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Nachdem Juna ihren Peinigern endlich entkommen ist, findet sie sich auf einer verlassenen Insel wieder. Bald schon muss sie aber herausfinden, dass diese Insel keinesfalls so einsam ist, wie sie auf den ersten Blick erschien. Als sie auf fremde Menschen trifft, muss sie sich ihrer Vergangenheit stellen und einsehen, dass ihr Schicksal vielleicht mehr birgt, als nur einen Fluch. Der flammende Auftakt der Quadrologie.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Eine abgelegene Insel mitten im Ozean war es, zu der es mich verschlagen hatte. Die Insel war nicht sonderlich groß. Ich hatte sie einmal umrundet, kurz nachdem ich hier angespült worden war, und das hatte kaum zwei Stunden gebraucht. Am Strand wuchsen Palmen, deren Kokosnüsse verführerisch zwischen den Blättern lugten und zum Teil schon auf dem Sand lagen. Der Wind fing sich in den langen Wedeln und ließ sie sich sacht wiegen.
Hinter den Palmen hatte sich ein dichter Dschungel entwickelt. Seine Pflanzen wucherten so dicht, dass man kaum einen Meter hineinblicken konnte. Ich hatte mich nicht in dieses grüne Dickicht hinein gewagt, da ich mich davor fürchtete, was sich vielleicht darin verbergen könnte. Drei Tage war ich nun schon hier und nachts konnte man außer dem Zirpen der Insekten und dem Rauschen der Blätter noch etwas anderes vernehmen. Ein Murren und Raunen, das von etwas Größerem und Bedrohlicherem zu stammen schien.
Bei meiner kurzen Erkundung fand ich auch einen Felsen, der aus dem Dschungel heraus ragte und von dem beständig Wasser tropfte. Nach kurzem Zögern hatte ich davon gekostet und war erstaunt, dass es nicht salzig schmeckte. Diese winzige Wasserquelle half mir durch die letzten Tage.
Auch hatte ich auf meinem Weg keine Anzeichen von anderen Menschen gefunden. Darüber war ich froh. Im Moment konnte ich gut auf die Anwesenheit von anderen Leuten verzichten.
An diesem Nachmittag saß ich am Strand und schaute gedankenverloren den Wellen zu, wie sie sanft heran rollten und sich schließlich im seichten Wasser verloren. Seevögel flogen über mich hinweg und kreischten gegen die Geräusche des Meeres an. Es war ein friedlicher Tag, der mir half, mich von den Geschehnissen in meiner Vergangenheit zu distanzieren und mich zu erholen. Die körperlichen Wunden und blauen Flecke waren schon beinahe verschwunden und dieser Ort verschaffte auch meiner Seele die Möglichkeit zu heilen.
Der Strand war in der späten Sonne angenehm warm und die Kokosnuss, die ich mit viel Mühe aufgeschlagen bekommen hatte, stillte den schlimmsten Hunger. Es war nicht viel, doch alles, was ich im Moment brauchte.
Die friedliche Stimmung ließ meine Gedanken zurück reisen, zu den Tagen, als alles noch in Ordnung war. Zu meiner Familie und meinen Freunden. Die Zwillinge Zayn und Elena vermisste ich wirklich. Wir hatten immer Spaß, wenn wir durch die Gassen von Mesa Island tobten und uns Geschichten ausdachten. Szenarien von Piraten und tapferen Helden, die sie bekämpften. Dass die Wirklichkeit ganz anders war, hatte ich nun am eigenen Leib erfahren. Es gab niemanden, der sich dem bösen Piraten in den Weg stellte und gefangene Kinder rettete. Das war eine schöne Vorstellung gewesen, bis ich auf harte Weise in die Realität gezerrt wurde.
Meine Eltern waren immer schon verhalten mir gegenüber gewesen, aber trotzdem sehnte ich mich danach, auch sie wieder zu sehen. Den Duft im Haus, wenn meine Mutter das Mittagessen zubereitete und das mechanische Hämmern meines Vaters, wenn er wieder einmal etwas an der Hütte reparierte. Ich fragte mich, ob sie mich auch vermissten und ob sie wohl noch immer nach mir suchten? Schließlich war es schon etliche Wochen her, als ich von Zuhause weggebracht wurde. Die Möglichkeit, dass sie alle mich schon aufgegeben und für verloren halten könnten, versuchte ich erst gar nicht in Betracht zu ziehen.
Trotzdem wollte ich nicht, dass mich jemand aus meiner Familie fand. Zu groß war die Angst, dass meine Vergangenheit mich einholen und meine Familie in Mitleidenschaft gezogen würde. Ich wollte sie nicht in Gefahr bringen, also würde ich mein Leben allein fristen. Ohne Menschen, die mich brauchten oder gar liebten. Es war besser so, auch wenn es mir das Herz brach.
Eine Böe fegte über die Insel und ließ mich in der langsam untergehenden Sonne frösteln. Die Tage waren warm und friedlich, die Nächte jedoch kalt und zum Teil furchterregend. Im Schutz der Bäume wäre es sicherlich weniger windig gewesen, aber die Geräusche, die man aus dem grünen Blättermeer vernahm, verlockten mich in keinster Weise dazu, mehr als ein paar Schritte hinein zu wagen. In meiner Vorstellung lauerte dort drinnen ein wildes Raubtier, das nur auf mich wartete, um mich zu fressen. Also verkroch ich mich jede Nacht unter dem großen Felsen am Ufer, rollte mich dort zusammen und wartete voller Ungeduld darauf, dass die Sonne endlich wieder aufgehen würde.
Die Nacht brach schließlich herein und mit ihr die Kälte. Und so zog es mich auch jetzt wieder in diese schutzlose Nische. In dem offenen Versteck schmiegte ich mich eng an den rauen und feuchten Felsen und versuchte dem Wind so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten.
Trotz aller Bemühungen lag ich frierend da und lauschte auf die beängstigenden Geräusche des Dschungels. Das Summen und Zirpen der Insekten vermischten sich mit den hohen Schreien der Fledermäuse und dem Fauchen eines gefährlichen Raubtiers. Ab und an meinte ich auch Blätter rascheln und ein schweres Atmen zu hören, aber das schrieb ich meiner überschwappenden Phantasie zu.
Manchmal döste ich trotz der Kälte und der unterschwelligen Angst weg, was aber nur dazu führte, dass ich mich in noch schlimmeren Albträumen wiederfand. Selbst im Schlaf konnte ich mein eigenes Wimmern hören und doch gelang es mir jedes Mal nur schwer, mich aus dieser Traumwelt zu lösen, die mich jede Nacht quälte.
Endlich schreckte ich hoch, verwirrt und schweißgebadet. Erst als ich mich in der tröstlichen Gegenwart des Felsens und des Strandes wiederfand, konnte ich meinen keuchenden Atem beruhigen und wieder tief durchatmen.
Jedoch nur für einen Augenblick. Denn als das Geräusch meines eigenen Atems erstarb, vernahm ich ganz deutlich Schritte im Sand. Schritte, die näher kamen und mit ihnen das schwere Atmen, wovon ich ausgegangen war, dass ich es mir nur einbildete. Was sich auch immer in diesem Dschungel versteckte, es schien mich gefunden zu haben.
Erschrocken kauerte ich mich enger an die Felswand und betete, dass die Meeresbrise meinen Geruch überdeckte. Doch ich ging davon aus, dass mich dieses Raubtier schon gehört hatte, als ich schlief. Ich verfluchte die vielen Albträume und wünschte mir, sie würden genauso wie dieses unbekannte Tier einfach verschwinden. Es war aber genauso gut möglich, dass es mich schon seit meiner Ankunft hier beobachtete und nur auf den richtigen Moment gewartet hatte, um schließlich zuzuschlagen. Egal, wie es mich gefunden hatte, sicher war nur, dass es sich im Moment ganz in meiner Nähe aufhielt und mich jede Sekunde finden würde.
