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J. M. Ilves

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Beschreibung

Kommissar Sorjonen erlebt seinen persönlichen Albtraum: Seine Tochter Janina wird blutverschmiert und ohne jegliche Erinnerung auf einem Segelboot aufgefunden. Neben ihr: ein brutal ermordeter Mann. Die Beweise sind erdrückend, der Fall scheint klar. Und Sorjonen hat nur noch eine Mission: die Unschuld seiner Tochter zu beweisen.

Sorjonen ist ein brillanter Ermittler, doch Mord und Totschlag verfolgen ihn bis in den Schlaf. Wenigstens ging es bislang um das Schicksal anderer. Damit ist es jetzt vorbei: Seine eigene Tochter wird in einen bizarren Mordfall verwickelt, und alle Spuren weisen in ihre Richtung. Sorjonen sind die Hände gebunden. Schließlich beginnt er zusammen mit seiner Kollegin Lena, einer ehemaligen russischen FSB-Agentin, auf eigene Faust zu ermitteln. Je näher er dem wahren Schuldigen allerdings kommt, desto mehr bringt er sich selbst in Gefahr. Denn der Täter will nur eines: Rache …

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Seitenzahl: 318

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J. M. Ilves

BORDERTOWN Die Abrechnung

Kriminalroman

Aus dem Finnischen vonAnke Michler-Janhunen

Suhrkamp

Die Abrechnung

PROLOG

Ich habe fünf Sekunden Zeit. Gehorche ich nicht, werde ich sterben.

Mit aller Kraft konzentriere ich mich darauf, meine Hand ruhig zu halten, doch es gelingt mir nicht. Zwischen meinen Fingern die Spritze, gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit.

Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Ich lasse meine Hand langsam sinken, bis die Kanüle die makellos glatte Haut in der Armbeuge und die bläulich darunter hervortretende Vene berührt.

Ohne es zu wollen, sehe ich Bilder längst vergangener Tage vor mir: Janina in einem Strampler mit Tiermuster aus dem staatlichen Mutterschaftspaket, Janina im Hochstuhl, über und über mit Spaghettisoße bekleckert, Janina auf ihrem neuen Fahrrad mitten in der Nacht auf dem Parkplatz unseres Mehrfamilienhauses – nichts vermochte sie davon abzubringen, ihr Geburtstagsgeschenk sofort auszuprobieren, sie übte stundenlang und gab erst auf, als es ohne Stützräder klappte. Damals war ich von ihrer Starrköpfigkeit genervt – doch jetzt, in diesem Moment, ist die Erinnerung für mich wertvoller als alles Gold der Welt.

Dann ein Bild aus dem letzten Frühling: Janina als wunderschöne junge Frau beim Abschlussball des Gymnasiums. Zum Festprogramm gehörte auch ein Vater-Tochter-Tanz. Ich war furchtbar nervös, zählte die Schritte und konzentrierte mich darauf, Janinas prachtvolles Festkleid nicht zu zerknittern. Mein alter Anzug kniff. Erst als ich nach dem Tanz zurück zu meinem Platz auf der Tribüne der Turnhalle ging, spürte ich grenzenlosen Stolz. Ich hatte mir eingebildet, meine Rührung gut verborgen zu haben, doch Pauliina hat mich an sich gedrückt und mir unauffällig ein Papiertaschentuch zugesteckt.

Meine Arbeit hat meiner Familie schon viel Kummer bereitet, aber nichts davon ist mit dieser Situation zu vergleichen. Die Opfer, die meine Familie bisher bringen musste, waren immer symbolisch. Dieses hier ist konkret.

Ich spüre eine Berührung im Nacken. Die Zeit ist abgelaufen. Ich soll meinem eigenen Kind Gift in die Adern spritzen.

1

»Wahnsinn!«, rufe ich laut und feixe dabei wie die Grinsekatze aus Alice im Wunderland nach zu exzessivem Opiumgenuss. Was mir nicht mal schwerfällt, da ich weit mehr Champagner getrunken habe, als mir guttut.

