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Blutige Hagebutten ist eine Sammlung von 8 Krimis, in denen Hauptkommissar Horst Gundler und sein junger Assistent Kommissar Martin Lieberenz Mordfälle zu klären haben, die sich im Raum Berlin zutrugen.
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Seitenzahl: 720
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Für Anke
Alle Personen und Orte der Handlungen sind frei erfunden.
Blutige Hagebutten
Martinsgans
Flucht am Heiligen Abend
Urlaubsende
Weiße Lilien und rote Rosen
Heinrich
Die neue Wohnung
Der Tote im Park
Personen:
Hanne und Hans, ein Ehepaar
Walter, ihr treuer Hund
Manfred Conrad, ein besorgter Vater
Corinna Conrad, seine zweite Frau
James Conrad, Sohn aus zweiter Ehe
Marion Conrad, seine erste Frau
Gunnar Conrad, Sohn aus erster Ehe
Frau Borg, Hausdame bei Manfred Conrad
Kati und Otto, Betreiber eines Etablissements
Bernd und Pitter, zwei kleine Ganoven
Hauptkommissar Horst Gundler
Kommissar Martin Lieberenz
Prof. Dr. Karl Wohlgemuth, Gerichtsmediziner
Es war 1.Advent und es war typisches Wetter für diese Jahreszeit, wie so oft in Berlin. Die meisten Leute wünschen sich in der Weihnachtszeit ja wenigstens ein wenig Schnee, stattdessen war es nur nasskalt und neblig. Aber das ungemütliche Wetter konnte Hanne und Hans nicht davon abhalten, mit ihrem Hund Walter den gewohnten Spaziergang um die Krumme Lanke zu unternehmen. Walter war groß wie ein Kalb, genauso temperamentvoll und sein Körper muskelbepackt. Er war von unbestimmbarer Rasse. Seine Eltern und Vorfahren hatten sich offenbar mit allen möglichen Hunderassen liebevoll vereinigt und wie man ihm ansah, waren es stets die großen Rassen gewesen. Walter war beeindruckend und kräftig, hatte halblanges sehr dickes schwarzes Fell und war seinen Menschen absolut zugetan. Er war vorbildlich erzogen, denn auf ein Kräftemessen mit ihm mochten sich seine Besitzer besser nicht einlassen. Er wäre ihnen weit überlegen gewesen. Aber er war auch von absolut friedlichem Wesen und nie würde er einem Fremden etwas tun, auch wenn es oft geschah, dass Leute ängstlich versuchten ihm auszuweichen. Er ignorierte alle Fremden, für ihn gab es nur Herrchen und Frauchen. Er ging friedlich seiner Wege, aber wenn sich jemand seinen Menschen in unguter Absicht näherte, bereute derjenige das auf der Stelle. So war einmal ein junger Mann sehr forsch auf das Ehepaar zugestürmt, als die bei ihrem üblichen Spaziergang allein den Uferweg entlang gingen und hatte Hans angeblafft, er solle sein Geld herausrücken und drohend die Fäuste geschwungen. Ein älteres Ehepaar schien ihm nicht gefährlich zu sein, da fühlte er sich stark. Hans hatte sich aber nicht einschüchtern lassen. Er fuhr den Kerl an, „was, zum Teufel ist denn über Sie gekommen, ziehen sie gefälligst hier ab!“. Der Kerl holte zu einem Faustschlag aus, doch zum Pech des Kriminellen, hatte er Walter übersehen, der am Wegrand herum geschnüffelt hatte. Der Ton seines Herrchens ließ ihn aufhorchen und er sah die Bedrohung, die von dem Kerl ausging sofort. Wie der Blitz schoss er heran und riss den Unhold auf der Stelle um. Der fiel sehr unsanft auf den Weg, verletzte sich an der Hand, möglicherweise war die sogar gebrochen und holte sich eine heftige Beule an der Stirn. So lag er dann bäuchlings auf dem Weg und jammerte laut. Walter stand knurrend über ihm, die Vorderpfoten auf seinem Rücken, zeigte sein eindrucksvolles Gebiss, tat jedoch nichts weiter. Der Kerl schielte zur Seite, sah den Hundekopf und brüllte um Hilfe. Nichts war mehr da von seiner Frechheit und seinem vermeintlichen Mut, als er glaubte ein älteres Ehepaar zu überfallen wäre ein Leichtes. Er getraute sich nicht zu rühren und blökte hilflos herum. „Nehmen Sie das Ungeheuer weg“, schrie er und seine Augen quollen ihm beinahe aus dem Kopf. „Dumm gelaufen, was“, meinte Hans grinsend und rief Walter zu sich. Den Moment nutzte der Dieb, um in Windeseile zu türmen. Die verletzte Hand stützte er beim Laufen mit der anderen ab, die hatte ganz offenbar etwas abbekommen. Walter hätte den Mann mit Leichtigkeit einholen können, doch Hans schickte ihn nicht hinterher. Er hoffte, der Kerl hätte genug mit seinem Schrecken zu tun und die Blessuren waren seiner Ansicht nach Strafe genug. Das hatte offenbar sehr weh getan. Recht geschah es ihm, dachte er und ließ ihn flüchten. „So eine ekelhafte Kreatur“, schimpfte Hanne und lobte Walter für seine Aufmerksamkeit. Der nahm das freudig hin, aber für ihn war es nichts Besonderes gewesen, seine Menschen behütete er eben.
An diesem Adventsonntag begegneten ihnen jedoch nur friedliche Leute. Allerdings waren nicht viele Menschen unterwegs, das Wetter war ja auch nicht dazu angetan, sich draußen wohl zu fühlen.
Hanne hatte zuhause alles weihnachtlich geschmückt, doch sie hatte vor, noch einige Hagebuttenzweige für eine Vase zu schneiden, die sie zu den darin arrangierten Kiefernzweigen stellen wollte und sie wusste auch genau, wo sie diese Zweige finden würde. Im Sommer begeisterte sie stets ein wundervoller großer Rosenbusch am Weg, der nun seine Blüten in die leuchtenden Hagebutten verwandelt hatte. Gemütlich bummelte das Ehepaar den Uferweg entlang. Sie genossen auch dieses Wetter, denn gerade der Nebel ließ die bizarrsten Bilder über dem Wasser und am Weg erscheinen. Nebelstreifen, die alles verhüllten und dann durch einen leichten Wind wieder freigaben und dabei wie das Brodeln in einer Hexenküche wirkten, ließen den Weg romantisch und geheimnisvoll erscheinen. Walter hatte viel damit zu tun, alle Duftspuren der Kollegen zu inspizieren und seine Meinung zu deren Nachrichten zu hinterlassen. Er hob unzählige Male sein Bein und machte den Weg mindestens dreimal, denn er musste stets hin und herlaufen. Mit anderen Worten, er hatte seinen Spaß. Hans achtete darauf, wenn er etwas Festeres hinterließ und sammelte den Haufen in eine Tüte. Bei aller Hundeliebe, andere Leute mit Walters Hinterlassenschaft zu belästigen kam für ihn nicht infrage.
Hauptkommissar Horst Gundler hatte noch keine große Adventstimmung, denn er und sein junger Assistent Martin Lieberenz hatten Bereitschaftsdienst an diesem Sonntag. Gundlers Frau Katharina war daran gewöhnt und regte sich über Sonntage ohne ihren Mann niemals auf. Sie hatten dann an einem anderen Tag Zeit füreinander, das war nun einmal so, wenn man einen Polizisten heiratete. Ebenso war es, wenn ihr Mann mitten beim Essen oder in der Nacht zu einem Mordfall gerufen wurde. Sie sah es gelassen und Gundler wusste, was er an ihr hatte, denn etliche Kollegen hatten deswegen Ärger zuhause, was er niemals begriff.
Lieberenz‘ junge Freundin sah das ganz anders als Frau Gundler und hatte ihm bereits wiederholt Szenen geliefert, wenn er an den Wochenenden Dienst hatte oder plötzlich abberufen wurde. Sie war der unsinnigen Ansicht, er müsste das verweigern. An diesem Morgen hatte sie ihre Launen jedoch übertrieben, es war zu einem heftigen Streit gekommen und er hatte sie aus der Wohnung gewiesen. Mit einer Frau, die absolut kein Verständnis für seinen Beruf hatte, mochte er auf Dauer nicht leben, das war ihm zu dumm. Heulend und zeternd hatte die ihre Sachen in die Reisetasche gepackt, den Schlüssel auf den Tisch geworfen und war fluchend auf ihn und seine sog. rücksichtslose Arbeitswut von dannen gezogen. Kopfschüttelnd schloss er die Tür, atmete tief durch und fühlte sich befreit. Bei der nächsten Freundin würde er aufmerksamer sein und erst einmal festzustellen versuchen, was die zu seinem Beruf zu sagen hatte.
