollte.

«Erzähl uns bitte noch mal, was sich heute Nachmittag zugetragen hat. Schön der Reihe nach. Schwester Maria-Gabriella und ich, wir möchten uns ein Bild machen, von dem, was du hast ansehen müssen.»

Gestärkt von einem Glas Portwein und aufgemuntert, weil zwei so wichtige Menschen wie die Mutter Oberin und die älteste Ordensschwester ihr Glauben schenkten, begann sie: «Ich war auf dem Weg zurück zum Kloster. Kam vom Markt. Ich hab alle meine Kräuter gut an den alten Michele verkaufen können. War alles frisch und kein welkes Blatt …» Wenn es etwas gab, worin niemand der einfachen Annunziata das Wasser reichen konnte, dann waren es die Pflege, Aufzucht und der Verkauf ihrer Kräuter.

«Ich hatte über 50 Euro bei mir …»

Die Mutter Oberin wollte sich nicht in Einzelheiten über die Vorzüge der im Kloster ungedüngt, aber liebevoll gepflegten Pflanzen im Vergleich zu chemisch vergifteten hineinziehen lassen, deshalb versuchte sie, das Verfahren abzukürzen: «Du brauchst uns nur von deinem Heimweg am Nachmittag zu berichten, meine liebes Kind.»

«Ich hörte eine Gruppe Männer, vor dem Steinbruch, da, wo die Straße so einsam ist. Ich hatte Angst, schließlich weiß ich ja, was Schwester Barbara zugestoßen ist, als sie eines Abends allein vom Dorf zum Kloster ging …»

Die Mutter Oberin seufzte. Drei Burschen waren über die Novizin hergefallen. Einer von ihnen war der Sohn des Bürgermeisters gewesen. Einen Prozess wegen Vergewaltigung im äußersten Süden Italiens, in dem der Sohn eines der Honoratioren der Hauptangeklagte ist, dass hätte die Mutter Oberin nicht einmal ihrer ärgsten Feindin gewünscht. Nach vielen Rücksprachen mit der Diözese, die wiederum Rücksprache mit dem Bürgermeister genommen hatte, verschwand der Sohn des Bürgermeisters im Ausland. Sprachunterricht. Später soll er im Norden wieder aufgetaucht sein. Dort war er noch und verdiente sich seine Sporen in der Politik, wusste man im Dorf zu erzählen.

«Du hast dich aus Angst vor den Männern verborgen», versuchte die alte Maria-Gabriella der jungen Frau weiter zu helfen.

«Ja, hinter dem dichten Buschwerk. Einer der Kerle, der dicke Giacomo, nahm den Bulldozer und schaufelte im alten Teil des Steinbruchs, da, wo seit Jahren nicht mehr abgebaut wird, eine tiefe Grube. Die anderen beratschlagten, ob die Stelle richtig ist. Ich hatte furchtbare Angst, zu spät ins Kloster zu kommen, aber ich traute mich nicht aus dem Versteck. Dann kam noch eine Gruppe von Männern, allen voran der Bürgermeister. Sie zerrten müde und halbverhungerte Männer, die nur nasse Lumpen am Leib hatten, hinter sich her. Keine Italiener, ganz dunkelhäutige, eher wie aus Afrika oder Arabien. Sie hatten Gewehre, der Bürgermeister und seine Kerle, Jagdgewehre. Alle.»

«Wie viele waren es?» Die Mutter Oberin hörte die Geschichte nicht zum ersten Male, aber je länger sie Annunziatas Worten lauschte, je genauer sie die junge Frau ausfragte, umso überzeugter war sie vom Wahrheitsgehalt des Erzählten. Ihr wurde kalt und sie zog den schwarzen, wollenen Schal fester um die Schultern.