»Das ist von uns allen«, sagt Pauliina feierlich.

Am Tisch versammelt sitzen Pauliina, Janina, Lena, Katia, Niko und Taina, und ich bemühe mich, jedes Familienmitglied und jeden Kollegen mit einem tiefen, von Dankbarkeit erfüllten Blick zu bedenken.

»Tausend Dank, ihr seid wunderbar!«

Alle lächeln mich an und gratulieren. Witze machen die Runde. Mit Mühe halte ich die Fassade aufrecht und gebe mich als wortgewandter Gesellschaftsmensch, doch meine Kräfte sind nahezu erschöpft. Meine Mundwinkel verkrampfen, in meinem Kopf dreht sich alles, das Atmen fällt mir immer schwerer.

Seit Stunden stehe ich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Jetzt kann ich nicht mehr. Trotz des Champagners bricht die Angst über mich herein wie eine Welle. In meiner Not greife ich zum Löffel und esse einen Happen von der Torte auf meinem Teller. Natürlich verschlucke ich mich daran, huste, bis mir die Augen tränen.

Als ich schließlich wieder sprechen kann, sage ich so fröhlich wie möglich: »Nun steht schon auf, hier gibt es nichts zu sehen. Nur einen alten Mann, der an einem Stück Kuchen erstickt.«

Pauliina, meine geliebte Frau, mein Schutzengel, erkennt die Verzweiflung in meiner Stimme und ermuntert die Gäste, im Wohnzimmer noch einen Kognak einzunehmen.

Als ich endlich für einen Moment der Schar meiner Gratulanten entkomme, wiege ich die großformatige, mit einem Apfel-Logo verzierte Schachtel in der Hand. Eigentlich brauche ich kein neues Smartphone, und es graut mir schon jetzt vor dem Gedanken, mich an ein neues Betriebssystem gewöhnen zu müssen.

Allerdings hätte es auch schlimmer kommen können. Jemand, der fünfzig wird, bekommt mitunter seltsame, lustig gemeinte Dinge geschenkt – Gehhilfen, Lupen, ein Kilo Schnurrbartfett oder einen Gutschein fürs Tattoo-Studio.

Ich reiße die Verpackungsfolie auf und überlege, wie sich die Schachtel elegant öffnen lässt, ohne sie zu beschädigen. Das Design ist kompakt, nirgendwo ist eine Schlaufe zu erkennen. Meine Brille habe ich mal wieder verlegt, wahrscheinlich ist sie im Keller oder im Auto oder im Kühlschrank – zumindest hatte Pauliina sie einmal dort gefunden und hält mir das bis heute vor.

Entschlossen schüttele ich die Schachtel – vielleicht gibt ja eine Seite nach. Janina, die sich neben mich gesetzt hat, sieht mich schief an und kommentiert meine verzweifelten Öffnungsversuche mit einem aufmunternden »Nur zu, das wird schon, Papa«. Jetzt erst bemerke ich, dass sie mich mit dem Handy filmt. Ich bin absolut nicht in der Stimmung für so was. Und dann fragt sie mich mit einem verschwörerischen Blick zu Katia, ihrer besten Freundin, die zu meiner anderen Seite sitzt, auch noch: »Was genau tust du da eigentlich?«

»Ich versuche, mein Geschenk irgendwie aufzukriegen!«

Gemeinsam erklären mir die beiden Digital Natives, dass ein iPhone doch kein Nullachtfünfzehn-Nokia-Handy sei, das man einfach so aus der Verpackung schüttelt und dann ohne Umschweife in Betrieb nimmt. Das Öffnen der Schachtel käme einem Ritual gleich, einer Art Initiationsritus für den Eintritt in die Apple-Gemeinde.