Auf dem Kommissariat war es ruhig. Erstaunlicherweise waren weder festgenommene Kleinkriminelle dort, noch klingelten die Telefone. Eine sehr seltene Situation. Und sie wussten beide, das würde nicht lange anhalten. Berlin ist eine Metropole und die vielen Menschen sind beileibe nicht alle friedlich. Sie hatten eine Atempause, mehr nicht. Lieberenz machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen und Gundler packte ein von Katharina liebevoll in Weihnachtspapier gewickeltes Päckchen für sie beide aus. Ein Karton, gefüllt mit den leckeren von ihr selbst gebackenen Plätzchen kam zum Vorschein. Das war genau das richtige, zum zweiten Frühstück fanden beide erfreut und ließen es sich bei einer kleinen Pause schmecken. Danach erwartete sie ungeliebte Schreibtischarbeit, denn Akten, die auf ihre Bearbeitung warteten, gab es immer. „Wäre schön, wir bräuchten bei dem Wetter heute nicht nach draußen, Chef“, murmelte Lieberenz. Gundler grinste, „ja, das wäre schön. Warten wir’s mal ab, Martin, ob Ihr Wunsch in Erfüllung geht.“
Hanne und Hans kamen dem Rosenbusch näher. Beinahe hätten sie ihn verpasst, denn gerade dort waberte der Nebel besonders dicht. Hanne zückte ihre Schere. Niemand war jetzt auf dem Uferweg außer ihnen, denn es war längst Mittagszeit und die meisten Leute waren wohl bei ihrem Sonntagsessen. Walter bummelte weit hinten auf dem Weg herum, er würde jedoch bald aufschließen, denn er hatte seine Leute stets im Auge. Hanne schnitt einige Zweige, und grummelte, „der Nebel ist hier ja wirklich dicht. Ich kann kaum den hinteren Teil vom Busch erkennen, sieh nur, Hans“. Er sagte grinsend, „eher sieh mal nichts. Aber es stimmt, das ist wirklich ungewöhnlich. Wenn du genug Zweige hast, lass uns nachhause gehen, ich habe genug von nasser Kälte, ist ja ekelhaft heute. Allmählich wird mir kalt und ich sehne mich nach unserer warmen Stube“. „Ja, mir geht es auch so. Nur noch einen Moment, Schatz, wir sind doch wegen der Hagebuttenzweige hier, hab noch ein klein wenig Geduld. Hilf mir bitte mal und halte die vorderen Zweige weg. Dahinten tauchen aus dem Nebel besonders leuchtende Hagebutten auf, die möchte ich gern haben.“ Hans trat hinzu und hielt vorsichtig die stechenden Zweige zur Seite. Oh ja, da hingen wirklich wunderschöne, tiefrote Hagebutten mitten im Busch. Hanne schnitt einen Zweig und war verwundert, denn die Früchte färbten ab. Ihre Finger waren sogleich mit einem rötlich klebrigen Saft beschmiert. Das war aber ungewöhnlich bei Hagebutten. Nun sah sie, dass auch an einigen anderen Zweig diese merkwürde rote Schicht klebte. „Igitt, Hans sieh nur mal, die Hagebutten färben ja ab, das habe ich noch nie erlebt. Und wie das klebt, das ist ja eklig, ob der Busch eine Krankheit hat?“ Ihr Mann besah ihre Finger und den Zweig, er prüfte die anderen Zweige genauer, an denen war diese merkwürde Masse auch, sogar an etlichen Blättern, die noch spärlich am Strauch hingen. „Eigenartig, so etwas habe ich auch noch nie gesehen. Es sieht aus, als hätten die Früchte den Saft verspritzt. Vielleicht haben Vögel hier Hagebutten gepickt und dabei sind die geplatzt, aber eigentlich haben die doch gar nicht solchen Saft“, murmelte er.
Ein leichter Wind kam auf und blies den Nebel heraus aus dem Busch, auch der Weg war nun wieder zu übersehen. Wieder sahen sie die Zweige an, doch dann sahen sie zu ihrem Schrecken einen Mann in dem Busch liegen. Er lag in einer kleinen Kuhle und der Nebel hatte die Sicht auf ihn bisher verhinderte. Mit dem Mann, schien etwas nicht in Ordnung zu sein, er rührte sich nicht. War er vielleicht betrunken und schlief seinen Rausch aus? Sie sahen sich verblüfft an. „Hallo“, fragte Hans, doch er bekam keine Antwort. „Können wir Ihnen helfen“, fragte Hanne, aber der Mann reagierte nicht. War er denn derart betrunken? Nein, das war er nicht. Hans beugte sich weiter vor und begriff. Der Mann schlief keinesfalls und Hans schnappte heftig nach Luft. Auch Hanne sah nun, was los war und ließ einen kurzen Schrei hören. Sie warf Zweige und Schere von sich, alles fiel auf den reglosen Mann. Und ihr wurde klar, was sie da an den Fingern hatte, das war geronnenes Blut. Es hätte nicht viel gefehlt, und ihr wären die Knie weich geworden, doch sie riss sich zusammen. Beide standen sie wie erstarrt und sahen sich voller Schrecken an. Ihr Schrei hatte Walter alarmiert und im Nu war er bei ihnen. Er nahm sofort Witterung auf und was ihm in die Nase stieg, beunruhigte ihn. Er begann wie rasend zu bellen und versuchte an den Liegenden heran zu kommen. Nur die Dornen, die ihn mehrmals stachen verhinderten, dass er sich über den Mann hermachte. Hans riss sich aus seiner Erstarrung und fasste nach Walters Halsband. Er riss sich dabei an den Dornen die Hand auf, aber das war egal. „Aus, Walter“, rief er energisch, „ruhig, Junge“. Sofort war der Hund neben ihm und gab Ruhe, knurrte aber leise. Hanne ging einen Schritt rückwärts, sie war blass geworden.
„Meine Zeit, Hans!“ Ihre blauen Augen waren riesengroß vor Schreck. „Der Mann ist tot!“ Sie sprach ganz leise, als könne sie den Toten sonst stören.
„Ich weiß, Schatz. Seine Verletzungen lassen gar keinen anderen Schluss zu. Er ist erstochen worden mit so vielen Stichen, das kann niemand überleben, es ist furchtbar. Ich rufe sofort die Polizei“, und er holte sein Handy aus der Tasche. Walter, den er dafür losließ, wollte erneut an den Toten heran, doch ein energischer Befehl von seinem Frauchen ließ ihn brav sitzen bleiben. Er würde die Umgebung auch so im Blick haben, seine Menschen waren beschützt. Er bebte vor Aufregung. Hanne holte hektisch Feuchttücher aus ihrer Handtasche, die sie immer bei sich trug, wenn sie mit dem Hund unterwegs waren und begann, sich die Hände abzuwischen. Es schüttelte sie regelrecht, denn das Blut des Toten war klebrig und sie ekelte sich davor.
Sie sahen sich dann genauer um. Dort, wo der Tote lag, im hinteren Teil des Buches, waren die Zweige zertrampelt und abgeknickt. Das alles hatte der Nebel zuvor verborgen. Da musste ein Kampf stattgefunden haben. Dabei war der Mann dann wohl in die Dornenzweige gestürzt. Die kleine Kuhle ließ ihn beinahe wie gemütlich liegen, das registrierte Hanne und fand es später seltsam, dass ihr so ein Gedanke gekommen war. Was jedoch am schockierendsten war, das war das viele Blut. Die Brust des Getöteten war ganz rot, deutlich waren etliche Messerstiche zu erkennen, auch im Gesicht war er voller Blut. Ein Arm war angehoben, er war in den Zweigen hängen geblieben und in seiner blutigen Hand, die deutliche Schnitte von seiner Abwehr gegen das Messer zeigte, hielt er einen kräftigen Stock. Anscheinend hatte er sich damit gegen seinen Angreifer zu wehren versucht. Aber nun sah es so aus, als würde er damit winken, denn auch der Stock war in der Zweigen hängen geblieben. Die Finger lagen locker um den Stock gebogen und die Dornenzweige hatten sich im Jackenärmel verfangen. So verhinderten sie, dass der Arm auf den Boden sacken konnte. Es war ein grausiger Anblick. Seine Beine hingen ein wenig hoch in den Zweigen, die Hosen waren auch an den Dornen hängen geblieben als er stürzte. Vielleicht hatte er auch nach dem Täter getreten, während der auf ihn eingestochen hatte. Die ganze Lage des Toten wirkte, als würde sich der Mann ein wenig entspannen wollen und hatte die Beine hochgelegt. Doch von Entspannung war er weit entfernt. Sein Blut war im gesamten hinteren Dornbusch verspritzt, jedenfalls vom Oberkörper aus nach oben, Richtung Kopf. Äste und Blätter waren übersät mit Blutspritzern. Und dann sah Hanne, dass noch viel mehr Hagebutten voller Blut waren. Es gruselte sie, dass sie so einen Zweig für ihre Vase geschnitten hatte. Die andere Hand des Toten wirkte verkrampft. Er schien irgendetwas darin festzuhalten. Das Gesicht, soweit sie es erkennen konnten, hatte den Ausdruck von entsetztem Staunen, selbst noch im Tod war das deutlich. Hier war etwas ganz schreckliches passiert. Jemand musste wie besessen auf den Mann eingestochen haben. Es war unfassbar, für die beiden, dass ein Mensch zu so einer Tat fähig war. Der schöne Weg an der Krumme Lanke und nun so etwas grausames, das machte Hanne traurig. Ihr war alle Adventsstimmung vergangen.
