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Frauke Buchholz

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Beschreibung

Während sich die Touristen in Kanada beim größten Rodeo der Welt vergnügen, wird der erfahrene Profiler Ted Garner auf einen kaltblütigen Mordfall angesetzt: zwei alten Männern wurde in Calgary die Kehle aufgeschlitzt. Bei der Ermittlung wird ihm die ehrgeizige junge Polizistin ­Samantha Stern zur Seite gestellt. Die Spur führt zunächst in den ­Norden Albertas, wo der Ölsandabbau verheerende Folgen für die Umwelt und die indigene Bevölkerung hat. Welche Rolle spielt der Ölkonzern, bei dem die beiden Opfer vor vielen Jahren gearbeitet haben? Die Reise führt weit in die Vergangenheit, und noch ist dem Ermittlerduo nicht bewusst, dass es sich selbst in tödliche Gefahr bringt, als es dem Täter näherkommt. »Frauke Buchholz lebte längere Zeit in Kanada und hat Bezüge zu den ­indigenen Völkern und sie arbeitet all das, was sie dort erfahren, ­gesehen und recherchiert hat in einen wirklich ­überzeugenden Genreroman ein.« Ulrich Noller | WDR

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Frauke Buchholz

BLUTRODEO

Für Helen und Fritz

Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Thier

Arthur Schopenhauer

Inhalt

Prolog

Ted Garner

Samantha Stern

Ted Garner

Colonel Robert Garner

Ted Garner

Samantha Stern

Fiona Kelly

Samantha Stern

Ted Garner

Fiona Kelly

Samantha Stern

Ted Garner

Ted Garner

Josh Armstrong

Ted Garner

Ted Garner

Samantha Stern

Ted Garner

Wolf Hansen

Ted Garner

Fiona Kelly

Ted Garner

Dwight

Samantha Stern

Gerry Steiner

Epilog

Quellenangaben

Glossar

Prolog

8. Juli 2022

Rockyview General Hospital, Calgary

Draußen im Park sang eine Amsel. Durch das offene Fenster strömte die weiche Sommerluft herein und vermischte sich mit dem Krankengeruch, der über dem Raum lag wie eine nasse Hundedecke. Die Abendsonne tauchte das Zimmer in ein goldenes Licht, in dem Myriaden winziger Staubpartikel tanzten, sodass sich Monitore, Schläuche und Kabel in einem unwirklichen Flimmern und Flirren aufzulösen schienen.

