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Bordertown – Der Puppenmeister E-Book

J. M. Ilves

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Beschreibung

Eine Tote, achtlos im See versenkt. Ein Mann, der alle Fäden in der Hand hält. Und ein Ermittler, der keine Toten mag. BORDERTOWN. »Ich mag keine Toten.« Kommissar Sorjonen – ein brillanter Ermittler, der jedoch nicht nur mit den Toten, sondern auch mit den Lebenden so seine Schwierigkeiten hat – lässt sich ins beschauliche Lappeenranta an der russischen Grenze versetzen. Mehr Zeit für seine Familie, hofft er, und weniger Morde, die sich von Mal zu Mal tiefer in ihn einbrennen. Doch schon kurz nach seiner Ankunft wird ein russisches Mädchen leblos aufgefunden; wie eine Puppe liegt sie da, nackt und bleich. Und für Sorjonen ist schnell klar: Wo sie herkommt, sind noch weitere in Gefahr. Gerade erst hat er seine neuen Kollegen kennengelernt, schon starrt Sorjonen am idyllisch gelegenen Saimaa-See auf ein totes Mädchen, das ans Ufer gespült wurde. Die Todesursache: eine Überdosis Betäubungsmittel. Was zunächst nach einem Unfall aussieht, wird zu einem Fall, der weitere Tote bringt und immer größere Kreise zieht. Die Spuren deuten auf einen Verbrecherring, der Handel mit Nacktfotos von betäubten Mädchen, sogenannten »Puppen«, betreibt. Doch auf der Suche nach den Hintermännern versinkt Sorjonen immer tiefer im Kleinstadtsumpf aus Korruption und Klüngelei. Und dann taucht auch noch eine russische FSB-Agentin auf – auf der Suche nach ihrer verschwundenen Tochter …

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BORDERTOWNDer Puppenmeister

Kriminalroman

Aus dem Finnischen vonAnke Michler-Janhunen

Suhrkamp

Der Puppenmeister

PROLOG

Ein totes Mädchen. Bekleidet mit einem Nachthemd liegt sie in ihrem Bett.

Jemand hat sie dorthin gelegt. Ihre Haare sind hübsch gekämmt, die Hände auf der Brust gefaltet. Das Zimmer ist in halbdunkles Licht getaucht, die Vorhänge sind zugezogen. Es riecht muffig. Irgendwas an diesem Geruch passt nicht in ein Kinderzimmer, etwas Süßliches, Stechendes. Alles in mir schreit danach, das Zimmer so schnell wie möglich zu verlassen, doch das geht nicht. Da könnte ich genauso gut kündigen.

Ich trete neben das Bett und hocke mich hin. Der Geruch ist jetzt stärker. Und wie erwartet lassen die ersten Symptome nicht lange auf sich warten: Mein Herz schlägt unkontrolliert, mein Mund ist trocken, und meine Hände zittern. Von Mal zu Mal wird es schlimmer. Wenn ich Glück habe, sieht keiner zu mir rüber, und ich überstehe es auch dieses Mal unbemerkt.

Ich schließe für einen Moment die Augen.

In den letzten Monaten musste ich immer öfter über die Begegnung mit dem Tod und den Abgründen der menschlichen Natur nachdenken. Im Laufe meiner Dienstjahre habe ich so viel davon abbekommen, dass die Folgen sich inzwischen bemerkbar machen. Als ob man permanenter radioaktiver Strahlung ausgesetzt ist. Jede Kontamination macht mich schwächer und ausgebrannter. Und es kommt mir so vor, als opfere ich mich ganz umsonst. Die Welt rast auf eine immer schwärzer werdende Dunkelheit zu, und mein Handeln hat nicht den geringsten Einfluss darauf.

Und das Schlimmste daran ist, dass ich nicht nur mich, sondern auch meine Familie opfere.

Ich schlucke und versuche, die störenden Gefühle zu verdrängen, während ich mich wieder auf das Mädchen konzentriere. Jede Einzelheit prägt sich mir ein. Unauslöschbare Bilder auf der Netzhaut. Die Augen mit Zwirnfaden zugenäht, ebenso der Mund. Die Stiche wie kleine schwarze schräge Striche auf der hellen Haut. Sauber ausgeführt, wie mit der Nähmaschine gesteppt. Es ist kaum Blut zu sehen. Vielleicht sind die zu nähenden Stellen zuvor betäubt worden, um starke Blutungen zu verhindern. Der Täter ist ganz klar psychotisch, verfügt wahrscheinlich über medizinische Kenntnisse. Eine Krankenschwester? Oder ein Arzt? Ich schaue auf die Ohren des Mädchens. Sie sind mit Wachspfropfen verschlossen, und in jedem steckt eine Nadel. Der Anblick ist absurd. Alles, was mit diesem Kind getan wurde, ist mit neurotischer Sorgfalt und äußerst akribisch ausgeführt worden, auf perfide Weise liebevoll. Das Ganze ist komplett verrückt.

Ruckartig schnelle ich nach oben. Mein Körper wehrt sich mit jeder Faser, die Symptome brechen mit voller Wucht hervor. Ich bin dem Ersticken nahe. Alles wird unwirklich, so als ob ich in einen bodenlosen schwarzen Schacht falle. Ich stehe auf und wanke mit unsicheren Schritten zum Fenster, um die kleine Lüftungsluke zu öffnen. Jemand fragt, ob alles in Ordnung sei. Die Stimme klingt weit weg, ich fühle mich wie unter Wasser. Mit beiden Händen klammere ich mich am Fensterrahmen fest und sauge meine Lunge voll mit frischer Luft.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstreicht. Vielleicht eine Minute, vielleicht auch fünf. Langsam lässt der Anfall nach, und ich beginne wieder klarer zu sehen. Das Zimmer ist voller Kollegen und Uniformierter. Ich werde gefragt, nach was sie suchen sollen, das Haus sei bereits von oben bis unten auf den Kopf gestellt worden. Ich werfe sie alle raus und brülle ihnen hinterher, mich gefälligst in Ruhe zu lassen. Das Zimmer leert sich schnell.