Der Illusion, ich könnte diesem Tier davonlaufen, gab ich mich erst gar nicht hin. Noch nie war ich eine besonders schnelle Läuferin gewesen und auf dem weichen Sand würde es sicherlich noch viel schwieriger sein, an Tempo zu gewinnen. Aber vielleicht könnte ich es schaffen, das Tier zu erschrecken, indem ich mit lautem Gebrüll hervor sprang. Eventuell würde es sich so sehr vor mir fürchten, dass es zurück in den Dschungel flüchtete. Eine weitere Möglichkeit bestand darin, ins Meer zu fliehen und mich einige Meter weiter draußen in Sicherheit zu bringen. Mit etwas Glück konnte dieses Tier nicht schwimmen und würde sein Interesse an mir, als potenzielle Beute, verlieren.
Ich hatte noch längst keine Entscheidung getroffen, da kam das Tier auch schon näher an meinen Unterschlupf heran. Im fahlen Licht des Mondes konnte ich nur die dunkle Silhouette einer katzenartigen Kreatur, wie einen Löwen oder Tiger, erkennen. Es war mir ein Rätsel, wie ein so großes Raubtier auf einer so kleinen Insel überleben konnte. Ich hatte hier weder Rehe noch sonst irgendwelche Tiere entdeckt, die als Jagdbeute für diese Raubkatze in Frage gekommen wären.
Leise grollend kam es langsam immer näher heran. Die Panik, die mich nun übermannte, ließ mir nicht mehr die Möglichkeit über mein Handeln nachzudenken. Nur der Gedanke an Flucht herrschte gerade in meinem Bewusstsein. Hastig griff ich nach einer Hand voll Sand und warf sie auf den Punkt, wo ich den Kopf der Kreatur vermutete. Danach sprintete ich in das Wasser und hoffte, dass ich schneller war als dieses Tier. Gleichzeitig spülte eine Welle über den Strand hinweg und setzte fast den gesamten Strandabschnitt unter Wasser. Ich hörte nur, wie das Tier fauchte und brüllte. Als ich einen Blick über die Schulter riskierte, sprang es gerade zu den Bäumen, um sich vor dem Meerwasser in Sicherheit zu bringen.
Diese Gelegenheit nutzte ich, um so weit gegen die Wellen ins Meer hinaus zu waten, bis nur noch mein Kopf über die Wasseroberfläche ragte. Den Grund konnte ich nur noch mit den Zehenspitzen erreichen. Hier draußen fühlte ich mich tatsächlich vor dem Raubtier geschützt, da es offensichtlich Wasser verabscheute. Ich konnte nur hoffen, dass es noch nicht hungrig genug war, um diese Abneigung zu überwinden. Auch wenn ich vielleicht das einzige Beutetier für diese Raubkatze darstellte, so wollte ich doch nicht als ihr Abendbrot enden.
Verstimmt darüber, dass seine Beute soeben entkommen war, lief das Tier murrend am Strand auf und ab. Immer wieder machte es Anstalten, ins Wasser zu treten, sprang dann aber doch angeekelt zurück.
Die Wellen schwappten unablässig über meinen Kopf hinweg und warfen mich hin und her. Die Strömung versuchte mich immer wieder an das Ufer heran zu treiben, wo die Kreatur schon auf mich wartete.
Um die Situation zu entschärfen, schwamm ich einige Meter um die Insel herum, in der Hoffnung, dass die Großkatze ihr Interesse an mir verlieren würde. Doch im Gegensatz zu dem, was ich mir wünschte, lief sie geduldig am Strand mit und lauerte nur darauf, dass ich aus dem Wasser trat und sie endlich zuschlagen konnte. Wer wusste schon, wie lange sie schon hungerte. Wahrscheinlich war ich wirklich die einzige Nahrungsquelle, die ihr zur Verfügung stand. Die Raubkatze täte mir schon beinahe leid, wenn sie nicht so hartnäckig versuchen würde, mich auf ihren Speiseplan zu bekommen.
Allmählich wurde mir immer kälter. Der Mond kroch quälend langsam über den Himmel und der Sonnenaufgang schien noch lange auf sich warten zu lassen.
Tatsächlich hatte ich schon einmal eine Nacht im Meer verbringen müssen. Zwei Tage, bevor ich auf dieser Insel gestrandet war, war es mir während eines Sturms gelungen, von dem Piratenschiff zu entkommen, auf dem man mich gefangen hielt. Das Schiff war von der tobenden See beschädigt worden und ein großer Teil der Reling trieb mit mir auf dem Ozean. Indem ich mich daran klammerte, schaffte ich es, trotz meiner zunehmenden Erschöpfung, nicht zu ertrinken.
Doch dieses Mal musste ich die langen Stunden ohne ein Hilfsmittel durchhalten. Trotz dem, was in den letzten Wochen geschehen war, wollte ich nicht einfach aufgeben, auch wenn es sicherlich die einfachste Lösung gewesen wäre. Und so zwang ich mich, der Müdigkeit zu widerstehen und mich darauf zu konzentrieren, nicht abgetrieben zu werden. Ich musste nur solange ausharren, bis die Raubkatze ihr Interesse an mir verlor und der Tag wieder anbrach.
Um nicht versehentlich dem Schlaf zu erliegen, dachte ich über die Möglichkeiten nach, wie ich diese Insel wieder verlassen konnte. Zum einen konnte ich einfach warten und hoffen, dass ein Schiff käme. Aber das war von viel zu vielen Zufällen abhängig und in Anbetracht dessen, was mir auf dem letzten Schiff widerfahren war, war ich auch nicht sonderlich erpicht darauf, wieder einen Fuß auf ein fremdes Schiff zu setzen. Zum anderen konnte ich auch einfach versuchen, mir mit den Dingen, die der Dschungel hergab, selbst ein Boot zu bauen. Das war besser, als tatenlos auf unbestimmte Zeit auf etwas zu warten, das vielleicht nie eintreten würde.
Das Problem mit der Raubkatze musste ich auch lösen. Ich konnte mich nicht jede Nacht im Wasser vor ihr verstecken. Vielleicht konnte ich einige tote oder angespülte Stämme finden, damit ich bei meiner Nische unter dem Felsen Wände hochziehen konnte. Das würde doch bestimmt reichen, um dieses Tier auf Abstand zu halten.
Außerdem war es unbedingt nötig, dass ich eine vernünftige Nahrungsquelle fand. Die Kokosnüsse waren zwar für den Anfang nicht schlecht, aber auf längere Zeit gesehen, würden sie mir definitiv ausgehen. Entweder ich fand endlich den Mut, mich auch im Dschungel nach Essbarem umzusehen, oder ich musste einen Weg finden, um zu fischen.
Meine Gedanken kreisten solange immer wieder um diese Dinge, bis am Horizont ein schmaler Streifen Licht erschien. Mit bebenden Lippen und doch freudig beobachtete ich, wie die Sonne langsam höher stieg und die Dunkelheit vertrieb. Der erste Strahl erreichte den Strand und für einen Sekundenbruchteil wurde die Raubkatze in seinen warmen Schein getaucht. Ich erhaschte einen Blick auf einen drahtigen und muskulösen Körper, der mir aber aus unerfindlichen Gründen seltsam vorkam. Doch bevor ich herausfinden konnte, was mich an diesem Tier irritierte, fauchte es und sprang schnellen Fußes in die schützende Dunkelheit des dichten Dschungels zurück.
Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte. Entweder hatte diese Großkatze wirklich so eine Angst vor dem Licht, dass sie gleich die Flucht antrat, oder sie versteckte sich nur in dem dichten Gestrüpp, damit ich mich in Sicherheit wog, an Land kam und sie mich endlich erwischen konnte. Hin und her gerissen zwang ich mich dazu, noch eine weitere halbe Stunde im kalten Wasser auszuharren. Doch auch nachdem diese Zeit verstrichen war, blieb an Land alles ruhig und regungslos.
Langsam tastete ich mich näher an den Strand heran, wobei ich die Baumgrenze nie aus den Augen ließ. Es gestaltete sich schwierig, sich auf den kalten und tauben Beinen ans Ufer zu schleppen, doch mit viel Anstrengung gelang es mir. Erschöpft und frierend brach ich auf dem nassen Sand zusammen.
Leider hatten die frühen Sonnenstrahlen noch nicht die Kraft, um meinen durchgefrorenen Körper aufzuwärmen. Und obwohl ich wusste, dass ich mich aufraffen und bewegen musste, konnte ich doch nicht mehr die nötige Energie aufbringen, um auch nur einen Muskel zu rühren. Alles, was ich im Moment wollte, war schlafen und mich von den Strapazen der vergangenen Nacht zu erholen. Danach konnte ich immer noch damit beginnen, meine Pläne in die Tat umzusetzen. Doch erst einmal musste ich mich ausruhen. Im nächsten Moment war ich auch schon der Erschöpfung erlegen und tief eingeschlafen.