Gerry schloss die Augen. Seine Hand mit den hervortretenden blauen Adern strich unruhig über die Bettdecke. So still. Nur die Amsel und das leise Blubbern der Apparate. Sein rasselnder Atem. Es würde jetzt nicht mehr lange dauern. Er verspürte keine Schmerzen, doch die tirilierenden Laute zerrissen ihm das Herz. Auch damals hatte die Amsel gesungen. Das Goldgelb der Ähren, die im Sommerwind wogten. Das weite Land. Die endlosen Weizenfelder Albertas. Er hörte Schritte auf dem Gang, das Öffnen der Tür. Schwester Ruby, die seit 23 Tagen sein langsames Sterben überwachte. Die mit starrem Blick den Rhythmus seines Herzens von den gezackten Kurven des Bildschirms ablas, ein Fieberthermometer in sein Rektum steckte, ohne mit der Wimper zu zucken, ihn an Schläuche und Tröpfe anschloss, Brei in seinen Mund presste, seine stinkenden Windeln wechselte. Schwester Ruby, die seinen abgemagerten, faltigen Körper besser kannte als irgendeine Frau ihn jemals gekannt hatte, die ihm jetzt ohne Zärtlichkeit oder Zimperlichkeit Oberkörper und Hintern wusch, dabei in einer Tour auf ihn einschwatzend, als sei er ein kleiner dummer Junge, der sich eingekotet hatte. Der zahnlose Mund in dem eingefallenen Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. In dem Wasserglas auf dem Nachttisch schwamm sein Gebiss und grinste ihn an. Wie er es hasste, ihr so hilflos ausgeliefert zu sein! Damals hatte er sich eingekotet. Die Scheiße war aus ihm herausgeflossen wie dunkle Sauce, und er hatte geglaubt, dass er sterben würde. Das Trommelfeuer der Mörser. Die blattlosen Wälder. Lange her. Eine Ewigkeit. Fast schon nicht mehr wahr. Gab es das? Dass etwas nicht mehr wahr war, nur weil es in der Zeit vergraben lag? Er wünschte, die Amsel würde endlich verstummen. Es gab Dinge, die man besser vergaß. Ein Gesicht wie eine Madonna. Ihre Haut so weich. Dunkle Locken. Wenn er nicht … Reiß dich zusammen, Gerry. Wenn er sich bewegen könnte, würde er der Amsel den Hals umdrehen. Doch er konnte sich nicht bewegen. Schlaganfall. Dann noch die Lungenentzündung. Er war fast 78 Jahre alt. Tödliche Komplikationen. Er konnte nicht mehr sprechen, seine Zunge war ein dicker roter Klumpen in seinem Mund und gehorchte ihm nicht. Sein Kopf war benebelt, zu viel Whiskey, er dachte, er müsste kotzen. Sein Rücken schmerzte schon vom Zugucken, die Gäule hatten gebockt wie wilde Teufel, Appalousa-Hengste, Bronc ohne Sattel, die meisten lagen nach fünf Sekunden am Boden. Calgary Stampede. Wolf war Zweiter beim Bullenreiten geworden. Halt bloß die Schnauze, Gerry. Wenn du das Maul aufreißt, bist du tot. Der Gedanke an Wolf verursachte ihm Übelkeit. Schwester Ruby trocknete seinen Hintern mit einem Handtuch ab, befestigte eine frische Molicare und zog ein Nachthemd über seinen Körper. Er hielt die Augen geschlossen. Ihr Blick, so hart und tief wie die Zeit. Damals war er in einen Abgrund gefallen. Schwester Ruby schloss das Fenster und zog die Vorhänge vor. „Gute Nacht, Gerry. Schlafen Sie gut.“ Das Klappern ihrer Sandalen, das leise Schließen der Tür. Das vertraute Summen und Gurgeln der Maschinen, die seinen Körper am Leben hielten. Gerry starrte auf die weiße Wand. Das Licht schwand allmählich, und es schien ihm, als kröchen aus den Ecken des Zimmers Schatten hervor, die langsam näher kamen und ihn umzingelten. Sein Atmen wurde heftig, und er versuchte vergeblich, mit den Armen zu rudern, um sie abzuwehren. Die Amsel war nicht mehr zu hören. Die Schatten flüsterten, zischelnde, boshafte Laute, eine Kakophonie des Grauens. Schattenfinger zupften an seiner Bettdecke, glitten unter sein Nachthemd, strichen hungrig über seinen Körper, befingerten seine schlaffen Geschlechtsteile. Er wollte schreien, doch die Stimme blieb ihm im Hals stecken. Sein Atem ging jetzt so hart und schwer wie ein Presslufthammer. Er hörte, wie die Türklinke leise hinuntergedrückt wurde. Schwester Ruby. Dem Himmel sei Dank. Jemand trat an sein Bett, und er riss vor Entsetzen die Augen weit auf. Das letzte, was Gerald Steiner spürte, war der kalte Stahl eines Messers, das seine Kehle zu liebkosen schien, bevor es einen glatten Schnitt tat.

Ted Garner

12. Juli 2022

Transcanada Highway

Der silberfarbene BMW schnurrte wie eine gesättigte Raubkatze, während Ted Garner das Gaspedal bis zum Anschlag durchdrückte und den Highway 1 Richtung Westen entlangraste. Rechts und links schossen Weizenfelder vorbei, so als durchpflüge er ein sanft dahinwogendes goldgelbes Meer. Falls er geblitzt würde, wäre er seinen Führerschein für lange Zeit los, doch das Gefühl grenzenloser Freiheit, das ihn durchflutete, war es wert. Die Strecke von Regina nach Calgary betrug 760 Kilometer. Als er sich nach dem Frühstück von Pat und den Jungs verabschiedet hatte, zeigte das Navigationsgerät an, dass er knapp acht Stunden brauchen würde, aber Garner hatte beschlossen, dass sechs Stunden reichten. Der Horizont war endlos. Weiße Wolken hingen wie Wattebäusche an einem tiefblauen Sommerhimmel. Saskatchewan. Land of Living Skies. Garner liebte die Weite der Prärielandschaft. In Moose Jaw und Swift Current drosselte er ein wenig die Geschwindigkeit. Danach wieder freie Fahrt. Kaum noch eine Ortschaft bis Medicine Hat. Ab und an ein Farmgebäude. Rote Kornspeicher, die wie Leuchttürme aus dem Gelb der Felder ragten. Windschiefe Weidezäune. Menschenleer. Er überquerte die Grenze zur Nachbarprovinz Alberta, ohne dass sich die Landschaft änderte. Wild Rose Country. Während Garner Stunde um Stunde durch die Rolling Prairie fuhr, stiegen Bilder in ihm hoch, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Ein totes Indianermädchen, eine Strip Bar, eine Insel im St. Lawrence. Eine Frau, die nicht seine Ehefrau war. Der Montreal-Fall hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Mehr als ein halbes Jahr war vergangen. Seine Schussverletzung war ohne Probleme verheilt. Er hatte nie mehr etwas von der Sûreté Montreal gehört, weder von Morel noch von LeRoux oder Maskisin. Der Indianer war entkommen, und Garner hoffte inständig, dass er nie mehr auftauchen würde. Wenn Maskisin jemals die Wahrheit ausspucken würde, wäre Garner geliefert. Pat hatte vorgeschlagen, dass er die Arbeit als Profiler an den Nagel hängen und eine eigene psychotherapeutische Praxis eröffnen solle, doch er brauchte das Adrenalin der Jagd wie eine Droge.

