Blutiges Tal - Thomas Schwieder - E-Book

Blutiges Tal E-Book

Thomas Schwieder

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Beschreibung

Rolf Sorkos Stiefel schmatzten im Matsch des Waldes. Der Nieselregen traf sein Gesicht als er das nächstes Opfer auf der Schulter liegen hatte. Sein Weg führte durch den schmalen Bach in Wuppertals Grünem Gürtel. In einem Gebüsch ließ er sein Opfer hart zu Boden fallen und öffnete im Schutz der Dunkelheit die Falltür zu seinem Versteck. Wenige Sekunden später verschwanden Täter und Opfer in der Dunkelheit. Kann Rolf unerkannt sein mörderisches Spiel weitertreiben oder wird Detektiv Tommy LaMotte den Mörder rechtzeitig vor seiner nächsten bestialischen Tat erwischen? Das Zeitfenster ist klein und die Uhr tickt. "Blutiges Tal" ist das erste gemeinsame Projekt der Autoren Thomas Schwieder und Stefan Katgeli. Ein packender Thriller über den Weg in die Dunkelheit und ein Wettrennen gegen die Zeit.

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Dafür wird er büßen!
Ich hatte einen Unfall
Das Ende
Geschlossene Gesellschaft
Danksagung

 

 

Thomas Schwieder

&

Stefan Katgeli

 

 

 

Blutiges Tal

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tuschel-Verlag

Stockstadt am Main

 

IMPRESSUM

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.tuschel-verlag.de

 

Taschenbuchausgabe

1.Auflage Juli 2021

 

Alle Rechte vorbehalten

 

© 2021 Tuschel-Verlag, Stefan Katgeli, Wallstadter Str. 14a, 63811 Stockstadt am Main

 

Umschlag, Illustration: Kati Goldenbaum – Tattoo Artist, www.propain-wuppertal.de

 

Umschlagsgestaltung: Tuschel-Verlag

 

Lektorat: Anja Adamczyk

 

Printed in EU

 

ISBN

Paperback 978-3-9823498-0-0

e-Book 978-3-9823498-1-7

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Widmung

 

Wir widmen dieses Buch allen, die diesen Roman erworben haben und ihn in diesem Moment in Händen halten. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.

 

 

Prolog

 

 

Rolf Sorko trommelte mit den Fingerkuppen seiner linken Hand nervös auf die Armlehne der Fahrertür des rostigen Opel Kadett Kombi, mit dem er auf die Blombachtalbrücke geflüchtet war. Mitten auf der Fahrbahn war er zum Stehen gekommen, hielt die Kupplung fest durchgetreten und rührte unentschlossen mit der rechten Hand den Schaltknüppel im Leerlauf. Vor ihm, etwa 50 Meter entfernt, hatte die Polizei eine Straßensperre mit zwei Einsatzfahrzeugen errichtet.

„So, dann habt ihr mich wohl doch geschnappt, was?“, murmelte er und stellte den Motor ab. „Das werden wir ja noch sehen.“

Aus der Ferne ertönte erst leise, dann immer lauter werdend, der unverwechselbare Lärm eines sich nähernden Hubschraubers.

„Wir brauchen euch nicht!“, brüllte Rolf. Die Golden-Retriever-Dame im Kofferraum hatte das störende Geräusch ebenfalls wahrgenommen und bellte zustimmend einmal laut. „Recht hast du. Die sind unerwünscht“, kommentierte er die Reaktion des Tieres. Sein suchender Blick erspähte das Fluggerät der Ordnungshüter über den Baumwipfeln. Das Herz stockte in seiner Brust, als ihm klar wurde, dass dies das Ende seines Weges sein würde. Die Fahrt an diesen Ort, einer beliebten Selbstmörderbrücke, war nicht ohne Bedacht gewählt, doch gestand er sich erst in dieser Sekunde ein, warum er dieses Reiseziel ausgewählt hatte. Rolf schloss die Augen, senkte seinen Kopf und zählte leise bis fünf. Dann öffnete er das Handschuhfach, kramte seelenruhig ein paar Gartenhandschuhe hervor und streifte sie über. Sein Plan stand fest. Er stieg aus dem Wagen, schloss die Heckklappe des Kombi auf und schnalzte mit der Zunge, um die Aufmerksamkeit der Hundedame auf sich zu ziehen.

„Du wartest hier, klar?“ Das Tier neigte den Kopf leicht zur Seite und quittierte sein Kommando mit einem kurzen Bellen. „Recht so“, flüsterte er und tätschelte ihren Kopf. Dann zog er den Kofferraumdeckel hinunter. Hinter ihm rückten zwei Streifenwagen der Polizei mit eingeschaltetem Blaulicht und lärmender Sirene an. Sie stellten sich am Ende der Brücke quer, um ihm jedwede Möglichkeit zur Flucht mit seinem Wagen zu nehmen. Rolf schloss die Augen und horchte in sich hinein. Seine innere Stimme war verstummt. „Dies ist das Ende des Weges“, murmelte er. Einen Ausweg gab es nicht mehr. Beide Brückenenden waren versperrt. Kein Weg zurück, nur einen Schritt nach vorn. Er holte noch einmal tief Luft. Er würde diese Brücke nicht in Handschellen auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens verlassen. Ganz bestimmt nicht!