Ich schwebte irgendwo zwischen Wachsein und Schlafen. Mein Denken zog sich zäh dahin, als müssten sich meine Gedanken ihren Weg durch einen trüben Sumpf bahnen. Die Kälte, die in jeden Muskel und Knochen gedrungen war, spürte ich wie eine eisblaue Welle, die von mir Besitz ergriffen hatte und mich nicht mehr losließ. Die Trägheit meines Körpers wog schwer. Eine leise Stimme in meinem Unterbewusstsein drängte mich dazu, dass ich aufwachen und aufstehen sollte. Doch wie sollte ich mich bewegen, wenn mein gesamter Körper aus Eis bestand?
Nur am Rande registrierte ich, dass ich immer noch halb im Wasser lag und die Wellen immer wieder über mich hinweg spülten. Doch solange, wie ich hier liegen konnte, war es mir egal, dass das Meer mich als Spielball ansah. Benommen lauschte ich dem beruhigenden Rauschen der Wellen und spürte den Schlaf wieder näher kommen.
Etwas mischte sich in die harmonische Melodie, das einfach nicht hinein passte. Weit weg meinte ich, Stimmen zu hören, was ich aber wieder verwarf. Schließlich war hier niemand mit mir auf der Insel. Lange lauschte ich auf dieses verstörende Geräusch und grübelte, woher es stammen mochte. Aber in meinem trägen Hirn wollte mir kein plausibler Grund für diese Unruhe in den Sinn kommen. Es wurde noch verstörender, als es plötzlich laut platschte, was mit einem ausgelassenem Gelächter quittiert wurde.
Widerwillig zwang ich mich, die Augen zu öffnen und mich am Strand umzuschauen. Dieser war nach wie vor verlassen. Selbst von der Raubkatze konnte ich keine Spur entdecken. Irgendwie fand ich die Kraft, um meinen Kopf ein wenig zu heben, sodass ich ein größeres Areal überblicken konnte und erschrak. Wie aus dem Nichts war draußen auf dem Meer ein Schiff aufgetaucht.
Auch wenn ich die Flagge nicht erkennen konnte und mir jede einzelne Bewegung unendlich schwer fiel, reichte dieser Anblick aus, um mich so zu beunruhigen, dass ich mich zwang aufzustehen. Ich wollte einfach nicht glauben, dass mich die Piraten so schnell gefunden hatten. Egal, wie diese Situation ausgehen würde, lieber wollte ich von der Raubkatze im Dschungel gefressen werden, als jemals wieder zu diesen Leuten zurückgehen zu müssen. Ein weiteres Mal würde ich diese Tortur nicht überleben. Und ich wollte mir erst gar nicht ausmalen, welche Strafe sie sich für meine Flucht inzwischen überlegt hatten.
Auf wackeligen Beinen taumelte ich über den Strand in Richtung des Dickichts. Mein Körper protestierte gegen die Bewegung, doch ich musste mich unbedingt vor diesen Leuten verstecken. Nur dank meiner Angst schaffte ich es bis zu den Farnen und Büschen, duckte mich tief hinein und betete, dass sie mich nicht schon längst bemerkt hatten. Lautlos beobachtete ich die Menschen und achtete dabei darauf, keines der Blätter in Bewegung zu versetzen.
Die Fremden hatten ein Boot zu Wasser gelassen und befanden sich bereits auf dem Weg zur Insel. Ich konnte fünf Männer zählen, von denen zwei ruderten. Sie unterhielten sich laut und lachten dabei ausgelassen. Sie waren noch zu weit weg, als dass ich ihre Unterhaltung hätte richtig verstehen können, doch ich gab mein Bestes, um sie über das Rauschen der Wellen und des Windes hinweg zu hören.
Meine Konzentration schwand jedoch so häufig, dass ich mich immer wieder dabei ertappte, wie mein Bewusstsein langsam wegdämmerte. Denn auch trotz der gefährlichen Situation war mein Körper viel zu ausgelaugt, um noch lange durchzuhalten.
Mit angehaltenem Atem sah ich zu, wie das Boot am Strand landete, der Erste von ihnen heraus sprang und sich genüsslich streckte.
"Pass auf, dass du nicht wieder ins Wasser fällst, Spencer.", scherzte ein anderer und hielt sich dabei lachend den Wanst.
"Es ist ja nicht so, als wäre es deine Schuld gewesen.", beschwerte sich Spencer. "Schließlich hast du mich gestoßen." Seine Kleidung war pitschnass. Ihm hatte ich es also zu verdanken, dass ich der Situation mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen hatte.
"Ihr müsst euren Streit auf später vertagen.", mischte sich derjenige ein, der als erstes an Land gegangen war. Er sagte es bestimmt, wirkte aber doch von ihrer Auseinandersetzung erheitert. "Wir sind schließlich nicht zum Spaß hier. Bestimmt ist Monty verstimmt, weil wir ihn das letzte Mal hier zurückgelassen haben."
Drei der vier anderen wurden daraufhin still und blickten sich wachsam um. Nur derjenige, der Spencer ins Wasser gestoßen hatte, stieg ebenfalls aus dem Boot und bewegte sich selbstsicher über den Strand.
"Er hat sich doch selbst auf das Boot geschlichen und ist dann im Wald umher gestreunt.", winkte er ab. "Ich glaube eher, dass er sich freut, dass wir für ihn extra noch einmal zurückgekommen sind."
Mein Herz schlug immer schneller. Wer war Monty und wo hielt er sich auf dieser kleinen Insel auf? In den Tagen, in denen ich nun schon hier war, ist mir nichts aufgefallen, das auf die Gegenwart eines anderen Menschen schließen ließ. Es gab nur die Möglichkeit, dass er sich die ganze Zeit über im Dschungel versteckt gehalten und mich von einem sicheren Ort aus beobachtet hatte. Inzwischen erschien mir diese paradiesische Insel nicht länger als ein friedlicher Ort, sondern mehr wie eine tödliche Falle.
Währenddessen waren inzwischen alle aus dem Boot geklettert, hatten dieses ein Stück den Strand herauf gezogen und schauten nun suchend den Waldrand auf und ab.
"Monty, wo steckst du?", rief derjenige, der die anderen beiden gerade zur Ordnung gerufen hatte. Er stellte sich mit in die Seiten gestemmten Armen vor die Palmen, die den Strand vom Dschungel trennten, und spähte mit festem Blick in das dichte Gestrüpp. "Komm schon raus. Du hast uns doch schon lange bemerkt."
Ich lauschte auf den Dschungel und versuchte gleichzeitig die Männer am Strand nicht aus den Augen zu lassen. Nur gestaltete sich eben dieses inzwischen schwierig. Sie hatten sich schon so weit voneinander getrennt, dass sich zwei von ihnen schon außerhalb meines Blickfeldes befanden. Um auch diese beiden weiter beobachten zu können, hätte ich einige Blätter beiseite schieben müssen, was ihnen möglicherweise meinen Standort verraten hätte. Das Risiko war mir zu groß, also blieb ich reglos hocken und hoffte darauf, dass sich Monty schnell zu erkennen gab und alle wieder verschwanden, ohne von mir Notiz zu nehmen.
"Nun komm schon.", rief er erneut und langsam mischte sich eine Spur Ungeduld in seine Stimme. "Du hast dich schließlich selbst in diese Lage gebracht. Natürlich hätten wir dich nicht hier gelassen, wenn wir gewusst hätten, dass du mit uns auf diese Insel gegangen bist."
Wir alle warteten vergebens auf eine Regung im Dschungel. War es möglich, dass die Raubkatze diesen Monty erwischt hatte und er überhaupt nicht mehr lebte? Das würde bedeuten, dass die Männer früher oder später damit beginnen würden, die ganze Insel nach ihrem Freund abzusuchen. Das würde wiederum zur Folge haben, dass sie auch mich unweigerlich entdeckten. Nervös fieberte ich dem Auftauchen Montys entgegen.
"Captain", rief einer der anderen laut und ich erschrak. "Das musst du dir anschauen."