Der Verkehr nahm allmählich zu. Vor ihm lieferten sich zwei Wohnmobile ein Kopf- an Kopfrennen. Garner fuhr dicht auf und betätigte die Lichthupe. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis das Überholmanöver vorbei war und das Wohnmobil wieder auf die rechte Spur wechselte. Garner fluchte. Touristen auf dem Weg in die Rocky Mountains. Oder zur Calgary Stampede. In Calgary war mit Sicherheit die Hölle los. Jedes Jahr im Juli stand die Stadt für zehn Tage Kopf. Das größte Rodeo der Welt. Bereits seit 1886 fand alljährlich eine Landwirtschaftsausstellung statt, 1912 folgte dann das erste Rodeo. Mittlerweile lockte die Stampede rund 1,5 Millionen Besucher an.

Der Mord kam zur Unzeit. Der Calgary Police Service war bis zum Stehkragen belastet, um für die Sicherheit der Touristen zu sorgen. Alle Hotels in Calgary und Umgebung waren ausgebucht. Mindestens bis zum 17. Juli. Der Commissioner hatte ihm angeboten, bei ihm zu Hause zu wohnen, doch Garner hatte dankend abgelehnt. Er hasste es, fremde Menschen im Pyjama mit verklebten Augen auf dem Weg ins Bad zu treffen. Er würde die erste Nacht in Canmore verbringen. Nach seiner Militärkarriere hatte sich sein alter Herr in den Foothills der Rocky Mountains niedergelassen. Canmore lag nur eine knappe Stunde westlich von Calgary. Der Colonel lebte alleine in einem alten Ranchhaus. Ein alter Grizzly in seiner Winterhöhle, den man besser nicht aufstöberte. Eine Nacht, dann würde er weitersehen.

Die Benzinanzeige blinkte, und Garner nahm die nächste Ausfahrt. Es war 12:50 Uhr. Er hatte seinen Zeitplan locker eingehalten. Noch knapp 70 Kilometer bis Calgary. Während er an einer Esso-Tankstelle auf der Mainstreet eines gottverlassenen Kaffs den Tank auffüllte, beschloss er, eine kurze Pause einzulegen. Er könnte einen Kaffee gebrauchen. Außer einem alten Holzschuppen mit der verwitterten Aufschrift Rosi’s Café schien es keine weiteren Lokale zu geben. Auf dem Schotterparkplatz standen zwei Harley Davidsons mit Alberta-Nummernschildern und einem Fan-Aufkleber der Edmonton Oilers. Seit seiner Zeit im Internat hasste Garner Eishockey. Es war ein Spiel für Roughnecks, und Garner war noch nie ein Teamplayer gewesen. Er zog das Jackett seines grauen Anzugs über und betrat einen schäbigen Raum, in dem ein schaler Geruch nach Frittierfett und Putzmittel stand. Drei alte Farmer mit runzligen Gesichtern unter breitkrempigen Cowboy-Hüten stierten ihn an. Garner grüßte knapp und setzte sich an einen freien Tisch in der Nähe der Theke. Zwei muskelbepackte Typen in Motorradkluft lehnten am Tresen und tranken ein Bier. Ansonsten war das Lokal leer. Die Augen des einen klebten am Ausschnitt der Kellnerin, die mit einem Wischlappen über die Oberfläche der Theke fuhr und dann zu Garners Tisch kam. Sie war klein und zierlich, trug hautenge Jeans und Cowboystiefel und sah aus wie 16. Garner bestellte einen Kaffee und einen Donut. Sie ging zurück zur Theke, doch bevor sie die Kaffeemaschine erreichte, packte sie einer der Biker am Arm und sagte: „Bring uns erst noch zwei Bier, Honey.“ Dabei blickte er in Garners Richtung und rülpste laut. Sie versuchte sich loszumachen, doch der Mann legte den Arm um ihre Taille und sagte: „Verrätst du mir deinen Namen, Sweetheart?“ „Sandra“, hauchte sie. „Sandra“, sagte der Typ und verzog die Lippen zu einem Grinsen. „Magst du eine Spritztour mit mir machen, Sandra? Ich reite gern heiße Öfen.“ Der andere lachte dreckig.