Was wir bislang wissen: Den Vater des Mädchens hat man erreicht, er kann es nicht gewesen sein. Die Mutter dagegen ist verschwunden und steht im Verdacht, die Tat begangen zu haben. Allerdings glaube ich das keine Sekunde lang, das ist zu simpel gedacht. Nichts im Vorfeld oder in ihrem Verhalten während der letzten Tage lässt darauf schließen.

Ich wische mir den kalten Schweiß von der Stirn, atme tief durch und kehre zum Bett zurück, auf der Suche nach weiteren Details.

Auf dem Tisch ist ein Foto, auf dem die Eltern mit dem Mädchen zu sehen sind. Die Mutter hat braune Haare und blaue Augen, ebenso der Vater. Das Mädchen hat braune Augen und blonde Haare. Ist sie adoptiert? An der Wand über dem Bett sind Zeichnungen. Mit viel Klebeband befestigt, die Blätter hängen schief. Das Mädchen hat sie wohl selbst angeklebt. Auf der neuesten Zeichnung, quer über die anderen gehängt, lächelt eine blonde Frau. Sie steht am oberen Ende einer langen Treppe, hinter ihr ein kleiner Raum mit einem Fenster und einem Bett.

Ich werfe einen letzten Blick auf das Mädchen. Sie sieht nichts, hört nichts und sagt nichts mehr. Was immer sie wusste, sie kann es nicht mehr erzählen.

Plötzlich fügen sich die Puzzleteile zu einem Ganzen.

Ich gehe zur Tür und schicke die Uniformierten auf den Dachboden. Ein Poltern ist zu hören. Jemand ruft, die Bodenkammer sei leer, dort befänden sich nur ein Bett und die Sachen des Kindermädchens der Familie. Ich befehle den Männern weiter zu suchen. Irgendwas muss dort oben sein, ich weiß es. Ich höre die Männer fluchen, Möbel werden zur Seite geschoben und Wände im Licht der Taschenlampen abgeklopft.

Während die Suche andauert, gehe ich alles noch einmal durch. Meine Schlussfolgerung erscheint mir mit jeder Sekunde zwingender. Es muss so gewesen sein.

Die Mutter ist die Täterin.

Nicht die Frau von dem Familienfoto, sondern die biologische Mutter, eine Frau mit blonden Haaren. Das Kindermädchen. Sie wollte bei ihrer Tochter sein und konnte ihr irgendwann die Wahrheit nicht länger verheimlichen. Doch jetzt kann das Mädchen sie nicht mehr entlarven.

Ich bin mir sicher, dass die Mutter noch im Haus ist, sie hätte ihre Tochter niemals verlassen. Sie liebt sie doch, auf ihre eigene kranke Weise, mehr als irgendwas sonst. Sie hat ihr Kind geopfert.

In diesem Moment wird es still auf dem Dachboden. Das Klopfen bricht abrupt ab, dann folgt aufgeregtes Gemurmel. Offensichtlich haben sie hinter der Seitenwand etwas gefunden. Noch mehr Uniformierte stürmen nach oben. Dann die Geräusche einer Festnahme: hastige Schritte, ein Handgemenge, Warnrufe und der markdurchdringende Schrei einer Frau.

Dann endlich Stille.

1

An der Eingangstür zur Station bleibe ich einen Moment lang stehen. Diese Tür ist wie ein Tor in eine andere Welt, in der alles schwerer ist. Laufen, sprechen, atmen. Auf allem liegt ein zusätzliches Gewicht. Es drückt mich zu Boden, und nur mit Mühe gelingt es mir, den Kopf oben zu behalten.

An der Glastür die bekannten Zettel: Besuchszeiten, der obligatorische Hinweis zur Händedesinfektion und die Warnung vor einer grassierenden Magen-Darm-Grippe. Außerdem hat jemand passend zur Jahreszeit noch zwei rote Wichtel dazugeklebt. Die Ecken sind umgeknickt, die Farben nachgedunkelt, auf der Pappe finden sich Spuren von Klebeband und alten Klebepads. Vermutlich schon vor Jahren ausgeschnitten, die Schere eher stumpf. Oft wiederverwendet, an verschiedenen Orten und auf unterschiedlichen Oberflächen. Auch in Kerzennähe, wie die Wachsspritzer auf einer der Zipfelmützen verraten.

Ich spiele auf Zeit, es ist beschämend das festzustellen.

»Hallo«, sagt jemand hinter mir. Ein bekannter Pfleger auf dem Weg zurück auf die Station. Er öffnet die Tür und hält sie mir auf.

»Danke«, sage ich. »Schöne Wichtel.«

»Ja, auch hier ist Weihnachten«, sagt der Pfleger mit einem kurzen Lachen und geht weiter.

Ich nicke und halte die Hände unter den Pumpspender mit dem Desinfektionsmittel. Ich reibe das Mittel in meine Handflächen und gehe den langen, von Patientenzimmern gesäumten Flur entlang. Mir schlägt der altbekannte klimatisierte Geruch entgegen, eine Mischung aus Desinfektionsmittel, Krankenhausessen, Medikamenten und Linoleum. Und ein schwacher Hauch von Menschen – Gerüche, die davon zeugen, dass hinter den nummerierten Türen Kranke liegen.

Zwei mit Wichtelmützen bekleidete Schwestern kommen mir entgegen. Ich gebe mir Mühe, ihr Lächeln zu erwidern, aber das Ergebnis ist nicht sehr überzeugend. Dann stehe ich vor der richtigen Tür, Nummer zwölf. Pauliinas Zimmer.

Vorsichtig öffne ich die schwere Tür und trete ein. In dem kleinen Zwischenraum pumpe ich mir noch mehr Desinfektionsmittel auf die Hände, obwohl das alte noch nicht mal getrocknet ist. Das Zimmer ist erfüllt vom üblichen grünlichen Dämmerlicht. Die Sonne erreicht die Fenster hier nie, und die Jalousien sind fast ganz geschlossen.

Da bemerke ich Janina. Sie sitzt halb schlafend und in eine blaue Krankenhausdecke gewickelt auf einem Stuhl in der Ecke.

»Du bist ja noch hier«, wundere ich mich.

