Blutspur durch Elze - Sabine Hartmann (Hg.) - E-Book

Blutspur durch Elze E-Book

Sabine Hartmann (Hg.)

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Beschreibung

Wenn sich die Saale blutrot färbt, könnte das am Sonnenuntergang über der Stadt Elze liegen... oder an dem Toten, den jemand dort verschwinden lassen wollte. Auch das Schwimmbad, die Mäusemutter und der Papendahl werden zu Schauplätzen, so dass Sie die Stadt an der Leine und die umliegenden Orte aus einer ganz neuen Perspektive kennenlernen können. Begleiten Sie elf Krimiautoren aus Elze und Umgebung, die mit ihren spannenden und gelegentlich auch humorvollen Kurzkrimis eine „Blutspur durch Elze“ ziehen. Die AutorInnen: Renate Bakov Svenja Bartels Claudia Bode Ulrike Corcilius Sabine Hartmann Siegfried Hauptmann Stefanie Minder Diana Naumann Stefan Rahe Birgit Randt Carsten Söffker-Ehmke

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Seitenzahl: 440

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Ähnliche


Blutspur durch Elze

Sabine Hartmann (Hg.)

Hottenstein Buchverlag

An der Höhe 15

D-31079 Sibbesse

Tel. +49 5065 - 1781

Fax +49 5065 - 1824

www.hottenstein.de

[email protected]

ISBN 978-3-935928-68-7

Bearbeitung und Satz: Andreas Hartmann und Martin Hartmann

Umschlaggestaltung: Martin Hartmann

Umschlaggrafik: Siegfried Hauptmann

Vorbemerkung

Lieben Sie Krimis? Wir auch!

Außerdem finden wir, dass jede Stadt, jedes Dorf einen eigenen Krimi haben sollte.

Deshalb haben wir uns zusammengesetzt und haben Krimis geschrieben, spannende, humorvolle, interessante, skurrile, einige sind länger, andere ganz kurz. Lassen Sie sich überraschen.

Wenn Sie in Elze leben, werden Sie in den Stories viele Orte wiedererkennen, an denen Sie vielleicht schon sehr oft vorbeigekommen sind. Kennen Sie Elze und die umliegenden Orte, Felder und Wälder noch nicht (so gut), werden Sie garantiert ein paar ganz besondereFlecken entdecken.

Lassen Sie sich entführen ...

Viel Spaß beim Lesen

Sabine Hartmann

Herzlichen Dank an den Fundus e.V. in Elze

für die großzügige Unterstützung.

Alice. 5

Da haben wir den Salat. 6

Ausgepustet. 10

Das ging nicht anders. 12

Klasse(n)lehrer. 17

Heiße Glut – kalte Wut. 24

Tod in der Silvesternacht. 30

Aus die Maus. 37

Gleichgesinnte. 43

Tod im Morgenrot. 46

Dreck. 53

Ich werde dich finden. 92

Parkgeflüster. 93

Schnitzeljagd. 99

Man macht sich so seine Gedanken. 107

Jule und der Tote im Papendahl111

Unsere Stadt muss sauber werden. 118

Blut im Cappuccino. 124

Steckbriefe der Autorinnen und Autoren. 131

Alice

Renate Bakov-Rahman

Als Marlene Brandner am Hauptbahnhof in Hannover um 12:33 Uhr am Gleis 3 den Metronom nach Elze bestieg, war sie bereits den halben Tag unterwegs. Früh am Morgen hatte sie ihre Ferienpension in dem kleinen Badeort an der Nordseeküste verlassen und war nach mehrstündiger Zugfahrt und zweimaligem Umsteigen in Hannover angekommen. Nun stand die letzte Etappe bevor, eine knapp 30-minütige Zugfahrt in ihre Heimatstadt Elze, vorbei an ihr vertrauten Plätzen und Landschaften.

Pünktlich setzte sich der Zug in Bewegung. Die monotone Stimme des Schaffners mit den üblichen Informationen ertönte. Marlene saß auf ihrem Fensterplatz und schloss die Augen. Sie fühlte die Müdigkeit in sich aufsteigen. Doch das war nicht nur die normale Reisemüdigkeit, das spürte sie. Eine innere Unruhe beschlich sie, und sie fühlte plötzlich, wie sie heftiger atmete und ihr Puls anfing zu rasen. Der Zug fuhr Richtung Süden, die Vororte von Hannover mit ihren Hochhäusern rasten an Marlene vorbei. Sie versuchte, die Gedanken wegzuschieben, doch es gelang ihr nicht.

Alice hat es also wirklich getan.

Sie wiederholte diesen Satz immer wieder und er bekam etwas Ungeheuerliches, etwas, das sich jenseits ihres Vorstellungsvermögens befand. Oft hatten Alice und Marlene über das gesprochen, was damals vor so vielen Jahren passierte und auch über das, was nun eingetreten war. Mit Entsetzen hatte Marlene damals Alices Geschichte vernommen. Ihr halbes Leben lang trug Alice all diese schrecklichen Gefühle in sich, den Schmerz, die Demütigung, die Wut. Die Wut auf den ach so netten Inhaber der Ferienpension, die Wut auf ihre Eltern, die mit dem netten Gastgeber regelmäßig am Tisch saßen, tranken und lachten und ihr nicht geglaubt hatten, als sie es endlich schaffte, sich ihnen anzuvertrauen. Neben ihren Eltern war Marlene die einzige Person, die Alices Geschichte kannte, und Marlene wusste, wie Alice sich quälte. Erschöpft schloss sie die Augen.

Sie wurde von einem sanften Ruck geweckt – der Zug hatte Sarstedt erreicht. Sie hatte nun ungefähr die Hälfte ihrer letzten Reiseetappe geschafft. Das vertraute gelbe Gebäude auf der linken Seite hatte inmitten dieser schrecklichen Gedanken eine beruhigende Wirkung auf sie. Der Zug setzte sich erneut in Bewegung und sie schloss wieder die Augen. Alices Geschichte war wieder in ihrer ganzen schrecklichen Lebendigkeit da. Alice wollte nie wieder mit den Eltern an die Nordsee, erduldete Beschimpfungen und Strafen und verbrachte seitdem jeden Sommer bei ihrer Großmutter. Nur ein Gedanke gab ihr die Kraft, zu überleben. Sie schwor Rache – eines Tages, wenn sie stark genug dafür sein würde.

Wieder wurde Marlene aus ihren Gedanken gerissen. Der Zug hatte soeben Nordstemmen erreicht. Die große, hässliche Zuckerfabrik war auf der rechten Seite zu sehen und auf dem Platz vor der Fabrik lagen riesige Berge von Zuckerrüben. Der Zug fuhr wieder los und Marlenes Gedanken kreisten um Alice. Sie dachte darüber nach, was sie an Alices Stelle getan hätte. Sie wusste keine Antwort, es war zu schrecklich. Marlene schloss die Augen und stellte sich vor, wie Alice an dem Badeort an der Nordsee mit ihrem ehemaligen Pensionswirt in der Kneipe saß. Er hatte sie nicht erkannt, natürlich nicht, sie war ja damals noch ein Kind gewesen. Und natürlich trug sie heute eine Perücke. Niemand hätte sie erkannt. Sie tranken und lachten, Alice flirtete mit ihm und machte ihm Hoffnungen auf mehr. Das Gift landete unauffällig in seinem Glas. Sie vertröstete den Mann auf den Abend und verabschiedete sich. Als das Gift anfing zu wirken, war Alice schon über alle Berge.

Nach einigen Minuten war in der Ferne Elze zu erkennen und die Leine, die, wie so oft, viel Wasser führte. Endlich hatte der Zug Elze erreicht. Marlene stieg aus. Die kalte Luft tat ihr gut, sie fühlte sich ganz benommen. Die nette, weißhaarige Dame von der Bahnhofsmission stand hilfsbereit am Gleis und lächelte ihr zu. Mit dem Lift fuhr Marlene in die Unterführung herab, überquerte diese und nahm den zweiten Lift wieder hoch zum Ausgang.

Ihren leichten Koffer hinter sich her ziehend ging sie die Bahnhofsstraße herauf. Sie ging an Fachwerk und Backsteinhäusern vorbei, einigen Schaufenstern, einer Zahnarztpraxis, dem Amtsgericht. Sie musste lächeln, als sie die großen Fenster des Kindergartens sah, verziert mit winzigen, bunten Handabdrücken der Kinder. Dann erreichte sie die Grünanlage und ging an ihr vorbei, ließ die Post und die Pizzeria hinter sich. Endlich war sie in der Hauptstraße angekommen. Nach wenigen Metern bog sie in eine kleine Nebenstraße ein und erblickte sofort das Schild der neueröffneten Arztpraxis, in der sie in ungefähr einer Viertelstunde einen Termin hatte. Zielstrebig ging sie darauf zu und drückte die Klingel. Ein leichtes Summen ertönte, sie drückte gegen die Tür und trat hinein.