Derjenige, der so vehement nach seinem Freund rief, drehte sich herum und ging zu dem anderen hinüber.
"Hier ist noch jemand auf der Insel."; hörte ich ihn sprechen.
"Sieht so aus.", pflichtete ihm der Captain bei. "Es sei denn, Monty hat Gefallen an Kokosnüssen gefunden." Er wandte sich erneut dem Dschungel zu und sah dabei genau in meine Richtung.
Die Kehle schnürte sich mir zusammen. Hätte ich doch bloß daran gedacht, die Schalen der Kokosnüsse zu vergraben. Selbstverständlich mussten die Fremden darauf stoßen.
Angestrengt dachte ich darüber nach, was ich tun sollte. Sie durften mich unter keinen Umständen finden und mit sich nehmen. Noch einmal konnte ich das, was ich bei den Piraten erlebt hatte, nicht durchstehen. Am besten wäre es gewesen, wenn die Raubkatze aufgetaucht wäre und diese Leute so richtig aufgemischt hätte. Das wäre die perfekte Ablenkung gewesen, damit ich mich unbemerkt tiefer in den Dschungel zurückziehen konnte und sie mich vielleicht, mit etwas Glück, darüber sogar ganz vergaßen. Zitternd vor Angst, Kälte und Erschöpfung musste ich einsehen, dass es keinen sicheren Weg gab, um mich aus dem Staub zu machen. Früher oder später würden sie mich definitiv entdecken.
Vor Panik verschlug es mir den Atem und ich fiel mit lautem Rascheln und Knacken hinten über. Viel zu langsam kam ich auf die Füße und rannte dann ohne nachzudenken Hals über Kopf tiefer in den Dschungel hinein. Ich sah dies als einzige Möglichkeit, um diesen Leuten doch noch aus dem Weg gehen zu können.
Ein großer Baum versperrte mir den Weg. Ich bog um ihn herum und rannte ungebremst gegen einen der Männer. Instinktiv griff dieser nach mir und packte mich an den Armen. Zwar bewahrte er mich damit vor einem Sturz auf den Boden, verwehrte mir aber damit auch die Möglichkeit, weiter weg zu laufen.
"Wie bist du denn hierher gekommen?", fragte der Mann und ich erkannte denjenigen, der Spencer ins Wasser gestoßen hatte. "Captain, hier drüben!", rief er dann so laut, dass ich mir sicher war, dass jeder ihn gehört haben musste.
Verzweifelt versuchte ich mich aus seinem Griff zu befreien, aber gegen seine rohe Kraft konnte ich nichts ausrichten. Weil ich nicht mehr weiter wusste, biss ich fest in seine Hand und hoffte, dass der Schmerz ihn dazu veranlasste, mich loszulassen.
"Argh", machte er jedoch nur und packte noch fester zu. "Lass das, Kind."
"Tyson", hörte ich die Stimme des Captains hinter mir und das Blut gefror mir in den Adern. "Was machst du denn da? Lass das Mädchen los!"
"Sie ist gegen mich gelaufen.", verteidigte sich Tyson. "Und jetzt versucht sie weg zu rennen."
"Natürlich will sie das.", schnaubte der Captain, während Tyson schon seinen Griff lockerte. "Sie hat Angst. Siehst du das denn nicht?"
Zwar war ich jetzt wieder frei, doch hatte ich den letzten Rest meiner Energie dafür verbraucht, um gegen Tyson anzukämpfen. Meine Beine versagten mir den Dienst. Ich schwankte gegen den Baum und kauerte mich an seinem Fuß kraftlos zusammen, unfähig, noch weiter vor diesen Leuten davon zu laufen.
Der Captain hockte sich lächelnd vor mich. "Du brauchst dich nicht vor uns zu fürchten.", sprach er ruhig und streckte eine Hand nach mir aus.
In blinder Panik griff ich nach einer Handvoll Erde und warf sie dem Mann, wie auch vergangene Nacht bei dem Raubtier, ins Gesicht.
Der Mann riss den Arm hoch, wodurch der meiste Dreck sein Ziel verfehlte. Gleichzeitig stöhnte Tyson: "Oh nein.", und das Gestrüpp hinter dem Captain begann zu beben. Aus den Schatten zwischen den Bäumen schien sich eine Gestalt zu formen und sprang schließlich direkt auf mich zu. Mit einem spitzen Schrei riss ich die Arme hoch und erwartete jeden Moment die scharfen Klauen der Raubkatze in meiner Haut zu spüren. Es war mir ein Rätsel, weshalb es dieses Tier auf mich abgesehen hatte, wo ihm doch der Captain den Rücken zugewandt hatte und daher die leichtere Beute darstellte.
"Monty, nein.", befahl der Mann vor mir scharf.
Mit wild pochendem Herzen wartete ich den Angriff ab, doch es geschah nichts. Allmählich ließ ich die Arme sinken und suchte nach der gefährlichen Bestie. Die Raubkatze stand mit gesenktem Kopf neben dem Captain, der noch immer eine Hand vor ihrem Kopf ausgestreckt hielt, um sie aufzuhalten. Sie behielt mich fest im Blick und zeigte mir dabei ihre langen Fangzähne. Ich drückte mich noch enger an den Stamm und wäre am liebsten mit ihm verschmolzen.
"Wie auch immer du es hier auf diese Insel geschafft hast,", begann der Captain dann noch einmal sanft, als wäre gerade nichts geschehen. "du kannst hier nicht bleiben. Bis zum Sonnenuntergang sind wir noch hier. Wenn du möchtest, kannst du mit uns kommen."
"Nicht noch ein Kind auf dem Schiff.", stöhnte Tyson und schlug sich die Hand vors Gesicht. "Wir sind doch kein Waisenhaus."
"Komm einfach zum Strand.", fuhr der Captain unbeirrt fort und lächelte mich dabei wohlwollend an. Nur die Raubkatze grollte noch immer. Doch der Mann stand auf und tätschelte unbeeindruckt den pelzigen Kopf. "Komm, Monty. Ich hoffe, du hast das Mädchen nicht zu sehr erschreckt."
Endlich begriff ich, wer Monty war, als die Raubkatze schon beinahe schnurrend ihren Kopf der Hand des Captains entgegen reckte. Dann machte sie einen Schritt zurück, bedachte mich noch einmal mit ihren durchdringenden Augen und verschwand dann erneut zwischen den dichten Blättern des Dschungels.
"Du bist herzlich eingeladen.", rief der Captain noch über seine Schulter, bevor er, zusammen mit Tyson, den Weg zurück zum Strand antrat.
Verunsichert blieb ich auf der Erde hocken und versuchte einzuordnen, was gerade geschehen war. So langsam dämmerte es mir, dass diese Leute überhaupt nicht zu der Mannschaft des Piratenschiffes gehörten, von dem ich erst vor ein paar Tagen geflohen war. Es war wirklich nur Zufall, dass sie gerade jetzt auf diese Insel kamen und waren überhaupt nicht auf der Suche nach mir.
Trotzdem blieb die Ungewissheit, ob sie mir in diesem Moment die Freundlichkeit nur vorspielten, um mich auf ihr Schiff zu locken. Wenn mir keine Fluchtmöglichkeiten mehr blieben, zeigten sie vielleicht ihre wahren Absichten und ich endete in genau derselben Lage wie bei den Piraten. Vertrauen war etwas, das sie mir auf dem Schiff ausgeprügelt hatten. Vielleicht würde mir das nun helfen, nicht auf die falschen Versprechungen dieser Leute herein zu fallen.
Nervös wog ich die Möglichkeiten ab und spürte jetzt, da die unmittelbare Gefahr vorbei war, die Kälte wieder deutlicher in meinen Knochen. Was hätte ich getan, um nun am Strand zu sein? Dort, wo die Hitze der prallen Sonne meine Kleidung trocknen und meinen durchgefrorenen Körper aufwärmen konnte. Doch wenn ich die Kälte gegen die Gefangenschaft stellte, zog ich es doch eher vor, zu frieren. Wohingegen die Leute sowieso schon wussten, dass ich hier war. Eventuell würde es mir gelingen, einen Platz am Strand zu finden, der außerhalb ihres Blickfeldes lag.