Hans hatte den Notruf betätigt und man hatte ihm gesagt, die Polizei sei auf dem Weg. „Bitte fassen Sie nichts an, gehen Sie bitte auch nicht an den Toten heran, wir kommen gleich zu Ihnen“, sagte der Beamte. Doch weder Hans noch seine Frau hatten die Absicht, den Toten zu berühren. Im Gegenteil, sie nahmen nun mehr Abstand, um keine Spuren zu verwischen. Sie waren schon viel zu nah heran gekommen, doch sie hatten ja keine Ahnung gehabt, welch grausiger Fund sich in dem schönen Busch verbarg. Und sie waren froh, dass keine weiteren Spaziergänger den Weg entlang kamen. Das nasse Wetter war in der Hinsicht hilfreich. So waren sie vor Neugierigen sicher. Sie warteten mit Walter, der nun an angeleint war, auf die Polizei. Der Hund hatte sich dicht vor seine Menschen gelegt und war sehr aufmerksam. Er wusste, hier stimmte etwas nicht und er würde niemanden an sein Herrchen oder Frauchen heranlassen. Schon hörten sie das Martinshorn des Funkwagens. Sie waren sehr erleichtert. Allein mit dem Toten war es unheimlich. Hans tupfte sich die blutigen Kratzer an der Hand mit einem Papiertaschentuch ab.
Der Funkwagen fuhr den Uferweg entlang. Hans winkte, so hielt er direkt neben ihnen. Als die beiden Polizisten den Wagen verließen, sprang Walter auf, bellte und knurrte böse. Das war zu viel für ihn, dass sich gleich zwei fremde Personen auf seine Menschen zubewegen wollten. Seine Nerven waren angespannt, er befürchtete Böses. Die Polizisten blieben sofort stehen, doch Hans hatte Walter bereits am Halsband und beruhigte ihn, was auch wirkte. Nicht gern machte der Hund wieder Platz, aber er tat es und behielt die beiden Männer fest im Auge. Einer der Polizisten grinste und meinte, „na, mit dem schönen Kerl sind Sie ja bestens bewacht“.
„Oh ja, er ist unser Bodyguard“, meinte Hanne. Doch dann wurden sie alle wieder ernst.
Hans zeigte den Beamten, welch entsetzlichen Fund sie in dem Gebüsch gemacht hatten. Die beiden sahen natürlich sofort, dass der Mann tot war. Einen Arzt brauchten sie da nicht mehr zu rufen. Die Kripo, der Gerichtsmediziner und die Spurensicherung wurden alarmiert. Während sie gemeinsam warteten, nahmen die Beamten die Personalien des Ehepaares auf. Hanne berichtete ihnen, dass sie ihre Schere und die abgeschnittenen Zweige voller Schrecken weggeworfen hatte. „Alles liegt jetzt auf dem Toten, aber Sie müssen uns glauben, wir haben den Mann mit der Schere nicht getötet.“ Und sie waren beschämt, dass sie doch relativ weit an den Toten heran gegangen waren, denn sie hatten ihn zu spät entdeckt.
„Aber dafür konnten Sie ja wirklich nichts. Es ist heute aber auch verdammt neblig, es zieht sich ja gerade wieder zu, da hat man keine gute Sicht. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie haben alles richtig gemacht, als sie sich sofort wieder zurück gezogen haben. Sicher wird man Ihre DNA haben wollen, um Sie von dem Täter unterscheiden zu können, das ist aber ganz harmlos“, sagte einer der Beamten. Er sah noch einmal genauer auf den Toten und meinte, „keine Bange, mit der niedlichen Schere können Sie dem Mann wahrlich nicht ans Leben gegangen sein. Das glaubt niemand. Der hat ganz andere Verletzungen erlitten. Die Schere wird von der Spurensicherung untersucht und Ihnen dann bald wieder übergeben werden.“
Der Gedanke, dass ihre kleine Schere, mit der sie immer Zweige oder Blumen am Wegrand abschnitt, nun in einem Mordfall untersucht werden würde, war Hanne ganz unheimlich. Ob sie das je vergessen würde, wenn sie wieder einmal etwas Schönes am Wegrand entdeckte?
Sie warteten also auf die Kripo und die Männer aus dem Funkwagen waren im Stillen dankbar dafür, dass die Leute nicht allzu nervös waren. Viele Menschen hätten mit mehr Aufregung auf so einen verstörenden Fund reagiert. Diese beiden waren zwar erschüttert, doch sie waren auch ruhig und gefasst. Walter ließ die Männer nicht aus den Augen, wer weiß was die noch vorhaben, so schien er zu denken. Als sich jedoch der eine der beiden zu ihm niederhockte und seine Hand ausstreckte, sah er sein Herrchen fragend an. „Ist gut, Walter, du darfst hingehen“, sagte der. Da stand der riesige Hund auf und schnupperte an der Hand. „Meine Zeit, bist du beeindruckend und so toll erzogen. Alle Achtung!“ Er sah Hans bewundernd an und kraulte Walter am Hals, was der prima fand. Waren wohl doch keine bösen Männer, so schien es ihm durch den Kopf zu gehen.
Hanne meinte zu ihm, „der muss aber auch gut erzogen sein, das geht bei seiner Kraft gar nicht anders. Wenn der nicht auf uns hören würde, könnten wir mit ihm nicht vor die Tür gehen. Der muss einfach gehorchen, aber das sollten kleinere Hunde eigentlich auch.“
„Oh, da sagen Sie was! Wäre das der Fall, wir hätten weniger Anzeigen wegen Belästigungen durch unerzogene Hunde. Das könnten sich die Halter alle ersparen, würden sie sich genügend kümmern und ein wenig mehr Arbeit in die Erziehung ihrer Tiere investieren, wie es sich gehört.“ Man verstand sich und Walter ließ sich nun wohlig brummelnd den Kopf kraulen.
War der Uferweg bisher leer geblieben, so hörten sie nun den Schritt eines Pferdes. Das war am Ufer, wo kein Reitweg ist, allerdings nicht erlaubt. Aus dem Nebel tauchte ein junges Mädchen auf seinem Pony auf. Sie hatte das Tier offenbar nicht in der Gewalt. Es handelte sich um einen dunklen Ponyhengst, der wirklich süß aussah, wie Hanne fand. „Max, Max,“ rief das Mädchen, „wirst du wohl gehorchen! Bleibe stehen!“ Das Pferd ignorierte seine aufgeregte Reiterin und lief zielstrebig mit wehender Mähne auf den Busch mit den Hagebutten zu, stand dann sofort wie angewurzelt und fing auf der Stelle an zu fressen. Die Polizisten stürzten auf das Tier zu. „Nein, nein, das ist hier ein Tatort, da darf nichts aufgefressen werden“, rief einer der jungen Dame zu. Die sprang aus dem Sattel und zog heftig am Zaumzeug des Pferdes. „Mensch, Max, jetzt lass doch den Quatsch sein.“ Aber Max rührte sich nicht. Seine stämmigen Beinchen waren fest mit dem Boden verankert und er mampfte emsig Hagebutten. „Der ist mit mir glatt den Hang hinunter gestürmt, weil er den Busch kennt. Der liebt nichts mehr als Hagebutten und wenn er die bekommen kann, hört er einfach nicht mehr auf mich“, rief sie und zog erfolglos am Halfter des Hengstes. Der schüttelte nur ärgerlich den Kopf, ließ sich bei seinem Mahl jedoch nicht stören. „Es tut mir wirklich leid. Ich weiß ja, dass ich hier gar nicht reiten darf, aber ich konnte den Kerl einfach nicht halten. Ponys haben einen eigenen Kopf. Jetzt komm schon, Max, hör doch auf damit.“ Wieder zog sie an dem Hengst, das Pferd war ihr jedoch überlegen. Max rührte sich keinen Schritt, dafür schmeckten die Hagebutten einfach viel zu gut. Nun fasste einer der Polizisten beherzt zu, packte das Zaumzeug, klatschte dem Hengst heftig auf den Hintern und zog gleichzeitig an ihm. Das empörte Max dermaßen, dass er zwar zunächst einen Schritt zur Seite hopste, dabei jedoch dem zweiten Kollegen, der nun auch helfen wollte das Tier von der Stelle zu bewegen, schmerzhaft auf die Zehen trat und wütend nach dem anderen versuchte zu schnappen. Der duckte sich schnell genug weg. Der Getretene jaulte laut auf vor Schmerz und stolperte zur Seite, als Max seinen Huf wieder fortnahm, um erneut an die Hagebutten zu kommen. Er war von dem Manöver völlig unbeeindruckt geblieben und hatte bereits wieder seine Lieblingsfrüchte im Maul. Der getretene Mann jammerte lauthals über seinen Fuß, und seine lauten Schmerzensrufe irritierten Walter, der auf den Gebeutelten los schoss und laut bellte. Hans stürzte sich auf seinen Hund, riss ihn energisch zur Seite und hielt ihn fest. Das Bellen hatte nun wieder Max erschreckt. Dem waren jetzt alle Hagebutten dieser Welt egal, er machte einen erneuten Satz zur Seite, keilte mit beiden Hinterbeinen kräftig aus, zertrümmerte dabei das Heck des Funkwagens, und das Glas von den Heckleuchten das durch die Gegend flog. Der Krach, der dabei hinter ihm entstand, versetzte ihn in Panik. Erneut schmetterte er die Hufe auf den Wagen und stürmte dann laut wiehernd den Weg entlang, wieder nach oben auf den Hügel und verschwand, gefolgt von seinem aufgeregt rufenden Frauchen. Walter bellte wütend hinter den beiden her, versuchte dann erneut den armen geschundenen Mann zu attackieren. So benahm man sich doch nicht, das war nicht in Ordnung. Hannes hatte richtig zu tun mit ihm, letztendlich saß er aber wieder friedlich da. Das war ein Theater! Der eine Beamte hopste herum und jammerte über seinen Fuß, der andere beklagte den Schaden am Wagen und meinte, dass würde ein großes Trara geben, weil sie ja den Verursacher nicht hatten dingfest machen können. Wie wahr, der Schadensverursacher war auf und davon.