Janina schreckt auf, legt den Finger an die Lippen und flüstert: »Mutter schläft.«

»O Mist«, flüstere ich zurück, »tut mir leid.«

Pauliina bewegt sich und schluckt. Ich gehe zum Bett und kann Janinas anklagenden Blick deutlich auf meinem Gesicht spüren.

»Mutter wird noch ein paar Tage müde sein«, sagt sie. »Das ist aber ganz normal. Ich habe mit der Krankenschwester gesprochen.«

»Ja, es war ein großer Eingriff. Und eine lange Narkose.«

Ich betrachte Pauliinas Gesicht. Es ist noch geschwollen, aber schon deutlich weniger als direkt nach der Operation. Sie sieht nicht mehr ganz so fremd aus wie in den ersten Tagen danach. Um den Kopf hat sie einen festen Verband, und in der Kanüle auf dem Handrücken steckt ein Schlauch. Kochsalzlösung, die Medikamente wurden ausgesetzt.

Pauliina öffnet die Augen und sieht mich an.

»Hallo«, sagt sie mit heiserer Stimme. »Sie haben dich also gehen lassen.«

Ich würde ihr gern die Hand drücken, traue mich aber nicht, die Kanüle zu berühren. Die andere Hand liegt unter der Decke versteckt. Nach kurzem Zögern streiche ich ihr etwas unbeholfen über den Knöchel, der in einem Krankenhausstrumpf steckt.

Dann drehe ich mich zu Janina um: »Möchtest du dir nicht ein bisschen die Beine vertreten? Du könntest unten am Automaten eine Cola holen.«

»Für dich?«

»Nein, für dich.«

Doch Janina lehnt ab, sagt, sie habe gerade erst im Aufenthaltsraum einen Tee getrunken. Also muss ich ihr wohl oder übel gestehen, dass es nur ein Vorwand war und ich gern einen Augenblick mit meiner Frau allein sein möchte.

»Ziemlich billiger Trick«, zischt Janina leicht verärgert und steht betont langsam auf. Sie bleibt vor mir stehen und hält mir ihre Hand mit der Handfläche nach oben hin. Ich weiß nicht, was diese Geste bedeuten soll, und schlage ein.

»Was war das?«

»Low five.«

Janina schüttelt den Kopf. »Manchmal wundere ich mich, wie du bei der Kripo sein kannst. Ich wollte keinen Handschlag, sondern Geld für den Automaten.«

Ich krame in der Seitentasche meiner Jacke und klaube ein paar Münzen heraus.

Pauliina wartet, bis sich die Tür hinter Janina schließt. Dann sieht sie mich besorgt an. »Ist was passiert?«, fragt sie.

Ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll, aber ich muss es jetzt sagen, das ist der richtige Moment. Darüber zu sprechen fällt mir allerdings schwerer, als ich erwartet hatte. Ich merke, wie mein Blick ausweicht und Pauliinas Miene immer besorgter wird. Dann ziehe ich mir einen Stuhl heran, setze mich und versuche, einen unbekümmerten Ton anzuschlagen, doch meine Stimme trieft vor Gefühlen.

»Ob Janina wohl einverstanden wäre«, setze ich stockend an, »mit uns wegzuziehen?«

»Wegziehen, aus Helsinki? Wohin?«

»Weit weg.«

Pauliina sieht mich lange an und schweigt.

Ich werde unruhig und beginne nervös zu blinzeln. »Hier drin ist ganz trockene Luft«, sage ich ausweichend. Mein Versuch zu lächeln gelingt nur kläglich.

»Du hast das Mädchen gefunden.«

Das war eine Feststellung, keine Frage. Pauliina ist gut, besser als mancher meiner Kollegen. Sie sieht mich forschend an.

»Du möchtest schon wieder nicht reden. Es wäre aber besser, wenn du mehr über berufliche Dinge sprechen würdest, Kari, das täte dir gut.«

»Es gibt nichts zu erzählen.«

»Ich würde es aushalten. Du hast mich doch auch bei alldem hier unterstützt«, sagt sie und fasst sich an den einbandagierten Kopf.

Das Gespräch läuft in die falsche Richtung. Irgendwie muss ich versuchen, es wieder in die richtige Bahn zu lenken. Hin zum Wesentlichen.

»Der Schuldige ist gefunden. Ein stinknormaler Tag. Aber was ist jetzt mit meinem Vorschlag?«

»Was soll damit sein?«

Ich beginne, alle möglichen Gründe für den Umzug aufzuzählen. In meinem Kopf schien alles ganz klar, aber jetzt, Pauliina gegenüber, gleitet mir das ganze Bündel an sorgfältig zurechtgelegten Gedanken auseinander. Ich klinge unsicher und unentschieden. Dabei war ich mir einer Sache noch nie so sicher.

»Nicht nur wegen deiner Reha«, stottere ich, »sondern für uns alle. Für mich, für Janina und für dich, für unsere Familie. Ich könnte mehr Zeit mit euch verbringen. An einem anderen Ort wäre die Arbeit ... ich weiß nicht … weniger aufreibend. Entspannter. Vielleicht.«

Pauliina antwortet nicht, aber ihr Gesichtsausdruck ist ermutigend und warm. Verständnisvoll.

»Ich dachte an dein altes Elternhaus«, fahre ich fort. »Das ist doch noch gut in Schuss.«

Pauliinas Hand senkt sich auf meine. Dabei wird mir plötzlich bewusst, wie fest ich das Bettgestell umklammert halte, meine Finger sind schon ganz weiß. Ich lockere den Griff.

»Lass uns mit Janina sprechen«, sagt Pauliina.

In ihrem Augenwinkel ist eine Träne. Ich bemerke sie, bevor sie sie wegwischen kann.

»Trockene Luft«, sagt sie. Und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit sehe ich sie lächeln.

2

Seit wir Luumäki passiert haben, wächst meine Begeisterung für die Landschaft immer mehr. Die Sonne scheint, wir sind auf der Staatsstraße Nummer 6 von Helsinki Richtung Nordosten unterwegs, der Asphalt singt unter den Rädern. Ich fühle mich wie früher als Kind zu Beginn der Sommerferien: leicht und unbeschwert und bereit für neue Abenteuer.