«Fünf, nein, sechs. Sie standen teilweise hintereinander. Außer dem Bürgermeister konnte ich nur den Bäcker vom Marktplatz erkennen, die anderen sind mir fremd. Sie zerrten die Männer in den Steinbruch. Die schrien und jammerten in einer Sprache, die ich nicht kannte, doch die anderen lachten sie nur aus. Im Steinbruch unten warfen sich die Männer auf die Knie, beugten sich alle in ein und derselben Richtung. Ich hatte den Eindruck, sie beten oder rufen Gott an. Ich verstand nur Allah und Mohammed, und immer wieder Allah und Mohammed. Auf halbem Weg in den Steinbruch stand Don Manfredo und hielt ein Kreuz hoch.»

«Muslime», warf Schwester Maria-Gabriella ein.

«Don Manfredo? Das ist unglaublich …» Die Mutter Oberin war entsetzt.

«Ich konnte die Männer bald nicht mehr sehen, weil sie in den hinteren Teil des Steinbruchs gezerrt wurden. Ich wollte mich schon auf den Weg machen, als mehrere Schüsse fielen. Ganze Salven, zweimal.»

«Wenigstens ist dem Mädchen der Anblick erspart geblieben», murmelte Schwester Maria-Gabriella leise vor sich hin.

Die Mutter Oberin schenkte allen ein weiteres Glas ihrer Medizin ein. Ihre Hände zitterten. «Kein Wort, mein Kind, zu keinem Menschen. Nun setz dich erst einmal bequem hin und trinke dein Glas mit dem roten Saft aus.»

«Der ist sehr fein», versicherte Annunziata.

«Wir müssen nachdenken, was wir unternehmen können.» Wie leicht doch das falsche Versprechen über ihre Lippen kam. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was zu tun war. Der Bürgermeister, der Bäcker, Giacomo, der Kranfahrer … Don Manfredo?

Annunziata bedankte sich: «Ich weiß bei euch alles in guten Händen, Mutter Sofro.» Sie errötete, weil sie die Oberin aus Versehen mit ihrem Spitznamen angesprochen hatte. «Ihr werdet das einzig Richtige veranlassen», setzte sie hastig hinzu. Dann rutschte sie wieder nach vorn auf die Stuhlkante.

«Und was ist das einzig Richtige?» Die Mutter Oberin fragte das mit tonloser Stimme.

«Das Nächstliegende.» Schwester Maria-Gabriella war aufgestanden, schenkte jeder noch einen Fingerhut voll vom Portwein nach. «Wir müssen in den Steinbruch gehen und sehen, ob jemand das Massaker überlebt hat. Wir sind Karmeliterinnen, als gute Krankenschwestern bekannt.» Schwester Maria-Gabriella war Operationsschwester gewesen, sie hatte als Novizin im letzten Weltkrieg im Feldlazarett gearbeitet.

Die Mutter Oberin überlegte nur kurz. Sie hatte keine Wahl. Sie musste helfen, das hatte sie gelernt, dazu war sie ausgebildet, das war ihre Pflicht. «Du bleibst hier, Maria-Gabriella, in meinem Zimmer, am Schreibtisch. Ich nehme mein Mobiltelefon mit.» Sie griff in die Schublade, kontrollierte es, nachdem sie es angestellt hatte. «Die Batterie ist fast voll. Ich fahre mit Annunziata. Sie kann mir den Weg weisen. Sollten wir jemanden finden, dem wir noch helfen können, rufe ich dich an. Dann bereitest du alles Notwendige vor.» Sie griff die schwarze Ledertasche, die sie für Notfälle bereithielt und in der sich alles befand, was der Mensch von seiner Geburt bis zum Tod, von der Taufe bis zur letzten Ölung benötigte.

«Die letzte Ölung brauchst du vermutlich bei Muslimen nicht so dringend, sondern eher mehr Verbandsmaterial …» Maria-Gabriella, ganz OP-Schwester, gab praktische Ratschläge aus dem reichen Schatz ihrer Weltkriegserfahrungen.

Die Mutter Oberin holte aus der Erste-Hilfe-Station weiteres Verbandszeug und Klemmen. Schweigend stiegen sie in den Fiat Panda. Langsam fuhren sie die schmale Schotterstraße entlang. Nach etwa zwanzig Minuten kamen sie zum Steinbruch. Die Oberin schaltete das Licht aus, der Mond war rund und hell, die Umrisse der Bäume und Büsche, selbst die Wege waren gut zu erkennen. Sie parkten den Wagen in einem Seitenweg, dann machten sie sich schweigend an den Abstieg. Sie waren auf halber Höhe, als Annunziata leise ausrief: «Herr im Himmel, steh mir bei», auf die Knie sank und zu beten begann.