Das Mädchen wurde knallrot. Die Farmer grienten.

„Lass sie los“, sagte Garner. „Meinen Kaffee, bitte. Ich hab’s eilig.“

Der Mann zog das Mädchen enger zu sich heran und pflanzte sich vor ihm auf.

„Halt’s Maul, Wichser“, sagte er. Seine Hände glitten höher und streiften Sandras Brüste. Das Mädchen erstarrte.

„Lass sie los“, sagte Garner noch einmal. Seine Stimme blieb ungerührt.

„Misch dich nicht ein, Wichser.“ Der andere trat drohend einen Schritt auf ihn zu.

Garner zögerte einen winzigen Moment. Er würde sich nur ungerne das weiße Hemd und den Anzug versauen. Sie waren zu zweit, und man musste nicht Psychologie studiert haben, um zu wissen, dass die beiden Ärger suchten. Garner griff langsam in die Innentasche seines Jacketts.

„Hands up“, zischte er und richtete die Walther Q5 auf die Brust des Mannes vor ihm.

Es dauerte eine Sekunde, bis der Biker begriff, dann ließ er Sandra los und hob langsam die Hände. Das Mädchen verschwand blitzschnell hinter dem Tresen. Die Farmer glotzten mit offenen Mäulern.

„Zahlen und Leine ziehen“, sagte Garner.

Der andere zückte vorsichtig seine Brieftasche und knallte ein paar Dollarscheine auf den Tresen.

„Du hast das Trinkgeld vergessen“, sagte Garner.

„Fuck you“, knurrte der Mann. Er warf ein paar Münzen auf den Tisch, dann stürmten die beiden wutschnaubend hinaus. Garner stellte sich mit gezogener Waffe in den Eingang. Wenn sie auch nur in die Nähe seines BMWs kämen, würde er sie abknallen. Er sah zu, wie sie zögernd ihre Helme aufsetzten und auf ihre Harleys stiegen. Sie ließen den Motor aufheulen und fuhren im Schritttempo auf die Straße. Der eine drehte sich um und zeigte ihm den Mittelfinger. Garner fühlte sich wie Sheriff Cooper in dem Western High Noon.

Er wartete, bis sie davongebraust waren, dann ging er zurück ins Lokal und setzte sich wieder an seinen Tisch. Sandra brachte endlich den Kaffee und den Donut. Ihre Hände zitterten, als sie die Tasse vor ihn hinstellte. Die Farmer glotzten noch immer. Er schlang den Donut in sich hinein und trank hastig den Kaffee aus. Willkommen im Wilden Westen, dachte Garner. Er hasste Cowboys.

Samantha Stern

12. Juli 2022

Calgary Police Department

Bestimmt hatte sie sich getäuscht. Sie musste sich getäuscht haben. War der Strich wirklich blassrosa gewesen oder war es das fahle Licht in der Toilette?