»Auf YouTube gibt es tausende Unboxing-Videos zum stilvollen Öffnen der Verpackung«, erklärt Janina.

»Diese Videos werden auch von Leuten geschaut, die niemals die Kohle hätten, sich so ein Teil zu kaufen«, ergänzt Katia.

Ich schaue die Mädchen verständnislos an: »Unboxing?«

Janina schnappt sich ihr Smartphone vom Tisch und zeigt mir ein Video, in dem ein junger Nerd mit zitternder Stimme das Öffnen einer iPhone-Verpackung kommentiert. Die Folie schneidet er mit einem scharfen Messer auf – es käme ihm niemals in den Sinn, sie einfach aufzureißen –, dann faltet er sie so vorsichtig zur Seite, als wären es die Blütenblätter einer zarten, exotischen Blume. Die ehrfurchtsvolle Stimmung zieht sich durch das gesamte Video. Als Nächstes öffnet er im Zeitlupentempo die Schachtel, legt, begleitet von euphorischen Kommentaren, Anleitung und Zubehörteile nebeneinander auf den Tisch.

»Okay, das reicht«, sage ich, greife zur Schachtel und schüttele sie wie eine Ketchupflasche.

»Du gehst da völlig falsch ran«, versucht Janina noch einmal, mich zu belehren. »Du musst die Packung erst mal von allen Seiten bewundern. Das ist das teuerste Modell auf dem Markt, man muss es entsprechend behandeln.«

»Das Öffnen der Schachtel ist wie eine japanische Teezeremonie«, pflichtet ihr Katia bei. »Man muss die Tasse erst beschnuppern, bevor man den Tee trinkt.«

Jetzt reicht’s. »Habt ihr Mädels schon mal was vom Konsumismus gehört und was er für unseren Planeten bedeutet?«

»Nun flipp nicht gleich aus«, sagt Janina beruhigend. »Na klar wissen wir das. Aber man wird doch nur einmal fünfzig.«

»Genau, du bist auf dem halben Weg zur Hundert«, erklärt Katia. »Das ist ein ehrenwertes Alter. Genieß es!«

Ich bin mir nicht sicher, ob die beiden mich auf den Arm nehmen wollen. Die Jugend von heute beherrscht die Regeln der Ironie viel zu gut. Ich lege die Schachtel vor mir auf den Tisch.

»Öffnet ihr das doch für mich. Dann könnt ihr dran schnuppern, so viel ihr wollt.«

Die beiden nehmen sich der Schachtel mit Ausrufen genussvoller Bewunderung an. Wahrscheinlich übertreiben sie das Ganze, um mich zu ärgern. Ich bleibe ungerührt und verkneife mir eine Predigt über die Gefahren hedonistischen Schwelgens.

»Schau doch nur, das Ladekabel«, ruft Katia begeistert.

»Edel«, stimmt Janina ein. »Und hier, der Adapter.«

»Äußerst elegant. Da sind die Kopfhörer.«

»Ah!«

»Oh!«

Und so geht es weiter. Schließlich liegt der Inhalt der Packung auf dem Tisch, und die beiden helfen mir, das Telefon in Betrieb zu nehmen. Janina lädt mir ein paar Apps herunter, ohne die man heute angeblich nicht mehr klarkommt. Zum Test schickt sie mir eine Videonachricht mit der Aufnahme von meinem vergeblichen Versuch, die Packung zu öffnen. Die Stirn zerfurcht, der Hals voller Falten – von Jahr zu Jahr ähnele ich immer mehr einer Urechse.

Das neue Telefon ist riesig. Zwecklos, es in die Hosentasche stecken zu wollen, dafür brauche ich offensichtlich eine Handtasche. Außerdem trage ich die meiste Zeit zusätzlich auch noch mein Diensthandy mit mir herum.

Es ist Zeit, die neue Technik auszuprobieren. »Wie ruft man damit an?«, frage ich.

Die beiden schauen mich an wie einen Alien.