Nach ein paar Stufen erreichte sie das helle Foyer mit dem Empfangstresen. Gerade wollte sie die Sprechstundenhilfe ansprechen, als ein plötzlicher Gedanke sie innehalten ließ. Ihre Stirn runzelte sich und sie schüttelte leicht verwundert den Kopf. Es war ihr klargeworden, dass sie, obwohl sie sich Alice so nahe fühlte, nicht mit Sicherheit sagen konnte, wann und unter welchen Umständen Alice in ihr Leben getreten war. Das kam ihr auf einmal so seltsam vor.

Noch ganz in Gedanken sah sie, wie eine Tür im hinteren Teil des Flures aufging und Frau Dr. Köhler heraustrat. Sie begrüßte Marlene leise und führte sie den Gang entlang in das Behandlungszimmer.

Nachdem sich die Tür lautlos hinter ihnen geschlossen hatte und sich beide Frauen gesetzt hatten, wandte sich die Ärztin an Marlene: „Frau Brandner, die Diagnose steht nun fest. Es tut mir leid, aber es ist – Schizophrenie.“

Da haben wir den Salat

Svenja Bartels

„Verdammt, jetzt ist auch noch das Rohr verstopft! Na, man gut, dass wir hier nur den Probelauf machen.“ Manfred Freibaum, der Chef der Firma, die das Elzer Freibad sanierte, fühlte sich an diesem Morgen gar nicht gut. Er war sowieso schon mies drauf, weil sein Bauleiter sich krank gemeldet hatte und er selbst arbeiten musste. Und jetzt auch noch das.

„Beim letzten Mal hat alles noch einwandfrei funktioniert – und jetzt? Gut, dass wir den Graben noch nicht zugeschüttet haben.“, sagte er zu seinem Auszubildenden. Er musste wohl oder übel das Rohr, durch das das Wasser aus dem Becken des Freibades abgepumpt wurde, noch einmal öffnen.

„Na, das hat sich ja richtig zugesetzt, wahrscheinlich müssen wir den Abfluss rausnehmen.“ Er schaute seinen Lehrling auffordernd an.

Mit Hilfe des kleinen Baggers hob Manfred mit seinem Azubi das Abwasserrohr an und sah in die entsetzten Augen des jungen Mannes.

„Oh Gott, der Bademeister!“, kreischte der Junge.

Die schnell herbeigerufene Polizei und der Notarzt konnten nur noch den Tod des Schwimmmeisters feststellen.

Kommissar Schmidtke machte sich Gedanken, wie der Tote in das Rohr gelangt sein konnte.

„Athletische Statur, breite Schultern – also von allein konnte er nicht vom Becken in das Rohr gesogen worden sein. Vor allem, weil auch noch ein Gitter davor angebracht ist“, murmelte er zu sich selbst.

Neben dem Schwimmbecken erkannte Manfred Freibaum seine Frau Rieke und begrüßte sie säuerlich. Sie wollte nur schauen, ob sie mit ihren Patienten hier im Freibad Therapien durchführen könnte. Die blonde Frau war Physiotherapeutin und immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, um ihre Patienten zu behandeln und da das Schwimmbad in der kommenden Saison endlich beheizt sein sollte, war es eventuell möglich, dieses zu nutzen. Eigentlich arbeitete sie nur zum Spaß. Das Geld, das ihr Mann verdiente, reichte locker, um ein gutes Leben zu finanzieren. Sie hatte jedoch schon immer diese soziale Ader, wollte anderen helfen. Ihr Beruf als Krankengymnastin war da natürlich ideal. Sie lernte andere Menschen kennen und konnte helfen, nicht nur durch ihre Therapien, sondern manchmal auch durch Gespräche. Gerade die älteren Leute, die nicht mehr so viele Kontakte hatten, freuten sich immer auf die Termine mit ihr.

Interessiert strebte sie auf den Menschenauflauf nahe des neuen Sprungbeckens zu. Vielleicht gab es hier mal ein neues Thema für den Dorfklatsch. Und eigentlich war Elze ja nur ein Dorf.

Die Polizei war gerade dabei alles abzusperren, aber Rieke konnte noch einen kurzen Blick auf die Leiche erhaschen, die gerade aus dem Wasserrohr gezogen worden war. Sie erstarrte. Alex Warrowski, der Bademeister des Freibades!

Oh ja, sie kannte ihn gut. Wahrscheinlich zu gut, wenn man nach der Meinung ihres Mannes fragte. Doch der durfte nichts davon wissen, dass sie Alex letztes Jahr kennen und lieben gelernt hatte. Wie jeden Morgen war sie zum Training im Schwimmbad gewesen, an diesem Tag hatte sie aber einfach Lust auf ein Eis bekommen.

„Na gut, nach dem Sport sollte es erlaubt sein“, dachte sie bei sich und holte sich am Kiosk ein Ed von Schleck. In dem Moment, als sie das Eis hochschieben wollte, stieß sie mit Alex zusammen. Das Eis landete natürlich auf seinem Shirt, aber ihre Augen landeten in seinen. Es brauchte keine großen Gespräche. Sie hatten sich gesucht und gefunden. Allerdings musste dieses Verhältnis streng geheim gehalten werden. Wie gesagt – Elze ist ein Dorf. Ihr Ehemann, der Bauunternehmer, durfte auf keinen Fall davon erfahren. Sie hing nicht nur finanziell von ihm ab. Auch viele Patienten kamen zu ihr, weil ihr Mann eine bekannte Persönlichkeit war.

Rieke konnte sich vor Entsetzen kaum noch auf den Beinen halten. In Gedanken sah sie all die schönen Momente, die sie mit Alex erlebt hatte. Sie lief zum Ausgang und raste mit dem Fahrrad in ihre Praxis. Sie musste jetzt allein sein. Als die erschütterte Frau sich etwas gefasst hatte, kam ihr ein schrecklicher Verdacht: „Hat mein Mann von unserem Verhältnis erfahren?“ Der Bauunternehmer war bekannt dafür, dass er jedes Mittel einsetzte, um an das zu kommen, was er haben wollte oder auch nur, um seinen Willen durchzusetzen.

Nein, sie waren beide vorsichtig gewesen. Nur Alex´ Schwester wusste von der Liebe zwischen ihnen, weil sie sich ab und zu in ihrer Wohnung trafen, wenn die Schwester in Rumänien, dem Herkunftsland der Familie, war.

Kommissar Schmidtke war hellauf begeistert. Eine Woche vor Ostern noch ein Mordfall. Und ein Mord war es ja ziemlich eindeutig, denn eine Leiche gerät nicht einfach so in ein Wasserrohr. Er fürchtete schon, dass das Ostereiersuchen mit seiner Familie ins Wasser fallen würde.

„Können sich die Leute nicht einfach mal familienfreundlichere Tage aussuchen, um Morde zu begehen?“

Der Gerichtsmediziner bestätigte noch am Tatort den Verdacht auf Genickbruch. Der Todeszeitpunkt müsse zwischen 21.00 und 23.00 Uhr gewesen sein.

Rieke konnte alles mithören. Wer sollte Alex umgebracht haben? Sie dachte, dass sie mehr erfahren würde als die Leute von der Mordkommission in Hildesheim. Ihre Patienten würde sie auf jeden Fall auf den Mord ansprechen.

Schon am nächsten Morgen hatte sie Gelegenheit dazu.

Frau Lehmbruch, das wandelnde Nachrichtenmagazin, war ihre erste Patientin. „Haben sie schon gehört? Der Bademeister vom Freibad ist gestern ermordet worden. War wohl ganz grausam, völlig verstümmelt soll die Leiche gewesen sein!“

Rieke ließ die Frau in dem Glauben, schließlich wusste sie es besser. Und widersprechen sollte man Frau Lehmbruch lieber nicht, dann konnte sie nämlich schweigen wie ein Grab.

„Na , früher oder später musste ja so etwas passieren. Wie der mit den Kindern umgesprungen ist. Die Leute sagen, dass es eine Bande von Jugendlichen gewesen ist. Aber das brauchen ´se nich ´zu glauben. Das war die Russen-Mafia. Der kam doch auch von dahinten aus´m Osten. Die haben da sowieso alle Dreck am Stecken!“

Rieke stöhnte innerlich auf. Auch nach so vielen Jahren hielten sich die Vorurteile gegenüber den Spätaussiedlern.

„Na, die Polizei wird sowieso nix rauskriegen. Von denen traut sich doch keiner zu reden und wenn es drauf ankommt, halten die zusammen wie Pech und Schwefel.“

Frau Lehmbruch konnte also nicht wirklich zur Lösung des Falls beitragen.

Die Physiotherapeutin ließ das Gespräch während des Restes der Behandlung noch etwas dahinplätschern und machte sich Gedanken, wie sie weiter vorgehen sollte.