Fest entschlossen hob er seinen Blick. Direkt vor ihm, nur einen Steinwurf entfernt, schwebte der Polizeihubschrauber. Rolf sprang an dem drei Meter hohen Stahlgitterzaun, der die Brücke säumte, empor und fand mit dem rechten Fuß Halt, um sich mit beiden Händen emporzuziehen. Die winzigen Stahlspitzen bohrten sich in seine Handschuhe, doch er ignorierte den stechenden Schmerz sowie das Blut, welches unmittelbar an seinen Fingerkuppen austrat. Er zog sich weiter nach oben. Mit dem linken Fuß stützte er sich zwischen zwei Spitzen ab, holte Schwung und balancierte hockend auf der Zaunspitze. In einem Sekundenbruchteil ließ er die Geschehnisse der vergangenen Monate vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Eine letzte Woge von Wut und Enttäuschung stieg in ihm auf, welche sich leise mit Wehmut vermischte und Rolf einen finalen klaren Moment verschaffte. Die Zeit um ihn herum schien wie in Zeitlupe zu vergehen. Das letzte Bild, das seine Augen wahrnahmen, zeigte einen Mann im Polizeihubschrauber, der ein Megafon in der rechten Hand hielt und ihm etwas zuzurufen schien. Doch Rolf konnte die Worte nicht verstehen, er wollte sie nicht verstehen. Er senkte seinen Blick, schloss die Augen und ließ sich über die Brüstung in die Tiefe fallen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Drei Jahre zuvor

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Finale

 

 

„Junge, wo bleibst du denn? Die singen schon die Hymne.“

„Ja, ja. Halt die Backen, du nervst!“, murmelte Rolf mit knirschenden Zähnen. Die krächzende Stimme seines alten Vaters, welche aus dem Wohnzimmer zu ihm in die Küche drang, schmerzte empfindlich in seinen Ohren. Er schloss die Augen, schüttelte den Kopf und boxte mit einer Faust vorsichtig gegen die Tür des in weiß gehaltenen Retrokühlschranks. Von der anderen Seite klirrten einige Flaschen des köstlichen Getränks. Rolf pustete leicht gestresst die Luft aus, kratzte sich kurz am Kopf und rief: „Ich hab’s ja gleich, bleib ruhig, ok?“, zur Antwort zurück über den Flur. Doch Heinrich Sorko hörte ihn nicht. Dafür war der Fernseher einfach zu laut gedreht.

Rolf entnahm zwei Flaschen vom perfekt temperierten Wuppertal Hell aus der Kühlschranktür, köpfte die beiden Bierflaschen und legte weitere Pullen zum Kühlen. Dann schlurfte er auf Socken über die Fliesen der Küche und blieb auf dem Teppich des Hausflures vor dem hohen Spiegel stehen. Zufrieden musterte er das schwarz-rot-gold gestreifte Muskelshirt, das er anlässlich des heute stattfindenden Fußball-WM-Finales kurzfristig erstanden hatte. Auf dem Kopf trug er seine schwarze Wollmütze, die ihn bei den vorherrschenden Außentemperaturen von 28°C kurz vor 21 Uhr ordentlich zum Schwitzen brachte. „Wer schön sein will, muss leiden, was?“, scherzte er grundsätzlich, wenn er auf die Kopfbedeckung angesprochen wurde. Doch er wusste natürlich selbst, dass diese Antwort eine Ausrede war und ihn das Tragen einer Mütze frustrierte. Er prostete sich im Spiegel zu und gönnte sich einen Schluck Bier. Dann betrat er das mit Laminat ausgelegte Wohnzimmer, wo sein Vater bereits durstig die Ankunft des kühlen Erfrischungsgetränks erwartete.

„Mensch, was hat denn da so lange gedauert? Aber immerhin, pünktlich zum Anpfiff, nicht? Prost, Junge.“ Heinrich stieß mit der an sich genommenen Glasflasche gegen die Glasflasche seines Sohnes.

„Prost, Vater.“

Aus dem TV-Gerät ertönte der Pfiff des Schiedsrichters, und das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2014 zwischen Deutschland und Argentinien war freigegeben. Beide Männer starrten gespannt auf den von Heinrich neu erworbenen 48 Zoll Flachbildschirm, den er extra vor Beginn des Turniers gekauft hatte.

„Ahhh, wie erfrischend“, kommentierte Rolf den Zustand seines Getränks, stieß einen lauten Seufzer aus und schloss für einen Moment seine Augen.

„Alles in Ordnung, Junge?“, fragte der 74-jährige Heinrich stoisch ohne dabei den Blick vom Bildschirm zu nehmen.

„Mein Leben ist wie eine Partie Jenga, verstehst du, Vater? Du ziehst ein Holzklötzchen nach dem anderen aus dem intakten Gebilde und versuchst, es oben wieder anzulegen. Ja klar, ab und an wackelt es mal, aber der Turm bleibt stehen. Immer stehen. Zumindest bis vorgestern, da habe ich in einem unbedachten Moment meinen Turm zum Einsturz gebracht, alles klar?“

Geschieht dem Penner recht, was wir getan haben.

Rolf blinzelte einige Male und zuckte den Kopf leicht zur Seite, um die eben vernommene und bereits seit Jahren vertraute Stimme in seinem Schädel nicht auf Heinrich zu projizieren.

Dieser versuchte, Rolfs Worten aufmerksam zu folgen, doch auch ein kräftiger Schluck aus der Pulle vermochte das Gesprochene seines Sohnes zu keinem logischen Bild zusammensetzen. „Ich versteh‘ nur Bahnhof. Was hast du gemacht?“

Rolf hob seine Bierflasche in die Höhe und schlug aus Frust mit der freien Hand einmal auf den Marmorcouchtisch. Gerda, die treue Golden-Retriever-Dame, welche bis dato friedlich in ihrem Körbchen unter dem Wohnzimmerfenster geschlummert hatte, hob den Kopf und starrte den Gast verwundert mit heraushängender Zunge an. Sie hatte wohl, wie ihr Herrchen, einen ordentlichen Schreck bekommen.

„Was zum Henker soll das, Junge?“, brauste Heinrich auf und fuchtelte mit seiner Bierflasche in der Hand durch die Luft. „Willst du, dass dein alter Vater noch einen Herzinfarkt kriegt, oder was? Na sieh dir das an, jetzt habe ich doch glatt meine Decke vollgekleckert.“

„Tut mir leid, Papa. Warum legst du eigentlich bei dem Wetter eine Decke über die Beine?“

„Weil ich friere!“, konterte Heinrich entrüstet, noch immer bemüht, seine Kuscheldecke aufzuschütteln, um sie von der kleinen Bierlache zu befreien. „Und warum trägst du die alberne Mütze?“

Das geht ihn überhaupt nichts an!

Rolf versuchte, sich zu konzentrieren. Er kniff seine Augen zusammen, um die Stimme in seinem Kopf zu ignorieren, und stierte seinen Vater zornig an. Nachdem er zweimal geblinzelt hatte, besann er sich und fasste den Entschluss, die Frage überhört zu haben.

