Borderline: Tanz auf dem Vulkan - Ira Hofer - E-Book

Borderline: Tanz auf dem Vulkan E-Book

Ira Hofer

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Beschreibung

Das Buch richtet sich an Familienmitglieder, Freunde oder Bezugspersonen von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Diese stehen den starken Gefühlsausbrüchen, Stimmungsschwankungen und dem Problemverhalten oft ratlos gegenüber. Wohlmeinende Hilfsangebote verschärfen häufig noch die Situation. Da die Autorin selbst Therapeutin aber auch Betroffene ist, gelingt es ihr, die notwendigen Hintergrundinformationen zu der Entstehung und den Krankheitsmechanismen zu geben und auch das Erleben des Betroffenen zu verdeutlichen. Anhand von realen Beispielen werden typische Situationen aus dem Alltag betroffener Familien beleuchtet und konstruktive Möglichkeiten des Umgangs aufgezeigt. Das Buch wurde vor der Veröffentlichung von Therapeuten, Betroffenen und Angehörigen auf fachliche Richtigkeit und Alltagstauglichkeit geprüft.

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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www.tredition.de

Ira Hofer

Borderline: Tanz auf dem Vulkan

Hilfe für Angehörige von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeit

www.tredition.de

© 2016 Ira Hofer

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7345-1177-6

e-Book:

978-3-7345-1178-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Marsha Linehan und die von Ihr entwickelte dialektisch behaviorale Therapie

Wie ist ein Mensch mit Borderline-Persönlichkeitsstörung?

Wenn bei Ihrem Kind eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde

Warum sind Bordis so, wie sie sind?

Validierung – Invalidierung

Negative Glaubenssätze

Es ist wieder einer von diesen Tagen

Ganz schön spannend

Spannung einschätzen

Selbstverletzendes Verhalten – das ist doch dieses Ritzen, oder?

Dissoziation

Skills – ach ja, die Gummibänder am Handgelenk

Skillssammlung

Wenn ich ahne oder weiß, dass mein Angehöriger sich selbst verletzt

Trauma und PTBS

Sind Borderliner manipulativ?

Selbstbild

Weißt du, wie es sich anfühlt?

Verlässlichkeit

Hilfe – bald ist Weihnachten

Warum kommst du nicht alleine aus dieser miesen Stimmung raus?

Wie geht man am Besten mit der Ursprungsfamilie um?

Stichwörter

Am Ende wird alles gut - und wenn noch nicht alles gut ist, ist noch nicht Ende!

Vorwort

Als leidgeprüfter Angehöriger wünschte sich mein Mann endlich mal einen Ratgeber für Angehörige von Menschen mit einer Borderline - Persönlichkeitsstörung. Wie schon bei meinem ersten Buch „Der Klapsencoach“ hat auch hier schon das Schreiben des Buches mir und meiner Familie vieles klargemacht. Damit das Buch auch wirklich alltagstauglich ist, habe ich es verschiedenen Borderline Familien aus meinem Bekanntenkreis zum Vorablesen gegeben. Manches Mal fragten die Betroffenen, ob ich eine Kamera bei ihnen zu Hause angebracht hätte. So bekannt kamen ihnen die einzelnen Kapitel vor. Die Angehörigen haben alle das Buch sehr begrüßt. Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als wenn man seinen Lieben leiden sieht und nicht helfen kann. So empfanden Sie das Buch als Hoffnungsschimmer.

Im Buch verwende ich die Bezeichnungen: Borderliner, Mensch mit Borderlinestörung, Mensch mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, Bordi, Betroffener gleichwertig. Ich unterscheide die verschiedenen Begriffe nicht inhaltlich. Ebenso ist es für den Inhalt egal, ob ich die männliche oder weibliche Form verwende. Es sind natürlich immer Männer und Frauen mit BPS gemeint.

Dieses Buch ist entstanden aus den Erfahrungen von Betroffenen und Angehörigen. Es ist kein wissenschaftliches Lehrbuch!

Egal, in welchem Verhältnis Sie zu dem Borderliner stehen, ob verwandt oder befreundet, in diesem Buch spreche Ich Sie als Angehörigen an. Der Betroffene ist immer noch der Gleiche: ob er nun die Diagnose Borderline hat oder nicht! Und Sie sind sein Angehöriger und nicht sein Therapeut.