Unschlüssig stand die Mutter Oberin neben ihr. «Was ist, mein Kind, was siehst du?» Sie fasste die Zitternde an den Schultern, zog die weinende junge Frau an sich, streichelte ihr beruhigend über den Rücken.

Es dauerte einige Minuten, bis Annunziata sich so weit beruhigt hatte, dass sie sprechen konnte. «Sie haben Felsbrocken auf die Grube geschoben. Die Männer, die sie angeschleppt und erschossen haben, liegen direkt dort unter den Steinen begraben.» Annunziatas Stimme drohte, sich zu überschlagen. «Der Bagger steht noch daneben.»

«Du bleibst hier, setz dich. Kein Wort mehr. Keine Taschenlampe anknipsen. Ich gehe jetzt alleine weiter.» Die Mutter Oberin griff ihre Tasche und stieg den schmalen Geröllweg in den Steinbruch allein hinab: Sie kam zu spät. Keine Klemme, kein Druckverband war mehr nötig.

Sie ging um den Bagger herum, leuchtete mit abgeschirmter Taschenlampe einige kleine Steine an. Sie überlegte. Sie hob von den kleinen Steinen diejenigen auf, an denen sie Blutspuren entdeckte, wickelte sie in Verbandmull und steckte sie in die weiten Taschen ihres Kleides. Dann kniete sie nieder, betete und legte das Heiligenbild des Franziskus unter einen Stein, auf den sie ein paar Tropfen ihres geweihten Öles vergoss. Sie betete nicht nur, sie überlegte ganz weltlich, wie sie ein wenig Unsicherheit unter den Mördern verbreiten könnte. Das Öl und das Heiligenbild sollten erst der Anfang sein. Es war nur eine bescheidene Möglichkeit, doch der Baggerführer würde es am nächsten Morgen nicht übersehen. Er sollte sich fragen, welcher seiner Mörderbrüder, von Reue gepackt, heimlich zum Ort des Geschehens zurückgekehrt war.

Donnerstag

Die Fahrt zurück zum Kloster ging nur sehr langsam voran. Die Mutter Oberin hatte neben sich eine schluchzende Nonne und das Problem, dass sie nur mit Standlicht in ihrem Panda Climbing 4x4 die schmale Schotterpiste zum Kloster finden musste.

Sie durfte unter keinen Umständen die Aufmerksamkeit der Bewohner des nahen Dorfes erregen. Es kostete sie große Mühe, nicht vom Weg abzukommen, denn in der Zwischenzeit hatten sich Wolken über den Mond geschoben. Der Ort des dramatischen Geschehens war mit einem dunklen Mantel sanft bedeckt.

Scheinwerfer wären ihr lieber gewesen. Am allerliebsten Presse und Fernsehen dazu. Ein Blitzlichtgewitter, wenn Giacomo gezwungen würde, mit seinem Bagger die Felsen zur Seite zu schieben. Wunschfantasien einer nicht mehr ganz jungen Frau, die noch immer dem Traum einer irdischen Gerechtigkeit nachhing, auch wenn sie mehr und mehr hatte einsehen müssen, dass die göttliche Gerechtigkeit die verlässlichere sein mochte. Zumindest leichter, und sicher ungefährlicher zu erreichen. Der heiligen Mutter Gottes und dem Herrn Jesu sei Dank!

Sie biss die Zähne zusammen. Ihre Kiefermuskeln mahlten. Es ging nicht nur um sie, es ging um das Kloster. Gerade wollte sie ein paar Worte der Beruhigung an Annunziata richten, als sie ein Bündel auf der Straße bemerkte, wegen des Standlichtes viel zu spät. Ganz leicht berührte der bremsende Wagen, der auf der Schotterstraße rutschte, die Lumpen.