Weil sie am Vormittag keine weiteren Termine mehr hatte, wollte sie noch zum Sport ins WORKOUT, dem Elzer Fitness-Studio, gehen. Dort trainierte sie zweimal die Woche einige Jugendliche und Rieke hoffte, sie dort zu treffen. Jetzt in den Osterferien nutzten sie jede freie Minute, um ihre Muskeln zu stählen.

Sie stieg auf ihr Fahrrad und fuhr durch die Brandstraße, wo sie ihre Praxis hatte, den Heilwannenweg weiter in Richtung Schmiedetorstraße, an deren Ende das Studio lag.

Rieke stellte ihren Drahtesel ab und ging durch die freundlich gestaltete Eingangshalle zu den Umkleiden. Nachdem sie sich umgezogen hatte, stellte sie sich kurz an die Bar, um sich eine Kirsch-Schorle zu holen. Auch hier war der Mord das Gesprächsthema Nummer Eins. Die abstrusesten Vermutungen wurden angestellt. Aber eine Quelle für wirkliche Neuigkeiten fand Rieke nicht.

Zum Aufwärmen stellte sie sich für eine halbe Stunde auf einen der Crosstrainer und schaute sich dabei die Vormittags-Nachrichten auf den gegenüber angebrachten Fernsehern an. Sogar auf RTL gab es einen Bericht aus Elze. „Entweder ist das Sommerloch so groß oder Elze wird doch noch Weltstadt“, dachte sie bei sich. Nach dem Warm-Up schlenderte sie hinüber zu den Kraftmaschinen. Und hier fand sie auch die Teenager, die sie gesucht hatte.

Ohne lange drum herum zu reden, fragte Rieke sie gleich, ob sie etwas von dem Mord wüssten.

„Klar haben wir davon gehört, ist ja seit gestern das einzige Thema bei Facebook“, antwortete Marco, der Anführer der Truppe. Trotz seiner erst sechszehn Jahre hatte er breite Schultern, wie sie nur tägliches Krafttraining hervorbringt, und war mit seinen 1,98m kaum zu übersehen.

„Habt ihr eine grobe Ahnung, was da abgelaufen ist mit Alex? So ein bisschen Stress habt ihr ja auch mit ihm gehabt …“

„Meinste jetzt, dass wir ihn umgebracht haben?“ Johannes, der kleinste und schmächtigste wollte sich ein wenig in den Vordergrund spielen.

„Ach Jo, ich weiß doch, dass ich euch vertrauen kann. Aber habt ihr keine Ahnung, wer noch sauer auf Alex gewesen sein kann?“

„Och, da gibt es eine ganze Menge. Der hat sich doch immer benommen, als wäre die Badze sein Zuhause. Hat die Kurzen angepöbelt, wenn sie sich mal nicht ganz so benommen hatten, sogar wenn die Mütter dabei waren.“

Die Erwähnung ihres Geliebten trieb Rieke die Tränen in die Augen. Schnell wandte sie sich ab und verabschiedete sich von den Jugendlichen.

So kannte Rieke Alex allerdings nicht. Er war eine Seele von Mensch, hatte sogar zwei Straßenhunde aus seiner ehemaligen Heimat Rumänien aufgenommen und sich liebevoll um sie gekümmert.

Kurzentschlossen fuhr Rieke zu Alex´ Wohnung am Hanlah. Sie hoffte, dort vielleicht Hinweise auf seinen Mörder zu finden. Zum Glück wusste sie, wo der Schlüssel zur Eingangstür lag. Rieke überlegte, wo sie in der Wohnung nachschauen sollte, ob es vielleicht einen Hinweis auf den Mord geben würde. Sie schaute sich einen Stapel Briefe und ein paar Aktenordner an. Nichts Weltbewegendes. Wenn Alex etwas zu verbergen gehabt hätte, würde er die Sachen sicher nicht offen herumliegen lassen. Sie untersuchte strategisch Raum für Raum. Alles war sauber und ordentlich, wie sie es von ihren heimlichen Treffen in Erinnerung hatte. Rieke konnte absolut nicht glauben, dass dieser Mann, den sie liebte, in irgendwelche krummen Dinge verwickelt war.

Jetzt hatte sie allerdings keine Zeit mehr, um sich weiter umzuschauen, der nächste Termin stand in einer halben Stunde an.

Passenderweise handelte es sich dabei um Alex´ Großmutter, Maria Warrowski. Die alte Dame lebte allein im Wegehaus zwischen Elze und Wülfingen. In der Umgegend war sie als Kräuterfrau bekannt, aber auch als Kräuterhexe verschrien. Maria Warrowski lebte erst seit sechs Jahren in Deutschland. Das kleine rumänische Dorf, aus dem sie stammte, hatte weder Arzt noch Krankenhaus, so dass sich die Menschen dort zum größten Teil selbst helfen mussten. Was lag also näher, als mit den Dingen zu heilen, die man in der Natur fand und deren Wirkweisen von Generation zu Generation weitergegeben wurden? Die meisten Menschen hier in der „Stadt“ kannten sich nicht mit Kräutern aus und verließen sich lieber auf die Heilkraft der Pharma-Konzerne.

Anfangs traute niemand wirklich der alten Frau. Noch steckte bei den Menschen das Märchen der bösen Hexe, die in Vollmondnächten schwarze Katzen opferte, zu tief in den Köpfen. Nachdem sie allerdings ein paar Heilerfolge bei den offeneren Menschen aus Elze und Umgebung verzeichnen konnte, kamen immer öfter Leute, die an Krankheiten litten, die die Ärzte nicht heilen konnten. Trotzdem hielt sich der Glaube an die böse Hexe in den Köpfen einiger Leute.

Rieke war die alte Dame sehr sympathisch, da sie sich durch ihren Beruf auch gern mit Naturheilkunde beschäftigte, um ihren Patienten mit Mitteln, die –richtig eingesetzt- keine schweren Nebenwirkungen auf das Organsystem hatten, zu helfen.

Rieke schloss die Wohnung von Alex ab, lud die Hunde und einen Sack Futter ins Auto und machte sich auf den Weg in die Praxis.

Vielleicht schaffte sie es noch, ihren geliebten Tomatensalat zu essen, den sie sich wie jeden Tag mit zur Arbeit genommen hatte. Frau Warrowski würde der Geruch der Zwiebeln nicht stören, sie würde Rieke höchstens darüber aufklären, wie gesund das Gemüse doch sei.

Mit der Aussicht auf einen Mittagsimbiss stieg sie aus dem Auto und erhielt gleich darauf wieder einen Dämpfer.

Ihre Putzfrau, die heute Vormittag in der Praxis war, hatte die Tür mal wieder nicht richtig zugezogen. Rieke hätte schon längst einem Tischler Bescheid sagen müssen, aber den Anruf immer wieder vergessen. Viel zu holen, war bei ihr sowieso nicht, es sei denn, dass die Einbrecher es auf Medizinbälle oder Massagebänke abgesehen hatten.

„Guten Tag, Frau Freibaum. Die Tür war wieder mal offen und ich dachte, dass Sie nichts dagegen hätten, wenn ich mich hier ins Wartezimmer setze“, begrüßte sie Frau Warrowski.

„Nein, natürlich nicht. Wenn es mit Ihrem Rücken wieder so schlimm ist, dass Sie zu mir kommen, ist es besser, wenn Sie hier sitzen als vor der Tür zu stehen.“

„Ja, sie wissen doch, den Ärzten traue ich nicht über den Weg, aber in ihren Händen fühle ich mich sicher aufgehoben, wenn ich mit meinen Kräutern nicht mehr weiter komme“, antwortete die alte Frau mit starkem rumänischen Akzent.

Rieke musste innerlich lachen, Frau Warrowski sah wirklich wie eine Kräuterhexe aus dem Bilderbuch aus. Die Kittelschürze, das Kopftuch und dazu das wettergegerbte Gesicht, das mit tiefen Runzeln durchzogen war und von einem harten Leben zeugte.

Kein Wunder, dass sie von manchen Menschen seltsam angeschaut wurde. Aber trotz allem war sie ein herzensguter Mensch, der jedem gern seine Hilfe anbot.

Ihren Enkel Alex hatte sie sehr geliebt, was auch ihre verweinten Augen und die starken Schmerzen in ihrem Rücken erklärte. Alex war bei ihr aufgewachsen, nachdem seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war. Als er mit seiner Schwester nach Deutschland ging, verfiel sie zusehends. Bei einem seiner Besuche in Rumänien hielt es Alex nicht mehr aus und überredete seine Oma, mit ihm zu kommen. Er mietete und renovierte das alte Wegehaus für sie und war froh, dass sie nach kurzer Zeit wieder zurück ins Leben fand.