Manche Hinweise und Erklärungen kommen innerhalb des Buches mehrfach vor. Damit haben Sie die Möglichkeit, bei dem Kapitel einzusteigen, das für Sie gerade aktuell ist. Fachausdrücke können Sie hinten im Stichwortverzeichnis nachschlagen.

Mein besonderer Dank gilt meinem Mann, der Initiator, Lektor, Tester und Unterstützer dieses Buches, aber ganz besonders mein persönlicher Unterstützer in allen Lebenslagen ist. Und natürlich auch meinen erwachsenen Kindern: Danke für eure Geduld und konstruktive Kritik.

Ebenso bedanke ich mich bei allen Freunden und Bekannten, die bereit waren, das Skript auf Herz und Nieren zu prüfen.

Dankbar bin ich natürlich auch meinen Therapeuten, Ärzten und anderen Mitarbeitern im ambulanten und stationären Bereich für ihre Unterstützung. Sie haben mich auch in Situationen ertragen müssen, in denen ich nicht ganz ich selbst war. Sorry!

Marsha Linehan und die von Ihr entwickelte dialektisch behaviorale Therapie

Marsha M. Linehan (* 5.Mai 1943) wuchs in Tulsa,Oklahoma, als drittes von sechs Kindern eines Ölarbeiters auf. Sie war eine gute Schülerin und spielte sehr gut Klavier. Weil sie sich mit 17 Jahren selbst verletzte, wurde sie Patientin der Psychiatrischen Klinik in Hartford. Dort erhielt sie die (Fehl-)Diagnose Schizophrenie und wurde 26 Monate mit Psychopharmaka, Psychoanalyse und Elektrokrampftherapie behandelt.

Sie arbeitete vorübergehend als Angestellte einer Versicherungsgesellschaft und nahm an Abendkursen der Universität Chicago teil, wo sie 1971 in Psychologie promovierte. Danach arbeitete sie zunächst mit suizidalen Patienten in einer Klinik in Buffalo und machte ab 1972 eine Ausbildung in Verhaltenstherapie.

1977 wechselte sie an die Universität in Seattle. Seit 1989 ist sie dort Professorin für Psychologie.

In ihren verhaltenstherapeutischen Forschungen konzentriert sie sich auf das Thema „Therapie suizidaler Borderline-Patientinnen“ und hat ein Behandlungskonzept vorgestellt, dass allen anderen Therapien bei der Bordeline-Persönlichkeitsstörung (BPS) überlegen ist. Von der Verhaltenstherapie ausgehend, hat Linehan die Dialektisch - Behaviorale Therapie (DBT) entwickelt, ein Therapiekonzept, zu dem insbesondere die Beziehungsarbeit in Einzelsitzungen und das Training innerhalb einer Gruppe gehören. Eine spezielle Anpassung für Jugendliche nennt sich Dialektisch - Behaviorale Therapie für Adoleszente (DBT-A).(1)

Marsha Linehan hat also am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet an einer BPS zu leiden und als Therapeutin musste sie die Hilflosigkeit in der Behandlung von BPS miterleben.

Es gelang ihr, Elemente verschiedener Therapien neu zu kombinieren und so die bisher wirksamste Therapie für Patienten mit BPS zu kreieren.

Ihre eigene Betroffenheit hat ihr sicherlich geholfen, die Erkrankung besser zu verstehen und anderen nahe zu bringen.

So erklärte sie z.B.: „Borderline-Persönlichkeiten sind das psychologische Äquivalent zu Patienten mit Verbrennungen dritten Grades. Sie haben sozusagen keine emotionale Haut. Selbst die leichteste Berührung oder Bewegung kann enormes Leid auslösen.“(2)

Aufgrund Ihrer Erfahrungen und Beobachtungen stellte Marsha Linehan Grundannahmen auf, die sehr hilfreich und wichtig sind, für alle, die mit Borderlinern Kontakt haben. Sei es beruflich oder im privaten Bereich.

Grundannahmen

Die Patienten geben sich wirklich Mühe.