Beide Frauen stiegen aus und schraken zusammen, als sie ein Stöhnen hörten. Die Mutter Oberin beugte sich über den Menschen, zog die Wolldecke beiseite und erwartete, einen Obdachlosen zu sehen. Der dunkelhäutige Mann mit dem Vollbart könnte zwar mal wieder ein Bad vertragen, aber erst musste der stark blutende und klaffende Riss an seiner Stirn genäht werden, den er von der kirchlichen Stoßstange erhalten hatte.

«Verstehen Sie mich, mein Herr?» fragte sie vorsichtig, denn der Herr schien ihr für einen Italiener ein bisschen zu dunkelhäutig.

«Ja, ich spreche Ihre Sprache, Schwester», kam die Antwort.

Dieser Abend bot der Merkwürdigkeiten mehr als genug. Was die Mutter Oberin aber nun wirklich nicht als Krönung brauchte, war eine polizeiliche Ermittlung darüber, weshalb sie mit Standlicht wehrlose Männer zusammenkarrte. «Gibt es einen Ort, an den Sie gebracht werden möchten? Kennen Sie jemanden hier in der Nähe? Oder ist es Ihnen recht, mein Herr, wenn ich Sie auf die Krankenstation in unserem Kloster mitnehme?»

«Bitte nehmen Sie mich mit in Ihr Kloster. Bitte zu niemandem ein Wort über mich.» Mühsam und nur mit der Hilfe der beiden Frauen gelang es dem Verletzten, sich auf den Beifahrersitz zu setzen. Annunziata hatte aufgehört zu weinen. Sie war nun ebenso ruhig wie hilfsbereit, gab es doch endlich etwas zu tun, womit sie klarkam: Hilfe zu leisten.

Sehr vorsichtig setzte die Mutter Oberin die Fahrt fort. Es war lange nach Mitternacht, als sie den Klosterhof endlich erreichten. Annunziata verschloss das Tor von innen, bevor die beiden Frauen den verletzten Mann in die Erste-Hilfe-Station des Klosters mehr schleppten, als begleiteten. Er war völlig entkräftet. Dort erwartete sie die telefonisch alarmierte Schwester Maria-Gabriella mit desinfizierten und behandschuhten Händen und im weißen Kittel über dem Kleid.

Annunziata wurde mit einem Hinweis, zu niemandem ein Wort zu verlieren, und einem weiteren über die beruhigende Wirksamkeit mehrere «Gelobet seiest du, Maria voll der Gnade, der Herr ist mit dir …» ins Bett geschickt. Dann ging die Mutter Oberin in die Krankenstation.

Schwester Maria-Gabriella hatte das Gesicht des Patienten mit einem aseptischen Mittel gereinigt und die klaffende Wunde mit diesen neumodischen Strips zusammengeklebt und einen leichten Druckverband appliziert. Doch sie war mit ihrem Werk nicht zufrieden. Nachdenklich schüttelte sie den Kopf, beide Hände in die Seiten des weißen Kittels gestemmt, den sie über ihrer Tracht trug. Sie brummelte missmutig vor sich hin.

«Was hast du, liebe Schwester?» wollte die Mutter Oberin von ihr wissen.

«Er gefällt mir nicht, er gefällt mir ganz und gar nicht», murmelte die alte Frau.

Da die Mutter Oberin erleichtert war, dass alles so gut verklebt, so ordentlich verbunden aussah, versuchte sie es mit einem Scherz: «Er gefällt dir nicht, liebe Maria-Gabriella? Aber er ist doch ein ganz gut aussehender Mann, der nur ein wenig gelitten hat, als er was von meiner Stoßstange abbekam.»

«Mir ist nicht nach Scherzen zumute. Er ist ohnmächtig. Sein Blutdruck sinkt. Wir müssen ihn untersuchen.» Mit Hilfe einer großen Schere arbeiteten die beiden routinierten Krankenschwestern, als wollten sie ein Verkehrsopfer für den OP vorbereiten.