»Kein Mensch ruft heutzutage noch an«, entrüstet sich Janina.

»Heute verschickt man Videos oder Bilder«, pflichtet Katia ihr bei.

Jetzt nehmen sie mich wirklich auf den Arm. Andererseits, überlege ich, habe ich Janina tatsächlich schon ewig nicht mehr ins Telefon sprechen sehen. Die Kommunikation innerhalb unserer Familie beschränkt sich neuerdings fast vollständig auf simsen.

»Wenn es absolut dringend ist«, führt Janina weiter aus, »kann man eine Voicemail schicken.«

Beide wünschen mir noch einmal alles Gute und verabschieden sich dann aus der Küche. Verwirrt bleibe ich zurück. Es ist noch gar nicht so lange her, da prahlte ein Handy-Anbieter in seiner Werbebotschaft damit, dass die Finnen dank der Funktelefone nun mehr miteinander reden könnten. Was wusste der schon?

Ich betrachte erneut das iPhone von der Größe eines Frühstücksbrettchens und sehne mich nach dem vergangenen Jahrtausend. Damals war vieles klarer, zumindest kam es mir so vor. Die Zeit war nicht ständig knapp bemessen so wie heute, und die Menschen waren nicht uneingeschränkt erreichbar. Zwischen Arbeit und Freizeit gab es eine klare Grenze – zumindest in der Regel.

Es ist verdächtig still. Wahrscheinlich hat Pauliina den Gästen zugeraunt, mir einen Moment Ruhe zu gönnen. Unsere neuen Freunde wundert das nicht mehr, sie haben bereits ein Jahr Zeit gehabt, sich an meine unsoziale Art zu gewöhnen.

Unser erstes Jahr hier in Lappeenranta ist erschreckend schnell vergangen. Wobei mir Jahreszahlen seit der Jahrtausendwende ohnehin nur noch wie bedeutungslose Seriennummern erscheinen. Als ich noch jung war, bedeutete eine Jahreszahl noch etwas. Die zwölf Monate eines Jahres waren gefüllt mit Ereignissen, heute eilen sie vorüber wie ein Video im Schnelldurchlauf.

Im Frühjahr 1994 sind Pauliina und ich zusammengezogen, unsere Liebe loderte wie ein brennendes Ölfeld. Im gleichen Sommer waren wir mit dem alten VW-Bus meiner Eltern und schmalem Budget in Norwegen. Übernachtet haben wir hinten im Bus auf Schaumstoffmatratzen. Die Nächte waren bereits kalt, aber das hat uns nicht gestört, und ein Schlafsack reichte für uns beide. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich irgendwo bei Narvik auf einem Felsen saß und Pauliina beim Blumenpflücken beobachtete. Für einen Moment schien die Zeit stehen geblieben zu sein, und noch heute sehe ich alles deutlich vor mir: ihr glückliches Lächeln, als sie sich zu mir umdrehte, die Grübchen auf den Wangen und die Falten ihrer Bluse. Ich wünsche mir, mich an diesen Moment auch später im Rollstuhl oder Altersheim noch erinnern zu können.

Der Herbst jenes Jahres ist ebenfalls nicht einfach vorübergeeilt. Von unserer kleinen Mietwohnung am Westrand von Helsinki aus unternahmen wir lange Spaziergänge im Keskuspuisto-Park, einem Grüngürtel, der sich quer durch die ganze Stadt zieht. Am Wochenende sind wir mit dem Bus in den Nationalpark Nuuksio gefahren und haben über einem Lagerfeuer Würstchen gegrillt und den Anblick des herrlich gefärbten Laubs genossen.