„Ich kann einfach meine Fassung nicht mehr wahren, verstehst du?“, setzte er seinen ursprünglichen Gedankengang fort. „Bevor ich zu dir gekommen bin, hatte ich noch einen riesigen Streit mit Antje. Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir uns nicht in der Wolle haben. Das nervt alles unglaublich. Sie treibt mich dann immer so weit, dass ich entweder was kaputtschlagen will oder schreiend in den Wald laufe.“

„Ach Gott, also ich kenne mich bei euch Kindern wirklich nicht mehr aus. Immer nur am Streiten. Immer nur Ärger. Was ist denn da los, Junge?“

Rolf leerte, ohne abzusetzen, den kompletten Inhalt seines Kaltgetränks. Er stieß einen weiteren langen Seufzer aus und starrte auf den Bildschirm. Gerade mal drei Minuten gespielt, dachte er. Das kann ja heiter werden.

Na komm, dann erzähl ihm die ganze Tragödie.

„Es ist eine lange Geschichte, weißt du?“, murmelte er und nickte gedankenverloren.

„Ich kann dich nicht hören!“, rief sein Vater ihm entgegen und formte dabei seine rechte Hand zu einem Trichter, um damit ein Megafon zu simulieren. Bei diesem Anblick musste Rolf lachen.

„Für mich klingst du immer wie eine zickige Zweitklässlerin, wenn du dieses Geräusch machst“, merkte der ältere der beiden Männer an. „Kannst du nicht lachen wie ein richtiger Mann?“

„Vater, lass deine Spitzfindigkeiten beiseite und hör mir einfach zu“, fuhr Rolf seinen Erzeuger mit scharfem Tonfall an. „Ich kann es nicht ab, wenn mich die Jungs im Fitnessstudio anmachen, und von dir brauche ich mir das gar nicht anhören, klar? Guck das Fußballspiel und lass mich erzählen.“

„Oh, bitte. Ich möchte dich nicht…“

In dieser Sekunde wurde der Gastgeber von einem kräftigen Hustenanfall heimgesucht. Heinrich verkrampfte, fasste sich mit der linken Hand an die Brust. Seine Bierflasche, über die er keine Kontrolle mehr zu haben schien, plumpste aus der rechten Hand.

Der Alte kratzt uns jetzt aber nicht ab, oder was?

Rolf riss vor Schreck seine Augen weit auf, stellte seine Glasflasche auf den Tisch und hastete hinüber zu seinem Vater. Gerda erhob sich in ihrem Körbchen, begann leise zu winseln und setzte sich auf Rolfs Handzeichen hin. Dann ging dieser vor dem Fernsehsessel in die Knie und wartete, bis der Anfall von Heinrich verklungen war. Dieser sog tief Luft ein und versuchte angestrengt, gleichmäßig zu atmen. Dicke Schweißperlen rannen seine Schläfen hinunter. Vorsichtig öffnete er die Augen.

„Ich bin noch da?“ Die zittrige Stimme verhieß einen Anflug von Überraschung.

„Vater, du hast mir gerade einen mächtigen Schrecken eingejagt. Hast du öfter diese Anfälle?“

„Wasser, bitte“, japste Heinrich. Rolf spurtete in die Küche und kehrte binnen weniger Sekunden mit einem vollgefüllten Glas zurück, welches er umgehend der fahlen Gestalt im Fernsehsessel reichte.

„Kleine Schlucke, du weißt Bescheid!“

Heinrich ignorierte die Empfehlung und kippte das erfrischende Getränk auf ex hinunter. Mittlerweile war der treue Vierbeiner an die Seite seines Herrchens getrottet und stupste ihn vorsichtig mit der Nase an.

„Mach dir bitte keine Sorgen, meine Liebe“, beruhigte Heinrich seinen Hund und streichelte behutsam dessen Kopf. „Alles ok, alles ok.“ Der alte Mann bedachte seinen Sohn mit einem Lächeln und gab ihm mit einer nervösen Handbewegung zu verstehen, doch bitte wieder das Fernsehbild frei zu geben. „Junge, du wolltest mir von deinem Alltag erzählen.“

„Fühlst du dich gut? Möchtest du nicht lieber einen Arzt rufen?“

„So ein Quatsch“, polterte Heinrich entrüstet. „Bei mir ist alles prächtig. Wir bleiben bei unserem ursprünglichen Plan: Du erzählst mir, was los ist, und ich gucke das Fußballspiel.“

Rolf nickte mit versteinerter Miene. Ein kurzer Blick zu Gerda verriet, dass der Hund sich beruhigt hatte und dabei war, es sich neben dem Fernsehsessel gemütlich zu machen. Sein Verhalten deutete auf keine Gefahr für die Gesundheit seines Herrchens.

Na dann plaudere mal los! Aber fass dich kurz!

Meinetwegen, dachte Rolf, ließ sich zurück auf seinen Platz der Zweisitzer Couch sinken und beobachtete seinen in die Jahre gekommen Vater für ein paar Augenblicke von der Seite. Der grauhaarige Rentner wirkte abgemagert und kraftlos. Von dem sportlichen und agilen Mann, zu dem Rolf sein ganzes Leben lang aufgeschaut hatte, war nicht mehr viel übrig. Heinrich war immer ein positiver und ausgeglichener Zeitgenosse gewesen, nichts hatte ihn jemals aus der Bahn werfen können. Nicht einmal der Verlust seiner Ehefrau Gerda, welche ihm Ostersonntag 1990, nach einer kurzen und schmerzhaften Krebserkrankung, jäh entrissen worden war Heinrich hatte das Lächeln nie verlernt.

„Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du diesen Hund nach Mutter benennen musstest“, bemerkte Rolf kopfschüttelnd.

„Was willst du von mir, Junge? Ich bin reich und kann machen, was ich will. Erzählst du jetzt, was dir passiert ist, oder was?“

Was hat er eben gesagt?

„Reich? Du? Wo denn?“ Rolf musste wieder kichern.