Vor uns liegt eine neue Lebensphase, alles Schwere scheint Kilometer für Kilometer zurückzubleiben. Ich erinnere mich nicht, wann ich zuletzt so gelöst und entspannt war. Seit Jahren nicht, möglicherweise seit Jahrzehnten. Auf jeden Fall nicht seit dem Ausbruch von Pauliinas Krankheit. Ich schaue zu ihr hinüber. Die kurzen Haare stehen ihr gut, sie sieht jünger aus. Ihre Genesung verläuft vielversprechend.

»Seht doch nur diese herrlichen Wälder!«, rufe ich beinahe überschwänglich. »Man möchte am liebsten darin eintauchen!«

»Mmmh, genau das denken meine Freunde auch. Dass ich in den Wäldern Kareliens verschwinde«, motzt Janina leicht missmutig von der Rückbank.

»Du kannst ja nach dem Gymnasium zurück nach Helsinki ziehen.«

»Falls ich nicht vorher von einem Bären gefressen werde. Oder von einem Vielfraß.«

Janina gibt sich grimmig, aber ihre Stimme klingt eher scherzhaft. Etwas Spott gehört wohl dazu. Nachdem sie sich unseren Plan vom Umzug angehört hatte, ließ sie sich ohne nennenswerte Gegenwehr darauf ein, zumindest die meiste Zeit. Das war eine ziemliche Überraschung, denn ich hatte mich eigentlich auf einen harten Kampf eingestellt.

Für eine Weile genießen wir schweigend die Fahrt immer weiter hinein in die wunderschöne karelische Landschaft, unserem neuen Zuhause entgegen. Endloses Wasser zu unserer Linken, lichtdurchflutete Wälder zu unserer Rechten. Da kommt mir eine Idee. Seltsam, dass ich nicht schon früher daran gedacht habe.

»Du kannst doch Janina und mir alles hier zeigen«, schlage ich vor. »Wir machen einen Stadtrundgang und Ausflüge, und du zeigst uns Häuser, in denen es spukt, die schönsten Badeplätze und die besten Grillkioske. All so was!«

Pauliina wirkt überrascht. »Ihr kennt doch die Stadt«, sagt sie. Als ihre Mutter noch lebte, waren wir schließlich öfter hier.

»Aber nur von Besuchen.«

»Na ja«, willigt Pauliina ein und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: »Als Schülerin habe ich im Sommer oft als Stadtführerin gearbeitet. Es gibt durchaus ein paar abgelegene Ecken und versteckte Winkel zu entdecken. Und der ein oder andere Abgrund sollte auch für dich dabei sein.«

Jetzt scheint auch Janinas Interesse geweckt, und die beiden prusten los. Ich finde das allerdings nicht gerade zum Lachen. Von Abgründen habe ich mehr als genug.

»Du hast doch bestimmt noch Kontakte in der Stadt«, sage ich stattdessen. »Vielleicht springt da auch für dich bald eine Stelle raus.«

Darauf antwortet Pauliina nicht, sondern betrachtet nur schweigend die Landschaft. Vielleicht bin ich zu enthusiastisch. Schließlich läuft die Reha noch.

»Wir brauchen nichts zu überstürzen«, lenke ich ein. »Wir haben ja den ganzen Sommer Zeit. Lasst es uns ruhig angehen.«

»Ruhig? Du fängst doch morgen schon an zu arbeiten!«

»Na, dann lasst ihr es eben ruhig angehen.«

»Indem wir die einhundert Umzugskartons auspacken?«

Ich drehe mich zu Pauliina. Aber die sieht mich nur an und grinst. Alles ist gut. An meiner Humorfähigkeit muss ich wirklich arbeiten.

Kurz darauf passieren wir den Abzweig zum Flughafen, den Janina mit den Worten »Gut zu wissen, dass man bei Bedarf schnell von hier wegkommt« kommentiert, und nur wenige Minuten später erreichen wir die Stadt. Eine große Werbetafel heißt die Besucher willkommen: »Lappeenranta – die Stadt der guten Menschen« steht darauf.

Ich fange lauthals an zu lachen. Hier ist wirklich alles gut.

3

Es war Abend geworden, und die Sonne verschwand gerade über dem russischen Nadelwald. Die Wände der Zollgebäude waren in ein schräg einfallendes, rötliches Licht getaucht. Am Grenzübergang Nuijamaa herrschte kein Andrang.

Ein Van passierte den Zoll in Richtung Finnland, beschleunigte und ordnete sich in den Verkehrsfluss ein. Auf der Seite des Wagens prangten große Werbeaufkleber mit der Aufschrift »Esacar«.

Esa Kuparinen, der Besitzer des Autohauses, hatte die Gestalt eines Bären mit einem leicht gebeugten Rücken. Er blickte in den Rückspiegel und musterte das Mädchen, das auf der Rückbank saß und die Landschaft mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck betrachtete. Es war still im Auto. Schon eine lange Zeit, seit Wiborg hatte Katia kein Wort mehr gesprochen.

Wieder spürte Esa den Hass und das Misstrauen im Nacken, das ihm die Mädchen entgegenbrachten, die er hin und wieder mit seinem Auto kutschierte. Und auch diesmal störte es ihn maßlos. Er meinte es doch nur gut mit ihnen. Das war gewissermaßen seine Art, ihnen zu helfen. Er war das menschlichste Glied in der Kette, dessen war er sich sicher – schließlich war er schon lange genug dabei. Es schien nur keiner zu verstehen, und Esa gelang es einfach nicht, den Mädchen das klarzumachen. Zwischen ihm und seinen Passagieren gab es eine unsichtbare Hürde. Alle Gesprächsversuche prallten an ihren eisigen Schutzpanzern ab. Wobei die Sprachbarriere meistens das größte Hindernis war. Nur bei Katia war es anders: Sie sprach neben Russisch auch Finnisch mit einem kaum hörbaren Akzent. Ihre Mutter stammte aus Finnland. Doch allein um diese Information aus ihr herauszubekommen, hatte er reichlich Zeit und Mühe aufwenden müssen.

Die Stille machte ihn beinahe wahnsinnig. Er war daran gewöhnt, viel zu reden.