„Frau Warrowski, Sie sind früh dran. Wäre es in Ordnung, wenn ich noch kurz in der Küche meinen Salat esse? Ich habe einen Bärenhunger und Sie wissen ja, wie sehr ich Salat liebe.“

„Nein, nein. Gehen Sie nur. Es ist doch wichtig, dass Sie genug Vitamine bekommen“, lächelte Frau Warrowski.

In der Küche aß Rieke schnell ihren Salat, danach legte sie die alte Dame in die Fangopackung, erledigte etwas Schreibkram und kam dann zur Massage ins Behandlungszimmer zurück.

Als sich ihre Patientin anzuziehen begann, verspürte Rieke eine starke Übelkeit, sie fühlte sich schwindlig, als wenn sie zuviel getrunken hätte. Bevor sie in eine tiefe Ohnmacht fiel, sah sie noch das zufrieden lächelnde Gesicht von Frau Warrowski, die leise flüsterte: „So, nun hast du deine gerechte Strafe. Mein Alex soll nicht ungesühnt gestorben sein.“

Als Rieke wieder zu sich kam, wusste sie nicht, wo sie war. Sie schaute sich um – weiße Betten, unpersönlicher Raum, eine Frau im Kittel, die neben ihr stand. Sie lag im Krankenhaus. Mit noch belegter, etwas lallender Stimme fragte sie die Schwester, was geschehen sei.

„Sie haben eine schwere Vergiftung. Auf irgendeine Art muss eine Zwiebel der Herbstzeitlose in Ihren Salat gelangt sein. Frau Phillips, Ihre Patientin, hat Sie gefunden. Sie hatten Glück, dass unser Notarzt sich zurzeit sehr stark mit Phytotherapie beschäftigt und anhand Ihrer Symptome zusammen mit dem Rest Ihres Mittagessens schnell zu dem Schluss kam, dass es sich um eine Vergiftung mit Colchicin handeln musste. Ohne Wissen seiner Vorgesetzten gab er Ihnen, neben den üblichen Behandlungen wie Magenspülung und Infusionen, ein Antidot, das sich noch in der Erprobung befindet. Also nicht zugelassen ist. Der Arzt hat jetzt jede Menge Ärger am Hals, aber Sie haben überlebt. Und das ist meiner Meinung nach die Hauptsache.“

Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Frau Warrowski hatte versucht, sie umzubringen? Und aus Rache für den Mord an Alex? Rieke konnte nicht verstehen, was es für einen Grund gab, anzunehmen, dass sie Alex getötet haben sollte. Sie litt doch mindestens genauso wie seine Oma. Auch wenn sie es aus verständlichen Gründen nicht zeigen durfte. Sobald Rieke aus dem Krankenhaus entlassen war, wollte sie mit der alten Frau reden.

Eine Woche später stand sie schließlich im Flur ihrer Patientin. Aufgebracht schrie Frau Warrowski sie an: „Warum haben Sie überlebt und mein Alex musste sterben? Hätten Sie den Rumänen nichts von ihm erzählt, wäre er jetzt noch bei mir!“

Rieke verstand gar nichts mehr. Mit viel gutem Zureden gelang es ihr schließlich, die ganze Geschichte von Frau Warrowski zu erfahren.

„Bei den Maurern in der Firma Ihres Mannes habe ich gleich Vlad erkannt. Er lebte im gleichen Dorf in Rumänien wie ich. Schon als Kind ist er auf die schiefe Bahn geraten. Später hat man nur noch gehört, dass er die Drecksarbeit für die ganzen reichen Kerle erledigt, Leute, die sich quer stellten oder zu viel wussten und reden wollten, aus dem Weg räumte .Für Geld macht der alles, Skrupel kennt der nicht. Sie haben ihn benutzt, um Alex aus dem Weg zu räumen, weil er Ihrem Mann reinen Wein über ihre Beziehung einschenken wollte. Was natürlich nicht passieren durfte, weil Sie dann vor dem finanziellen Ruin stehen würden. Sie ließen einfach mal ein paar relativ unverfängliche Sätze auf der Baustelle fallen und warteten auf eine Reaktion. Es ist alles nur Ihre Schuld!“

Rieke verlor fast den Boden unter den Füßen. Sie wusste natürlich, dass sie selbst Alex nicht umgebracht hatte. Aber jetzt ergaben die beiden neuen Maurer aus Rumänien, die ihr Mann eingestellte hatte, einen tödlichen Sinn.

Ausgepustet

Claudia Bode

Da saß sie nun friedlich an den Baum gelehnt mit einem kleinen Windrad in ihren hochgesteckten Haaren, das sich bei jedem Windstoß kräftig drehte. Wenn das wenigstens die großen Windräder hinter ihr auf dem Feld täten, aber die rührten sich nicht.

Wie sich erst nach dem Bau der Windräder auf dem ehemaligen Feld des Bauern Felskötter herausstellte, herrschten dort keine besonders guten Windbedingungen. Und das war noch milde ausgedrückt.

Mit jedem weiteren Tag des Stillstands wurde der Verlust größer und die Bürger der Stadt Elze wurden wütend, sehr wütend sogar. Dies brachten sie auch auf der eilig anberaumten Krisensitzung der Pro Wind Elze eG zum Ausdruck.

„Geld her oder wir bringen dich um“, grölten die anwesenden Mitglieder der Genossenschaft im Bürgertreff in der Sedanstraße. Es flogen die ersten Eier, dann folgten die faulen Tomaten und die Vorstandsvorsitzende Frau Elvira Windemuth ging in Deckung. Ein Ei traf deshalb den Ratsherrn Petersen, der mit der ganzen Angelegenheit am wenigsten zu tun hatte.

„Was für eine Schweinerei“, schrie er erbost und versuchte vergeblich, die klebrige Masse mit einem Taschentuch aus seinen Haaren zu entfernen. Das machte die Sache nur noch schlimmer. Niemand achtete auf den leichenblassen Bürgermeister. Frau Windemuth versuchte unterdessen, die hitzigen Gemüter zu beruhigen. „Nun seien Sie doch vernünftig und hören mir bitte zu“, mahnte sie die johlenden Genossenschaftsmitglieder an.

„Es konnte doch niemand ahnen, dass hier in Elze die Windverhältnisse so schlecht sind, dass sie eine Energiegewinnung unter den gegebenen Umständen unmöglich machen. Aber wir haben noch eine Möglichkeit, wie wir die Windräder zum Laufen kriegen.“ Frau Windemuth machte eine kurze Pause, um die Aufmerksamkeit der Elzer Bürger zu steigern.

„Die da wäre?“, keifte Bauer Felskötter, während es im Saal still wurde.

„Repowering!“, platzte sie selbstbewusst heraus. „Das heißt, die bestehende Anlage wird durch eine neue Anlage mit einem höheren Wirkungsgrad ersetzt. Ich habe diesbezüglich eine Kalkulation erstellt, die ich Ihnen gerne als Kopie zur Verfügung stellen möchte. Alternativ bliebe uns nur noch die Auflösung der Genossenschaft übrig. Sie würden dann entsprechend Ihrer Anteile ausgezahlt.“

Wie sie das bewerkstelligen wollte, war noch unklar, im Grunde genommen unmöglich. Aber das musste sie diesen aufgebrachten, dummen Leuten nicht auf die Nase binden. Sie waren doch selber schuld. Die Gier nach dem großen Geld hatte sie unvorsichtig werden lassen.

Als die Diplombetriebswirtin Elvira Windemuth in die Saalestadt kam, um ihr Projekt Pro Wind in einer Bürgerversammlung vorzustellen, waren sie alle Feuer und Flamme. Mit gefälschten Gutachten und der Aussicht auf eine zehnprozentige Rendite hatte sie schnell die Elzer auf ihre Seite. Die Genossenschaft wurde zügig gegründet und die Gelder flossen, vor allem die Subventionen aus Bund, Land und der EU. Auch die Stadt Elze war mit einer größeren Summe beteiligt, sowie einige Bürger des sogenannten Elzer Geldadels. Drei von fünf Windrädern wurden an der B3 Richtung Wülfingen gebaut und verschandelten seither die Landschaft. Den Kaufpreis für das Feld konnte sie drücken, dafür musste Elvira dem Bauern Felskötter eine größere Gewinnbeteiligung versprechen. Das war nicht schwer. Da sie eine äußerst attraktive Frau mit sehr viel Charme war, reichten ein paar Flirts mit ihm, und er wurde weich wie Wachs. Was bis dahin ganz einfach war, wurde zunehmend schwieriger. Die Firma, die die Windräder aufbaute, wollte unbedingt eine höhere Vorschusszahlung und die Stadt Elze wollte einen Probelauf. Der verlief katastrophal. Die Rotorblätter bewegten sich kein Stück. Frau Windemuth gab die Schuld der Aufbaufirma. Die ließ das nicht auf sich sitzen und verlautete, dass der stoßweise Wind ein Drehen der Windräder unmöglich macht. Das Gebiet sei völlig ungeeignet. Notfalls würden sie ein Gegengutachten erstellen lassen. Das brauchten sie nicht, denn das wusste Frau Windemuth von Anfang an. Um Schadensbegrenzung bemüht, lud sie die Anteilseigner zu einer Sitzung im Bürgertreff ein. Die Fördermittel hatte sie vorsorglich auf das Konto einer Briefkastenfirma in Luxemburg überwiesen. Von der Summe konnte sie erstmal gut leben. War ja schließlich nicht das erste Mal, dass sie so ein Ding drehte. Unter dem Namen Eva Maurer war sie bereits in Österreich mit einem ähnlichen Projekt erfolgreich gewesen. Dank neuer Identität war sie nun in Elze gelandet. Nur diesmal war sie zu weit gegangen.