„Eines Tages wirst du schon sehen“, kommentierte Heinrich schnippisch und sein Sohn glaubte ein schelmisches Grinsen auf den Lippen seines Vaters zu erkennen. Rolf wischte den Gedanken beiseite und checkte die bereits absolvierte Spielzeit des Fußballspiels.

„Zwanzig Minuten rum. Noch keine Tore.“ Er seufzte leise. „Vater, soll ich dir ein Bier mitbringen?“

Heinrich schüttelte sanft den Kopf. „Danke, Junge. Ich bleibe lieber bei Wasser.“

Nachdem Rolf sich mit einem neuen Erfrischungsgetränk versorgt und wieder im Wohnzimmer Platz genommen hatte, eröffnete er sofort einen Monolog: „Du hast ja mitbekommen, dass ich im Frühjahr nach Slowenien gefahren bin, um mir neue Haare transplantieren zu lassen. Tja, aber diese Penner haben Mist gebaut. Auf das Narkosemittel habe ich mit Unverträglichkeit reagiert. Keine Ahnung, was diese Idioten da zusammengepanscht hatten. Und mit den Folgeschäden habe ich bis heute zu kämpfen: eine permanent entzündete und gereizte Kopfhaut. Siehst du?“

Rolf zog vorsichtig seine schwarze Wollmütze vom Kopf und entblößte sein geschundenes Haupt.

„Anstatt endlich wieder eine wallende Haarpracht tragen zu dürfen, muss ich jeden verdammten Tag Juckreiz und Entzündungen ertragen. Ständig bin ich mit Einfetten und Eincremen beschäftigt. Das treibt mich eines Tages noch in den Wahnsinn!“

Den Alten kümmert unser Leiden ja doch nicht!

Heinrich richtete sich plötzlich auf, hob die Hand vor die Stirn und schrie ein ohrenbetäubendes: „Daaaaaa!“

Ein argentinischer Stürmer rannte allein auf das Tor von Manuel Neuer zu, doch schob der Angreifer überhastet und unüberlegt den Ball deutlich am deutschen Tor vorbei.

„Hat der Neuer nen Dusel. Ach du Scheiße!“ Rolf pustete erleichtert die Luft aus den Lungen.

„Das war doch kein Dusel, Junge. Da konntest du genau sehen, wie Respekt ausschaut! Das war alles, Respekt! Unser Keeper hat in dem Turnier so grandios gehalten. Der Stürmer hat Angst bekommen.“ Der alte Mann grinste zufrieden ob seiner Analyse vor sich hin.

Genau! Respekt!

„Stimmt eigentlich“, gab Rolf murmelnd zur Antwort.

„Respekt, mein Junge.“ Heinrich hob mahnend seinen Zeigefinger. „Das ist genau das, was dir fehlt. Ich kenne dich nur als eitlen Vogel, der sich nie hat irgendetwas sagen lassen. Bist immer ein Hitzkopf gewesen, der sich lieber geprügelt hat, anstatt mal über Sachverhalte in Ruhe zu reden oder Vernunft walten zu lassen, wenn du hättest einsehen müssen, dass andere Recht hatten.“

„Auf wessen Seite stehst du überhaupt?“, maulte der Beschuldigte kleinlaut. Auf seiner Stirn trat eine Vene hervor und seine Hauptschlagader begann sichtbar zu pulsieren.

Heinrich schien den Protest ignoriert zu haben und starrte weiter auf den Fernseher. „Bist du mit deiner Geschichte schon fertig?“

„Ich hole mir erstmal noch ein Bier“, gab Rolf zurück und stapfte in Küche, um wenige Sekunden später gleich mit zwei geöffneten Flaschen zurückzukehren.

„Jedenfalls“, setzte er an, genoss einen großen Schluck seines Getränks und rülpste anschließend herzhaft.

Prost!

„Nachdem meine Arbeitskollegen mitbekommen hatten, wo ich gewesen bin, und warum, wurden die täglichen Sticheleien, die ja schon seit Jahren andauern, immer heftiger und erbarmungsloser. Sie ließen keine Gelegenheit aus, mich zu piesacken. Tag ein, Tag aus. Jedes Mal die gleiche dumme Leier. ´Ah, da ist ja Prinz Locke und er trägt heute wieder eine Mütze um seine Haarpracht nicht zu verschmutzen`. Und irgendwann konnte ich es nicht mehr aushalten. Das Großmaul aus meiner Schicht, Manni Löwer, dem habe ich am Freitag das Nasenbein gebrochen, nachdem er wieder anfing mir auf den Ticker zu gehen.“

Der Penner hatte es nicht besser verdient!

„Das hat so verflucht gutgetan, diesem Affen mal aufs Maul zu hauen. Ich schwöre dir, Vater, wenn dem Klugschwätzer nicht die Kollegen zu Hilfe geeilt wären und mich zurückgehalten hätten, ich hätte diesem Weichei seinen Riechkolben in sein wertloses Hirn reingedrückt! Das kannst du mir glauben!“

Heinrich bedachte seinen Sohn mit einem verachtenden Blick und nippte an seinem Wasserglas. „Das Nasenbein gebrochen, ja? Hat der dich angezeigt dafür?“

Rolf senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Manni hat auf eine Anzeige verzichtet, aber nur, weil die Personalabteilung mich umgehend freigestellt hat. Der Schichtleiter hat den Vorfall sofort gemeldet und ich wurde auf der Stelle nach Hause geschickt. Was ein Mist, ich arbeite seit 33 Jahren in dem Unternehmen. Chemiker hin oder her, ich bin über 50 – wer stellt mich denn jetzt noch ein? Vor allem mit diesem Führungszeugnis, das ich zu erwarten habe.“

„Junge, das tut mir wirklich leid“, versicherte Heinrich seinem Sohn. „Hast du Antje davon erzählt?“

Das geht sie nichts an!

„Meiner Frau habe ich keinen Ton gesagt.“ Rolf seufzte. „Wie ich dir vorhin schon sagte, haben wir eigentlich nur noch Streit. Sie nervt mich, ich nerve sie. Seit über zwei Jahren hatten wir keinen Sex mehr, zumindest nicht miteinander. Ob sie mit anderen Kerlen ins Bett geht, bekomme ich nicht mit.“

Sie betrügt uns, das wissen wir beide!