»Du, Katia«, begann er. »Hab ich dir schon gesagt, dass du meiner Tochter total ähnlich siehst? Nur ein bisschen älter.«

Katia schaute Esa durch den Spiegel in die Augen. »Jedes Mal.«

Der patzige Ton ließ Esa beleidigt den Blick abwenden. In seiner Magengrube fühlte er das bekannte Drücken: eine Mischung aus Erschöpfung, Teilnahmslosigkeit und kraftlosem Ärger, vielleicht auch ein wenig Reue. Als man ihm angeboten hatte, die Transporte zu übernehmen, hatte sich eine warnende Stimme in seinem Hinterkopf gemeldet, obwohl er da noch keinen Schimmer davon gehabt hatte, was kommen würde. Die Heimlichtuerei und die unabdingbare, fast drohend wirkende Verschwiegenheit hatten allerdings schon damals nichts Gutes verhießen.

Jetzt wusste Esa mehr. Und an manchen Tagen ertappte er sich bei dem Wunsch, gern weniger wissen zu wollen.

Aus einem Gefühl der Beklemmung heraus schüttelte er den Kopf. Das war ihm in letzter Zeit zur Gewohnheit geworden. Zuhause sprach ihn Liisa mittlerweile auch schon darauf an. Immer öfter drängte sie ihn am Abendbrottisch, er möge doch über seine Sorgen sprechen und nicht nur das Essen schweigend in sich hineinschaufeln. Es musste ja offensichtlich etwas Ernstes sein, sonst würde er nicht unentwegt mit dem Kopf schütteln wie ein verrückt gewordener Wallach.

Esa konzentrierte sich auf die Vorteile der Vereinbarung, derentwegen er überhaupt eingewilligt hatte. Er wurde für seine Touren gut und am Finanzamt vorbei bezahlt. Die Geldscheinbündel, die er in den Räumen der Firma versteckte, hatten die Familie im vergangenen Jahr über Wasser gehalten. Doch in letzter Zeit schien auch das nicht mehr zu genügen. Es waren schwierige Zeiten.

Nur eines konnte Esas Laune aufhellen: Roosa. Schon allein der Gedanke an sie half ihm, sich innerlich wieder ein wenig aufzurichten und alle selbstmitleidigen Gedanken zu verscheuchen. Für seine Tochter würde er alles tun. Für sie war er zu allem bereit, zumindest zu fast allem.

Wenn er gründlich darüber nachdachte, dann half er genau genommen auch anderen Kindern, zumindest denen, die er kutschierte. Denn Kinder waren sie irgendwie alle noch, wenn auch nicht mehr so jung wie seine Roosa. Und doch schnürte es Esa bei manchen die Kehle zu. Wenn er nicht zugestimmt hätte, die Fahrten zu übernehmen, wer weiß, was für ein Unmensch es dann getan hätte.

Esa holte tief Luft. Dann beugte er sich über den Beifahrersitz, nahm einen Briefumschlag aus dem Handschuhfach und reichte ihn zwischen den Sitzen hindurch nach hinten. Katia nahm ihn und schüttelte zögernd eine Tablette auf ihre Handfläche. Mehr war nicht in dem Umschlag.

Katia hielt die Tablette zwischen zwei Fingern und betrachtete sie. Sie sah aus wie immer – klein und weiß, ein paar eingekerbte Buchstaben und Zahlen. So eine bekam jedes Mädchen, hatte Esa ihr gesagt. Der Wirkstoff betäubt den Geist und lässt die Augenlider schwer wie Blei werden, aber er beruhigt auch. Sorgen und Ängste lösen sich in einem weichen Nebel auf.

Katia hatte einen ernsten Ausdruck in den Augen, sie schien nachzudenken. Es war schon ihr vierter Auftrag, aber das ganze Rundherum fand sie immer noch seltsam. Das Prozedere bestimmten andere, und sie hatte keinerlei Möglichkeit, auf die Dinge Einfluss zu nehmen. Sie war wie eine willenlose Fracht, und das fühlte sich nicht gut an.

Sie versuchte sich zu beruhigen und ging den Abend und die zu erwartenden Ereignisse durch. Die Jobs liefen immer nach dem gleichen Muster ab, und diese Vorhersehbarkeit barg zumindest einen leichten Trost. Vor den Schmerzen fürchtete sie sich nicht, zum Glück war sie davon bislang weitestgehend verschont geblieben. Das Schlimmste war das Warten. Das Zweitschlimmste das Gefühl danach, wenn alles vorbei war. Da war keine Erleichterung darüber, alles überstanden zu haben, und auch keine Freude über das verdiente Geld. Es war ein dumpfes Gefühl, das einer leblosen Landschaft glich, öde und fremd, und das tagelang andauerte.

Katia hoffte, dass nur Matias dort sein würde. Sie hatten sich ein paarmal unterhalten. Matias war jung und unverkrampft, nicht so übermäßig bemüht wie Esa.

Beim zweiten Mal war noch ein anderer Mann da gewesen. Er war die ganze Zeit über im Hintergrund geblieben und hatte darauf geachtet, dass Katia ihn nicht zu sehen bekam. Doch er hatte ihr Angst eingejagt. Seine Anwesenheit war die ganze Zeit über spürbar. Er hatte so eine wortlose und menschenverachtende Bedrohung ausgestrahlt. Wie in einem Albtraum, in dem der Peiniger im Abseits lauert. Auch Matias war nervös geworden und hatte sich wie ein unterwürfiger Kriecher verhalten. Dieser Mann hatte offensichtlich Macht über ihn.

Esa blickte ungeduldig in den Rückspiegel. »Nun nimm sie schon. Damit sie rechtzeitig wirkt.«

Katia zuckte zusammen. Sie hielt die Tablette immer noch zwischen ihren Fingern.

»Wie alt ist sie?«, fragte sie.

»Wer?«

»Deine Tochter, Roosa.«

»Zehn. Aber bitte nimm jetzt die Tablette!«

Der Van fuhr an einem Haus vorbei, dem Hauptgebäude einer Ferienhaussiedlung am Ufer des Saimaa-Sees, und bog dann in einen schmalen Weg ein. Die Lichter huschten über den sandigen Boden und die Zweige der dicht am Wegesrand stehenden Bäume. Nach der letzten Kurve erreichten sie ein stattliches, erst vor wenigen Jahren errichtetes Blockhaus. Neben der Tür war ein beleuchtetes Schild befestigt, auf dem die Nummer 66 eingraviert war.