Natürlich ist mir klar, dass die Zeit heute nicht schneller läuft, die Atomuhr gleichmäßig weitertickt. Es geht vielmehr um mein unvermeidliches Älterwerden. Es gibt nur noch selten atemberaubende Momente, in denen die Zeit stehenzubleiben scheint, und es geschehen kaum noch weltbewegende Dinge, wie etwa eine neue Liebe, die einem die Beine weghaut. Die Zeit zerrinnt zwischen den Fingern, ohne Spuren zu hinterlassen. Der digitale, von Jahr zu Jahr schneller werdende Lebensrhythmus trägt seinen Teil dazu bei. Ich fürchte, Janinas Generation wird die Welt nie so erleben, wie Pauliina und ich das seinerzeit konnten: Als wir jung waren, schien die Zeit endlos und voller Möglichkeiten zu sein, die Wege führten weit über den Horizont hinaus. Natürlich war das eine Illusion, aber das Gefühl war gut und wichtig.

Auch wenn unser erstes Jahr hier wie im Flug vergangen ist, die Entscheidung umzuziehen war richtig. Wären wir in Helsinki geblieben, wäre ich nach wenigen Monaten am Ende gewesen. Alles hatte mit Pauliinas Krebsdiagnose begonnen. Als ich erfuhr, dass sie an einem Hirntumor litt, wurden meine Panikattacken immer schlimmer. Ich konnte es nicht mehr ertragen, dem Tod im Arbeitsalltag zu begegnen, weil er drohend über meiner eigenen Familie schwebte. Mit jedem Morgen fiel es mir schwerer, mich zum Dienst zu schleppen, und jedes neue Verbrechen ging mir direkt unter die Haut. In diesem Zustand konnte ich Pauliina und Janina nicht so zur Seite stehen, wie ich wollte. Das war die finsterste Zeit meines Lebens.

Erst nach Pauliinas Operation ging es langsam wieder aufwärts, beflügelt von ihrer schrittweisen Genesung und den Umzugsvorbereitungen. Was den Umzug betrifft, habe ich mich nur in einer Hinsicht verkalkuliert: Lappeenranta ist keineswegs so, wie ich mir ein Provinzstädtchen an der russischen Grenze vorgestellt habe. Die dunkle Seite des Menschen ist überall präsent, sie verfolgt mich wie ein Schatten, dem ich nicht entkommen kann. Immerhin kann ich jetzt besser damit umgehen, weil ich meinen Schutzschild gegen die Hoffnungslosigkeit zurückgewonnen habe: ein ruhiges Zuhause.

Doch manchmal traue ich meinem Glück nicht so recht. Mein neu gewonnenes inneres Gleichgewicht fühlt sich zu gut an, um wahr zu sein, und der Unterschied gegenüber der Vergangenheit ist zu groß. An dunklen Tagen, meist nach einer Nacht, in der mich ein ungelöster Fall mal wieder wach gehalten hat, ertappe ich mich dabei, wie ich im Internet Verlaufsprognosen und Rückfallquoten recherchiere. Manchmal scheint es mir fast, als wollte ich unbedingt etwas Schreckliches, Angsteinflößendes finden, mit dem ich mich quälen kann. Als wollte ich mit Macht alles zerstören und wieder in der Tiefe versinken. Dieses Suhlen im Unglück ist manchmal fast zwanghaft, und mitunter habe ich in diesem Zustand Dinge getan, auf die ich keineswegs stolz bin.

»Geht es wieder?« Pauliina steht in der Tür und sieht mich durchdringend an. Sie fragt mich, worüber ich nachgrübele, ich sähe so ernst aus.

»Ich reflektiere mein Leben«, entgegne ich. »Das ist bei einem runden Geburtstag ja wohl gestattet.«

»Sicher doch. Komm wieder unter Menschen, wenn du damit fertig bist. Die Gäste amüsieren sich, ich habe gerade eine Flasche Calvados geöffnet.«

Pauliina will sich gerade wieder umdrehen, als ich sie zurückhalte. Ich war schroff zu ihr, das war nicht meine Absicht.

»Bitte bleib«, sage ich.

Pauliina hält inne.