Heinrich verzog sein Gesicht. „Es ist so erquickend Details über das Liebesleben seines eigenen Sohnes zu erfahren.“ Er schloss die Augen, schüttelte sich kurz und sagte dann: „Mach doch bitte weiter.“

„Jedenfalls bin ich Freitag Nachmittag als Erstes ins Studio gefahren, um meinen Frust an den Geräten auszulassen. Danach war es wieder gut.“

Nach Rolfs abgeschlossener Berichterstattung starrten beide schweigend auf den Fernseher.

„Junge, du könntest mir einen großen Gefallen tun.“ Heinrich zeigte auf Gerda, welche friedlich neben dem Fernsehsessel vor sich hin schnarchte. „Das Mädchen muss noch mal raus um den Block gehen. Bist du so nett und drehst ihre Runde mit ihr? Ich werde mich ein paar Minuten ausruhen.“

„Kein Ding, Vater. Machen wir doch.“

Der Pfiff zur Halbzeit ertönte umgehend. Während Rolf sich erhob, eilte die Hundedame bereits mit wedelndem Schwanz Richtung Haustür.

„Du kennst ja ihre Route, nicht? Bis ihr zurück seid, bin ich wieder fit.“

 

Zwölf Minuten später klapperte der Wohnungsschlüssel im Schloss und die beiden Spaziergänger vernahmen sofort ein lautes Schnarchen aus dem Wohnzimmer, welches selbst das „Analysegeschwätz“, wie Rolf es gerne nannte, der sogenannten Fußballexperten aus dem Fernseher übertönte. Während Gerda zum Wassertrog in der Küche trottete, überlegte er kurz, seinen Vater für den Beginn der zweiten Halbzeit aufzuwecken. Doch er hatte einen anderen Plan.

Was hat der alte Mann nur damit gemeint, er sei reich?

„Wir haben nie über Geld gesprochen. Ok, er hat seine Rente, er führt ein bescheidenes Leben“, murmelte er im Selbstgespräch.

Aber irgendetwas muss es hier geben!

Rolf quälte dieser Gedanke. Er begann vorsichtig und leise, jeden Schrank, jede Schublade nacheinander zu öffnen. Doch seine Suche blieb erfolglos. Ihm wurde bewusst, dass Heinrich überhaupt nicht verraten hatte, wonach er Ausschau halten müsse. Vermutlich hatte sein Vater ihn nur zum Narren gehalten.

Zum Ende der regulären Spielzeit, beim Ergebnis von 0:0, brach Rolf die Suche frustriert und erfolglos ab. Er öffnete eine weitere Flasche Bier und setzte sich zurück auf seinen Platz auf der Couch, um wenigstens noch das Ende des Fußballspiels verfolgen zu können. Kurz nach Anpfiff der Verlängerung begann Heinrich sich zu räkeln.

„Oh, ich bin wohl eingeschlafen“, murmelte der Rentner, schmatzte zweimal laut und rieb sich die Augen.

„Du hast die gesamte zweite Halbzeit verpasst, Mann. Hast du von deinem ganzen Geld geträumt?“ Rolf grinste seinen Vater hämisch an.

„Was für Geld?“, fragte Heinrich zurück und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht am linken Oberarm. „Autsch, ich muss wohl etwas unglücklich gelegen haben.“

Gerda, die sich nach dem Stillen ihres Durstes zurück auf ihren Platz geschlichen und in ihrem Körbchen unter dem Wohnzimmerfenster niedergelassen hatte, hob den Kopf, begann zu schnuppern und fiepte leise.

„Du hast doch vorhin gesagt, du wärst reich. Wo ist denn dein ganzes Geld?“

„Ach, du meinst Bargeld!?“ Heinrich lachte laut auf. „Nein, so etwas besitze ich nicht. Du hast mich wohl falsch verstanden, Junge.“

Augenblicklich musste der Rentner husten und Gerda begann zu winseln, verließ aber ihr Körbchen nicht.

„Ruhig, Mädchen“, beruhigte der Besitzer die Hundedame, nachdem der kleine Hustenanfall vorbeigezogen war.

„Vater, bist du sicher, dass du keinen Arzt rufen möchtest? Schau dich doch an, dir steht der Schweiß bis unter die Schädeldecke. Du hältst deinen linken Arm die ganze Zeit schon, als hättest du tierische Schmerzen. Du gefällst mir nicht!“

Rolf versuchte, so gut er konnte, mit Vernunft auf seinen Gastgeber einzureden. Doch Heinrich winkte nur abweisend den Vorschlag seines Sohnes beiseite.

„Ich lass mich nicht bemuttern, hörst du? Wenn es dir nicht passt, kannst du auch gerne nach Hause gehen. Wenn jetzt nicht noch ein Wunder geschieht, gibt es in ein paar Minuten Elfmeterschießen. Wir wollen doch nicht im Streit auseinandergehen, oder?“

Aus dem Fiepsen des Hundes wurde ein Winseln und Gerda bellte einmal laut.

„Gleich, Mädchen, warte“, rief Rolf in Erregung. Er war von seinem Sitz aufgesprungen, als André Schürrle zu einem etwa 30 Meter langen Spurt mit dem Ball auf der linken Angriffsseite Richtung Eckfahne ansetzte. Seinen punktgenauen Pass stoppte Mario Götze gekonnt mit der Brust und versenkte das Leder sehenswert im langen Tor-Eck. Deutschland lag mit 1:0 in Führung.

„Toooooooooooooor“, brüllte Rolf aus Leibeskräften. Er sprang wie ein wildes Kind auf der Stelle, riss seine Arme in Höhe und ging mit einer Kettensägen-Siegerpose in die Knie. Im Freudentaumel öffnete er das Wohnzimmerfenster. Aus der Ferne drangen Jubelgesänge an sein Ohr. Über einem der Nachbardächer stieg eine Silvesterrakete in den Himmel auf. „Toooooooor“, schrie Rolf hinunter auf die Straße und erhielt ein „Tooooooor“ zurück, doch er konnte niemanden sehen.

Des Sieges gewiss genoss er für einige Sekunden die warme Sommerluft und atmete entspannt aus.