Minuten verstrichen, ohne dass einer der Männer zurückkam oder ich Monty erspähte. Zu träge, um zum Strand zu gehen oder mich weiter im Dschungel zu verkriechen, spürte ich die Müdigkeit, wie sie immer mehr Besitz von mir ergriff. Einen Augenblick schaffte ich es noch, mich gegen sie zu wehren, doch im nächsten fielen mir auch schon die Augen zu.
Mein Körper fühlte sich an, wie aus Blei gegossen, und schien sich tief in den Boden eingegraben zu haben. Der Hunger nagte an meinen Eingeweiden und ich sehnte mich danach, einen Schluck frisches Wasser zu trinken. Mit Verwunderung registrierte ich aber auch die Abwesenheit dieser durchdringenden Kälte.
Allmählich drangen auch Geräusche durch den dichten Schleier in meinem Kopf. Ich hörte das vertraute Rauschen des Meeres und etwas, das verdächtig nach dem Knistern eines Feuers klang.
Mein Herz schlug schneller, als die Erinnerung an die letzten Ereignisse wieder zurückkehrte. Schließlich zwang ich mich dazu, die Müdigkeit abzuschütteln und die Augen zu öffnen. Wenn ich etwas unternehmen wollte, um nicht in die Gewalt dieser Männer zu geraten, musste ich wach und bei klarem Verstand sein.
Das erste, das ich erblickte, war ein Lagerfeuer, das ganz in der Nähe munter loderte. Seine Hitze hüllte mich ein und hatte die Kälte, die der nächtliche Aufenthalt im Meer verursacht hatte, komplett vertrieben.
Dann erst entdeckte ich den Mann, der mir gegenüber auf der anderen Seite des Feuers saß und gedankenversunken mit einem Stock in den Flammen stocherte. Noch schien er nicht bemerkt zu haben, dass ich nicht länger schlief. Jedoch sah ich keine Chance zu entkommen, ohne dass er es mitbekommen würde.
Ein Wind kam auf und ich wappnete mich gegen die erneute Kälte, doch die blieb aus. Sie hatten eine Jacke über mich gebreitet, sodass ich vor dem rauen Seewind geschützt war. Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals und ein Funken Hoffnung regte sich unvermittelt in mir, den ich umgehend wieder zu ersticken suchte.
Langsam bewegte ich einzelne Körperteile und stellte überrascht fest, dass ich nicht gefesselt war. Nichts hinderte mich daran, einfach aufzustehen und zu gehen. Außer der Angst vor diesen Fremden. Ich konnte lediglich den einen am Feuer ausmachen. Aber wo waren die anderen vier? Entweder waren sie zu ihrem Schiff zurück gegangen oder sie versteckten sich hier irgendwo für den Fall, dass ich Probleme machen sollte. Sehr langsam bewegte ich meinen Kopf, um auch die restliche Umgebung in Augenschein zu nehmen.
"Du bist wach.", sagte der Mann mir gegenüber überrascht und ich erkannte die Stimme des Captains. Durch die Flammen hatte ich ihn nicht richtig sehen können. "Das freut mich. Ich hatte schon befürchtet, wir wären zu spät gekommen." Er wirkte ehrlich erleichtert.
Vorsichtig hob ich den Kopf und überlegte fieberhaft, was ich tun sollte. Den Überraschungsmoment hatte ich verloren. Wenn ich nun aufspringen und in den Dschungel rennen würde, hätte mich dieser Mann schon nach wenigen Metern wieder eingefangen. Ich versuchte tief durchzuatmen und alles richtig zu überdenken. Zwar war es mir gelungen, schnell trinkbares Wasser zu finden, aber wenn mit dieser dürftigen Quelle etwas passierte, würde ich definitiv ein Problem haben. Auch mit dem Essen würde es in wenigen Tagen schwierig werden. Wenn die Kokosnüsse zur Neige gingen, blieb mir keine andere Nahrungsquelle auf der Insel. Vielleicht würde es mir gelingen, eine Angel zu basteln, aber auf den Erfolg beim Fischen konnte ich mich nicht verlassen. Vielleicht war es ja doch besser, wenn ich mit diesen Leuten ging. Wenn es sein musste, konnte ich immer noch von Bord springen. Und wenn das nicht möglich wäre, könnte ich mir immer noch meinen Weg auf eine Weise erkämpfen, die sie bestimmt nicht erwarten würden.
"Was ist passiert?", fragte ich leise und setzte mich auf, wobei ich die Jacke fest hielt, damit sie mir nicht von den Schultern rutschte. Ich musste zugeben, dass ich die Wärme und Behaglichkeit, die sie spendete, genoss.
"Wir haben auf dich und den Sonnenuntergang gewartet, als Monty Alarm geschlagen und uns zu dir geführt hat. Wir fanden dich unter dem Baum, wo wir dich zurückgelassen hatten, bewusstlos und halb erfroren. Wir haben dich hier an den Strand gebracht, wo wir ein Feuer entfachen und dich wärmen konnten.", erklärte der Captain geduldig.
Für einen Moment überlegte ich, ob es nicht vielleicht sogar besser gewesen wäre, wenn ich einfach im Schlaf gestorben wäre. Zumindest wäre dann alles vorbei gewesen und ich brauchte mir keine Gedanken mehr machen, wie ich die nächsten Tage überleben sollte. Doch dann blitzte ein Bild von meinen Eltern und den Zwillingen vor meinem inneren Auge auf und die Sehnsucht, sie wiederzusehen, entflammte von neuem.
"Warum?", rutschte es mir heraus und ich schämte mich schon beinahe dafür.
"Warum?", wiederholte der Captain ungläubig und überlegte dann gespielt scharf, bevor er mich wieder wohlmeinend anlächelte. "Es wäre doch traurig, wenn ein so reizendes Mädchen wie du allein auf dieser Insel sterben würde."
Ich war mir nicht sicher, ob er mir nur etwas vormachte oder ob er wirklich so dachte, aber seine Worte berührten etwas in meinem Inneren.
"Wo sind die anderen?", fragte ich schnell, um nicht versehentlich mehr von mir preiszugeben, als ich wollte. Bis ich wusste, ob man diesen Leuten vertrauen konnte, musste ich alle meine Geheimnisse in mir verschlossen halten.
Grinsend zeigte der Captain mit dem Daumen über seine Schulter. "Die sind schon einmal zurück an Bord gegangen. Sie waren der Meinung, dass ich schon allein mit dir zurechtkommen würde.", scherzte er, ohne zu wissen, wie falsch er mit dieser Einschätzung lag. Er blickte hinüber auf das offene Meer und gab plötzlich einen erleichterten Laut von sich. "Endlich geht die Sonne unter. Dann können wir ja schon bald aufbrechen. Du kannst mein Angebot immer noch annehmen und mit uns kommen. Ich verspreche dir, dass dir nichts geschehen wird. Keines meiner Crewmitglieder würde es wagen, Hand an dich zu legen. Und wenn du möchtest, finden wir sicherlich auch eine Arbeit, bei der du uns helfen kannst, sollte dir die Zeit mit uns zu lang werden."
Noch konnte ich mich zu keiner Antwort durchringen, so verlockend dieses Angebot auch war. Zu deutlich standen mir die Geschehnisse der Vergangenheit noch vor Augen, als dass ich einfach so hätte zustimmen können. Ich suchte nach einer Antwort, die diesen Mann nicht verärgern würde, als er auch schon fortfuhr.
"Aber wenn du es vorziehen würdest, hier auf dieser kleinen Insel zu bleiben, dann werden wir dich mit einigen Vorräten versorgen. Wir kommen sowieso alle paar Wochen hier vorbei und würden dann schauen, wie es dir geht. Es ist also voll und ganz deine Entscheidung, ob du mit uns ziehen oder hier bleiben möchtest."
Das machte mir die Entscheidung nicht gerade einfacher. Unschlüssig biss ich mir auf die Lippe und versuchte abzuwägen, was die klügere Alternative war. Der Captain wartete geduldig auf meine Antwort und versuchte nicht, mich zu irgendetwas zu drängen. Er blieb lediglich am Feuer sitzen und stocherte in den Flammen herum, bis die Sonne schließlich ganz hinter dem Horizont versunken war.