Esa parkte den Wagen und drehte sich zu Katia um. Sie schien eingenickt zu sein.

»Wir sind da«, sagte er zu ihr, doch Katias Augen blieben geschlossen.

Auf der Veranda des Ferienhauses erschien ein junger Mann in Lederjacke. Esa stieg aus und nickte ihm zu. Dann öffnete er die hintere Tür und rüttelte Katia vorsichtig an der Schulter. Sie öffnete die Augen und blickte benommen um sich.

»Lass uns gehen«, sagte Esa. »Matias wartet schon.«

Er griff nach Katias Arm und half ihr aus dem Auto.

»Ihr habt das Mittel offensichtlich schon genommen«, stellte Matias zufrieden fest.

»Vor etwa einer halben Stunde«, antwortete Esa und half Katia die Treppe hinauf.

Matias nahm sie entgegen und führte sie hinein, während Esa etwas hilflos auf der Veranda zurückblieb. Die Tür fiel direkt vor seiner Nase ins Schloss.

»Na dann fahre ich mal wieder«, sagte er zu sich selbst.

Katia blieb benommen, wie sie war, mitten in dem großen Raum stehen. Die Tür des einen Schlafzimmers war geschlossen, die des anderen stand offen.

»Ihr seid heute zu zweit«, sagte Matias. »Valentina ist auch hier.«

Katias Gesichtsausdruck hellte sich auf. »Kann ich mit ihr sprechen?«

Matias schüttelte den Kopf. »Nein, es geht gleich los. Außerdem schläft sie schon. Aber Esa fährt euch später zusammen zurück nach Hause.«

Enttäuscht drehte sie sich um und ging mit unsicheren Schritten zu der offen stehenden Tür.

»Zieh dich in Ruhe aus«, sagte Matias. »Sag Bescheid, wenn du fertig bist.«

In dem mit hellem Holz ausgekleideten Raum standen ein Doppelbett mit einem rosafarbenen Prinzessinnen-Baldachin und ein Stuhl. Für mehr Möbel war kein Platz. Katia setzte sich auf den Rand des Bettes, streifte die Schuhe ab und stellte sie ordentlich nebeneinander unter den Stuhl. Dann zog sie auch ihre Hose, ihr Shirt, ihren BH und ihren Slip aus. Nachdem sie eine Weile ihren Kleiderstapel betrachtet hatte, erfasste sie Unbehagen. Sie trat noch einmal zum Stuhl und legte ihre Unterwäsche unter ihre Kleidung.

Mit einem Blick in Richtung Tür, die sie hinter sich geschlossen hatte, kroch sie unter die Bettdecke. Erst als sie sich vergewissert hatte, dass sie vollständig mit dem pinkfarbenen Satinbezug bedeckt war, rief sie: »Du kannst kommen.«

Matias betrat das Zimmer mit einem kleinen Lederetui in der Hand. Er setzte sich neben Katia aufs Bett und nahm eine schmale Spritze mit langer Kanüle aus dem Etui. Er entfernte den Plastikschutz und zog eine klare Flüssigkeit aus einer kleinen Ampulle auf. Seine Bewegungen waren routiniert.

»Dann brauchen wir nur noch den Arm«, sagte er.

Doch Katia hielt ihn unter der Decke versteckt.

»Ich wäre nicht hier«, begann sie so leise, dass Matias sie kaum verstehen konnte, »wenn Valentina nicht erzählt hätte, dass das hier ...« Sie stockte, wollte den Satz nicht beenden.

»... leicht verdientes Geld ist?«, sagte Matias. »Kein Grund, sich dafür zu schämen. Alles, was Spaß macht, kostet.« Er wurde jetzt ungeduldig. »Nun gib schon den Arm her. Dann kannst du schlafen.«

Aber Katia war noch nicht bereit. »Warum tust du das?«, fragte sie, um Zeit zu gewinnen.

»Das zusätzliche Geld kommt auch mir nicht ungelegen«, sagte er und grinste sie an.

Katia schluckte. »Wer ist der Mann?«

»Welcher Mann?«

»Der, der bei meinem zweiten Mal hier war.«

Matias wirkte überrascht, seine Augen weiteten sich. Doch nach einem kurzen Moment war er wieder Herr der Lage. Missbilligend runzelte er die Stirn. Katia senkte den Blick und schwieg. Beide wussten, dass sie auf diese Frage niemals eine Antwort bekommen würden.

Sekunden verstrichen. Vom See her war das Schreien der Möwen zu hören.

»Ist sonst alles in Ordnung?«, fragte Matias schließlich.

»Sicher«, antwortete Katia und streckte ihm ihren Arm entgegen.

4

Der Besprechungsraum des Polizeigebäudes ist voller Menschen, die sich nichts anderes wünschen, als mich scheitern zu sehen. Ich hatte mich darauf eingestellt, bin nun aber doch überrascht.

Pauliina sagt immer, dass ich tausend Mal besser darin sei, Gegenstände und Tote zu verstehen als lebende Menschen. Ihrer Meinung nach fehlt mir eine auf die menschliche Frequenz ausgerichtete Antenne. Ich bin da anderer Meinung. Jetzt zum Beispiel kann ich das Misstrauen der neuen Kollegen in Lappeenranta förmlich riechen, ihre Vorbehalte sind geradezu greifbar: die unbesetzte erste Stuhlreihe, dafür Gedränge im hinteren Bereich des Raumes, steinerne Mienen, die keinen Zweifel an ihrer Unlust lassen, die Arme abwehrend verschränkt. Dazu kaum verhohlenes Getuschel und Gelächter. Ich kann sie sogar verstehen. Sie fragen sich, wer dieser Typ ist, der aus Helsinki hierher kommt und glaubt, ihnen Vorträge über ihre eigene Arbeit halten zu können.

Dann betritt Taina Henttunen den Raum, die Leiterin der neu gegründeten Sondereinheit Schwerkriminalität. Sie kommt nach vorn und stellt sich neben mich.