Die Patienten wollen sich verändern.

Die Patienten müssen sich stärker anstrengen und härter arbeiten, um sich zu verändern.

Die Patienten haben ihre Schwierigkeiten nicht alle selbst verursacht, aber müssen sie selber lösen.

Das Leben suizidaler Borderline – Patienten ist so, wie es gegenwärtig gelebt wird, nicht auszuhalten.

Die Patienten müssen neues Verhalten in allen relevanten Lebensbereichen erlernen.

Die Patienten können in der Therapie nicht versagen.

Therapeuten, die Borderline – Patientinnen behandeln, brauchen Unterstützung.

Diese Grundannahmen sind also nicht aus der Luft gegriffen! Auch wenn es Ihnen manchmal so vorkommt: Wir Borderliner wollen niemanden ärgern. Wir können oft nicht anders. Und besonders schlimm empfinde ich, dass man als BPS Betroffener gerade den Menschen, die man liebt, großen Kummer bereitet.

Quellen

1.: Wikipedia 31.1.2016, „Marsha Linehan“

2.: John Cloud:“Minds on the Edge“, in: time, 19.Januar 2009, S. 42 – 46

Wie ist ein Mensch mit Borderline-Persönlichkeitsstörung?

Die erste Assoziation ist meistens: das sind doch die Verrückten, die sich immer ritzen!

Diese Aussage ist ungefähr so richtig, wie die Aussage: alle Blumen sind gelb. Ja, sehr viele Blumen sind gelb, aber längst nicht alle! Die Gemeinsamkeit von Blumen liegt aber woanders. Genauso gibt es Menschen mit einer Borderlinestörung, die sich ritzen, aber das tun nicht alle und die Kriterien für diese Störung sind andere.

Die Borderliner-Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet von emotionaler Instabilität. Das heißt, dass Borderliner das ganze Spektrum an Emotionen und insbesondere die negativen Emotionen, viel stärker erleben und viel länger brauchen, um wieder zur Normal Null zurückzukehren als Normalos. Dafür kommt die nächste Welle viel schneller, als bei nicht Betroffenen. Dazu kommen dann noch unerträgliche Spannungszustände.

(3)

Typisch bei einer BPS ist auch das – schwarz – weiß – Denken. Zwischenstufen gibt es nicht. Das kommt sehr schön bei dem Symbol der DBT Station der LWL Klinik Hemer heraus.

Das Symbol der DBT Station in Hemer ähnelt dem Ying und Yang Zeichen. Es besteht aus einem Kreis, mit etwa gleichgroßen schwarzen und weißen Bereichen. Sie bilden ein weißes Gesicht im schwarzen Anteil und ein schwarzes Gesicht im weißen Anteil. Je nach Blickwinkel dominiert das Eine oder das Andere. Aber sie sind immer Beide da!

Als Borderliner hat man quasi immer seine schwarzen Anteile im Hinterkopf. Eigentlich sind auch immer die weißen Teile da - doch das Schwarz schluckt oft so viel Licht, dass wir nichts anderes mehr sehen können als Schwarz!

Beide Anteile können sehr stark sein, weshalb eine gewisse Ähnlichkeit zu bipolaren („manisch / depressiven“) Störungen besteht.

Der Name der Borderline-Persönlichkeitsstörung bezieht sich darauf, dass man früher annahm, die BPS (Borderline-Persönlichkeitsstörung) läge auf der Grenze zur Schizophrenie. Tatsächlich kennen viele Betroffene Halluzinationen oder dissoziative Zustände (während einer Dissoziation passen die verschiedenen Wahrnehmungen nicht mehr zusammen. Das Hören, Sehen und Fühlen erscheint unwirklich. Der Betroffene hat das Gefühl, nicht mehr richtig anwesend zu sein. Manche Betroffene berichten sogar davon, dass sie sich dann von außen betrachten können.)

Ich persönlich mag die Bezeichnung „Borderline“, weil ich ständig das Gefühl habe, auf einer Grenze zu balancieren. Es gibt keine Schutzzone zwischen den beiden Welten – es ist entweder schwarz oder weiß.

Ein Leben in Extremen: Vollgas voraus – zurück – Marsch, Marsch!