„Alles wird gut“, sprach Elvira Windemuth abschließend zu den Elzer Bürgern. „Wir treffen uns in einer Woche wieder, bis dahin können Sie sich für eine Variante entscheiden.“

Dann packte sie ihre Sachen ein, ging zu ihrem Auto und fuhr zu ihrem Hotel. Dass sie verfolgt wurde, bemerkte sie nicht. Als sie aus ihrem Auto ausstieg, wurde sie von zwei Männern gepackt, die ihr einen Kartoffelsack über den Kopf stülpten und sie unsanft in den hinteren Teil eines Kleintransporters stießen.

Die sonst so überlegene Elvira geriet in Panik. Was soll das, dachte sie erregt und schrie um Hilfe. Das nützte wenig. Kurze Zeit später stoppte das Auto, und sie wurde herausgezerrt.

„So du Schlampe, jetzt sagst du uns die Wahrheit. Was hast du mit unserem Geld gemacht? Wir sind nicht so blöd wie du denkst!“, schrie der eine Mann wutentbrannt.

Aber sie dachte nicht daran. Innerlich war sie leicht amüsiert und felsenfest davon überzeugt, dass man ihr nichts antun würde.

„Ok, dann wirst du hier solange bleiben, bis du anfängst zu reden.“

„Ich denke gar nicht daran“, sagte Elvira ruhig.

„Das werden wir ja sehen“, brüllten die Männer und fesselten sie an einen Baum. Zum Schluss steckten sie ihr ein kleines Windrad in ihre Hochsteckfrisur. Dann ließen sie die feine Dame allein.

Als die Männer am nächsten Morgen wieder kamen, war Elvira leider tot.

Zur gleichen Zeit klingelte beim Bürgermeister das Handy.

„Chef, es gibt ein Problem. Die Windemuth ist tot. Was machen wir denn jetzt?“

„Ihr Deppen, ihr solltet sie doch nur unter Druck setzen und nicht umbringen“, schrie der Verwaltungschef erbost. „Seht zu, dass ihr alle Spuren beseitigt. Ich bin gleich da und bringe Doktor Meyer mit.“

„Die Frau ist an einem Zuckerschock gestorben. Wie man an den Einstichstellen am Bauch erkennen kann, war sie Diabetikerin. Merkwürdig sind nur die roten Striemen am Bauch und an den Armen. Das sieht so aus, als wäre sie gefesselt gewesen. Ich denke, das ist ein Fall für die Polizei“, sagte Doktor Meyer nach Abschluss der körperlichen Untersuchung.

„Ach was. Was meinst du, Schorse?“ fragte der Bürger-meister in Richtung der beiden Männer.

Schorse musste es wissen, der war ja rein zufällig Polizeiobermeister in Elze. „Tja, wer weiß wie die so drauf war. Ich kann da jedenfalls nichts Verdächtiges erkennen. Meiner Meinung nach lohnt es sich nicht, daraus eine große Sache zu machen“, antwortete er augenzwinkernd und sichtlich entspannt.

„Wir können jetzt keinen Ärger gebrauchen. Lasst uns zusehen, dass wir zu unserem Geld kommen. Hoffentlich hat uns die Alte noch was übriggelassen“, meinte das Stadtoberhaupt.

Dagegen hatte Dr. Meyer nichts einzuwenden und beließ es beim natürlichen Tod. Wen interessierten schon irgendwelche Striemen?

Zufrieden blickte der Bürgermeister in die Runde. In Krisenzeiten konnte man sich auf die Elzer verlassen.

Für Elvira Windemuth hatte es sich eben ausgepustet. Wie, war doch egal.

Im Leichenwagen trat sie ihre letzte Reise durch das friedliche Elze an.

Das ging nicht anders

Ulrike Corcilius

Das Leben ist beschaulich in Elze. Meistens. Wenn nicht gerade eine Leiche gefunden wird …

Es ist Montag. Tagelang hat es geregnet. Eigentlich schon den ganzen Monat. „Und das nennt sich „Wonnemonat“, fluchen die Leute. Sie sind verärgert über die drei verregneten langen Wochenenden im Mai mit den ins Wasser gefallenen Plänen zum Grillen und Feiern. Aber heute scheint die Sonne.

„Typisch, der erste schöne Tag seit langem, und ich habe Dienst in der Bücherei“, denkt Peter T. mit leisem Frust. Dass immer nur montags und donnerstags die Sonne vom Himmel strahlt, kann er zwar nicht statistisch belegen, aber nach seinem subjektiven Gefühl ist es so. Genau an den Tagen, in denen er dort seinem ehrenamtlichen Job nachgeht. Nicht, dass die Tätigkeit ihm lästig wäre - im Gegenteil, es war ein glücklicher Zufall, dass er kurz nach seiner Pensionierung auf die kleine Notiz in der Zeitung stieß, in der nach einer zweiten Kraft für die Bücherei gesucht wurde. Seitdem er dort arbeitet, hat er eine Menge Kontakte geknüpft und eine reizvolle Aufgabe gefunden. Bücher mochte er schon immer, Lesen ist eine Leidenschaft seit Kindertagen. Und in den hellen Räumen im ersten Stock der alten Schule, von denen man einen wunderbaren Blick auf den Rathausplatz, die Hauptstraße und die Bahnhofstrasse hat und weit über die Dächer sehen kann, fühlt man sich gleich wohl. Den Eindruck, dass immer montags die Sonne scheint und es dienstags wieder regnet, hat nicht nur er. Auch seine Kollegin mault spaßeshalber darüber. Deshalb wollen sie bei der Stadtverwaltung drüben im Rathaus auch einen Balkon beantragen, um die raren Sonnenstrahlen mitnehmen zu können. Ein Scherz zwischen den beiden, der als „running gag“ jedes Mal die Stimmung hebt, wenn die Wetterverhältnisse wie heute sind.

„Na, ist der Balkon schon angebaut?“, begrüßt er seine blonde Kollegin augenzwinkernd.

„Nee“, grinst die zurück „aber ich habe schon mal die Liegestühle bestellt. Kann ja nicht mehr lange dauern mit dem Anbau.“

Peter T. ist pensionierter Kriminalkommissar. Er hat in seinem Berufsleben genug Kriminalfälle bearbeitet und kann die Leidenschaft vieler Leser für Krimis nicht nachvollziehen. Was da drin steht, hat mit der Realität des Berufslebens wenig zu tun. Er versucht sich lieber an den Klassikern. Die haben ihn in seiner Schulzeit nicht interessiert, aber damals hatte er auch noch nicht seine heutige Lebenserfahrung und die innere Muße zum Lesen. Trotz der vielen freien Zeit ist sein Leben keineswegs langweilig. Er hat sich sehr viel kindliche Neugier bewahrt, die ihn jünger wirken lässt. Zweimal in der Woche genießt er jedoch die ruhige Atmosphäre in den alten Schulräumen. Heute wäre er allerdings lieber draußen und würde im Garten arbeiten und die Sonnenstrahlen genießen.

Montags hat auch der Wertstoffhof geöffnet. Von der Bücherei aus ist der Weg nicht weit, nur die Bahnhofstraße runter und nach links. Peter T. fährt in letzter Zeit oft dorthin und bringt Gerümpel weg. So nach und nach wollen er und sein Frau Ordnung im Haus schaffen. Die Kinder haben bei ihren jeweiligen Auszügen eine Menge zurückgelassen, und der Zeitpunkt ist gekommen, das Leben neu zu ordnen. Heute Morgen war er auch wieder dort. Er hat den alten Tisch aus dem Garten entsorgt, der Sonnabend nicht mehr ins Auto passte, als er die maroden Gartenstühle hingebracht hatte.