Die vier Personen hatten sich noch nicht beruhigt, da kam der Wagen vom Gerichtsmediziner, Prof. Karl Wohlgemut, der nun Walters Unwillen erregte. Wohlgemuth sah erstaunt in die Runde und wunderte sich über den auf einem Bein stehenden Beamten und den beschädigten Funkwagen. „Was ist denn hier los?“ Irritiert sah der Mann zwischen dem Hüpfer und dem wild bellenden Hund hin und her. „Hat der Sie gebissen?“
„Nee, dit war’n Pferd, Mensch!!“ Kam es wütend von dem Mann und Wohlgemut sah ihn fragend an, er fühlte sich veralbert. Walter ließ sich wieder beruhigen und der Professor hörte nun von dem Pony Max. Jetzt begriff er, dass wirklich ein Pferd am Tatort gewesen war.
Er sah sich um und fragte, „wo ist denn das Pferd, hat das etwas mit dem Fall zu tun?“
Der Getretene war übelster Laune und antwortete giftig, „klar doch, der Gaul hat mit’m Messer auf sein Opfer eingestochen und ist nach dem Mord geflohen, wat’n sonst.“ Wenn sich ein ausgewachsener Ponyhengst auf einen Fuß stellt, dann ist das für den Fuß nur als ungünstig zu bezeichnen und niemand darf sich wundern, dass der Mensch, der zu dem Fuß gehört, danach nicht mehr in bester Stimmung ist. Wohlgemut merkte jetzt endlich was los war und fragte mitfühlend, ob er dem Mann helfen könne, ob er sich seinen Fuß ansehen solle, doch der wollte das nicht und giftete ihn nur an. Also bahnte er sich nach kurzer Information durch den unversehrten Beamten und einem empörten Blick auf Hanne wegen der Schere, knurrend von einem unglaublichen Affentheater am Tatort murmelnd, seinen Weg in den Dornbusch, tauchte dort unter und untersuchte das Mordopfer. Nebelfetzen verhinderten die freie Sicht auf ihn. Walter aber wusste wo er war und ließ die Stelle nicht aus den Augen, bis sein Herrchen ihn beruhigend klopfte. Der Mann mit dem verletzten Fuß biss weiterhin die Zähne zusammen und fürchtete sich vor dem Augenblick, wo er den Schuh ausziehen würde. Es tat höllisch weh und er verfluchte alle Ponyhengste dieser Welt und im Besonderen die, die Max hießen.
Kurz darauf erschien die Spurensicherung und dann auch gleich der Wagen mit der Kripo. Walter war wieder aus dem Häuschen vor Ärger, das waren ihm viel zu viele Fremde, seine Nerven lagen mindestens genauso blank wie die seiner Menschen. Eine leichte Ermahnung genügte jedoch, und er hörte auf zu bellen. Hanne hatte ein wenig Sorge, dass ihm jemand von den vielen Leuten zu nahe kommen könnte, aber seine Größe verhinderte das, denn jeder sah respektvoll auf den Hund und blieb auf Abstand. Die Leute der Spusi zogen ihre weißen Anzüge an und machten sich an die Arbeit. Sie wimmelten um und hinter dem Busch herum, was im nun wieder lichteren Nebel gespenstig wirkte.
Hauptkommissar Gundler und Kommissar Lieberenz ließen sich von den Polizisten berichten, was geschehen war. Sie stellten sich kurz bei Hans und Hanne vor und baten sie weiterhin zu warten, sie würden noch auf sie zukommen. Gundler warf Walter begeisterte Blicke zu, die der ignorierte und sah sofort, dass der Mann seinen Hund in der Gewalt hatte. Lieberenz beäugte Walter sehr misstrauisch, was den auch nicht interessierte. Mit Hunden hatte er nicht so gute Erfahrungen, er konnte sie nicht einschätzen. Sie sahen sich suchend nach der Leiche um, denn wieder waberte der Nebel dick um den Busch. Aber ein leichter Wind wehte die Sicht erneut frei. Sie sahen Professor Wohlgemut, den Gundler Kalle nannte, bei der Arbeit im Dornengebüsch und gingen auf ihn zu.
Der unverletzte Beamte hielt sie noch einmal kurz auf. „Sie sollten da noch etwas wissen. Die Dame hat einige Zweige und ihre Schere vor Schreck auf den Toten geworfen, als sie Hagebuttenzweige schnitt.“ Die Kommissare nickten kurz. „Ja, und die abgebrochenen Zweige vorn am Busch, das war nicht das Ehepaar, das war Max, aber der ist abgehauen“ hörte Gundler zu seiner Verwunderung den Mann sagen. Der beschädigte Funkwagen hatte den armen Mann so durcheinander gebracht, dass er unvrständlich daher redete.
Gundler guckte ihn völlig verständnislos an. „Hä, welcher Max, warum hat der die Zweige abgebrochen, wo ist denn der Mann? Konnten Sie ihn nicht zur Befragung festhalten!“ Er sah suchend in die Runde.
„Nein, nein, Max ist ja kein Mann.“
Gundler sah den Beamten streng an und fiel ihm ins Wort. „Wenn es ein Kind war, hätten sie den Jungen auch aufhalten müssen, ich verstehe das nicht.“
„So lassen Sie mich doch ausreden, Herr Hauptkommissar. Max, das ist ein Ponyhengst, der kam des Weges und machte sich gleich über die Hagebutten her“, klärte ihn der Beamte auf.
Gundler war fassungslos, was war denn hier passiert. Ein Pferd hatte den Tatort abgefressen? „Na klar doch, ein Hengst kommt ja auch wirklich ständig des Wegs, das ist ja völlig normal. Wollen Sie mich hier verulken, Mann? Und Sie haben beide dagestanden und zugesehen, wie es dem Tierchen schmeckt“, fragte er sarkastisch, während Lieberenz ungläubig mit offenem Mund von einem zum anderen sah. So etwas hatte er noch nie erlebt, das war’n Ding!
Aber nun wurde der getretene Polizist fuchsteufelswild. „Herr Hauptkommissar Gundler, ich bitte doch wohl um etwas mehr Rücksicht. Das Tierchen, wie Sie so sagen, war nicht von der Stelle zu bewegen. Sie können gern einmal versuchen, einen zum Fressen entschlossenen ausgewachsenen Ponyhengst zu bewegen. Das schaffen Sie auch nicht, doch wir haben es versucht. Das Ergebnis ist, dass mein Fuß verletzt wurde von dem Vieh und den Funkwagen dürfen Sie auch mal in Augenschein nehmen. Von wegen, wir haben zugesehen, das ist doch die Höhe von Ihnen.“
„Also, das stimmt aber auch, Herr Kommissar“, meldete sich Hanne erregt zu Wort. „Die Herren können wirklich nichts dafür. Der Hengst kam den Weg entlang gestürmt und war dann derart stur, den hätte niemand vom Platz bewegt, auch Sie nicht. Erst als der Beamte ihn heftig auf den Allerwertesten schlug und an ihm zog kam Bewegung in das Tier. Aber das Ergebnis sehen Sie ja nun selber, ein verletzter Polizist und ein ziemlich demolierter Funkwagen.“
Gundler schluckte, das war wirklich sehr ungewöhnlich. „Tut mir leid, Kollegen“, entschuldigte er sich, „aber so etwas ist mir einfach noch nie untergekommen. Ein Hengst, der so des Weges kommt und den Tatort anfrisst… Na, dann lassen Sie uns mal sehen, was der noch übrig gelassen hat für die Ermittlungen.“
„Ach, der Tote liegt ja hinten im Busch, an den ist der Hengst doch gar nicht dran gekommen“.