Man könnte sagen: Bordis haben soviel Power wie ein Sportwagen, aber Bremsen wie ein Polo. Kein Wunder, dass man da manchmal aus der Kurve fliegt. Mir gefällt der Vergleich mit Pferderassen noch besser. Der durchschnittliche Mensch ist emotional und spannungsmäßig vergleichbar mit einem Kaltblutpferd. Es ist stark, kann diese Kraft einsetzen und lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Ein Borderliner ist eher vergleichbar mit einem rassigen Araberpferd. (Vielleicht ist deshalb mein privates Pferd auch ein Araberwallach?!). Sie reagieren auf kleinste Hinweise und powern sofort los. Allerdings reagieren sie auch (ängstlich) auf Dinge, die den anderen Pferden überhaupt nicht auffallen würden.

Wenn man ein solches heißblütiges Pferd reiten will, muss man immer mit einer Überraschung rechnen. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran, die Welt mit den Augen des Pferdes zu sehen. Man achtet ganz anders auf die Umgebung und erkennt Dinge, die das Pferd aus der Ruhe bringen können viel früher. Dann kann man die gemeinsamen Ausritte richtig genießen. Man freut sich, dass das Pferd bei der kleinsten Aufforderung rasch in eine schnellere Gangart wechseln kann. Es fliegt dahin und hängt die anderen Pferde locker ab. Nur: soll es dann wieder runterschalten, dauert das seine Zeit.

So wie das Pferd mit zunehmenden Ausbildungsstand seine Power besser dosieren lernt, so lernt der Borderliner mit Hilfe der DBT besser mit seinen starken Emotionen und Spannungszuständen umzugehen.

Leider hören wir Bordis immer wieder von Angehörigen: Warum soll ich mich ändern? Du bist doch krank! Oder noch „netter“: Ich bin gesund. Du bist doch die Gestörte.

Da Sie als Angehöriger dieses Buch lesen, möchten Sie offensichtlich die Störung besser verstehen und nach Möglichkeit dazu beitragen, dass es dem Betroffenen und auch Ihnen selbst damit besser geht. Und das ist sehr gut! Eine Familie funktioniert wie ein Uhrwerk. Die unterschiedlichen Zahnräder greifen ineinander. Wird ein Zahnrad verändert, müssen sich auch alle anderen darauf einstellen. Anders geht es nicht!

Ja, das Leben mit einem Bordi ist anstrengend. Aber: wenn ein Bordi es könnte, würde er garantiert anders sein!

Dieses Leben kostet sehr viel Kraft!

Wenn ich nicht meinen Mann und unsere Kinder hätte und noch dazu meine besten Freundinnen – ich weiß nicht, woher ich diese Kraft nehmen sollte, um immer und immer wieder aufzustehen und neu anzufangen.

Ich bin so dankbar, dass meine Familie, Freunde und Therapeuten mich annehmen, obwohl ich so bin, wie ich bin.

Vielleicht schaffe ich es eines Tages ja auch, mich selbst so anzunehmen, wie ich bin.

Quelle

3.    LWL Klinik Hemer

Wenn bei Ihrem Kind eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde

Oder wenn die Vermutung im Raum steht und niemand sich traut es auszusprechen

Auch wenn Sie jetzt vielleicht geschockt sind von der Diagnose: Ihr Kind ist immer noch der gleiche Mensch!

Überprüfen Sie erst mal Ihr Wissen. Die landläufige Meinung über diese Krankheit ist, dass Borderliner extrem gestörte, schwierige Menschen mit einem unerklärlichen Hang zur Selbstverstümmelung sind. Möglicherweise wurden Sie als Eltern auch direkt unter Generalverdacht gestellt, Ihrem Kind etwas Schreckliches angetan zu haben.

Dass Sie diesen Ratgeber lesen zeigt mir, dass Sie mehr wissen wollen, als nur diese Klischees. Und das ist sehr gut! Es ist Ihr Kind und niemand kann Ihnen die Verantwortung und die Sorgen abnehmen. Umso besser Sie informiert sind, umso besser können Sie Ihr Kind unterstützen.