„Vater, komm mal zu mir ans Fenster. Genieß die Luft mit mir“, rief Rolf in Richtung des Fernsehsessels, ohne sich dabei umzudrehen. Als er nach einigen Sekunden bemerkte, dass er weder eine Antwort erhalten noch Schritte seines Vaters vernommen hatte, drehte er seinen Kopf.

Die nächsten Momente spielten sich vor Rolfs innerem Auge wie in Zeitlupe ab. Er sah Gerda, welche zu Füßen ihres Herrchens lag und winselte. Sein Blick wanderte an den Beinen seines Vaters empor. Der Oberkörper schien regungslos gegen die Rücklehne zu ruhen und die Arme des alten Mannes hingen schlaff zu je einer Seite des Sessels nach unten. Heinrichs Mund und Augen standen offen. Das Gesicht wirkte verkrampft.

„Neeeeeiin, Vater…… neeeeein!!!!“

Rolf sackte auf die Knie und ergab sich einem Tränenerguss. Anschließend kämpfte er sich zurück auf die Beine, tätschelte Gerda behutsam an ihrem Kopf, schloss sanft die Augenlider seines Papas und nahm sein Mobiltelefon zur Hand.

„Hallo, hier ist der Rettungsdienst. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ja, mein Name ist Rolf Sorko. Bitte schicken Sie sofort einen Krankenwagen in die Mirker Höhe Nummer 99. Mein Vater, Heinrich Sorko, hatte soeben einen Herzinfarkt. Sie müssen ihn abholen kommen! Ja, ich warte. Danke.“

Als Nächstes wählte er über die Kurzwahlfunktion die Handynummer seiner Frau.

„Was willst du denn um diese Uhrzeit?“, erklang die hörbar gereizte Stimme seiner besseren Hälfte am anderen Ende der Leitung. „Hast du wieder zu viel getrunken und findest den Weg nach Hause nicht?“

Die blöde Kuh weiß doch gar nicht, was los ist! Sie soll die Schnauze halten!

„Hör mir einfach nur zu!“, fauchte Rolf seine Frau an. „Heinrich ist vor ein paar Minuten an einem Herzinfarkt verstorben. Ich warte noch auf den Notarzt, klar? Ich habe momentan sowieso keinen Bock, dich zu sehen!“

 

Der Streit

 

 

„Und, wie war es heute auf der Arbeit?“

Noch nicht einmal den Fuß über die Schwelle gesetzt und schon nervt sie!

Die vertraute Stimme in Rolfs Kopf hatte es auf den Punkt gebracht. Er zog den Schlüssel aus dem Schloss der gemeinsamen Mietwohnung und schaute Antje direkt in die Augen. Auf diese Frage seiner Frau hatte er jeden Tag seit dem Rauswurf gewartet, also musste er sich auch nicht verstellen, um seine Lüge zu verbergen: „Es war ok. Wie immer. Arbeit halt. Wieso willst du das wissen?“

Antjes Gesicht lief feuerrot an. „Warum erzählst du so einen Käse? Du hältst mich wohl für total bescheuert, oder wie? Glaubst du nicht, dass ich eines Tages mitbekommen würde, dass du deine Arbeitsstelle verloren hast?“

Rolf schloss die Eingangstüre hinter sich, streifte seine schwarze Wollmütze ab und pustete durch die gespitzten Lippen aus.

„Ja, es stimmt“, grummelte er. „Ich bin auf Arbeit rausgeflogen. Woher weißt du es?“

Sie trat ihm zwei Schritte entgegen und fixierte ihren Mann mit strengem Blick, die Hände in die Hüften gestemmt. Ihre Halsschlagader pulsierte.

Sie will stänkern! Wir hauen sie einfach um!

„Ich habe heute Manni Löwers Frau beim Einkaufen getroffen“, eröffnete sie mit überspitztem Lächeln. „Sie hat mir da eine nette Geschichte über dich erzählt. Möchtest du vielleicht etwas dazu sagen?“

Antje hatte wieder, wie Rolf fand, ihren rechthaberischen Unterton aufgelegt, welcher ihn innerhalb von zwei Sekunden von null auf 100 bringen konnte. Er spürte unter seiner Schädeldecke, wie sich ein Zornessturm zusammenbraute. Sie wusste nach 32 Ehejahren ganz genau, welche Knöpfe sie bei ihm drücken musste, um ihn zu provozieren.

„Ach, die Marlies, die gute Seele“, presste er mit sarkastischem Unterton hervor. „Was hat sie dir denn Schönes erzählt?“

Wir hauen sie einfach um!

Hinter seinem Rücken ballte er vor Wut eine Faust. Rolf schaute in die Augen seiner Frau und erkannte dieses gewisse Blitzen in ihren Pupillen. Sie verfolgte, für ihn eindeutig, den Plan, ihn aus der Fassung zu bringen. Er wusste es. Es verging kein Tag, ohne dass die beiden sich stritten. In den letzten Wochen hatte er einfach auf Durchzug gestellt, wenn sie versuchte, ihn zu reizen. Doch diesmal, spürte er, würde es zur Eskalation kommen. Er spannte innerlich jeden einzelnen Muskel an.

„Oh“, flötete Antje ironisch. „Sie hat mir eine nette Geschichte erzählt. Sie sagte, mein Mann habe ihrem Mann während der Arbeitszeit das Nasenbein gebrochen und ihn damit ins Krankenhaus befördert. Und du hättest für diese Aktion deine Kündigung erhalten.“ Von einem Satz zum anderen begann sie zu schreien. „Und warum erzählst du Mistkerl mir bitte schön kein Sterbenswörtchen davon? Hä? Warum tust du so, als würdest du jeden Tag zur Arbeit gehen? Wovon leben wir eigentlich momentan? Wo kommt bitteschön das Geld her, mit dem wir unsere Miete bezahlen und wovon bezahlen wir unser Essen?“

Die 1,65 Meter hohe Frau halbierte den Abstand zwischen den beiden mit zwei kurzen Schritten, holte ohne Vorwarnung aus und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

Das macht sie kein zweites Mal!