Ich hörte ein leises Rascheln und drehte mich nach dem Dschungel um. Das Licht des Feuers spiegelte sich auf den feuchten Blättern und ließ das grüne Dickicht wunderschön glitzern. Doch dann schälte sich aus der Dunkelheit die schwarze Silhouette der Raubkatze und ich sprang auf.
"Es ist alles in Ordnung.", beschwor mich der Captain und erhob sich ebenfalls träge von seinem Platz. "Das ist nur Monty."
Monty, die Raubkatze, schritt langsam mit gesenktem Kopf heran. Egal, was dieser Mann gerade gesagt hatte, ich bekam es bei diesem Anblick trotzdem mit der Angst zu tun und bewegte mich langsam in Richtung Wasser.
"Du brauchst dich wirklich nicht vor ihm zu fürchten."
Nach der letzten Nacht war ich da anderer Ansicht. Schließlich hatte ich selbst erlebt, wie es war, wenn dieses Tier jemanden als Abendessen auserkoren hatte. Die ersten nassen Ausläufer des Strandes hatte ich schon beinahe erreicht, ohne die riesige schwarze Katze aus den Augen gelassen zu haben.
Eindeutig verwirrt blickte der Captain zwischen mir und Monty hin und her. "Warst du etwa deswegen so nass und verfroren, weil du dich im Meer vor Monty versteckt hast?", hakte der Captain nach und ich nickte mit trockenem Mund. "Die gesamte Nacht?" Ich nickte noch einmal.
Vielleicht hatte ich Glück und das Tier würde sich als erstes auf diesen Mann stürzen. Schließlich war er viel unaufmerksamer als ich und würde sich bei einem Angriff viel leichter überrumpeln lassen.
"Monty", schalt er die Raubkatze, als wäre sie ein kleines Kind. Dabei stellte er sich dem Tier so in den Weg, dass es stehen blieb. "Wieso machst du dem Mädchen denn so eine Angst?" Dann drehte er sich wieder mir zu. "Monty wollte dir ganz bestimmt nichts antun. Wenn dem so wäre, dann hättest du die Nacht nicht überlebt.", erklärte der Captain, als könnte es mich beruhigen. "Du musst wissen, Monty ist eine Schattenkatze. Er ernährt sich ausschließlich von den schlechten Träumen der Menschen. Er würde niemals auf die Jagd nach lebendiger Beute gehen."
Unbeeindruckt lief die Schattenkatze an dem Captain vorbei und kam direkt auf mich zu. Wie angewurzelt blieb ich stehen und hielt sogar den Atem an, als sie an mir schnüffelte und dann ihren großen Kopf an mir rieb. Während mir die Haare zu Berge standen, schien sich der Captain köstlich zu amüsieren. Er grinste mich breit und zufrieden an.
Nur langsam und sehr behutsam löste ich mich aus meiner Erstarrung und strich dem großen Tier sachte über den pelzigen Rücken. Es war seltsam. Ich hatte ein weiches und warmes Fell erwartet, doch stattdessen war es, als griffe ich in einen kalten Nebelschwaden. Zwar spürte ich den muskulösen Körper unter meinen Fingern, aber irgendwie erschien es mir, als könnte sich die Schattenkatze jeden Moment in Luft auflösen. Und wenn man davon ausging, dass Vögel und Insekten nicht unter Albträumen litten, dann war ich wirklich die einzige Nahrungsquelle für diese Kreatur hier auf dieser Insel gewesen.
"Sehr schön.", sagte der Captain dann immer noch grinsend. "Nun, da ihr endlich Frieden geschlossen habt, können wir aufbrechen. Soll heißen, wenn du dich dafür entschieden hast, mit uns zu kommen. Ich glaube, Monty hätte nichts dagegen einzuwenden."
Ich strich Monty noch einmal gedankenverloren durch sein merkwürdiges Fell und nickte dann bedächtig. Es war vielleicht doch nicht die beste Idee, ganz allein auf dieser Insel zu bleiben. Auch wenn sie mir Vorräte da ließen, würde ich doch bald wieder in der gleichen Situation sein wie jetzt. Auch wäre es möglich, dass die nächsten Menschen, die hier vorbeikamen, nicht so geduldig und einfühlsam wären wie diese Leute. Ganz zu schweigen davon, wenn die Piraten mich hier finden sollten. Langsam nickte ich.
"Sehr schön.", rief der Captain noch einmal laut und klatschte dabei in die Hände. Erschrocken zuckte ich zusammen, doch Monty ließ sich nichts anmerken. "Dann lass uns gehen. Wir sind schon viel zu lange an diesem Ort."
Er schaufelte Sand auf die Flammen, welche rasch erstickten und nur eine schmale Rauchsäule zurück ließen. Dann kam er herüber zu mir und ich wich automatisch vor ihm zurück. Das geschah, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Mir war klar, dass der Mann es mitbekommen haben musste und ich hoffte, dass diese Reaktion ihn nicht verärgert hatte und er seine Meinung hinsichtlich meiner Mitnahme noch einmal änderte. Doch er überraschte mich, indem er einfach stehen blieb und mich wohlwollend anblickte.
"Dir scheinen schlimme Dinge zugestoßen zu sein.", sprach er sanft. "Du musst es mir nicht erzählen. Ich möchte nur, dass du weißt, dass dir bei uns wirklich nichts geschehen wird. Du bist bei uns absolut sicher." Seine Worte wirkten so beruhigend, dass ich einen kleinen Schritt auf ihn zu tat.
Der Captain hob die Jacke auf, die ich bei meinem plötzlichen Aufspringen verloren hatte und gemeinsam gingen wir hinüber zu dem kleinen Boot, das ruhig im Meer auf den Wellen schaukelte.
Monty und ich blieben auf dem Trockenen stehen, während der Captain ins Wasser hinaus stapfte und das Boot näher heran zog. Es grub sich in den nassen Sand und es war beinahe möglich einzusteigen, ohne sich die Füße nass machen zu müssen.
"Komm rein, Monty.", rief der Mann über seine Schulter hinweg.
Ich sah mich nach der großen Katze um, die einige Meter zurück gegangen war und eindeutig missmutig auf das kleine Boot schaute.
"Du kannst doch einfach springen. Es ist wirklich nicht weit weg.", versuchte er, das Tier weiter zu überreden, konnte es aber nicht umstimmen. Monty gab nur einen gequälten Laut von sich und blieb an Ort und Stelle stehen.
"Was ist denn los?", wagte ich leise zu fragen.
"Schattenkatzen verabscheuen Wasser. Ihre Körper können in ihm nicht bestehen.", erklärte er, doch ich verstand es nicht wirklich. "Deswegen stellt Monty sich auch so an, über das bisschen Wasser zu steigen."
Das erklärte zumindest, warum ich letzte Nacht im Meer sicher gewesen war. Auch wenn ich hätte nicht komplett eintauchen müssen.
"Als du vor ein paar Tagen heimlich mit uns gekommen bist, hast du dich doch auch getraut aus dem Boot an Land zu springen." Leicht genervt strich er sich mit den Fingern über die Augen und seufzte laut auf. "Okay", sagte er schließlich. "Wenn du willst, kann ich dich auch durch dieses seichte Wasser tragen, du gefährliche Schattenkatze."
Monty murrte missgelaunt und fauchte die nassen Hosenbeine des Captains an, als er zu ihm herüber kam und ihn auf seine Arme hob. Mit langen Schritten ging der Captain auf das Boot zu und je näher er dem Wasser kam, desto ungehaltener wurde Monty. Er versuchte auf die Schultern des Captains zu klettern, um so mehr Abstand zwischen sich und dem Wasser zu bekommen und beklagte sich dabei lautstark.
"Jetzt hör schon auf, so ein Theater zu machen. Das Mädchen denkt schließlich, dass du eine gefährliche Bestie bist."
In der Tat kam es mir inzwischen lächerlich vor, dass ich in der letzten Nacht eine so große Furcht vor diesem Tier verspürt hatte. Auch wenn ich die Schattenkatze erst seit ein paar Minuten richtig kannte, so war sie mir doch schon ans Herz gewachsen. Ein warmes Gefühl der Zugehörigkeit breitete sich in meiner Brust aus und ich erschrak darüber. Es war noch viel zu zeitig, um diesen Fremden zu vertrauen. Zu weh würde es tun, wenn ich mich abermals in einer Hölle wiederfand.