Von der Leiche im Sperrmüllcontainer hat er allerdings nichts bemerkt. Die entdeckt ein Mitarbeiter erst kurz nach 15 Uhr. Männlich, dunkelhaarig, jung. Na ja, das hat erst später die Kripo rausgefunden. Der geschockte Mitarbeiter hat nur einen leblosen Körper entdeckt. Dumm nur, dass sich noch ein paar Kunden auf dem Gelände aufgehalten und sofort auf seine Schreie reagiert haben. Jetzt weiß es schon ganz Elze. Und auch das Bücherei-Team ist schnellstens informiert. Leser, die aufgeregt reinstürmen, WhatsApp-Nachrichten, die Polizeiwagen, die mit Blaulicht die Bahnhofstraße runterfahren.

Schnell sind Gerüchte im Umlauf: Die Leiche soll seit zwei bis drei Tagen im Container gelegen haben. Der Mann sei erschlagen worden, heißt es. Es wird noch darüber gerätselt, wer der Tote sein könnte.

Schließlich kann Peter T. der Versuchung nicht widerstehen und fährt zum Fundort. Es ist schon nach sechs, die Bücherei hat auch heute wieder pünktlich geschlossen werden können. Sie schließen immer mit dem Läuten der Kirchturmglocken. Ganz selten, dass es Mal später wird. Die Leser sind daran gewöhnt, Peter T. und seine Kollegin auch.

Am Bahnhof herrscht reges Treiben. Die 18-Uhr-Züge aus Norden, Süden, Westen und Osten, die sich hier kreuzen, sind gerade eingetroffen. Die Pendler aus Hannover, Göttingen, Hameln und Hildesheim strömen zu ihren Autos und Fahrrädern. Schräg gegenüber vom Bahnhof ist der Wertstoffhof. Zwei Mal im Jahr stauen sich vor der Einfahrt die Fahrzeuge. Bei der kostenlosen Baum- und Strauchschnittannahme im Frühjahr und Herbst. Heute sieht es hier ähnlich aus. Allerdings sind es verschiedene Einsatzwagen der Polizei, die die Einfahrt versperren. Ein paar Neugierige werden durch die Beamten auf Abstand gehalten.

Peter T. hat kein Problem, durch die Absperrungen zu gelangen. Seine ehemaligen Kollegen winken ihm zu und begrüßen ihn freundschaftlich. Sie sind über sein Erscheinen sogar erfreut, als Elzer kann er ihnen vielleicht bei der schwierigen Identifizierung behilflich sein, hoffen sie. Bisher haben sie nämlich noch keine Anhaltspunkte, um wen es sich handeln könnte. Peter T. folgt seinem früheren Kollegen zum Fundort der Leiche. Auf dem kurzen Weg zum Sperrmüllcontainer fühlt er sich ein bisschen mulmig. Schließlich ist er am Vormittag schon einmal hier gewesen. Noch bevor er die Leiche sieht, deutet sein Kollege auf eine alte Truhe.

„Da drin steckte der Mann. Der Mitarbeiter hat einen schweren Gegenstand auf die Truhe geworfen, die das Holz an einer Stelle zum Splittern brachte. Dadurch wurde die Sicht auf Teile des Körpers frei“, erklärt er ihm. Als Peter T. die Truhe sieht, wird er kreidebleich. Fassungslos starrt er auf das geöffnete Möbelstück, in dessen Nähe seine alten Gartenstühle stehen.

„Ich weiß, wie die Leiche hierhergekommen ist“, sagt er mit tonloser Stimme.

Emma S. wohnt in einem Haus aus den 70er Jahren im Albert-Schweitzer-Pfad. Ihr Mann und sie haben es nach ihrer Heirat gebaut, vorsorglich zwei Kinderzimmer mit eingeplant, aber mit Kindern wurde die Ehe der beiden nie gesegnet. Irgendwann haben sie sich damit abgefunden und ihr Leben für sich gut eingerichtet. Er war Beamter in Hildesheim, sie halbtags in einem Büro beschäftigt. Damals ging das noch regelmäßig von Montag bis Freitagvormittags 20 Stunden die Woche. Nachmittags kümmerte sie sich um den Haushalt, den Garten, die Vereinsarbeit und ihre Neffen und Nichten von der Seite ihres Mannes. Als kinderloses Paar wurden sie mehrfach gebeten, eine Patenschaft zu übernehmen, die sie mit Freude zusagten. Da sie ein in jeder Hinsicht geregeltes Leben führten, waren sie wie gemacht für dieses Amt. Manchmal nahmen sie die Kinder sogar mit in die Sommerferien, meist zwei, das war einfacher. Einmal sogar alle vier. Sie hatten ein Ferienhaus an der Ostsee gemietet. Anschließend waren sie tatsächlich urlaubsreif! Sie nahmen es mit Humor, ließen die ersten Arbeitstage danach langsam angehen und nutzten die nächsten Wochenenden zum Relaxen im Garten. Durch ihr Engagement entwickelte sich ein enges, familiäres Verhältnis zu den Patenkindern, die ihnen die eigenen Kinder ein wenig ersetzten.

Als ihr Mann vor gut einem Jahr starb, gerade zu Beginn seiner Rentenzeit, fiel sie in ein tiefes Loch. Plötzliches Herzversagen, nichts hatte darauf hingedeutet. Die Zeit danach überstand Emma nur durch ihre Disziplin. Sie lebte einfach ihren Rhythmus weiter wie vorher. Der gab ihr den Halt, die Tage, Wochen und Monate, an die sie fast keine Erinnerung hat, durchzustehen. So nach und nach hat sie sich gefangen.

Und jetzt hat sie erstmals wieder Grund zur Freude: In zwei Monaten wird das erste ihrer Patenkinder heiraten, und sie lässt sich gerne in die Vorbereitungen involvieren. Als Geschenk möchte sie ihrer Patentochter den Anteil an einem Stück Ackerland übertragen, das sie selber von ihrem Großvater geerbt hat. Ihr Plan besteht darin, bei Gelegenheit auch den drei anderen Patenkindern je ein Viertel zu übertragen. Für sie ist der Besitz mehr Last als Lust, denn finanziell ist sie gut abgesichert und auf mögliche Erträge aus einem späteren Verkauf des Ackers nicht angewiesen. Mit der Schenkung kann sie noch zu ihren Lebzeiten sehen, was aus dem Grundstück wird. Sollte es jemals Bauland werden, würde das eine enorme Wertsteigerung bedeuten, und die Kinder könnten finanziell oder real davon profitieren. Die Fläche ist groß genug für vier Häuser, und ob sie die Grundstücke verkaufen oder selber bebauen würden, wäre ihr egal.

Jedenfalls gibt ihr die ganze Hochzeit mit allem Drum und Dran und der Beschäftigung mit der Zukunft Auftrieb. Sie fühlt sich wieder lebendiger. Nach außen hin merkt man den Unterschied nicht so sehr, ihren Rhythmus hat sie beibehalten. Sie hat ohnehin ein eher ruhiges und ausgeglichenes Wesen, so dass Stimmungsschwankungen nicht so sehr auffallen. Aber sie selber beginnt, sich wieder zu spüren. Sie schmeckt wieder, was sie isst. Sie zeigt Anzeichen von Interesse an dem Geplauder der Nachbarn. Wenn sie ein Buch liest, liest sie nicht nur die Buchstaben, wie in den Monaten zuvor,sie lebt wieder in dem Buch, wie früher, wenn sie mittags auf der Terrasse in der Sonne saß und in einem Roman versank. Sie spürt wieder die Leere, die den Übergang zwischen der fiktiven Welt und der Ankunft in ihrer Realität markiert, nachdem sie eine Lektüre beendet hat. Sie liest nun wesentlich mehr als in den Jahren ihrer Ehe.

Meist geht sie zu Fuß zur Bücherei, um sich mit neuem Lesestoff zu versorgen. Dann hält sie einen kleinen Plausch mit ihrem Nachbarn, der seit Kurzem hier aushilft. Natürlich wendet sie sich zuerst, wie die meisten Leser, dem Tisch mit den Neuanschaffungen zu. Leichte Literatur interessiert sie, auch mal was Historisches und neuerdings hat sie Krimis für sich entdeckt. Gerne die aus der Heimat, nicht zu grausam, eher mit Ortsbeschreibungen, aber auf jeden Fall mit einer Identifikationsfigur.

Emma S. hat eine Schwester, die in Süddeutschland lebt. Der Kontakt war nach dem Tod der Eltern fast eingeschlafen, und ihre einzige Nichte hatte sie bei deren Konfirmation zuletzt gesehen. Das ist nun über 20 Jahre her. Das Mädchen war schwierig gewesen in der Pubertät und ging nach dem Abitur als au pair ins Ausland. Danach hat ihre Schwester nur noch selten und ihren Fragen ausweichend über sie gesprochen. Sie mied die Telefonate mit Emma immer mehr. Da die Schwester sich auch in den Monaten nach dem Tod von Emmas Mann nicht häufiger bei ihr gemeldet hatte, hat sich die Beziehung auf die wenigen Kontakte zu Weihnachten und an Geburtstagen reduziert.