Rolf starrte sie an. Er hatte mit einer körperlichen Attacke gerechnet, sich innerlich auf den Schmerz vorbereitet und steckte die Backpfeife ein, ohne ihr die Genugtuung einer Reaktion zu geben. Antje wich einige Schritte zurück. Er verharrte und funkelte seine Frau an, ohne zu blinzeln. Sie rannte in die Küche und holte hastig eine Bratpfanne aus einer Küchenschublade. Rolf blieb in der Türschwelle stehen.

„Wenn du einen Schritt näherkommst, dann schlage ich dir damit die Kniescheibe ein, hörst du?“, brüllte sie und hielt das Küchenwerkzeug wie einen Baseballschläger seitlich von ihrem Kopf. Rolf bemerkte, dass sie zitterte.

Sie sucht Streit! Das lassen wir uns nicht gefallen!

„Was soll der Unsinn?“, keifte er. „Warum tust du so, als wollte ich dir etwas antun?“ Rolf hatte sich unter Kontrolle. Er hob seine Hände zum Zeichen des Friedens. „Du möchtest mir also unbedingt weh tun, was?“, fragte er ausdruckslos. Er lehnte sich lässig gegen den Türrahmen und räusperte sich. „Ich werde dich nicht attackieren, hörst du? Du hast mich geohrfeigt. Super, eins zu null für dich. Du hast gewonnen. Lass uns einfach nur reden.“

Antje hielt das Küchenwerkzeug fest umklammert. Sie überlegte einige Sekunden schweigend und ließ ihn dabei nicht aus den Augen, schüttelte sanft den Kopf und sagte schließlich: „Dein Verhalten hat sich in den letzten Monaten stark verändert. Du bist immer stiller geworden und wirkst in dich gekehrt, suchst kaum noch ein Gespräch. Wenn du etwas sagst, ist es ein unverständliches Gemurmel, so als würdest du Selbstgespräche führen. Und dein Hang zu Gewaltausbrüchen ist mir auch nicht entgangen. Oft genug habe ich dich beobachtet, wie du deinen Frust an Möbelstücken, Straßenlaternen oder Bäumen auslässt. Doch einen gewalttätigen Angriff auf einen Menschen, das war neu für mich.“

„Was mit Manni passiert ist“, entgegnete Rolf nach einigen Sekunden der Stille besonnen, „war ein Unfall. Dieser Vollpfosten hätte einfach mal sein Maul halten sollen. Aber der Kasper war immer nur auf Krawall aus. Immer am Piesacken. Und irgendwann war das Maß voll, da habe ich dann zugeschlagen.“

Antje nickte. „Ich weiß doch, dass Manni dich schon viele Jahre wegen dessen schwindender Haarpracht auf dem Kieker gehabt hatte“, redete sie behutsam auf ihren Ehemann ein. „Ihr beide kennt euch bereits seit der Berufsschule und schon damals gab es Sticheleien.“

Rolf nickte. Über die Jahre hatte das zunächst freundschaftliche Verhältnis der beiden Männer gelitten, bis ihm in einem unbedachten Augenblick die Sicherungen durchgebrannt waren und er dem „Großmaul“, wie er ihn oft nannte, eine Lektion erteilte hatte.

„Erzähl mir doch einfach mal, was du die letzten drei Wochen angestellt hast“, forderte Antje. „Was ist nach Heinrichs Beerdigung passiert? Wo treibst du dich den ganzen Tag herum? Und was ist eigentlich aus dem Hund geworden?“

Das ist eine Falle! Jetzt bloß nicht weich werden!

Rolf seufzte. „Gerda ist in Heinrichs Haus. Ich konnte sie nicht einfach weggeben. Sie war doch der Hund meines Vaters. Warum hätte ich sie ins Tierheim stecken sollen? Das hätte das Tier nicht verdient. Mit nach Hause bringen konnte ich sie ja nicht, wegen deiner Allergie gegen Hundehaare.“

„Aber, wo ist dann der Hund in der Nacht? Du lässt doch das Tier nicht einfach alleine im Haus, oder wie?“

„Natürlich nicht. Frau Mannskorn von gegenüber nimmt sie mir ab. Die beiden haben sich sehr gut angefreundet. Sie ist ja schön öfter mit dem Hund Gassi gegangen. Und ich hole das Mädchen morgens wieder bei ihr ab, wenn ich zurück ins Haus gehe.“

Antje nickte. „Ich verstehe. Also hängst du den ganzen Tag in Heinrichs Haus rum, ja? Was machst du da? Bier saufen und die Pornoheftchen von dem alten Schwerenöter durchblättern?“

Das lassen wir uns nicht gefallen!

„Sprich nicht so über meinen Vater!“, brüllte Rolf los. Antje hob reflexartig die Bratpfanne in die Höhe und ging leicht in die Hocke. Sie schien sich für einen Angriff ihres Ehemanns zu wappnen.

„Du blöde Kuh hast ja keine Ahnung.“ Mit geballter Faust entlud Rolf seinen angestauten Frust und schlug gegen den Türrahmen. Durch die Intensität des Hiebes trieb er einen kleinen Riss in das Holz über seinem Kopf.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, fauchte sie. „Sieh nur, was du jetzt angerichtet hast!“

Rolf hielt sich instinktiv die Hand. Sein gesamter Körper stand unter Spannung. Mit Adrenalin vollgepumpt biss er sich auf die Unterlippe und versuchte, den stechenden Schmerz wegzudrücken. Er atmete einmal tief ein und wieder aus.

„Um deine Neugierde zu befriedigen“, gab er ihr schließlich zur Antwort. „Ich durchsuche das Haus meines Vaters nach Reichtümern.“

Antje quittierte sein Argument mit einem lauten Lachen, dass durch die Küche schallte. „Reichtümer? Und was genau bist du da auf der Spur?“

Rolf hob bedeutungsschwer die Arme und fuchtelte mit den Händen. „Vater hatte während des Fußballspiels beiläufig erwähnt, er sei reich. Ich habe nicht verstanden, was er mir sagen wollte und es treibt mich in den Wahnsinn, weil ich nicht weiß, wonach ich suchen soll. Geld scheint keines da zu sein. Ich habe mittlerweile sämtliche Schubladen und Schränke zweimal durchwühlt, habe alles ausgeräumt und in Säcke gepackt. Ein Sparbuch habe ich gefunden. Da sind wohl zweitausend Euro drauf. Ein Testament scheint es aber nicht zu geben. Ich bin bisher auf nichts gestoßen. Bis auf seine Klamotten, die Pornohefte-Sammlung und Tonnen von Geschirr.“

„Ich verstehe“, bemerkte Antje mit höhnischem Unterton. „Du nimmst die Worte deines seligen Herrn Vaters für bare Münze. Es könnte nicht sein, dass er dir einen Bären aufgebunden hat?“

Die versucht uns nur zu verunsichern!