Es war 15:10 Uhr, und Samantha Stern schaute ungeduldig aus dem Fenster ihres Büros. Wenn dieser Garner nicht bald käme, hätte er Pech gehabt. Ihr war schon seit dem Morgen übel, und sie würde ausnahmsweise pünktlich Feierabend machen. Schließlich hatte sie bereits das ganze Wochenende durchgearbeitet. Wahrscheinlich hatte sie etwas Falsches gegessen. Oder sich eine Sommergrippe eingefangen. Ein silberfarbener BMW preschte auf den Parkplatz und bremste mit quietschenden Reifen. Die Autotür ging auf, und ein Mann um die vierzig in grauem Anzug stieg aus. Nach allem, was Samantha über Garner gehört hatte, war er ein arrogantes Arschloch. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er bleiben können, wo der Pfeffer wächst. Bisher hatte sie noch alle ihre Fälle alleine lösen können, und sie war sicher, dass sie auch dieses Mal keine Hilfe brauchte. Mit 32 Jahren war sie jüngster Chief Superintendent der Royal Canadian Police Albertas. Aber der Commissioner hatte darauf bestanden, einen Profiler heranzuziehen. Samantha schnaubte. Diese Psycho-Heinis hatten ja keine Ahnung davon, was wirklich abging! Realitätsfremde Spinner, die in abgehobenen Diagnosen schwelgten, während die Polizisten die Drecksarbeit machten. Es klopfte, und Samantha setzte ihr Haifischlächeln auf. Ihre wahren Gefühle gingen niemanden etwas an. Eines ihrer Grundprinzipien.

„Ja, bitte.“ Samantha versuchte, ein wenig Wärme in ihre Stimme zu legen. Die Tür ging auf, und der Mann im grauen Anzug stand vor ihr. Er war mittelgroß und drahtig, hatte ein hageres Gesicht und schütteres blondes Haar. Er lächelte nicht. Er stand da wie ein Stockfisch und schwieg. Seine Augen waren von einem merkwürdig changierenden Graugrün und Samantha beschlich ein ungutes Gefühl.

„Mr. Garner, nehme ich an.“

Knappes Nicken. Der Mann blickte wie eine Sphinx. Samantha hasste Psychologen.

„Samantha Stern. Meine Freunde nennen mich Sam.“ Samantha dachte, dass sie eine Spur zu jovial wirkte. Sie ließ ihr Lächeln ein wenig verblassen.

„Ich habe keine Freunde. Doch Sie können mich Ted nennen, Sam.“ Er betonte das ‚Sam‘ und verzog den Mund zu einem Grinsen.

Sie hatte richtig gehört. Dieser Garner war ein arrogantes Arschloch.

Sam beschloss, die Nettigkeiten ad acta zu legen und den Profi raushängen zu lassen.

„Ich habe Ihnen die Unterlagen zu den beiden Fällen zusammengestellt, Ted.“ Sie betonte ebenfalls das ‚Ted‘ und machte ein Pokerface. „Sie können sie gerne mitnehmen und erst einmal in Ruhe in Ihrem Hotelzimmer studieren. Sicherlich sind Sie müde von der langen Fahrt. Der Commissioner lässt sich für heute entschuldigen. Calgary Stampede, Sie wissen ja.“

Hauptsache, sie war diesen Garner erst einmal wieder los.

„Ich bin nicht müde, Sam.“

Wieder diese dämliche Betonung. Sie hätte sich mit Superintendent Stern ansprechen lassen sollen.

„Vielleicht können Sie mich kurz über die beiden Fälle informieren. Ihre persönliche Einschätzung ist mir wichtig.“

Er lächelte, doch sie war sich nicht sicher, ob das ironisch gemeint war.

„Okay“, sagte sie. „Setzen Sie sich. Ich werde meine Sekretärin bitten, uns einen Kaffee zu bringen.“

Während sie Tina anrief, meinte sie, einen Funken von Anerkennung in den grauen Augen blitzen zu sehen, doch vielleicht hatte sie sich auch getäuscht. Immerhin hatte sie eine Sekretärin, auch wenn Tina für die ganze Abteilung zuständig war. Wollte sie Garner etwa beeindrucken?

Garner hatte sich nicht gesetzt, sondern betrachtete die Wand, an der die Fotos vom Tatort hingen. Ein alter Mann lag mit aufgeschlitzter Kehle in einem Krankenhausbett. Nachthemd und Bettwäsche waren rot von all dem Blut, auf dem Fußboden hatte sich eine Pfütze gebildet. Es sah aus wie bei einem Schlachtfest. Die Handgelenke des Mannes waren bandagiert und verkabelt, der Blick starr, die Nase stach spitz aus dem ausgemergelten Gesicht. Nahaufnahmen der klaffenden Schnittstelle. Garners kalte Augen lagen ungerührt auf den grausamen Bildern.