Ich stehe auf und gehe zu ihr. »Ich liebe dich«, hauche ich ihr mit belegter Stimme ins Ohr. Im gleichen Moment denke ich an Janina. »Wir haben eine tolle Tochter«. »Hol sie bitte kurz her – nur wir drei, unsere Familie!«

»Geht leider nicht. Die Mädchen sind in die Stadt gegangen.«

»Dann schicken wir ihr eine Voicemail«, entgegne ich, plötzlich voller Begeisterung. »Das bringt Pluspunkte als Hipster-Vater.«

Ich greife nach dem Telefon und wische auf dem Display rum. Es gelingt mir, ohne Lesebrille die richtige Anwendung zu öffnen, doch die Schrift und die Symbole sind furchtbar winzig.

Pauliina steht neben mir. Immerhin lacht sie mich nicht aus, das rechne ich ihr hoch an.

»Kann ich helfen?«

»Ich komme schon klar!«

Doch sie kann nicht an sich halten, nimmt mir das Smartphone aus der Hand und tippt darauf herum.

»Wähle Janina als Empfänger. Dann musst du hier drücken.«

Ich schiebe ihre Hand beiseite. »Weg da.« Dann räuspere ich mich, drücke auf Aufnahme und spreche möglichst ungezwungen wie ein echter Social-Media-Profi: »Meine liebe Janina. Hier sind Papa und Mama. Ich wollte dir nur sagen, dass wir dich sehr, sehr liebhaben. Du bist für uns das Allerwichtigste.« Möglichst routiniert drücke ich auf Senden und schicke die Nachricht in die Welt.

»So! Was sagst du jetzt?«

»Fein gemacht.«

»Dein Mann ist schließlich kein Fossil. Fünfzig ist das neue Vierzig.«

»Offensichtlich.«

Mein Telefon vibriert und gibt einen quäkenden Ton von sich. Fast wäre es mir aus der Hand gefallen. Auf dem Display erscheinen eine Reihe Tränen lachender Smileys und der Text »schickes Video, Paps«. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass ich statt einer Sprachnachricht ein Video aufgenommen habe, auf dem man sieht, wie ich mit zusammengekniffenen Augen und Zunge im Mundwinkel angestrengt versuche, das Smartphone zu bedienen. Auch die Kameraperspektive von unten auf mein in Falten gelegtes Gesicht ist nicht gerade optimal. Janina wird der Versuchung, das Video ins Netz zu stellen, nur schwer widerstehen können.

Einige meiner Gäste rüsten sich zum Aufbruch, es wird höchste Zeit, mich wieder auf meine Pflichten als Gastgeber zu besinnen.

»Bist du bereit?«, fragt mich Pauliina.

Ich schaue sie an und gebe zu, dass ich lieber mit ihr in der Küche bleiben würde.

2

Unerwartet trat die Sonne zwischen den grauen Regenwolken hervor. Den ganzen Nachmittag war der Himmel bedeckt gewesen. Jetzt, kurz vor Sonnenuntergang, klarte das Wetter auf. Die Natur wurde noch einmal lebendig, die Vögel in den Birken am Ufer begannen erneut, fröhlich zu zwitschern.

Im Sonnenlicht zeichneten sich die Zweige der Bäume auf den Wänden des einsamen Sommerhauses ab, das von der Uferböschung halb verdeckt wurde. Die Fenster glühten wie im Feuerschein. Alles wirkte still und verlassen, dann ging die Tür auf und ein Mann mit ergrauten Schläfen trat auf die Veranda. Versunken in den Anblick des in Orange getauchten Horizonts lehnte er sich an das Geländer. Die Wolken wurden von hellvioletten Streifen eingerahmt, die langsam dunkler wurden.