Ich sah dabei zu, wie die beiden das Boot endlich erreichten und Monty in das Boot sprang. Sogleich rollte er sich unter einer der Sitzbänke zusammen und man konnte ihn nur noch leise grummeln hören.
"Brauchst du auch Hilfe?", fragte der Mann und hielt mir einladend seine Hand hin.
"Warum?", fragte ich kaum hörbar und starrte auf den nassen Sand vor meinen Füßen.
"Damit du nicht wieder nass wirst.", antwortete er pragmatisch. "Ich glaube nicht, dass es sonderlich gesund für dich wäre, wenn du heute noch einmal so durchweicht wirst."
Ich schüttelte den Kopf und traute mich noch immer nicht, dem Captain ins Gesicht zu schauen. "Warum habt ihr mich nicht gleich auf das Schiff gebracht, als ich bewusstlos war?" Als ich wehrlos war, huschte es mir durch den Kopf.
"Wieso sollten meine Crew oder ich das Recht haben zu bestimmen, wo du dich aufhältst?", fragte er im Gegenzug und ich sah dann doch zu ihm herüber. "Es sollte schon dein eigener Wille und deine eigene Entscheidung sein, wo du hin gehst. Alles andere wäre nicht richtig. Wie gesagt, ich zwinge dich nicht mit uns zu kommen, wenn du es nicht aus eigenen Stücken möchtest. Aber du würdest Monty und mir wirklich eine Freude machen, wenn wir uns um dich keine Sorgen machen bräuchten."
Mit dem Kloß in meinem Hals fiel es mir schwer zu antworten, also watete ich ebenfalls zu dem Boot hinaus, griff nach kurzem Zögern nach seiner Hand und ließ mir hinein helfen. Vorsichtig setzte ich mich auf die zweite Sitzbank und es dauerte kaum eine Sekunde, da war Monty auch schon unter meinen Sitz gehuscht. Er legte seinen Kopf auf meinen Schoß und als ich ihn kraulte, begann er leise zu schnurren. Anscheinend konnte er so das Wasser um ihn herum komplett vergessen.
"Dann sind ja alle an Bord.", sagte der Captain erfreut, schob das Boot aus dem Sand, sprang ebenfalls hinein und besprenkelte Monty und mich mit Meerwasser. Die Schattenkatze fauchte empört und zeigte dem Captain die Zähne. "Entschuldige, alter Freund."
Monty murrte und ließ sich dann weiter von mir den Kopf streicheln.
Entschlossen griff der Mann nach den Rudern und brachte uns näher an das Schiff heran, das nach wie vor einige Meter weiter draußen auf die Rückkehr seines Captains wartete.
Auf der unruhigen Fahrt spritzte immer wieder Wasser in das Boot. So gut es ging, versuchte ich Monty davor abzuschirmen, was er mit einem Schnurren quittierte und sich weiter an meiner Hand rieb.
"Monty scheint dich ja wirklich zu mögen.", bemerkte der Captain. "Normalerweise ist er nicht so vertrauensselig bei Fremden."
Verlegen zuckte ich mit den Schultern. Zwar war es mir auch ein Rätsel, weshalb dieses Tier gerade meine Nähe suchte, aber ich genoss es auch. Wenn alles schief ging, hätte ich wenigstens einen Verbündeten.
"Bestimmt rieche ich nur lecker.", sagte ich, bevor mir wieder einfiel, dass Monty kein Fleisch fraß.
Der Captain lachte auf. "Vielleicht", pflichtete er mir bei. "Wie kann ich dich eigentlich den anderen vorstellen?", fragte er dann plötzlich und ich horchte auf. Seitdem ich von Zuhause weg war, hatte sich noch niemand für meinen Namen interessiert. "Schließlich müssen sie dich doch irgendwie ansprechen können. Und glaube mir, wenn ich dir sage, dass du gewiss nicht möchtest, dass sie sich einen Spitznamen für dich ausdenken. Ich heiße übrigens Ragnar. Ich bin der Captain dieses Schiffes."
Ich nickte. "Das weiß ich schon. Die anderen haben dich Captain genannt.", erklärte ich und überlegte aufgeregt, ob ich ihm meinen richtigen Namen verraten sollte. Falls meine Familie nach mir suchte, dann hätten sie mich unter meinem wahren Namen in der Öffentlichkeit bekannt gemacht. Mit viel Glück hatte sogar eines der Crewmitglieder von dem vermissten Kind gehört und konnte mir dabei helfen, zurück nach Hause zu kommen. Aber wenn ich Pech hatte, suchten mich auch die Piraten überall und diese Leute würden mich aus Furcht oder Geldgier an sie ausliefern. Der Piratenkapitän hatte sicherlich eine stattliche Summe für mich bezahlt und ich wusste, dass er mich nicht so einfach von der Liste seiner Besitztümer streichen würde. Noch dazu, wo ich so nützlich für ihn war. Jedoch war ich mir keineswegs sicher, ob er überhaupt meinen Namen kannte.
Ich biss mir auf die Lippe, während ich überlegte, was die klügere Entscheidung war. Durch Ragnars Freundlichkeit und Montys Zutrauen hatte ich schon ein bisschen Vertrauen in diese Fremden gefasst, doch ich wusste nur allzu gut, wie die Menschen waren, wenn sie Aussichten auf Reichtümer hatten.
Schließlich schluckte ich schwer, als ich mich doch für die Möglichkeit entschied, die mehr Hoffnung als Verzweiflung barg.
"Juna. Ich heiße Juna."
"Ein schöner Name.", sagte Ragnar und grinste breit. "Er passt zu dir. Lass dich von meinen Leuten bloß nicht unterkriegen. Sie sind ein ziemlich rauer Haufen, doch jeder für sich hat durchaus auch seine guten Seiten."
Ich nickte verlegen und versuchte zu verdrängen, dass ich gleich einer Vielzahl an Leuten vorgestellt werden würde. Schon jetzt fühlte ich mich wie ein Haustier, das alle begaffen und Witze über es reißen würden. Es graute mir davor, doch ich konnte diese Begegnung auch nicht vermeiden. Jedoch erschien mir die Option, einfach ins Wasser zu springen und zurück zur Insel zu schwimmen, gerade sehr verlockend.
"Wir sind da.", sagte Ragnar und im nächsten Augenblick stießen wir auch schon mit einem leisen Pochen an die Seite des Schiffes an.
Von hier aus sah das Schiff wie ein riesiges Felsmassiv aus, das hoch aus dem Meer empor ragte. Es wirkte uneinnehmbar. Selbst Montys Krallen würden diese steile Wand nicht erklimmen können, geschweige denn ich.
"Hey, Leute.", rief der Captain laut und ich richtete meinen Blick hinauf, dorthin, wo ich die Reling vermutete.
Ein Lichtstrahl erschien in der Dunkelheit der Nacht hoch über uns. Jemand lehnte sich über das Holz und rief seinerseits nach unten: "Wir dachten schon, du wärst dort drüben eingeschlafen und wir müssten dich holen kommen, Captain."
"Als ob mir so etwas passieren könnte.", rief er mit einem unüberhörbaren Schalk in der Stimme zurück und an Bord brach lautes Gelächter aus.
Das Herz schlug mir inzwischen bis zum Hals. Ich biss mir auf die Lippe und versuchte, die Nervosität zu vertreiben. Ich hatte es noch nie gemocht, im Mittelpunkt zu stehen und nach den letzten Wochen war es mir wesentlich lieber, wenn man mich ignorierte. Aber wenn ich diese Angst nicht bald in den Griff bekam, würde etwas geschehen, das Ragnar definitiv davon abbringen würde, mich mitzunehmen. Krampfhaft zwang ich meine Gedanken in eine andere Richtung, aber die Panik wurde nur noch größer. Und im nächsten Augenblick war auch schon alles zu spät. Ich spürte bereits die Hitze in meinem Nacken und glaubte es auch im Holz des Bootes leise knacken zu hören. Es war unmöglich, etwas dagegen zu tun. Als meine Hände begannen zu beben, blickte Monty mit aufgestellten Ohren zu mir auf und kam dann unter der Bank hervor gekrochen.