„Der Mann hieß Gerald Steiner“, sagte Sam. „Er war 77 Jahre alt. Er hatte vor einigen Wochen einen Schlaganfall erlitten, der seine linke Seite vollständig lähmte, und sich dann noch eine Lungenentzündung eingefangen. Der behandelnde Arzt sagte aus, dass er höchstwahrscheinlich eh bald gestorben wäre.“

Tina klopfte und stellte zwei Tassen auf den Tisch, während sie Garner in einer Tour anlächelte, als mache sie Werbung für Zahnpasta. Der Mann war in Polizeikreisen eine Berühmtheit. Sie war ein blonder Wonneproppen von Mitte zwanzig, der aus dem engen Sommerkleid zu platzen schien, doch Garner würdigte sie keines Blickes. Vielleicht war er immun gegen weibliche Reize. An seiner rechten Hand trug er einen Ehering.

„Wann war der genaue Todeszeitpunkt?“, fragte Garner.

„Das EKG-Gerät zeigt an, dass die Herzkurve um 19:14 Uhr zum Stillstand kam. Die diensthabende Krankenschwester, Ruby Davis, hat den Patienten bis etwa 19:00 Uhr versorgt. Danach endete ihre Schicht. Als sie ging, war alles okay, obwohl sie fürchtete, dass er die Nacht nicht überleben würde. Er war sehr schwach, und sein Herzrhythmus unregelmäßig.“

Der Mord war erst Freitagabend passiert. Und bereits drei Tage später war ein Profiler angefordert worden. Wahrscheinlich hatte der Leiter des Rockyview Hospitals ordentlich Druck gemacht. Wenn einem sterbenskranken Patienten die Kehle aufgeschlitzt wurde, war das keine gute Werbung für ein Krankenhaus. Und natürlich war die Ärzte-Lobby eine der mächtigsten.

Sam deutete auf die Akte. „Die Protokolle der Aussagen von Dr. Anderson und Ruby Davis habe ich Ihnen kopiert. Alle relevanten Informationen können Sie ganz in Ruhe studieren und morgen mit dem Commissioner besprechen.“

Garner lächelte. „Danke“, sagte er. „Wollen Sie mich loswerden?“

Sam fühlte sich durchschaut und errötete. Gleichzeitig ärgerte sie sich über sich selbst und beschloss, die Frage zu ignorieren.

„Als die Nachtschwester, eine gewisse Miranda Martinez, den ersten Kontrollgang machte, war es 19:17 Uhr. Der Monitor in Steiners Zimmer piepste, und als sie nachsehen wollte, war er bereits tot. Sie rief sofort Dr. Anderson, der dann die Polizei alarmierte. Die Kollegen waren um 20:03 Uhr vor Ort.“

„Bleibt ein Zeitfenster von knapp 14 Minuten für den Mörder“, sagte Garner. „Ist jemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“

„Nein“, sagte Sam.

Garner schwieg.

„Gibt es Angehörige?“

Sam schüttelte den Kopf.

„Steiner lebte in einer Mietwohnung am Stadtrand von Calgary. Die Putzfrau hatte ihn wenige Stunden nach seinem Schlaganfall gefunden und den Krankenwagen gerufen. Anscheinend lebte er sehr zurückgezogen. Soweit wir wissen, hat ihn niemand im Hospital besucht.“

Keine Reaktion.

„Natürlich stehen wir noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen.“

Sam fand selbst, dass das wie eine Entschuldigung klang.

Garner schwieg weiter und starrte die Wand an. Sein Schweigen ging Sam allmählich auf die Nerven.

„Und der erste Fall?“, fragte er schließlich.

„Genau zwei Monate vorher, am 8. Mai, wurde ein anderer alter Mann hier in Calgary ermordet. Auch ihm wurde die Kehle aufgeschlitzt. Er litt an Lungenkrebs im Endstadium. Natürlich könnte es auch ein Zufall sein“, fügte Sam hinzu.

„Es gibt keine Zufälle“, sagte Garner. „Jede Begegnung ist eine Verabredung.“

„Aha“, sagte Sam. Was für ein Kauz! Diese war es mit Sicherheit nicht.