Gundler ging zum Busch und bat Lieberenz, das Ehepaar zu befragen und dann zu verabschieden, denn er wollte so wenige Leute wie möglich am Tatort haben, ein Max war genug, so fand er. Hanne und Hans machten ihre Angaben und waren froh, danach endlich gehen zu dürfen. Lieberenz meinte, Sie würden sie vielleicht noch einmal zuhause aufsuchen, um wegen der Schere zu sprechen, aber das wäre nur Routine, lächelte er sie beruhigend an, als er Hans verunsicherten Blick sah. Erleichtert machten sich die beiden mit ihrem Walter auf den Nachhauseweg. Lust auf Hagebuttenzweige hatte Hanne nicht mehr. Ob sie wohl jemals den Gedanken an Blut würde verdrängen können, wenn sie auf Hagebutten traf, dachte sie im Stillen und es schüttelte sie wieder.
Gundler und Lieberenz ließen sich nun von Professor Wohlgemut informieren, der leise fluchend aus dem Dornbusch auftauchte, denn er hatte sich in den Finger gestochen. „Verdammt murmelte er. So ein Tatort mitten in den Dornen ist wirklich übel und verpflasterte sich. „Du Armer“, grinste Gundler ihn an. „Kalle sag an, was hast du für uns“, fragte er ihn. Der Professor gab seinen vorläufigen Bericht ab. „Der Mann ist erstochen worden, das kann man ja sehen. Was ihm sonst noch angetan wurde, hört ihr nach der Obduktion.“ Lieberenz blickte auf den Toten und meinte, „du meine Zeit, da hat ja jemand wie rasend gewütet“.
„Allerdings, bestätigte Wohlgemut. Der Mann ist an zahlreichen Messerstichen gestorben, jedenfalls hat es diesen Anschein. Er hat auch eine leichte Wunde am Hinterkopf, aber durch die ist er nicht zu Tode gekommen. Das mag beim Sturz passiert sein, jedenfalls hat die ihn nicht einmal ohnmächtig werden lassen. Abwehrverletzungen an der Hand hat er auch. Es sieht zunächst klar aus, aber wie gesagt, genaueres nach der Obduktion. Sein Tod ist ungefähr zehn bis zwölf Stunden her, trat also gestern am späten Abend ein. Und es hat ein Kampf stattgefunden, der Tote hat sich heftig gewehrt. Er hat den Täter auch verletzt. Wahrscheinlich mit diesem Knüppel hier.“ Lieberenz horchte erstaunt auf, denn woher wollte der Professor wissen, ob der Täter verletzt wurde, an dem Knüppel war nichts zu erkennen. Der Professor zeigte auf die Hand, die noch immer den Knüppel hielt. „In der anderen Hand hatte der Mann das hier. Die Finger waren ganz verkrampft darum geschlossen, ich habe es kaum entfernen können.“ Er übergab Lieberenz einen Stix für einen Computer. Es würde interessant werden, diesen lesen zu können. „In seiner Hosentasche fand ich das hier“, er gab Gundler die Brieftasche des Toten, in der sich Geld und dessen Personalausweis befanden. „Also kein Raubmord, aber wir wissen wenigstens, um wen es sich hier handelt“, meinte der erleichtert. Eine Suche nach einer eventuell vermissten Person blieb ihnen erspart. Kalle sah ihn an und sprach bereits weiter. „Es gibt auch Blutspuren vom Täter.“
„Wie kann man das sagen, ohne eine genaue Untersuchung bei all dem vielen Blut hier, Herr Professor“, fragte Lieberenz ihn.
„Sehen Sie mal hierher, junger Mann“, Prof. Wohlgemut zeigte auf die Hosenbeine des Toten.
„Hier sind kreisrunde Blutstropfen an dem Opfer, die nichts mit seinen Verletzungen zu tun haben. So, wie der Mann hier liegt, kann sein Blut gar nicht dorthin gelangt sein, denn er liegt mit dem Oberkörper nach unten geneigt, darum ist sein Blut auch von der Brust zum Hals und bis ins Gesicht gelaufen und es ist in den Busch bis in die Zweige gespritzt, aber alles in eine andere Richtung als zu den Beinen. Diese Blutstropfen müssen vom Täter sein, der sich bei dem Kampf verletzt hat. Vielleicht hat er sich auch an den Dornen gestochen oder er hat etwas mit dem Knüppel von seinem Opfer abbekommen. So etwas nennt man passive Blutspuren und das hat uns schon sehr oft weiter gebracht. Vielleicht haben wir Glück und finden die DNA des Mörders in unserem System.“
„Mensch Kalle, du hast ja wieder Adleraugen bewiesen“, lobte ihn Gundler und klopfte dem Freund wie üblich auf die Schulter. Etwas, dass sich außer ihm niemand im Kommissariat herausnehmen würde. „Da bin ich auch gespannt was die zweite Blutspur uns sagen wird. Vielleicht findet die Spusi auch noch interessantes am Tatort, trotz Pony Maxe, wir werden mal sehen.“
Sie sahen in die Brieftasche des Toten, Scheckkarten und Geld waren da, es war also kein Raubmord. Gundler sah Lieberenz an und meinte, „dann werden wir beide mal gleich zu seiner Familie fahren und die traurige Nachricht überbringen. Der junge Kommissar seufzte, das war bei jedem Fall immer die schwerste Situation, aber sie gehörte nun einmal zu ihrer Arbeit.
„Also, ich bin fertig, lasst ihn in die Gerichtsmedizin bringen und wir sprechen uns dann nach der Obduktion. Tschüs, bis dann“. Mit raschem Schritt war der Professor zu seinem Wagen gelaufen, denn bei dem ekelhaften Wetter war es ihm recht kalt geworden. Kurz danach fuhr der Leichenwagen mit dem Mordopfer ab.
Die Polizisten aus dem Funkwagen waren auch fertig. Nachbarn, die man befragen könnte, gab es auf dem Uferweg nicht. Die nächsten Häuser waren weit entfernt, von dort konnte niemand etwas von dem Kampf mitbekommen haben, so dachten sie und waren im Stillen erleichtert, dass die Herumfragerei in der Nachbarschaft dieses Mal ausblieb. Doch Gundler sah das anders. Am Abend, wenn alles ruhig ist, hörte man Geräusche viel weiter als am Tage. Der Kampf am Dornbusch war heftig gewesen und dabei war es gewiss nicht leise zugegangen. Er wollte die beiden zur Befragung in die Villengegend oberhalb des Wassers schicken. Doch er hatte vergessen, dass der Verletzte Kollege ganz ausfiel, der konnte kaum noch stehen und mit dem Wagen konnten sie auch nicht mehr fahren. Das total zerbeulte Heck und die zertrümmerten Rücklichter machten das unmöglich. Andere Kollegen vom Revier bekamen nun diese Aufgabe, aber so viel die auch nachfragten, niemand hatte etwas Verdächtiges wahrgenommen. Gundler hatte es befürchtet, aber der Versuch war es wert gewesen, so meinte er.
Der beschädigte Funkwagen wurde abgeschleppt und der Mann vom Schleppdienst, der nach dem Verursacher und dessen Personalien fragte, hatte seinen Spaß als er hörte, dass ein Ponyhengst mit Namen Max ohne Nachnahmen und unbekanntem Wohnsitz den Funkwagen zertrümmert habe und sich seitdem auf der Flucht befände. „Konntet ihr den denn nicht verhaften?“, frotzelte er. „Nee, wir wussten ja nicht, wo bei dem die Handschellen anzulegen sind“, gab der unversehrte Mann zurück, sein Kollege grinste gequält. Sie kletterten mit in den Abschleppwagen und fuhren zurück, wohl wissend, dass die Sache mit dem Pferd und dem demolierten Funkwagen noch lange an ihnen hängen würde. Damit dürfte es noch so manche Hänseleien von den Kollegen geben. Es grauste sie davor, den Schadensbericht schreiben zu müssen. EUnd es war doch eine kleine Mühe, gemessen an der Aufgabe der Kommissare, die die nun vor sich hatten.