Dass die Symptome einer Borderlinestörung teilweise denen einer normalen Pubertät ähneln, macht die Situation nicht wirklich leichter. Stimmungsschwankungen, Wutausbrüche und riskantes Verhalten treten bei fast allen Jugendlichen mehr oder weniger stark auf. Niemand möchte einen Heranwachsenden hospitalisieren, nur weil er in der Pubertät ist. Dann hätten wir wirklich viel zu tun. Aber nicht immer sind es nur die Ausläufer einer normalen Entwicklung. Und dann ist es manchmal schwer, als Eltern die richtige Hilfe zu bekommen.

Ein Beispiel?

Anna war 14 Jahre alt, als sie Ihren ersten Suizidversuch unternahm. Ihre Eltern, Sabine und Jürgen, machten sich große Vorwürfe, dass sie nicht vorher bemerkt haben, wie schlecht es ihrer Tochter ging. Noch während Anna auf der Intensivstation war, bestand Sabine darauf, dass ein Kinder- und Jugendpsychiater mit ihrer Tochter sprach. Die Mutter machte den Arzt darauf aufmerksam, dass es in ihrer Familie mehrere Fälle von schweren Depressionen gab und sie selbst auch schon depressive Episoden erlebt hatte. Sie hoffte, dass Anna jetzt qualifizierte Hilfe erhalten würde und sie wollte alles tun, um ihre Tochter zu unterstützen.

Am nächsten Tag wurde das Mädchen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie verlegt. Sabine und Jürgen brachten ihrer Tochter Kleidung, Bücher und was sie sonst noch benötigte. Als sie sich verabschiedeten, wussten sie noch nicht, was jetzt folgen würde.

Damals waren Handys noch die Ausnahme. Also versuchten sie, ihre Tochter abends auf dem Stationstelefon zu erreichen. Doch sie bekamen nur zu hören, dass sie Anna vorläufig nicht sprechen dürften. Auf die Frage nach Besuchszeiten gab es die lapidare Antwort, die Patientin brauche jetzt erst mal Ruhe und Abstand. Sie dürfte die ersten 14 Tage nicht besucht werden, und dann gäbe es erst mal einen Termin mit der zuständigen Ärztin.

Was gibt es eigentlich schlimmeres, als nicht zu seinem Kind zu dürfen, kurz nachdem es dem Tod knapp entkommen ist?!

Der erste und auch viele nachfolgende Termine mit der Ärztin halfen der Familie nicht wirklich weiter. Aber es wurde den Eltern bewusst, dass sie hier auf der Anklagebank saßen. Immer wieder wurden sie gefragt, ob irgendetwas vorgefallen sei, Gewalt, Missbrauch o.ä. Einen solch schweren Selbstmordversuch würde ein Kind nur unternehmen, wenn es von den Eltern misshandelt oder missbraucht würde oder die Eltern Junkies oder Alkoholiker seien. Die Hinweise der Eltern, auf die familiäre Belastung mit Depressionen und auch auf das Mobbing in der Schule, wurden geflissentlich überhört. Auch weigerte man sich, das Kind mit Antidepressiva zu behandeln.

Im Wesentlichen bestand die Therapie aus Zeit totschlagen und wöchentlich stattfindenden Familiengesprächen, die eher einem Tribunal glichen.

Damals war die Versorgung mit Kinder- und Jugendpsychotherapeuten sehr schlecht. Und obwohl die Therapeuten offiziell keinen Unterschied zwischen gesetzlich versicherten und Privatpatienten machen dürfen, konnten Annas Eltern nur einen Therapeuten gewinnen, indem sie die Sitzungen aus eigener Tasche bezahlten.

Dieser war nur der Erste, aus einer langen Reihe von Psychologen, Ärzten und Krankenhäusern. Er war von Annas Frage fasziniert, warum man leben solle, wenn man doch früher oder später sterben müsse. Er hielt es für eine philosophische Frage und erkannte nicht, dass sie lediglich Ausdruck einer abgrundtiefen Depression war. Sabine und Jürgen mussten feststellen, dass dieser Therapeut nicht in der Lage war, Anna zu helfen. Sie suchten weiter nach Hilfe für ihre Tochter.