„Schopenhauer“, sagte Garner. „Die Welt als Wille und Vorstellung. Ein Meisterwerk. Sehr empfehlenswert.“

Angeber, dachte Sam. Sie hasste Menschen, die mit ihrem angelesenen Wissen prahlten. Wieder spürte sie eine Welle von Übelkeit aufsteigen. Sie war erst neun Tage überfällig. Er hatte ein Kondom benutzt. Auch wenn die Sache ziemlich außer Kontrolle geraten war, darauf hatte sie bestanden, hundertprozentig. Auch eines ihrer Grundprinzipien. Selbst mit ordentlich Whiskey und einer Line Koks im Blut. Oder etwa nicht? Die Wahrheit war, dass sie einen Filmriss hatte. Der Mord vor zwei Monaten hatte sich im Rosebud Palliative Center ereignet. Josh Armstrong war 79 Jahre alt, als er starb. Sam erinnerte sich an den Fall, als sei er gestern passiert. Sie hatte alles getan, um das grausame Verbrechen aufzuklären, doch es hatte sich keine heiße Spur ergeben. Noch nicht einmal eine lauwarme.

Garner stand weiterhin vor der Wand und nippte an seinem Kaffee.

„Wer schlitzt zwei todkranken alten Männern die Kehle auf?“, fragte er.

„Ein Psychopath?“, meinte Sam.

„Vielleicht“, sagte Garner. „Vielleicht auch nicht. Wissen Sie, was ein Psychopath ist?“

Seine Überheblichkeit kotzte sie an. Es war eine schwere Form der antisozialen Persönlichkeitsstörung. Wahrscheinlich stand gerade einer vor ihr.

„Psychopathie ist keine wissenschaftliche Diagnose“, sagte Garner. „Auf eine gewisse Art sind wir alle Psychopathen.“

Bingo, dachte Sam.

„Es ist ein griechisches Wort. Übersetzt heißt es Seelenleiden.“ Er wandte sich ihr zu, und seine merkwürdigen Augen schienen sie zu durchbohren.

„Leidet Ihre Seele nicht auch, Sam?“

Der Gedanke an Gideon durchschoss Samantha wie ein Blitz, und sie hatte Angst, sich übergeben zu müssen. Die Bilder überfluteten sie, doch sie riss sich zusammen und lächelte.

„Nein“, sagte sie. „Ihre?“

Garners Blick war stechend, doch Sam hielt ihm stand. Damals hatte sie eine psychologische Betreuung abgelehnt. Posttraumatische Belastungsstörung. Was für eine simple Diagnose. Sie hasste diese Seelenklempner.

„Die meisten Morde sind Beziehungstaten“, sagte Garner. „Das simple Prinzip von Ursache und Wirkung.“

Sam merkte, dass ihr allmählich der Geduldsfaden riss. Sie hatte weder Lust auf Psychospielchen noch auf eine Philosophiestunde.

„Wir sind allen möglichen Spuren nachgegangen. Akribisch. Angehörige, Bekannte, Pflegepersonal. Es gab weder ein Motiv noch einen Verdächtigen.“

Sam knipste wieder ihr Lächeln an.

„Wenn Sie meine Einschätzung wollen, Ted“ – Betonung auf Ted – „es war entweder ein Psychopath oder es ist Zufall. Doch Sie werden sicher bald ein Profil erstellen, Ted, das uns einen Riesenschritt voranbringt.“

Garner grinste. Sam hatte das ungute Gefühl, dass er durch sie hindurchsah wie durch Glas.

„Danke für die Blumen“, sagte er. „Wir sehen uns morgen.“

Er nahm die Akte und ging.

Arschloch, dachte Sam. Dennoch fühlte sie eine merkwürdige Erregung, so als hätte jemand sie zu einem Wettkampf oder einem Duell herausgefordert. Sie würde die Herausforderung annehmen, und Samantha Stern war keine gute Verliererin.

Ted Garner

12. Juli 2022

Bow Valley

Sie atmete etwas aus, das er nicht ausstehen konnte: übersteigertes weibliches Geltungsbewusstsein. Eine ganz bestimmte Art von zickiger Arroganz. Ein aufdringliches Emanzentum. Garner grinste. So etwas durfte man nicht einmal mehr denken, ohne in den Ruf des Sexisten zu geraten und gelyncht zu werden. Dabei sah sie gar nicht schlecht aus. Dunkle Locken, blaue Augen. Sexy Figur. Daran ließen die hautenge Jeans und das ärmellose T-Shirt keinen Zweifel. Der Name Stern klang jüdisch.