An einem Freitagabend Mitte Mai, als Emma gerade die Reste von ihrem Abendessen abgeräumt hat und das Fernsehprogrammheft studiert, klingelt das Telefon.

„Tante Emma? Hallo, ich bin’s Sabine. Deine treulose Nichte aus Frankreich“, klingt es gespielt zerknirscht, aber fröhlich und sympathisch aus dem Telefon. Emma ist kurz verwirrt, hat aber schnell realisiert, um wen es sich handelt.

„Sabine …, das ist ja eine Überraschung … Ich habe so lange nichts von dir gehört. Wo bist du denn? Wie geht es dir?“

„Also, ich bin ganz in deiner Nähe – in Braunschweig. Ich habe beruflich hier zu tun. Hatte schon seit ein paar Tagen überlegt, ob ich dich wohl besuchen sollte, aber ich war mir nicht sicher. Und jetzt beim Abendessen im Hotel hab‘ ich spontan gedacht, ich ruf‘ dich einfach an und gucke mal, wie deine Reaktion ist. Ich könnte morgen mal vorbeikommen. Ist ja Samstag, da muss ich nicht arbeiten. Was meinst du, würde das gehen?“

„Ach Kind, ich hab‘ dich so lange nicht gesehen. Es ist so viel passiert. Ich habe kaum noch Kontakt zu deiner Mutter. Ja, komm‘ doch her. Das wäre schön, wenn du mir von dir erzählen könntest. Du bist doch schließlich Familie!“

Durch die Überraschung ein bisschen aus dem Rhythmus gebracht, hat Emma nun keine Lust auf Fernsehen mehr. Sie gönnt sich ein seltenes Gläschen Wein, geht zum Regal mit den alten Fotoalben und nimmt das mit den Fotos von der Konfirmation ihrer Nichte heraus.

‚Zwanzig Jahre ist das schon her‘, denkt sie und macht es sich mit den Erinnerungen auf dem Sofa bequem.

Am nächsten Morgen bereitet sie ein leckeres Frühstück vor. Besorgt Brötchen und Hörnchen beim Bäcker in der Hauptstraße, Wurst und Schinken in der Metzgerei. Sogar an Hackfleisch für Frikadellen denkt sie, falls die Nichte zum Mittagessen bleiben will. Die Pfanne für die Rühreier steht schon auf der Herdplatte bereit. Dann muss sie nur noch die Eier aufschlagen und die Kaffeemaschine anstellen, sobald Sabine da ist.

Sabine kommt pünktlich. Auf der Straße hätte Emma ihre Nichte wohl nicht direkt wiedererkannt, obwohl die Familienähnlichkeit vorhanden ist. Die schlanke Statur, die glatten, blonden Haare, die gleiche Stimme wie ihre Mutter und dieselbe Art zu lächeln.

Was fehlt, ist das Strahlen in den Augen, mit dem ihre Schwester die Menschen für sich gewinnen kann. Sabines Blick ist vorsichtig, zögernd. Fast schon misstrauisch. Doch in ihrer Stimme liegt Wärme und echte Wiedersehensfreude, das spürt Emma sofort.

„Was mag dem Mädchen wohl widerfahren sein in den vergangenen Jahren?“, fragt sie sich im Stillen und nimmt die junge Frau spontan in die Arme.

„Komm rein, der Frühstückstisch ist gedeckt. Ich freue mich über deinen Besuch. Das war ja eine Überraschung, als du gestern Abend angerufen hast.“

Sabine guckt sich neugierig um. „Oh, das duftet herrlich nach Kaffee und frischen Brötchen hier. Wie bei Mama früher, wenn wir es uns Samstagmorgens gemütlich gemacht haben. Man merkt doch, dass ihr Schwestern seid. Wie geht es dir, Tante Emma?“

Emma antwortet auf die Frage nichts. Was soll sie auch sagen? Zwanzig Jahre in einem Satz zusammenfassen? Sie schiebt die Nichte sachte in die Küche, wo der Tisch gedeckt ist.

Im Laufe der nächsten Stunde lässt die Freude über den Besuch immer mehr nach. Es stellt sich heraus, dass die Nichte in finanziellen Schwierigkeiten steckt, und Emma hat das ungute Gefühle, dass sie sich von ihr Hilfe erhofft.

Und schließlich wird Sabine konkret: „Kannst du mit Mama reden? Mit mir spricht sie nicht mehr. Ich soll meinen Kram selber regeln, sagt sie. Sie hat die Nase von meinen Firlefanzen voll. Aber es ist wichtig. Ich brauche dringend Geld. Sie könnte mir das Ackergrundstück, das sie hier in Elze besitzt, doch jetzt schon überschreiben. Sie braucht es doch nicht, und ich werde es sowieso mal erben. Ich habe einen Kaufinteressenten gefunden, der sogar bereit ist, einen guten Preis zu zahlen. Er will den Kauf aber sehr schnell abwickeln. Er möchte das Land seinem Sohn zum Geburtstag schenken, und der ist schon im nächsten Monat.“

Emma sieht ihre Nichte ungläubig an. Sie fühlt sich immer beklommener und spürt Ärger in sich aufsteigen. Was soll das? Wie kann Sabine so dreist sein, nach zwanzig Jahren bei ihr aufzutauchen und sie und ihre Gefühle derartig auszunutzen?

Das Grundstück, von dem die Rede ist, gehört zur Hälfte ihr. Es ist das Land, das ihre Großeltern bewirtschaftet haben. Seit langem ist es an einen Bauern verpachtet, denn schon ihre Mutter hatte weder Interesse an der Landwirtschaft gezeigt noch einen Landwirt geheiratet. Und auch sie und ihre Schwester sind an der Bewirtschaftung des Ackers nicht interessiert. Aber es ist keinem jemals in den Sinn gekommen, das Land zu verkaufen. Schon aus Achtung gegenüber dem geliebten Großvater nicht. Und jetzt hat sie endlich Pläne für eine sinnvolle Regelung. Sie wird den Boden unter ihren vier Patenkindern aufteilen. Die Hochzeit in zwei Monaten soll den Anfang machen. Der Rest wird sich finden.

Emma ist immer davon ausgegangen, dass Sabine eines Tages den Anteil ihrer Mutter, also Emmas Schwester, erben wird. Dann besäßen die Nichten und Neffen aus der Familie ihres, Emmas, Mannes je ein Achtel und Sabine die Hälfte des ausgedehnten Ackerlandes. Bisher haben sie und ihre Schwester die Fläche noch nicht real geteilt, aber Emma ist schon beim Notar gewesen, um alles in die Wege zu leiten.

„Das Land wird nicht verkauft. Ich habe andere Pläne. Außerdem gehört es deiner Mutter und mir gemeinsam. Wir bilden immer noch eine Erbengemeinschaft, also können wir nur einvernehmlich handeln. Und einem Verkauf werde ich nicht zustimmen. Mein Teil werde ich meinen vier angeheirateten Nichten und Neffen schenken. Also, ich kann dir nicht helfen“, erklärt Emma ihrer Nichte die Lage.

Sabine guckt sie entsetzt an. Dann wird sie hysterisch: „Ich brauche das Geld dringend. Bitte, Tante Emma. Stimme dem Verkauf zu. Das ist meine letzte Chance“, ruft sie eindringlich mit immer schriller werdender Stimme.

„Was ist denn los mit dir? Spinnst du? Was fällt dir ein, hier aufzutauchen und so ein Theater zu machen?“ Emma ist wütend. Die Situation wird immer unangenehmer, und Emma, die eigentlich ein moderates Temperament besitzt, fühlt, wie ihr die Beherrschung der Lage entgleitet. Sie kann mit derart aus dem Ruder laufenden Szenen nicht umgehen. Alles muss seine Ordnung haben, sonst verliert sie den Überblick. Sabine hat den Kopf auf den Tisch gelegt und heult in ihre verschränkten Arme hinein.

„Ich werde erpresst“, murmelt sie plötzlich leise. „Draußen steht ein Mann, der auf das Geld wartet. Der macht keine Scherze. Entweder ich kann ihm gleich sagen, dass das mit dem Verkauf was wird, oder …“, ihre Stimme erstirbt. Sie blickt ihre Tante mit verweinten Augen an.

Die ist entsetzt. Irgendwas in der trostlosen Stimme und der jämmerlichen Gestalt, die die junge Frau abgibt, macht ihr Angst.

„Was, oder?“, fragt sie tonlos.