Die fuhren zur Adresse des Opfers, um ihre traurige Pflicht zu erfüllen. Der Tote war der fünfundfünfzigjährige Manfred Conrad, war in zweiter Ehe mit einer Corinna Conrad verheiratet, hatte einen zehnjährigen Sohn James aus dieser Verbindung und einen achtundzwanzigjähren Sohn, Gunnar Conrad, aus erster Ehe mit Frau Marion Conrad. Das alles erfuhren sie während der Fahrt. Die Adresse ließ darauf schließen, dass die finanziellen Verhältnisse des Toten bestens waren. Er hatte mit seiner Familie in der feinen Villengegend nahe dem Grunewaldsee gelebt. Wer dort ein Haus bewohnte, war nicht unterstützungsbedürftig. Der Kollege auf dem Kommissariat hatte den Hintergrund des Toten ermittelt. Daher wussten sie auch, dass der eine Firma für Computertechnik gehabt hatte, die offenbar gut lief.
Kurz darauf bogen sie in die Villenstraße ein. Es begann bereits ein wenig zu dämmern und in den Gärten, sowie hinter den Fenstern leuchteten die Lichterketten. Adventssterne verbreiteten ihr warmes Licht. Welch ein schönes Bild und sie kamen mit so einer traurigen Botschaft.
„Meine Zeit, Chef, Weihnachten mit einem Kind und dann so etwas, wie schrecklich wird das werden“, sagte Lieberenz leise. „Ja, Junge, das Leben ist nicht immer schön. Wir in unsrem Beruf sehen das leider viel zu oft.“
Sie klingelten und es öffnete ihnen eine Dame in mittlerem Alter, offenbar eine Hausangestellte. Als sie sich auswiesen zuckte sie nicht mit der Wimper, bat sie sie in die großräumige Diele und um einen Moment Geduld, sie wolle Frau Conrad informieren. Nur kurz darauf führte sie sie direkt zur Dame des Hauses in das Wohnzimmer. Sie schloss sofort die große Flügeltür und zog sich diskret zurück.
Die Kommissare wiesen sich aus und die Dame bot ihnen höflich Platz an. „Kann ich Ihnen etwas anbieten, Meine Herren, einen Kaffee vielleicht?“ Dankend lehnte die Kommissare ab. Sie sah sie fragend an, denn was die Kripo von ihr wollte, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Hauptkommissar Gundler sagte, „Frau Conrad, wir haben leider eine traurige Nachricht für Sie. Ihr Mann ist heute tot aufgefunden worden, es tut mir sehr leid.“ Sie sah ihn groß an und machte den Eindruck, als würde sie nichts begreifen. Aber das schien nur so, denn sie hatte durchaus begriffen was er sagte. Sie wurde blass und sagte mit leiser Stimme, „ich verstehe nicht, Herr Hauptkommissar, warum die Berliner Kripo zu mir kommt, wenn mein Mann tot sein soll. Er ist gestern früh nach Hamburg geflogen, wo er morgen Verhandlungen für seine Firma hat. Wenn er also einen Unfall gehabt hätte, warum kommen Sie zu mir? Hier gibt es doch nichts zu ermitteln. Sind Sie sich denn sicher, dass es sich bei dem Toten überhaupt um meinen Mann handelt? Wie gesagt, er befindet sich ja in Hamburg.“
„Leider ja, Frau Conrad. Und wir müssen hier ermitteln, denn ihr Mann ist nicht in Hamburg verstorben, sondern hier in Berlin. Er hatte keinen Unfall, er ist einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen, er ist ermordet worden, es tut mir wirklich leid, Ihnen das mitteilen zu müssen.“ Sie sah ihn nun erst recht verständnislos an, denn sie war völlig irritiert darüber, dass sie hören musste, ihr Mann wäre in Berlin ermordet worden, wo sie ihn doch in Hamburg wähnte. „Sind Sie in der Lage, mir einige Fragen zu beantworten?“ Als sie tapfer nickte, fragte er, „wann haben Sie denn zum letzten Mal Kontakt zu Ihrem Mann gehabt?“
„Gestern Nachmittag, bevor er zum Flughafen fuhr. Jedenfalls glaubte ich da, er wolle zum Flughafen. Wir verabschiedeten uns, das war das letzte Mal, dass ich ihn sah“. Nun kamen aber doch die Tränen wie ein Sturzbach, jetzt hatte sie wohl erst begriffen was geschehen war. Sie klingelte nach ihrer Angestellten, die sofort im Raum erschien und sehr erschrocken war, als sie ihre Chefin derart aufgelöst sah. Ohne ein Wort stürzte sie aus dem Zimmer und kam sogleich mit einem Tablettenröhrchen und einem Glas Wasser zurück. Zu Gundler sagte sie, dass es sich um ein Herzmedikament handeln würde und sie bat die Kommissare besser wieder zu gehen, doch die Witwe widersprach ihr. So blieben die beiden erst einmal, ließen sie jedoch zunächst völlig in Ruhe. Die Hausdame nötigte ihre Chefin auf ein Sofa und deckte sie fürsorglich mit einer Decke zu.
„Danke, Frau Borg“, sagte sie leise und zeigte auf die Kommissare. „Die Herren haben mir soeben mitgeteilt, dass mein Mann verstorben ist.“ Die Haltung der Hausdame war professionell. Sie war deutlich schockiert, „das tut mir sehr leid, Frau Conrad“, gab weiter aber keinen Kommentar ab, sondern wartete auf Anweisungen. Einzig ein kleines Streicheln über den Arm der Chefin deutet an, dass sie voller Mitgefühl war und sie doch vertrauter miteinander waren, als es den Anschein hatte. Sonst hätte sie wohl auch die Kommissare zuvor nicht aufgefordert zu gehen. Die beiden Frauen standen sich nahe, das war klar. „Würden Sie sich bitte um Jamie kümmern, ich möchte nicht, dass er gerade jetzt hier erscheint. Bitte gehen Sie zu ihm und spielen mit ihm, ja. Er sitzt bestimmt an seiner Playstation.“ Die Hausdame war erschüttert, das sah man deutlich, doch sie zog sich sofort zurück, sie hatte verstanden. Der Sohn sollte zunächst noch nichts erfahren und sie würde dafür sorgen. „Verlassen Sie sich ganz auf mich, Frau Conrad“, sagte sie in einem sehr warmen Tonfall, dann schloss sie wieder die Flügeltür.
Gundler bot an, dass sie später wiederkommen würden, doch die Dame bat sie zu bleiben. Sie hatte allmählich wieder Farbe im Gesicht und setzte sich auf. Sie riss sich mit eiserner Disziplin zusammen, sah die Kommissare an und stellte nun ihre Fragen.
„Meine Herren, bitte sagen Sie mir nun, unter welchen Umständen mein Mann gestorben ist.“
Die Mitteilung, dass er ermordet worden war, hatte sehr schockierte. Sie verstand auch nicht, wie das in Berlin passiert sein konnte, warum er nicht nach Hamburg geflogen war. Lieberenz fragte sie, ob sie sich denn nicht gewundert hätte, dass ihr Mann sich von dort aus nicht gemeldet habe.
„Nein, er wäre ja morgen schon am Abend wieder hier gewesen. Er hatte die Angewohnheit immer im Hotel für seine Verhandlungen die notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Damit war er beschäftigt und meldete sich aus dem Grund von so kurzen geschäftlichen Reisen nicht bei mir. Das war ganz normal. Ich rufe ihn dann auch nicht an, damit er in Ruhe arbeiten kann. Nur in Ausnahmefällen, wie vor zwei Jahren, als unser Sohn angefahren worden war, störte ich ihn bei seiner Arbeit. Es gab dieses Mal zum Glück keinen Grund für Telefonate, so haben wir es immer gehalten. Er war ein ausgesprochener Familienmensch, aber er arbeitete auch sehr hart, denn von nichts“, sie zeigte auf die exklusive Einrichtung des Raumes, „kommt so etwas nämlich nicht.“ Sie sah sehr traurig aus und wirkte verlassen, ein Bild des Jammers. Sie trauerte um ihren Mann, ihr Schmerz war echt, auch wenn sie sich kaum dazu äußerte.
„Frau Conrad, ich muss Sie das jetzt fragen“, Lieberenz sah sie fest an, „wo waren sie gestern Abend zwischen 22.00 Uhr und Mitternacht? Das ist reine Routine, aber bitte beantworten Sie die Frage.
„Aber das verstehe ich doch. Ich war zuhause. Frau Borg war hier und natürlich mein Sohn, aber der schlief natürlich um diese Zeit. Ich habe mit Frau Borg hier im Wohnzimmer Karten gespielt, das wird sie Ihnen bestätigen. Dann ist es also in der Zeit passiert? Sie sagen, Herr Kommissar, mein Mann wurde ermordet? Wo war das und wie ist er umgekommen?“
Gundler hatte gehofft, dass er ihr das zunächst noch nicht sagen musste, doch nun war es heraus. Die genauenUmstände verschwieg er ihr jedoch, und sagte ihr nur, er wäre erstochen auf dem Uferweg an der Krumme Lanke aufgefunden worden. Dass der Täter wie im Rausch auf den Mann eingestochen hatte, brauchte sie jetzt noch nicht zu erfahren. Und er fragte sie sogleich, ob sie wüsste, wer ihrem Mann so etwas antun würde, ob er Feinde gehabt hätte. Auch, ob sie eine Ahnung habe weshalb er nicht nach Hamburg geflogen war und was er an der Krummen Lanke gewollt haben könnte. Auch wenn es für sie peinlich war, er musste sie fragen, ob ihr Mann vielleicht bei einer Geliebten gewesen sein könnte.