Mit einem grünen Tuch bedeckten sie den Unterkörper. Den Rippen und dem Bauchraum des Ohnmächtigen galt die ganze Aufmerksamkeit von Schwester Maria-Gabriella, während sich die Mutter Oberin den Kleidern, insbesondere dem schmutzigen, wollenen Oberhemd des Mannes widmete. Sie tastete die Taschen des Hemdes ab, fühlte irgendwo in dem Ärmel eine harte Stelle und suchte nach dem Gegenstand, der dafür verantwortlich sein mochte. Nicht, dass das Hemd, so zerrissen und von Salzwasser verkrustet, wie es da vor der Oberin lag, noch zu brauchen wäre. Schließlich entdeckte sie im Oberarm des Hemdes den rechteckigen Gegenstand. Er war mit vielen kleinen, sehr sauberen Stichen eingenäht worden. Die Oberin schätzte ein so gutes Handwerk. Trotzdem trennte sie die Naht ganz vorsichtig auf und löste eine Plastikkarte heraus.

Währenddessen stellte Schwester Maria-Gabriella fest, dass der Blutdruck ihres Patienten weiter fiel. «Wir müssen den Dottore aus dem Bett holen», verkündete sie nach reiflicher Überlegung.

«Warum? Hat es keine Zeit bis morgen früh?»

«Er hat zumindest gebrochene Rippen, aber vermutlich auch innere Verletzungen. Der Blutdruck fällt immer noch. Ich kann nichts für ihn tun. Sollte er innere Verletzungen haben, muss er in ein Krankenhaus überführt werden.»

«Bloß das nicht. Dann habe ich wirklich ein Problem», murmelte die Oberin und griff seufzend nach dem Telefon. Der Dottore, ihr Neffe, ein junger, sehr zuverlässiger Mensch, begrüßte sie mit einem Fluch: «Zum Teufel! Wer wagt es, mich so spät zu stören?»

Mit «Gelobet seiest Du, Jesus Maria!» quittierte die Oberin die Anrede.

«Nicht etwa eine Fehlgeburt?» fragte der Arzt spöttisch, als ihm klar war, mit wem er sprach.

Die Mutter Oberin musste sich zusammenreißen, um nicht ausfällig zu antworten. Sie kam aus dem Allgäu und war dort unter einfachen Leuten aufgewachsen. Durch ihre süditalienische Mutter beeinflusst, hatte es sie später in deren Heimat verschlagen. «Es ist ebenso ernst wie eilig wie geheim! Bitte komm sofort!» Damit legte sie auf.

Als sie nach einigen Minuten herunterging, um das Tor der Außenmauer, die die Kirche und das Kloster umschloss, zu öffnen, hörte sie schon das leise Surren des großen Toyota Landcruiser des Arztes. Er bog in den Hof ein, stellte den Motor ab. Zu seiner Verwunderung schloss die Mutter Oberin sogleich das Hoftor, bevor sie ihm zur Krankenstation vorausging.

«Muss ja mindestens ein Kardinal sein, dem dein Essen nicht bekommen ist, liebe Tante», lästerte er augenzwinkernd.

«Schlimmer, Dottore, schlimmer.»

Als der Arzt den Patienten sah, schüttelte er nachdenklich den Kopf. Er untersuchte ihn mit beruhigender Routine. «Selber aus dem Wasser gezogen, meine Damen? Er ist stark unterkühlt. Ich benötige mehr Decken.»

«Er lag auf der Straße. Ich hab ihm die Wunde am Kopf mit meiner Stoßstange zugefügt. Ich konnte nicht schnell genug bremsen.» Die Mutter Oberin wurde unruhiger, je länger der Arzt den Patienten untersuchte.

«Einen Araber, vermute ich mal. Fiebrig, weil erkältet, entkräftet, vielleicht eine leichte Gehirnerschütterung, zwei gebrochene Rippen, eventuell innere Verletzungen. Aber nicht sicher.» Er stand lange neben dem Kranken. «Weißt du, wer er ist? Hat er einen Namen genannt?»