„Er wird mir wieder wehtun. Er ist eiskalt und brutal. Typen wie er haben keine Gefühle.“ Sie hebt ihren Pulli. Auf ihrem Bauch hat sie etliche Narben. Frisch, rot und wülstig. „Tante, bitte hilf mir. Er wird nicht lockerlassen, bis er das Geld hat. Ich habe Schulden bei ihm. Wegen Drogen. Er war mein Freund, aber dann wurde ich ihm zu anstrengend, und er wollte mich loswerden. Aber ich brauche die Drogen doch. Ich habe schon oft versucht, davon loszukommen. Ich schaffe es nicht. - Und er kann sie besorgen. Ich habe ihm das Grundstück als Sicherheit angeboten. Er ist darauf eingegangen. Aber ich habe ihm nicht gesagt, dass es Probleme gibt.Ich dachte, das wird schon klappen. Aber Mama will nix mehr mit mir zu tun haben.“ Sie schluchzt leise vor sich hin.

Da klingelt es an der Haustür. Sabine zuckt zusammen.

„Mach nicht auf, mach nicht auf“, bettelt sie panisch. Erstarrt hören die beiden das wiederholte Klingeln. Aber dann gibt Sabine sich einen Ruck.

„Wir müssen ihn reinlassen. Ich habe mit ihm verabredet, dass ich ihn dir vorstelle und wir dir das glückliche Paar vorspielen. Damit du Mama überzeugen kannst, dass alles in Ordnung ist, und sie in den Grundstücksverkauf einwilligt.“ Sie atmet tief durch, ändert ihre Mimik und geht zur Tür. Und dann zieht sie eine unglaubliche Schau ab. Von ihrem Zusammenbruch ist, bis auf die verquollenen Augen, nichts mehr zu bemerken.

„Das ist Pierre, Tante Emma. Mein Freund. Ich wollte ihn dir gerne vorstellen. Aber erst, nachdem wir ein bisschen Zeit allein miteinander hatten. Deshalb habe ich ihn gebeten, mich abzuholen, damit ihr euch noch kennenlernen könnt“, sagt sie und strahlt zwischen Tante und Pierre hin und her, als wäre sie die jung verliebte Braut, die ihren Bräutigam präsentiert.

Doch der ist irritiert.

„Warum bist du so verheult?“, fragt er vorsichtig und wirft einen misstrauischen Blick in Emmas Richtung.

„Wegen Mama. Weil sie mich rausgeworfen hat. Ich habe es meiner Tante erzählt. Und dabei …“

„Erzähl doch keinen Schwachsinn“, fährt er sie an, und versucht gar nicht erst, einen guten Eindruck auf Emma zu machen. „Was habt ihr zwei hier stundenlang geredet, he?“, fragt er die Tante. „Hast du nun dafür gesorgt, dass Sabine das Geld bekommt oder nicht?“, er nähert sich der ihm unbekannten Frau drohend und ohne einen Hauch von Respekt.

Emma spürt Angst und Wut gleichzeitig. Dieser Typ ist aalglatt und widerlich. Er sieht nicht schlecht aus und wirkt gepflegt. Aber seine Augen blicken sie kalt und gnadenlos an. Für ihre Nichte Sabine hat er nur einen verächtlichen Blick. Als diese merkt, dass sie mit ihrem Spiel bei ihm nicht durchkommt, fällt sie sofort wieder in sich zusammen. „Bitte Pierre, du bekommst das Geld. Meine Tante wird dem Verkauf zustimmen und Mama überzeugen“, wie ein unterwürfiges Hündchen bettelt sie um Gnade.

„Nein, das werde ich auf keinen Fall tun!“, sagt Emma mit fester Stimme. Sie hat ihre innere Sicherheit wiedergefunden. Ihr ist schlagartig klargeworden, dass sie sich nicht manipulieren lassen wird.

Der durchtrainierte Mann schnappt ihre Nichte, drückt ihre Arme mit Gewalt nach hinten, dass sie aufschreit, und schiebt sie Richtung Küche.

„Das reicht mir jetzt mit euch“, stößt er durch die Zähne aus. „Ich gehe hier erst wieder raus, wenn der Vertrag steht.“ Er schubst Sabine auf einen Stuhl und zündet sich mit einem fiesen Grinsen eine Zigarette an.

Sabine guckt ihm mit Entsetzen und panischer Angst in den Augen zu. Emma drängt sich eine fürchterliche Ahnung auf, wie die Narben auf Sabines Bauch entstanden sein könnten. Und sie fühlt jetzt mit absoluter Gewissheit, dass der Mann nicht scherzt. Er ist eiskalt und gefährlich. Er will sein Geld zurück, und dazu ist ihm jedes Mittel recht. Instinktiv greift sie hinter sich nach der Pfanne mit den Fettresten vom Rührei. Sie wird sich von keinem Menschen ihr wohlgeordnetes Leben durcheinanderbringen lassen. Und während er sich noch zu ihr umdreht, um zu gucken, was sie da macht, schlägt sie zu. Mit einem Mal fallen auch die letzten Reste der Depression von ihr ab, gegen die sie seit dem Tod ihres Mannes gekämpft hat. Mit unbändiger Kraft durchströmt die lange gebremste Energie ihren Körper. Sie, Emma, ist wieder da! Sie weiß mit großer Klarheit, dass das, was sie gerade tut, das Richtige ist.

Sie hat zum großen Befreiungsschlag ausgeholt. Für einen Moment fühlt sie die absolute Freiheit in sich. Die, die man nur ein paar Mal im Leben spürt, und die alles verändert. Die, die jede Tat rechtfertigt. Sie hat nicht mit seinem Tod gerechnet, sie hat mit gar nichts gerechnet. Sie hat einfach nur zugeschlagen, wie ihre Intuition es ihr eingab. Das Böse soll in ihrem Haus keinen Platz finden, keine Sekunde lang.

Das Böse liegt nun in der Gestalt dieses Fremden vor ihren Füßen – und sie hat es besiegt! Sie handelt jetzt mit absoluter Klarheit. Wie ein Spieler, der alles auf eine Karte setzt. Es gibt nur diesen einen Weg – entweder es klappt, oder es klappt nicht. Sabine ist wie erstarrt. Wie eine Puppe folgt sie Emmas Anweisungen. „Niemand kennt ihn hier. Wir bringen ihn aus dem Haus. Am besten zum Wertstoffhof, der hat heute bis 12.00 Uhr geöffnet. Keiner wird ihn mit mir in Zusammenhang bringen. Ich wusste bis vor einer halben Stunde nicht mal von seiner Existenz.“

Sie packen ihn in eine alte Truhe, die Emma schon lange zum Sperrmüll hatte geben wollen. Die beiden können sie natürlich nicht allein zum Auto schleppen, aber Emma hat gute Beziehungen zu ihren Nachbarn. Peter T. ist gerade mit Gummistiefeln und Regenjacke draußen im Garten beschäftigt, und Emma fragt ihn spontan, ob er schnell mal anpacken könne.

„Klar“, lächelt der ältere Herr freundlich, der mit seiner Frau das Nachbarhaus bewohnt. „Das ist die Gelegenheit, dann kann ich unsere alten Gartenstühle auch schnell wegbringen und euch beim Ausladen helfen.“

„Das ist meine Nichte Sabine. Sie ist zu einem kurzen Besuch vorbeigekommen“, stellt Emma ihm die junge Frau vor.

„Freut mich“, begrüßt Peter T. sie und nickt den beiden aufmunternd zu. „Packen wir’s an.“

„Ui, schwer“, lautet sein Kommentar beim Anheben der Kiste. „Habt ihr da `ne Leiche drin versteckt?“, scherzt er.

Emma bleibt fast das Herz stehen, dann scherzt sie zurück: „Nee, Backsteine.“

Peter grinst. Damit ist das Thema durch. Er ist nicht sonderlich interessiert, was seine langjährige Nachbarin da entsorgen will. Man kennt sich gut genug, das Leben der Nachbarn will man gar nicht bis ins Detail enthüllt wissen.

Emma lädt zur Tarnung noch ein paar Gerätschaften ins Auto, die sie auf dem Wertstoffhof entsorgen will. Peter T. fährt mit seinem Wagen hinterher. So kann er den beiden Frauen beim Ausladen helfen. Der Wertstoffhof hat nur noch wenige Minuten geöffnet, als sie ankommen. Anstandslos werden sie zum Sperrmüllcontainer verwiesen, als sie beim Mitarbeiter des kommunalen Abfallunternehmens ihre Ware angeben. Der Container ist noch relativ leer. Bei dem Dauerregen haben wahrscheinlich nicht viele Elzer Lust gehabt, ihren Müll zu entsorgen.

Gemeinsam mit Peter T. heben sie die Kiste aus dem Auto und stellen sie weit hinten im Container ab. Emma platziert ihre anderen Gerätschaften davor und Peter T. folgt nichtsahnend mit seinen Gartenstühlen. So ist die Kiste mit der Leiche gut verdeckt. Als Emma und Sabine den Wertstoffhof verlassen, sind sie neben Peter T. die letzten Kunden. Der Angestellte hat schon den Schlüssel in der Hand, um das große Tor zu verschließen. Emma atmet auf. Gut gegangen. Jetzt kann sie in Ruhe überlegen, wie es weitergehen soll.