Es war kurz vor sechs, und er war hundemüde. Außerdem knurrte sein Magen. Er hatte über eine Stunde gebraucht, um aus Calgary herauszukommen. Der Verkehr war die Hölle gewesen, doch jetzt war er fast am Ziel. In der Ferne ragten die Gipfel der Rocky Mountains auf. Schneebedeckt, majestätisch. Noch immer wild, trotz der Horden von Touristen, die sich jeden Sommer durch den Jasper- und Banff-Nationalpark quälten. Lake Louise, Spirit Island, Columbia Icefield, Banff Springs Hotel. Zivilisierte Menschen aus aller Welt, die einmal im Leben ein wenig Wildnisluft schnuppern wollten, ohne auf ihren gewohnten Komfort zu verzichten. Zum Glück trauten sich die Wenigsten, von der einzigen Hauptstraße abzuweichen, und blieben brav auf den ausgewiesenen Campingplätzen, ohne sich auf Wanderungen ins Backcountry zu begeben, wo sie womöglich einem Elch in die Arme liefen oder von einem Grizzly zerfleischt würden.

Obwohl er die Protokolle, die Samantha Stern ihm mitgegeben hatte, noch nicht studiert hatte, war Garner überzeugt, dass es zwischen den beiden Fällen eine Verbindung gab. Beiden Männern war die Kehle aufgeschlitzt worden, beide waren alt und hilflos, und beide Morde waren an einem 8. passiert. Garner glaubte nicht an Zufälle. Nur – was war die Verbindung?

Das Haus seines Vaters lag knapp 20 Kilometer außerhalb von Canmore im Bow Valley. Ein breites Tal zu Füßen der Bergriesen, sattgrüne Fichtenwälder, durchbrochen von türkisen Flussläufen und glasklaren Seen mit Sedimenten aus Gletscherkies, die das Wasser in einem tiefen, kalten Blau erstrahlen ließen. Call of the Wild. Garner konnte verstehen, was seinen Vater hierhin gezogen hatte. Er hatte den Colonel seit über einem Jahr nicht gesehen. Dennoch blickte er dem Wiedersehen mit gemischten Gefühlen entgegen.

Eine ungeteerte Gravel Road führte von der Hauptstraße ab durch einen Mischwald aus Lärchen, Kiefern, Birken und Ebereschen. Steinchen prasselten gegen den Lack des BMWs, während Garner versuchte, den tiefen Schlaglöchern auszuweichen. Er konnte nicht schneller als Schritttempo fahren, wenn er sich nicht den Wagen ruinieren wollte. Garner fluchte. Es war eine Schnapsidee gewesen, bei seinem Vater zu übernachten. Das Ranchhaus lag abgelegen am Ufer eines mit Schwarzfichten gesäumten Sees. Es war aus massivem Holz gebaut mit einer überdachten Veranda, auf der ein einsamer Schaukelstuhl stand. Der Panoramablick auf die glitzernde Wasserfläche und die Gipfel der Rockies in der untergehenden Sonne war beinahe kitschig. An einem Holzsteg schaukelte ein Boot. Als er in die Einfahrt einbog, schlug ein Hund an. Der Hund hieß Rick und war ein hervorragend abgerichteter Deutscher Schäferhund, der genauso bissig war wie sein Herr. Garner hasste Schäferhunde.

Die Tür ging auf, und der Colonel trat auf die Veranda, den wütend kläffenden Rick am Halsband führend. Garner parkte den BMW, nahm seinen Samsonite-Koffer vom Rücksitz und stieg aus. Der Hund sträubte die Nackenhaare und fletschte die Zähne, doch der Colonel tätschelte ihm den Kopf und sagte: „Ruhig, Rick.“ Das Tier gehorchte aufs Wort. Obwohl er auf die achtzig zuging, war sein Vater noch immer in Form. Er trug Khakihosen und ein kurzärmeliges Hemd, unter dem die gut trainierten Oberarmmuskeln hervortraten. Sein schütteres graues Haar war kurzgeschnitten, das Gesicht kantig und verwittert. Er hielt sich stockgerade.

„Hallo Dad“, sagte Garner.

Der Colonel verzog die Lippen zu etwas, das Garner als ein Lächeln deutete.

„Hallo Ted“, sagte er.

Sie schauten einander einen Moment in die Augen, doch es gab weder ein Händeschütteln noch eine Umarmung. Nicht einmal ein männliches Schulterklopfen.

„Komm rein. Wie lange bleibst du?“ Noch immer diese schroffe Stimme.

„Eine Nacht“, sagte Garner, während er seinem Vater ins Haus folgte.