Kommentarlos reichte ihm die Mutter Oberin die Plastikkarte, die sie gefunden hatte. Der Arzt sah sie sich genau im hellen Licht der Untersuchungslampe an. «Wenn das Ding echt ist, dann ist euer Gast eine Art Offizier der Polizei aus Kairo. Er heißt Hakim mit Vornamen, der Nachname ist nur schwer lesbar. Hakim Achmed Ali Mahmud el … das kann ich nicht mehr lesen.»

«Können Sie arabisch, Dottore?» Schwester Maria-Gabriellas Stimme war voller Ehrfurcht.

«Nein, hier steht es klein in englischer Sprache unter den arabischen Zeichen. Wollen Sie nicht die Polizei benachrichtigen, und denen mitteilen, wen Sie beherbergen?»

Die beiden Frauen sahen sich an, schüttelten gleichzeitig verneinend den Kopf. «Auf gar keinen Fall!», bekräftigte die Mutter Oberin ihre Weigerung.

«Und warum nicht?»

«Das ist eine lange und komplizierte Geschichte.» Die Mutter Oberin hatte den Ausweis wieder an sich genommen und wollte ihn in die Tasche ihrer Kutte stecken, als sie die Steine ertastete. Sie zog sich Gummihandschuhe über und nahm einen Stein nach dem anderen aus ihrer Tasche. Sie legte sie vor Schwester Maria-Gabriella und den Dottore auf den Tisch. Die Seiten der Steine, an denen Blut klebte, legte sie nach oben.

«Ich erinnere dich an deine Schweigepflicht als Arzt, Alberto!» sagte sie in strengem Ton.

Der lachte. «Aber nur, wenn ich was von deinem Schafskäse und dem offenen Roten bekomme, während du erzählst. Sonst verhungere ich noch vor dem Frühstück. Bis vor einer Stunde war ich bei einer Geburt, dem dritten Sohn von Sofia und Giuseppe, ein Prachtkerl. Habe noch nicht mal zu Abend gegessen …»

«Dürfen wir so viel von deiner Zeit in Anspruch nehmen, Alberto?» fragte die Mutter Oberin ängstlich, «oder musst du zu der jungen Mutter zurück?»

«Tantchen, für dich nehme ich mir alle Zeit der Welt. Den Blutdruck des Patienten muss ich eh alle dreißig Minuten kontrollieren, bis ich sicher sein kann, dass er keine inneren Verletzungen hat.»

Sie betteten den Patienten um, schlossen ein altmodisches EKG an, stellten eine Art Babyphon neben sein Bett, um jeden Laut im angrenzenden Zimmer hören zu können. Dann gingen sie in den Aufenthaltsraum, der zur Krankenstation gehörte. Gemütliche Sessel erwarteten sie und ein eilig von Schwester Maria-Gabriella gerichtetes Mahl aus frischem Brot und Schafskäse. Obst und Rotwein standen schon auf dem Tisch. Die Oberin legte die blutigen Steine nun auf ein Regal, noch immer geschützt von dem Mull, in den sie ihren Fund gehüllt hatte.

«Das sind die Beweise, dass im Steinbruch Männer umgebracht und vom Bagger verscharrt wurden. An die Blutspritzer haben die Dummköpfe von Mördern nicht gedacht», begann die Mutter Oberin ihre Erzählung, Müdigkeit kam bei der Geschichte kaum auf. Der junge Arzt rutschte vor Anspannung auf dem Sessel nach vorn.

Als sie mit ihrem Bericht geendet hatte, sah sie ängstlich zu ihrem Neffen. Würde er das alles als Hirngespinst einer nicht mehr ganz jungen Ordensschwester abtun? «Glaubst du mir nicht?»

Nach einem Blick auf seine Uhr stand er auf, ging ins Nebenzimmer, um den Blutdruck seines Patienten zu kontrollieren und las das EKG. Diesmal blieb er länger weg. Als er zurückkam, schüttelte er den Kopf, so als glaube er nicht, was er gehört oder gesehen hatte. Sein Gesicht war sorgenvoll. Seine von der Sonne gebräunte Gesichtshaut wirkte vor Müdigkeit schlaff und unter den Augen hatten sich dunkle Schatten gebildet.