»Lasst uns anfangen«, sagt sie. »Das hier ist Kari Sorjonen, unsere Verstärkung von der Zentralen Kripo. Ein Teil von euch kennt ihn schon.« Dann dreht sie sich zu mir um: »Kari hat versprochen, uns von neuen Methoden zu berichten. Bitte schön!«

Damit überlässt Taina mir die Bühne und setzt sich in die letzte Reihe. Die Begrüßung hätte nicht knapper ausfallen können. Sie scheint das Gleiche von mir zu halten wie ihre Mitarbeiter.

Im Raum herrscht Stille. Alle sehen mich erwartungsvoll an. Ich werde nervös, meine Hände sind schweißnass.

»Guten Morgen allerseits«, beginne ich.

Nur wenige Kollegen erwidern die Begrüßung mit einem Murmeln.

»Es ist schön, aus Helsinki in die Stadt der guten Menschen zu kommen.«

Ein paar Lacher aus der letzten Reihe.

»Ja, hier sind sogar die Verbrecher nett«, wirft jemand von der Seite ein.

Noch mehr Lacher.

Mit lockeren Floskeln komme ich hier nicht weiter. Ich sollte mich an meinen Vortrag halten. Also fahre ich das Notebook mit einem Wisch über das Touchpad hoch und schalte den Beamer mit der Fernbedienung ein. Auf der Leinwand hinter mir erscheint das Gesicht eines Mannes: runde Brillengläser, zerzauste Haare, ein ordentliches Hemd und ein seltsames Lächeln. Janina würde ihn einen Computerfreak nennen.

»Daniel Tammet«, sage ich. »Wer hat den Namen schon mal gehört?«

Offensichtlich niemand.

»Keine Sorge«, fahre ich, um einen entspannten Ton bemüht, fort, »die wenigsten kennen ihn.«

Ich erzähle ihnen von Tammet und seinen Fähigkeiten. Er beherrscht elf Sprachen und hat sogar eine neue erfunden, einfach so. Einmal wollte man ihn herausfordern und bat ihn, innerhalb einer Woche Isländisch zu lernen, und er tat es. Anschließend saß er im isländischen Fernsehen in einer Talkshow und klang, als hätte er nie eine andere Sprache gesprochen. Aber Fremdsprachen sind nicht sein einziges Talent. Seine mathematische Begabung ist noch viel erstaunlicher. Zahlen sieht er als Formen und Landschaften. Und die richtigen Ergebnisse komplexer Rechenaufgaben tauchen aus den Landschaften wie von selbst auf, er braucht nicht einmal wirklich zu rechnen.

»Ist er ein Autist?«, fragt jemand aus dem Publikum.

»Nur in einer schwachen Form«, antworte ich. »In allen anderen Lebensbereichen ist er völlig normal befähigt.«

Ich erkläre, dass Tammet ein sogenannter Savant ist, also ein Mensch mit außergewöhnlichen kognitiven Fähigkeiten. Und dass sich bei den meisten Menschen mit Savant-Syndrom Anzeichen für Autismus oder eine anderweitige, mitunter auch tiefgreifende Entwicklungsstörung finden.

»Manchmal ist diese Beeinträchtigung aber auch eine besondere Gabe«, fahre ich fort.

Das Publikum folgt meinen Ausführungen schweigend. In der Luft schwingt eine gewisse Unruhe. Schließlich spricht ein an der Tür stehender Uniformierter laut aus, was alle anderen zu denken scheinen.

»Und was hat das mit uns zu tun?«, fragt er. Der Ton ist ziemlich scharf. Taina wirft ihm einen warnenden Blick zu.

»Eine berechtigte Frage«, antworte ich schnell und erkläre, dass Tammet Gedächtnistechniken entwickelt hat, von denen auch sogenannte normale Menschen profitieren können.

»Sogar Polizisten«, sage ich weiter und zwinkere in die Runde, »wenn man uns denn zu den Normalen zählen will.«

Keine Regung im Publikum. Auch dieser Versuch, die angespannte Stimmung etwas aufzulockern, läuft ins Leere. Ich bleibe besser bei den Fakten.

»Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel.«

Auf meine Bitte hat Taina willkürliche Informationen von den Mitarbeitern der Abteilung auf einem USB-Stick zusammengestellt: Bilder, Formulare, Bewerbungen und was ihr zufällig gerade untergekommen ist. Einige Dokumente zu jedem von ihnen, der Reihenfolge nach gespeichert. Ich habe das Material vorher nicht zu sehen bekommen und bitte Taina, das zu bestätigen.

»Wenn du kein Hacker bist«, sagt sie mit einem Lachen und gibt mir den USB-Stick.

Ich starte die Diashow, und auf der Leinwand beginnen die Dokumente nacheinander abzulaufen. Die Geschwindigkeit ist so reguliert, dass jedes Bild etwa drei Sekunden lang zu sehen ist. ID-Karten und Personalbögen, Fotos im Dienst und von Weihnachtsfeiern. Ich stehe mit dem Rücken zum Publikum und lasse meinen Blick über die Bilder gleiten. Ich nehme gerade so viel wahr wie nötig. Das Publikum reagiert schnell: Die Bilder werden lachend kommentiert, die von der Kamera festgehaltenen Momente wecken Erinnerungen.

Der Lärm stört mich. Ich presse mir die Hände auf die Ohren und beginne zu summen. Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber was soll’s. Auf jeden Fall schindet es Eindruck.

»Ach, Musik gehört da auch dazu?«, witzelt jemand. Natürlich höre ich es, vermutlich ist der Witzbold der Bärtige in der zweiten Reihe.

Ich folge der Präsentation bis zum Schluss, dann drehe ich mich wieder zum Publikum um. Meine Nervosität ist verflogen, ich fühle mich jetzt entspannt und sicher. Auf dem Gebiet bin ich zu Hause.

»Musik kann beim Erinnern helfen«, sage ich und schaue dabei den Bärtigen an. »Vorausgesetzt, sie wird richtig eingesetzt. Für musikalische Menschen ist Klassik die beste Wahl. Jazz geht auch, solange es nicht gerade experimenteller Jazz ist. Es bedarf eines klaren musikalischen Aufbaus.«

Eine Frau, die neben dem Bärtigen sitzt, kann vor Ungeduld kaum noch ruhig sitzen und prustet heraus: »Na klar, wir lösen unsere Fälle jetzt mit Jazz.«

Ich richte meinen Blick so lange auf sie, bis es ihr unangenehm wird. »Johanna Metso, nicht wahr?«, frage ich sie.