Er seufzte zufrieden. Sein Gesicht strahlte eine innere Ruhe aus. Langsam stieg er die Stufen der Veranda hinab und schlenderte zur Sauna am Seeufer. Er hielt immer wieder inne, um hier und da ein paar Heidelbeeren zu kosten. Bei jedem Aufrichten fasste er sich an den Rücken und stieß ein leises Ächzen aus.

Die Saunatür knarrte, und nur wenig später quoll dicker Rauch aus dem Schornstein. Als der Mann wieder heraustrat, hatte er in jeder Hand einen Eimer. Langsam ging er Richtung See, bis ans Ende des alten, wackligen Stegs. Dort ließ er sich schwerfällig auf die Knie sinken und füllte die Eimer. Beim Aufrichten glaubte er, ein Geräusch zu hören. Sicher nur ein Rabe, dachte er und trug die Eimer zurück zur Sauna. Der Rauch war nun dunkelgrau, es würde noch gut eine Stunde dauern, bis die Sauna heiß war. So lange wollte er auf der Veranda den Sonnenuntergang genießen.

Er liebte es, Zeit im Sommerhaus zu verbringen. Auch nach zwanzig Jahren hatte er davon noch nicht genug. In der Natur ringsum entdeckte er jedes Mal etwas Neues. Nichts hier konnte seine Ruhe stören, allen modernen Krempel wie Fernseher oder Handy hatte er in der Stadt gelassen. Im Radio hörte er jeden Tag den Wetterbericht, selten mehr. Einmal hatte er zufällig eingeschaltet, als über die Entschleunigung des Lebens geschwafelt wurde. Der Redakteur hatte unentwegt vom Downshiften und Herunterschalten geplappert. Die hektische Diskussion hatte ihn zum Lachen gebracht. Sollten die mal aufhören mit der öffentlichen Klugscheißerei, dann wären sie ihrem Ziel einen bedeutenden Schritt näher.

Er ging zurück zum Haus. Das Eimertragen hatte ihn angestrengt, und er musste immer wieder stehenbleiben, um seinen Rücken zu strecken. Plötzlich glaubte er, aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf der Veranda wahrzunehmen, eine fast unscheinbare Lichtveränderung. Doch erkennen konnte er nichts, denn die Veranda lag im Schatten und der hintere Teil war zu dunkel, um dort irgendetwas auszumachen.

Die Tür zum Sommerhaus schloss er nie ab, wovor sollte er sich hier draußen auch fürchten? Ungebetene Besucher wurden von den verzweigten Waldwegen ferngehalten. Und die nächtliche Dunkelheit war ihm vertraut wie ein alter Freund, er liebte es, im Anblick tausender Sterne und der Milchstraße zu versinken.

Auf der Veranda konnte er keine Veränderung erkennen: das Buch, die Bierdose, der Aschenbecher und die Pfeife aus Rosenholz lagen noch genauso da, wie er sie hinterlassen hatte. Nur die Blumenampel, die seine Frau am Dachbalken befestigt hatte, schaukelte sanft hin und her. Er musste über sich selbst schmunzeln und setzte sich in seinen Korbstuhl. Die Sonne blinzelte hinter den Birken hervor, bald würde sie hinter dem See versinken und ihn in ebenso tiefes Rot tauchen wie den Himmel.

Eine Weile saß er ruhig da und genoss den Anblick. Plötzlich überkam ihn das Gefühl, nicht allein zu sein. Zuerst konnte er es nicht genau benennen, aber schließlich wuchs die Gewissheit in ihm. Seinem Instinkt folgend erhob er sich und öffnete die Haustür.

Auf dem Sofa saß eine Gestalt. Der Eindringling hatte die Beine entspannt übereinandergeschlagen und einen Arm auf die Lehne gestützt. Er schien auf etwas zu warten. Der Anblick wirkte so unrealistisch, dass der Hausherr einen Moment an seinem Verstand zweifelte.

»Ein herrlicher Abend«, sagte der Eindringling mit einem Lächeln.