«Ist was passiert?» wollte die Oberin wissen. «Geht es ihm nicht gut?»

Der Arzt nickte. «Doch, doch, er ist wohl in Ordnung.» Er sah seine Tante an. «Ich glaube leider jedes Wort deiner Geschichte. Doch das, was du mir erzählt hast, ist noch nicht alles. Unser Patient weiß da etwas viel Schlimmeres zu berichten», er sprach ganz leise.

«Du glaubst mir die Geschichte?» Ihre Stimme klang angespannt und unsicher. Ängstlich sah sie zu ihm auf. «Was ist mit ihm?»

«Ihm geht’s soweit gut. Hab mit ihm sprechen können.»

«In welcher Sprache?»

«Er spricht fließend italienisch. Wir müssen noch weitere Flüchtlinge suchen. Er ist nicht alleine hier an Land gekommen. Er ist als Schiffbrüchiger zusammen mit Frauen und Kindern an einer Bucht gestrandet. Wir müssen durch den Wald, ganz in der Nähe, wo du den armen Kerl angefahren hast, unten am Meer, da halten sich Frauen und Kinder versteckt.»

Die Mutter Oberin und Schwester Maria-Gabriella erhoben sich, die Oberin griff nach ihrer Tasche, Maria-Gabriella hatte die Hände vor ihr Gesicht geschlagen. «Wie entsetzlich, wie entsetzlich», murmelte sie vor sich hin.

Kurze Zeit später rollte der Wagen des Arztes leise und nur mit Standlicht aus dem Klosterhof, vor ihm fuhr die Oberin, die ihm die Stelle zeigen wollte, wo sie den ungebetenen Gast aufgelesen hatte. Sie mussten die Frauen und Kinder noch vor Sonnenaufgang finden, um sie im Kloster vor dem mörderischen Bürgermeister und seinen Kumpanen in Sicherheit zu bringen.

***

Im Osten verdrängten dunkle Gewitterwolken die Nacht, die die aufgehende Sonne an wenigen Stellen durchdrang. Ein fahles Licht breitete sich über den leeren Straßen und Gassen des Trastevere aus. Müde und mit vom Rotwein schwerem Gang schleppten sich die Freundinnen untergehakt zur Straßenbahnhaltestelle. «Die erste kommt bald», versicherte Gioia zuversichtlich mit schwerer Zunge. «Bis wir an der Haltestelle Victor Hugo sind, ist die Straßenbahn auch da.» Weit und breit war kein Taxi zu sehen.

Ein junger Mann afrikanischer Herkunft rannte aus dem Schutz der Vorhalle der Kirche Santa Maria in Trastevere quer über den Platz, duckte sich kurz hinter dem Brunnen, rannte weiter und als er sah, dass er immer noch verfolgt wurde, verschwand er in einem der Vicoli. Ein Mann in schwarzer Motorradkleidung mit dunklem Helm, dessen Visier geschlossen war, folgte ihm zu Fuß. Jane klammerte sich an Gioias Arm fest. Diese zog sie in einen der Hauseingänge. «Da müssen wir ja wohl nicht dazwischen geraten.»

«Rufe die Carabinieri!» verlangte Jane.

«Glaubst du, damit tue ich dem jungen Afrikaner einen Gefallen?»

Jane schwieg. Sie waren machtlos; sie konnten nichts tun, außer sich selbst zu verstecken. «Wir sind genau solche Feiglinge, wie es unsere Großeltern waren, die die Faschisten geduldet haben, die zu einem Mussolini und Hitler geschwiegen haben, die …»

«Halt die Klappe.» Gioia riss die Freundin nach hinten. In dem Augenblick knallte ein Schuss durch die Stille des Morgens. Durch das Echo potenzierte sich der Lärm. Ein Motorrad heulte auf, raste davon. «Ein alter Trick, einer schießt, ein anderer fährt mit einem Motorrad los. Die meisten Leute denken nun, es habe sich um eine Fehlzündung gehandelt.» Gioia nahm die Freundin am Arm, zog sie tiefer in den Hauseingang.