"Stimmt etwas nicht?", fragte der Captain, doch ich konnte ihm im Augenblick keine Aufmerksamkeit schenken. Ich starrte nur auf meine zitternden Hände und wünschte mir sehnlichst, dass es wieder aufhören würde. Dass die letzten Wochen einfach nicht geschehen wären und ich nach wie vor mein altes und langweiliges Leben hätte.
Die ersten Flämmchen schlugen um mich herum aus dem Holz und ich erschrak darüber. Es gab keine Möglichkeit, dass Ragnar das nicht bemerken würde. Doch wie würde er reagieren? Entweder er war entsetzt und geschockt und würde mich gleich aus dem Boot werfen, um sein Schiff, seine Mannschaft und letzten Endes auch sich selbst in Sicherheit zu bringen. Oder er würde mich sofort gefangen nehmen und genauso ausnutzen, wie der letzte Pirat, dem ich in die Finger gekommen war. Beide Alternativen waren gleichsam schrecklich und fachten das Feuer um mich herum nur noch mehr an. Vielleicht war es wirklich das Beste, von selbst die Flucht anzutreten und diesen Leuten den Rücken zuzukehren. Schließlich hatte sich Monty schon von mir zurückgezogen und es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis der Captain sich gefasst und die Lage für sich eingeordnet hatte. Aber auch er würde mich auf die eine oder andere Weise von sich stoßen. Dem war ich mir absolut sicher.
Ich hörte Ragnars schwere Schritte, wie sie vorsichtig über das wackelige Boot zu mir herüber kamen. Verängstigt schloss ich die Augen, da ich nicht sehen wollte, was jetzt geschah. Denn egal, was es sein mochte, es würde mich in meinen Alpträumen verfolgen. Außerdem konnte ich die Worte, die er sagen würde, schon in meinem Kopf hören, ohne dass er sie aussprechen musste. Missgeburt … Monster … Waffe …
Ragnar nahm meine Hände. In diesem Moment rauschte das Blut so laut in meinen Ohren, dass ich außerstande war, etwas anderes zu vernehmen. Hinter meinen geschlossenen Lidern konnte ich auch nur den hellen Schein der Flammen sehen. Doch dann geschah etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ragnar zog mich ohne Vorwarnung auf die Füße und schloss mich in seine Arme.
Diese Geste warf mich so aus der Bahn, dass ich meine Ängste für einen Moment vergaß. Mein Körper entspannte sich augenblicklich und mein Herz nahm einen langsameren Rhythmus auf. Allmählich kehrte die Dunkelheit zurück in das kleine Boot.
"Du hast sicherlich eine schwere Zeit hinter dir. Es tut mir leid.", sagte Ragnar leise und beruhigend, während ich nur regungslos abwartete. "Sei dir gewiss, dass du immer willkommen sein wirst auf meinem Schiff. Niemand wird dir mehr ein Leid zufügen. Darauf gebe ich dir mein Wort.", versprach er. Monty schmiegte sich an meine Beine und rieb seinen Kopf an meinem Oberschenkel.
Ich schluckte schwer und nickte dann zaghaft, während ich verzweifelt versuchte, die Tränen im Zaum zu halten. In diesem Moment fühlte ich mich so behütet wie noch nie in meinem Leben. Selbst daheim, bei meiner Familie, hatte ich nie dieses Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit erlebt. Es war beinahe so, als wäre ich endlich wirklich Zuhause angekommen.
"Meinst du, du schaffst es jetzt, an Bord zu gehen?", fragte Ragnar vorsichtig.
Ich atmete noch einmal tief durch und nickte dann.
Er griff nach etwas in der Dunkelheit und hielt es mir hin. "Schaffst du es da hoch?"
Es dauerte etwas, bis ich die dünne Strickleiter in der Schwärze der Nacht erkennen konnte. Noch nicht in der Lage zu sprechen, zuckte ich nur mit den Schultern.
"Mach dir keine Sorgen. Du gehst am besten voraus und wenn du abrutschen solltest, fange ich dich auf."
"Was ist mit Monty?", fragte ich mit zittriger Stimme. Es erschien mir unmöglich, dass es die Schattenkatze ebenfalls die Strickleiter hinauf schaffen sollte.
"Der kommt schon zurecht. Wir holen ihn gleich nach."
Ich setzte einen Fuß auf die Strickleiter und zog mich mit viel Anstrengung die ersten Sprossen hoch. Die Seile wanden und drehten sich, ohne dass ich irgendeine Kontrolle über sie ausüben konnte. Bereits nach vier oder fünf Sprossen begannen meine Arme und Beine von der ungewohnten Belastung nach den vorangegangenen Entbehrungen zu zittern. Das obere Ende der Strickleiter lag für mich in einer unerreichbaren Entfernung.
"Das wird so nichts.", erkannte auch Ragnar schnell und hielt die Strickleiter mit beiden Händen fest, damit ich einen festen Stand finden konnte. "Hey, Leute.", rief er dann über mich hinweg. "Zieht die Strickleiter ein." Dann wandte er sich wieder mir zu. "Du brauchst dich einfach nur festzuhalten, okay?"
Ich nickte und umklammerte die Seile noch fester. Es gab einen Ruck, gefolgt von einem lauten Stöhnen, das von Deck kam.
"Bist du jetzt etwa zu faul geworden, um selbst herauf zu klettern?", meckerte jemand, zog aber stetig die Strickleiter weiter aufwärts. Ich sah zu, wie Ragnar die Sache vom Boot aus beobachtete und scheinbar über diese Frage lächelte.
"Ich werde eben alt.", erwiderte er nur grinsend, worauf es an Deck erneut lachte.
Langsam kam ich der Reling immer näher. Meine Gliedmaßen schmerzten, da ich versuchte, mich so steif wie möglich zu machen, damit die Strickleiter nicht erneut ein Eigenleben entwickelte.
"Ich hatte ja gedacht, du wärst schwerer.", hörte ich jemanden sagen, als ich beinahe oben angekommen war. Dann stockte die Leiter und jemand streckte seinen Kopf aus, um daran hinab zu blicken. "Hä, wer bist du denn?", fragte der Mann verwirrt, griff aber nach unten, packte mich am Arm und zog mich den letzten Meter auf das Deck des Schiffes.
Kaum, dass meine Füße festen Grund berührten, gaben meine Beine nach und ich sackte auf den Holzbohlen zusammen. Offenkundig verwundert warf der Mann einen weiteren Blick über die Reling.
"Hast du noch mehr Überraschungen dort unten?", rief er hinab.
"Leider nicht.", tönte die leise Stimme des Captains herauf. "Lass mir zwei Seile runter, damit wir das Boot einholen können."
Der Mann warf zwei Seile über die Reling, welche laut gegen die Wand des Schiffes klatschten. Nur kurz darauf erklang das Quietschen von alten Laufrädern. Auf dem Boden kauernd sah ich zu, wie Ragnar zusammen mit Monty und dem Boot auf Höhe des Decks gezogen wurden. Beide sprangen elegant heraus, bevor sie das Boot herüber auf das Schiff wuchteten.
"Was hast du denn mit dem Boot gemacht?", rief der Mann entsetzt und besah sich die Beschädigungen näher.
Der Captain zuckte mit den Schultern. "Es war kalt.", sagte er unschuldig. "Da dachte ich mir, es wäre eine gute Idee ein Feuer zu entfachen."
"Auf einem Boot? Das noch dazu auf dem Ozean schwimmt?", schrie der Mann ungläubig zurück. "Jetzt verlierst du wohl komplett den Verstand?"
Der Captain lachte nur darüber, während ich fassungslos darauf wartete, dass er die Sache richtig darstellte. Stattdessen ließ er den Ärger und Spott des anderen über sich ergehen. Etwas, das er wahrscheinlich nur tat, damit ich nicht gleich von Anfang an von allen schief angesehen und verurteilt wurde. Tief im Inneren war ich ihm unglaublich dankbar dafür.
"Konntest du dich doch dazu durchringen, mit uns zu kommen?", sagte jemand plötzlich hinter mir. Ich erkannte Tyson in dem rauen Klang schnell wieder.
Ängstlich drehte ich mich herum und erwartete in eine grimmige Miene zu blicken. Schließlich schien er auf der Insel nicht gerade begeistert gewesen zu sein über die Vorstellung, ein Kind an Bord zu haben. Doch auch er grinste mich breit und zufrieden an.