Wenn es überhaupt möglich war, so wurde sie noch eine Spur blasser als bei der ersten Mitteilung. „Erstochen“, kam es flüsternd von ihr, dann sagte sie erst einmal nichts und die Kommissare warteten.
„Ich habe absolut keine Ahnung, warum er nicht geflogen ist und was er an der Krumme Lanke gewollt hat. Eine Geliebte hat er auf gar keinen Fall gehabt. Unsere Ehe war glücklich, er ging ganz sicher nicht fremd. Es muss eine andere Erklärung dafür geben, dass er nicht abgeflogen ist, nur weiß ich es nicht. Ich verstehe auch nicht, warum er mir davon nichts gesagt hat, das war gar nicht seine Art. Wir sind immer ehrlich im Umgang miteinander. Aber ich weiß, wer ihn hasst.“ Sie sah die Kommissare groß an. „Gunnar, nur Gunnar fällt mir dazu ein. Er ist der Sohn aus der ersten Ehe meines Mannes und er hasst seinen Vater, dieser elende Schuft. Dieser Nichtsnutz will immer nur Geld haben und wenn Manfred ihm nichts gibt, spielen sich hier üble Szenen ab. Der Kerl hat aus dem Grund seit zwei Monaten bei uns Hausverbot, denn Jamie war einmal Zeuge eines solchen Auftritts. Das hatte ihn sehr geängstigt und verstört. Gunnar ist arbeitsscheu. Er ist stinkend faul und das, was man allgemein als Pack bezeichnet. Er glaubt, mit einem reichen Vater hätte er es nicht nötig, sich seinen Lebensunterhalt zu erarbeiten. Gunnars Mutter war, so sagte mein Mann immer, seine Jugendsünde gewesen. Sie war bildschön und darauf war er hereingefallen. Als er bemerkt hatte wie übel ihr Charakter war, hatte er sich scheiden lassen, doch da war der Junge bereits geboren. Manfred wollte das Sorgerecht für ihn haben, aber er verlor den Prozess. So blieb der Junge bei der Mutter, die ihn völlig verzog, das Ergebnis ist ein Taugenichts. Dabei wäre mein Mann großzügig gewesen, hätte er gesehen, dass der Bengel ein ordentliches Leben führen würde. Er aber geht in Kneipen, trinkt und zockt und braucht dafür Geld. Er ist ein ganz übles Subjekt und es würde mich nicht wundern, wenn er kriminell sein würde. Das Studium hatte er irgendwann abgebrochen, brüstete sich aber damit, dass er die Uni von innen gesehen hatte, wie ich es bezeichne. Geld gab ihm sein Vater nicht mehr, daher kam der Hass auf ihn. Er hatte Geld für eine Eigentumswohnung bekommen, auch für ein Auto, aber dann war Schluss. Mein Mann war der Ansicht, wenn er weder arbeiten noch studieren wolle, dann könne er von ihm auch kein Geld erwarten. Als er nichts mehr bekam, wurde er ausfällig und bekam hier bei uns einen derartigen Wutanfall, dass mein Mann kurz davor war, die Polizei zu holen, denn der widerliche Mensch bedrohte ihn sogar. Er brüllte, er würde sich schon holen was ihm zustehe, das solle er sich man merken. Ja, er drohte damit, dass er es dem elenden kleinen Balg, er meinte unseren Sohn Jamie, schon zeigen würde, wer hier der ältere Sohn sei und sich auf keinen Fall sein Erbe würde streitig machen lassen. Mein Mann verlangte, er solle arbeiten oder sein Studium beenden, dann könne man wieder miteinander reden, doch der Mensch dachte gar nicht daran. Dass er in seiner Geldgier sogar Jamie bedrohte regte uns sehr auf. Wir dachten über eine Anzeige nach, aber was hätte die Polizei da tun können? Das Verhältnis war ganz und gar zerrüttet, so kann man sagen. Der Bengel taugt einfach nichts. Seine Mutter hat ihn sträflich verzogen, ihm niemals beigebracht, was Disziplin und Verantwortung bedeuten. Das war ein ständiges Ärgernis bei uns, aber diese Person sah nichts ein. Kürzlich meinte mein Mann, er glaube, dass Gunnar in kriminelle Machenschaften verwickelt sei und sammelte für seinen Verdacht bestimmte Beweise. Er wollte mir nichts Genaueres sagen, weil er erst einmal selber sehen wollte, was es damit auf sich hätte, aber ich kann mir gut vorstellen, dass Gunnar noch weiter abgerutscht ist. Meine Zeit, wenn ich mir vorstelle, der eigene Sohn könnte ihn umgebracht haben…“ Sie sah mit großen erschrockenen Augen ins Leere, „aber mir fällt kein anderer Mensch ein, der meinem Mann so etwas hätte antun wollen. Oder ist er ausgeraubt worden, war es vielleicht doch ein Überfall?“
Gundler sagte ihr, dass das nicht der Fall wäre und er sah, dass sie nun wirklich völlig erschöpft war. Die Kommissare verabschiedeten sich und sagten, sie müssten sicher noch einmal wiederkommen, aber für heute hätten sie keine weiteren Fragen mehr. Lieberenz fragte, ob er die Hausdame holen solle, doch Frau Conrad meinte, sie wolle erst einmal allein sein. Sie müsse sich überlegen, wie sie ihrem Sohn erklären könne, dass sein Vater nicht mehr lebt. Gundler sagte ihr, dass es für diese Fälle psychologische Hilfe bei der Kripo geben würde, doch sie meinte, die bräuchte sie nicht. Nun gut, ihm war klar, dass sie bei Bedarf ihre eigene Hilfe und eigene Ärzte konsultieren würde. Hier spielte Geld keine Rolle, sie bräuchte sich wohl nicht über einen Termin in Wochen oder gar Monaten bei ihrem Arzt zu ärgern, sie konnte privat zahlen. Das war eine der Ungerechtigkeiten in unserem Land, die ihm zu schaffen machte, wobei er der Frau natürlich jede Hilfe gönnte, nur sollten seiner Ansicht nach, die Bedingungen für alle Betroffenen gleich gut sein.
Sie ließen sich die Anschrift von Gunnar Conrad übermitteln und fuhren sofort dort hin. Es war so, wie die Witwe geahnt hatte, er war der Polizei kein Unbekannter. Sie hatten ihn im System erfasst, er war vor Jahren wegen kleinerer Delikte wie Ladendiebstähle und Randalierens in einem Restaurant vorbestraft. Seither war er nicht mehr auffällig geworden, was jedoch nicht hieß, dass er nun ein anständiges Leben führen würde. Er lebte bei seiner Mutter in einer nicht ganz so imposanten Villa wie sie sein Vater bewohnte, aber immerhin doch recht elegant, wenn auch deutlich kleiner. Die Adresse war auch nicht das feine Grunewald, sondern Lichtenrade. Hier lebte eine andere Klientel, aber auch hier wohnte es sich sehr schön. Der Garten war absolut verwildert, das ganze Anwesen wirkte ungepflegt und schlampig. Lieberenz stöhnte leise und meinte „was für eine Verschwendung, die könnten auch in einer Wohnung hausen, da hätten sie keine Mühe mit einem Garten.“ Die Frau öffnete selber, Hauspersonal gab es hier offenbar nicht. Es schlug ihnen ein Mief von Rauch, Alkohol und ungelüfteten schmutzigen Räumen entgegen. „Guten Tag, sind Sie Frau Marion Conrad?“ „Wer’n sonst Männekin“, atwortete sie patzig mit schwerer Zunge. Sie wiesen sich aus und als sie baten, eintreten zu dürfen, ließ sie sie mit einer gleichgültigen Geste ins Haus. So schön das Äußere der Villa selber auch wirkte, drinnen war alles so verkommen wie der Garten und es war schmuddelig, genau wie die Bewohnerin selber. Sie war schlampig in einen fleckigen Morgenmantel gekleidet, den sie nur nachlässig mit einem Gürtel geschlossen hatte, war nicht frisiert und hatte offenbar getrunken. Auf dem Tisch standen noch einige Flaschen, Gläser waren umgekippt, die dort wohl schon länger lagen, denn sie staubten bereits ein. Auf der Stirn prangte ein blauer Fleck und an der Wange hatte sie ein großes Pflaster. Anscheinend Spuren vom Fallen im Suff oder gar einer Schlägerei, das ließ sich nicht so genau sagen. Die Frage, wo sich ihr Sohn aufhalten würde, konnte oder wollte sie nicht beantworten und auf die Bitte, sich in seinem Zimmer umsehen zu dürfen reagierte sie unflätig und verlangte, man solle sich gefälligst um ein Durchsuchungs-Dingsda, wie sie sich ausdrückte, bemühen, dann könnten sie die Bude von Gunnar sehen. Er sei schon seit zwei Tagen nicht zuhause gewesen und sie müsse ja wohl bei einem erwachsenen Sohn nicht immer genau wissen, was er tat und wo er sei. Das alles kam in ordinärem Ton hervor, mit etwas schwerer Zunge. Die Person war einfach nur gewöhnlich. Ihr ehemals vielleicht schönes Gesicht wirkte verwüstet. Was für ein trauriger Anblick. Sie sagten ihr nichts vom Tod ihres ehemaligen Mannes. Sie war keine Angehörige und sie wollten den Gunnar nicht davor warnen, dass sie ihm vielleicht auf der Spur waren. Wäre er wirklich kriminell geworden, dann sollte er ruhig rätseln, weshalb sie ihn sprechen wollten. Sie verabschiedeten sich und waren froh, wieder auf der Straße zu sein. Sie atmeten beide tief die frische Luft ein.