»Ja.«

Ich schließe die Augen und lege die Fingerspitzen an die Schläfen. Auch das wäre nicht unbedingt notwendig. Das Gedächtnis funktioniert nicht auf diese Weise.

»Nachträglich alles Gute!«, fahre ich fort. »Sie hatten letzte Woche Geburtstag?«

»Ja. Danke.«

»Geschieden, keine Kinder. Was für die Arbeit eher von Vorteil ist. Denkt zumindest Taina, kann es aber natürlich nicht laut sagen.«

Ich öffne ein Auge und linse zu meiner neuen Chefin. Ihr Ausdruck verrät nichts. Also fahre ich fort, mir die Informationen zu Johanna ins Gedächtnis zu rufen – sie stehen klar und deutlich vor meinem inneren Auge.

»Von Ihnen gab es sechs Bilder. Bei der Weihnachtsfeier hatten Sie eine Wichtelmütze mit lustigen Zöpfen auf, beim Gruppenbild standen Sie hinten rechts. Hobbys: Jagd, Naturfotografie und Eislochangeln. Sie fühlen sich im Außendienst wohl.«

So. Ich gehe das Material noch einmal durch. Nichts weiter von Belang. Ich nehme die Finger von den Schläfen und betrachte mein Publikum. Es ist mucksmäuschenstill, dann fragt der Bärtige: »Wie alt ist Johanna geworden?«

»Fünfunddreißig. Ein schönes Alter. Oder was meinen Sie, Niko Kristian Uusitalo?«

Der Bärtige antwortet nicht. Er sieht mich herausfordernd an, die Augen zusammengekniffen.

»Sie sind achtundvierzig Tage jünger als Johanna, stimmt doch, oder?«

Die Stille hält an. Nur die Neonleuchte an der Decke summt.

»Stimmt«, sagt Johanna nach einer Weile.

Ich nicke und schließe die Augen. Die Fingerspitzengeste lasse ich diesmal weg.

»Sie sind gern im Innendienst, Schreibtischarbeit macht Ihnen Spaß …«

»Nein, so ist es nicht«, protestiert Niko. »Ich lasse mich davon nur nicht stören.«

»… was wohl am Älterwerden liegt«, fahre ich fort. »Der Vater im Innenministerium, die Mutter beim Obersten Gericht. Sie haben sich für die Sondereinheit Schwerkriminalität beworben, weil Sie in ihr ein gutes Sprungbrett sehen.«

»Ein ganz schöner Hammer«, wirft Johanna ein.

Wahrscheinlich hat sie recht. Ich lasse Niko in Ruhe und schaue zu Taina. »Wir wollten die Personen für die Abteilung gemeinsam aussuchen, aber du hast offensichtlich deine Wahl schon getroffen.«

»Kein Kommentar«, antwortet Taina, ihre Miene eine unbewegliche Maske.

Die Zuhörer blicken sich unruhig um. Ich klicke ein Schema an, das daraufhin auf der Leinwand erscheint und die von mir eben angewandte Gedächtnistechnik darstellt. Es erinnert an den Grundriss einer Wohnung. In einem Raum sind die Fotos, in einem anderen die Dienstausweise, im dritten die Bewerbungen und im vierten weitere Dokumente.

»Schon die antiken Griechen haben die sogenannte Loci-Methode erfunden. Der Überlieferung nach saß der Lyriker Simonides von Keos gerade mit seinen Freunden beim Essen, als das Gebäude über ihnen einstürzte. Die Opfer wurden bis zur Unkenntlichkeit zermalmt, und es gelang nur, die Leichen zu identifizieren, weil Simonides sich ins Gedächtnis rufen konnte, wer auf welchem Platz gesessen hatte.«

Im Raum ist es jetzt absolut still. Augen werden gerollt. »Ist der noch ganz dicht?«, flüstert jemand.

»Von dieser Technik kann jeder profitieren«, fahre ich fort. »Doch das Wichtigste bei unserer Arbeit ist die Interpretation der Informationen. Und aufgrund der vorliegenden Informationen interpretiere ich, dass Taina bereits Johanna und Niko für die Abteilung ausgewählt hat, zumindest unbewusst. Von ihnen waren am meisten Dokumente auf dem USB-Stick.«

In dem Augenblick erhebt sich Taina, kommt zu mir nach vorn und dankt allen für ihre Teilnahme. Dann wendet sie sich zu mir und sagt: »Wir gehen in mein Büro.«

Taina ist geladen. Für diese Schlussfolgerung bedarf es keiner psychologischen Ausbildung. Ihre Hände fahren wie Sensen durch die Luft, das Kostüm raschelt und die Stöckelschuhe schlagen beinahe Funken. Als wir ihr Büro erreichen, öffnet sie mit Schwung die Tür und beordert mich stumm hinein.

»Was sollte das eben?«, fragt sie, gleich nachdem wir uns gesetzt haben. »Johanna und Niko sind gute Polizisten. Du hast sie absolut schäbig behandelt.«

Ich schaue mich im Zimmer um. Eckbüro, Aussicht nach zwei Seiten, ein klassisches Chefzimmer. Auf dem Tisch ein Computer mit großem Monitor und schnurloser Tastatur. Ein Stiftehalter, in dem drei metallisch glänzende Füller stecken. Keine Papiere, keine Notizzettel, keine Kinderzeichnungen, keine Fotos, kein Durcheinander. Auch die Regale sind aufgeräumt. Gesetzesbücher, Ordner, Aktenhefter. In geraden Reihen, auf den Deckeln kein Staub.

Das Zimmer ist eine Kulisse, so wie es das Zimmer der Chefin zu sein hat. Hier werden keine Fälle gelöst, hier wird verwaltet.

»Johanna und Niko könnten dein Team werden«, sagt Taina und fährt nach einer kurzen Pause fort. »Könntest du mich bitte ansehen, wenn ich mit dir spreche!«

Ich richte meinen Blick auf Taina und lächle sie an, bin mir aber nicht sicher, ob es gelingt.