Rolf schlug die Hände vors Gesicht und seufzte. „Ich weiß es nicht. Mir platzt noch der Schädel. Ich komme nicht weiter. Ich weiß nur, dass es irgendwas dort geben muss. Das spüre ich. Irgendetwas will gefunden werden.“

„Wie lautet dein Plan, mein Lieber?“, fragte sie mit einfühlsamen Unterton. „Wie geht es weiter? Hast du dich schon um eine neue Stelle bemüht?“

„Ach bitte“, begann er zu kichern. „Wer soll mich denn noch einstellen? Ich bin doch über 50 und bei meinem Arbeitgeber, bei dem ich treu und zuverlässig mehr als 30 Jahre lang geschuftet habe, einfach so rausgeflogen. Was soll ich denn bitte machen?“

Antjes Verständnis schien aufgebraucht, als sie zu schreien begann: „Du Penner legst dich einfach auf die faule Haut und machst jetzt einen auf `Harz Vier`, oder was?“ Ihr Kopf begann gegen den grauen und regenverhangenen Abendhimmel, welcher durch das Küchenfenster einfiel, feuerrot zu leuchten. „Bist du denn wenigstens mal beim Arzt gewesen und hast du dich um einen Therapieplatz bemüht? Wie oft in den letzten Monaten habe ich dich schon darauf angesprochen?“

Er schüttelte den Kopf.

Resigniert senkte sie die Stimme. „Alles klar, Rolf. Da du dir keinerlei Mühe gibst, unsere Ehe und unser Leben retten zu wollen, sage ich dir, was geschehen wird, kurz und schmerzlos: Ich verlasse dich! Ich habe bereits einige meiner Klamotten gepackt. Den Rest lasse ich dann später abholen. Ich fahre heute Abend noch zu Mutter nach München. Dann kannst du dich hier voll und ganz austoben.“

Na prima! Sie kann ruhig gehen, sie ist uns ohnehin nur im Weg.

„Ach, ja“, gab er trocken zurück. „Wenn du verschwinden willst, geh! Ich werde dich nicht aufhalten.“

Er gab mit einer einladenden Handbewegung den Weg aus der Küche frei. Antje legte die Bratpfanne zurück in die Schublade, näherte sich ihm bis auf etwa einen halben Meter und schaute ihm entschlossen ins Gesicht.

„Ich frage dich noch einmal: Wovon leben wir eigentlich momentan? Woher kommt das Geld, mit dem wir unsere Miete bezahlen?“

Rolf musste schlucken, als er zugab: „Wir haben den letzten Monat von unseren Rücklagen gelebt. Ich habe mich am Gesparten bedient, um über die Runden zu kommen.“

„Was redest du da?“, fauchte sie ihn an. „Hast du etwa die gesamten 30.000 Euro für irgendeinen Schund ausgegeben?“ Aus dem Stand versetzte sie ihm einem wuchtigen Tritt gegen sein Schienbein.

Rolf schrie auf und ging in die Knie. „Spinnst du? Was soll der Unsinn? Und, nein: Es waren nur 2.500 Euro. Was wir eben im Monat zum Leben brauchen.“

Mit einem weiteren blitzschnellen Kick traf sie ihn anschließend an der empfindlichsten Stelle eines Mannes. Er jaulte auf, sackte zusammen und krümmte sich wimmernd vor Schmerzen am Boden.

Antje sprang über ihn hinweg, nahm sich ihre Sommerjacke von der Garderobe und warf Rolf ihren Schlüsselbund vor die Füße. Dann griff sie sich ihren gepackten Koffer und die Reisetasche aus der Ecke des Flures und öffnete die Wohnungstür. „Das war’s, du Spinner. Du hörst von meinem Anwalt.“ Sie schob ihren Koffer über die Schwelle und drehte sich noch einmal zu ihrem am Boden liegenden Ehemann um. „Du hast es nicht besser verdient, du Taugenichts. Du schickst mich schön jeden Tag zur Arbeit und legst dich auf die faule Haut. Du bist ein gutgläubiger Vollidiot, ein Tagträumer und deshalb ist jetzt Schluss mit uns beiden.“

Rolf rappelte sich auf die Knie und hielt sich mit den Händen schützend sein Gemächt.

Da hat sie jetzt aber echt Glück gehabt!

„Wenn ich wirklich gewollt hätte“, röchelte er kurzatmig und stierte sie mit dem diabolischen Grinsen eines Wahnsinnigen an, „dann würdest du diese Wohnung nicht auf deinen eigenen Beinen verlassen!“

 

Der Fund

 

 

Nachdem Rolf sich wieder aufgerappelt hatte, schaute er sich noch einmal in Gedanken versunken in der Wohnung um. Die letzten 15 Jahre hatten Antje und er hier zusammen verlebt. Wenn die beiden auch nicht immer einer Meinung gewesen waren, so hatten sie doch friedlich ihr gemeinsames Leben bewältigt.

Schon seit der Grundschule als Klassenkameraden verbunden, hatte Rolf bereits in jungen Jahren, durch sein Selbstbewusstsein und seinen Charme, bei Antje um Aufmerksamkeit geworben. Er war nie darauf aus gewesen, ein Frauenheld zu sein. Doch war ihm im Teenageralter nicht entgangen, dass durch sein damals noch vorhandenes volles Haupthaar die Mädels in der Schule seine Nähe gesucht hatten. Auch die jüngeren Lehrerinnen wurden durch seine zuvorkommende und hilfsbereite Art in seinen Bann gezogen.

---ENDE DER LESEPROBE---