„Meine Zeit, ist das eine schreckliche Person“, meinte Lieberenz und ließ Gunnar Conrad zur Fahndung ausschreiben, denn ihnen war nicht bekannt, in welchen Kneipen oder Kaschemmen sie nach ihm suchen sollten. „Das Haus kann die Person sich doch nicht leisten, dafür zahlt bestimmt der Vater des Gunnar, anders kann es eigentlich nicht sein“, überlegte Lieberenz und Gundler war derselben Ansicht. „Die haben mehr Glück als Verstand, aber sie sehen es nicht.“ Sie fuhren wieder auf das Kommissariat und wollten sich nun den Inhalt des Stix ansehen, den der Tote in der Hand gehalten hatte.
Und der war aufschlussreich! Manfred Conrad hatte einen Privatdetektiv auf seinen Sohn angesetzt. Der Mann hatte gut recherchiert und herausgefunden, dass Gunnar wirklich in kriminelle Machenschaften verwickelt war. Seine Besorgnis hatte sich leider bestätigt. Gunnar hatte begonnen, sich im Rotlicht-Milieu zu betätigen, hatte als Zuhälter einige Frauen, die für ihn arbeiten mussten und war an zwei Einbrüchen in Juweliergeschäfte beteiligt gewesen. Das wusste man in den gewissen Kreisen, denn er war von der Polizei bisher nicht verdächtigt oder gar überführt worden. Die Vermutung, er würde auch mit Drogen handeln konnte der Detektiv nicht bestätigen, es war jedoch denkbar, weil er mit Geld nur so um sich warf. Das alles hatte der Mann herausgefunden, indem er sich in der Kneipe aufgehalten hatte, in der Gunnar Conrad sein eigentliches Zuhause sah. Das war im Rotlichtmilieu das sog. „Liebesglück“. Eine Kneipe, geführt von einer Kati, die dort die Puffmutter war. Hier war Gunnar nicht zimperlich bei Gesprächen mit seinen Kumpanen, er fühlte sich ja unter seinesgleichen und sicher. Hatte er getrunken, und das tat er stets, gab er mit seinen Taten, seinem Geld und den Miezen, wie er die Frauen nannte, die für ihn anschaffen mussten, tüchtig an. Er warf Lokalrunden, lud alle und jeden zu Sekt und härteren Getränken ein und brüstete sich damit, er könne tun was ihm beliebt, ihn würden die Bullen niemals kriegen, dafür sei er zu schlau. Er trank viel und war ein ganz und gar unangenehmer Mensch. Der Detektiv hatte Gunnars lautstarke Prahlereien mit seinem Handy aufgenommen und es war wirklich ein Wunder, dass ihm da niemand drauf gekommen war in dieser Kaschemme. Der Mann musste sehr geschickt agiert haben. Conrads ältester Sohn war ein mieser Krimineller und es konnte gut sein, dass sich der Vater mit ihm hatte treffen wollen, um ihn zur Rede zu stellen. Warum jedoch spätabends an der Krumme Lanke, war rätselhaft. Es war denkbar, dass es zwischen Vater und Sohn zu einem heftigen Streit gekommen war, denn warum sollte der Mann sonst diesen Stick in der Hand gehabt haben, wenn er sich mit jemand anderem getroffen hätte. Das deutete doch direkt auf den kriminellen Sohn. Da sie nun wussten, wo und in welchen Kreisen Gunnar sich aufhielt, hofften sie auf eine baldige Festnahme. Erstaunlich war, dass sie noch gar nichts von seinen neuen Aktivitäten in ihrem System über den Mann hatten. Er musste bisher sehr vorsichtig agiert haben, dennoch war es erstaunlich, dass ihre Spitzel noch keine Meldung gemacht hatten.
Gundler sagte zu Lieberenz, „lange kann der da noch nicht mit seinen Frauen arbeiten, dann wüssten wir das doch. Kann gut sein, dass selbst unsere Spitzel Angt vor dem haben, denn Zuhälter lassen nicht ohne Weiteres einen neuen Mann in ihrem Gebiet tätig werden. Das ist ein hartes Geschäft, da wird es wohl auch Kämpfe gegeben haben, die er gewonnen hat. Anders ist das nicht zu erklären, dass er in dem Milieu plötzlich Geld macht. Die teilen ihr Gebiet doch nicht freiwillig mit einem Neuen. Da geht es hart zur Sache, Freundschaft ist da nicht üblich. Wir müssen wohl mal bei der Sitte Erkundigungen einziehen. Wenn da plötzlich Loddels fehlen, das müssten die doch wissen. Vielleicht hat er noch andere Morde auf dem Gewissen, das könnte durchaus sein. Woher sollte er sonst Platz für seine Frauen bekommen haben.“
„Das sieht ja ganz so aus, als würden wir hier gar keine so kleine Nummer suchen. Da darf man wohl gespannt sein, was sich noch alles zeigt“, meinte Lieberenz. Er traktierte den Computer, aber er fand nichts, was auf Gunnar Conrad hindeutete. Seine Weste schien ganz weiß zu sein. Wie er das angestellt hatte, würde geklärt werden müssen.
„Ja, sieht so aus als hätte er sich in letzter Zeit tüchtig gemausert. Wir werden ihn hoffentlich bald fassen. Aber ich möchte mich nicht von vornherein auf den Sohn als Mörder festlegen. Zu schnell kann man dabei etwas übersehen, wenn man sich zu sicher ist, den Täter zu verfolgen. Mir geht die Sache mit einer möglichen Geliebten noch im Kopf herum. Ist doch seltsam, dass der Mann von seinen Dienstreisen nie mit der Frau telefonierte. Ob das wirklich nur mit seiner Arbeit zusammenhängt? Ungestört mit der Geliebten sein zu wollen wäre doch eine Erklärung. Und wenn die auch noch verheiratet ist… Mög-licherweise hat den Mord jemand ganz anderer verübt. Wir werden das Leben des Toten genauer unter die Lupe nehmen müssen. Aber das hat auch Zeit bis morgen, für heute ist es erst einmal genug. Machen wir Feierabend und fahren nachhause.“ Lieberenz hörte es mit Erleichterung, er hatte für einen Moment befürchtet, Gundler würde ihnen eine Nachtschicht aufbrummen, um das Leben des Toten zu durchleuchten. Froh startete er seinen Wagen und empfand seine Wohnung ohne nörgelnde Freundin wie eine Oase der Ruhe. Es war ihm jetzt völlig schleierhaft, wie er auf diese ständig jammernde Person hatte hereinfallen können. Er wunderte sich über sich selber. Es gab ja noch andere Frauen. Nebenan wohnte eine bildschöne, patent wirkende junge Dame. Er würde sich ihr vorsichtig zu nähern versuchen, mal sehen was draus werden könnte. Im Moment war es ihm jedoch ganz lieb, völlig ungestört zu sein. Ein Steak mit frischem Salat, Baguette und einem trockenen Rotwein ließen ihn die Scheußlichkeiten des Tages vergessen. Er genoss seinen Abend und tankte auf für die nächsten Tage.
Gundler wurde von seiner Frau Katharina mit einem köstlichen Brathuhn, verschiedenen Gemüsesorten und Basmatireis verwöhnt. Bei ihnen gab es einen trockenen Weißwein. Auch er hatte noch einen schönen geruhsamen Adventabend. Die nächsten Tage, das wusste er, würden sicher arbeitsreich sein und ob er da immer pünktlich Feierabend würde machen können, bezweifelte er sehr. Umso mehr genoss er den friedlichen Abend mit seiner Katharina. Bei seinem aufwendigen Beruf musste man, wie sie immer sagte, die Feste feiern wie sie fallen, und das taten sie seit Jahren und fuhren gut damit. Kurz fiel ihm die schlampige erste Frau des Conrad ein. Was für ein trauriges Bild. Er war glücklich mit seiner Katharina.