Darauf fiel dem Hausherrn keine Erwiderung ein. Hektisch ging er die Alternativen durch. Der Eindringling war elegant gekleidet und wirkte gebildet, wie ein Einbrecher sah er nicht aus. Vielleicht handelte es sich um ein Missverständnis. Die schmalen Waldwege waren nicht beschildert, und erst im letzten Sommer war eine Familie mit Kindern von ihrem Navi hierhergeleitet worden.

Er räusperte sich. »Hier handelt es sich wohl um ein Versehen. Mein Nachbar wohnt ein paar Kilometer weiter …«

Weiter kam er nicht. Der seltsame Gast legte lächelnd den Finger an die Lippen. Die Geste überraschte ihn so, dass er verstummte.

»Der Kuckuck ruft. Hören Sie das?«

Der Hausherr wandte den Kopf Richtung Tür, hörte aber nichts. Als er den Blick wieder auf den Eindringling richtete, war dieser aufgestanden und stand unangenehm nah vor ihm.

»Er ist verstummt«, sagte der Fremde mit Bedauern. »Sie wissen sicher, was das bedeutet.«

Noch bevor er den Satz beendet hatte, schoss sein Arm in die Höhe und stieß schnell wie eine Schlange zu. Der Hausherr spürte einen leichten Schmerz und fasste sich an den Hals. Als er seine Hand betrachtete, war kein Blut zu erkennen. Allerdings neigte sich der Eindringling zur Seite, und die Wände wichen zurück. Vor seinen Augen zuckten farbige Blitze, die schnell dunkler wurden.

»Keine Sorge.« Die Stimme des Mannes erreichte ihn wie durch eine Nebelwand. »Ich fange Sie auf.«

3

In jungen Jahren hatte ich mich, wenn sich ein geselliger Abend nicht umgehen ließ, meist mit Trinken gerettet. Weniger aus Strategie als vielmehr aus Versehen – wenn ich nervös war, trank ich zu viel, bis es – zumindest für einen Augenblick – nicht mehr wehtat, die vielen Menschen und den von ihnen verursachten Lärm ertragen zu müssen. Außerdem wurde ich so für eine gute halbe Stunde zu einem fast umgänglichen Gesellschaftsmenschen. Bezahlen musste ich diesen Umstand mit so manchem verkaterten Morgen. Es hat mir aber auch etwas Gutes gebracht: Am Silvesterabend des Jahres 1993 hatte ich mich genau im richtigen Moment getraut, den Mund aufzumachen und Pauliina anzusprechen. Später tauschten wir unsere Telefonnummern aus.

Offensichtlich habe ich mich auch mit fünfzig nicht grundlegend verändert. Der Abend ist noch jung, aber weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, habe ich wieder zu viel getrunken und schwanke nun leicht. Das wird mir sicher keiner hier übelnehmen. Außerdem ist es fast überstanden, es sind nur noch meine beiden engsten Kollegen, Niko und Lena, da. Jetzt kann ich mich endlich entspannen. Ich betätige den Hebel am Sessel, die Fußstütze klappt hoch, die Rückenlehne runter, und ich liege nun fast wie auf einem Zahnarztstuhl.

»Hab ich euch jemals gesagt«, beginne ich schwülstig, während ich den fliegenförmigen Rauchmelder über mir anstarre, »dass ihr ein Spitzenteam seid? Bessere Kollegen kann man sich nicht wünschen.«

»Ich muss jetzt leider gehen«, sagt Lena.

»Ich auch«, fügt Niko eilig hinzu.

Ich lasse die Rückenlehne hochschnellen. »Aber doch nicht sofort!«, rufe ich entrüstet.

Pauliina schaut mich verwundert an.

»Nehmt euch noch einen Kaffee und einen Calvados«, bettele ich, »und lasst uns noch ein bisschen schwatzen.«

Ich bin in der Phase des umgänglichen Gesellschaftsmenschen. Mit Schwung erhebe ich mich aus dem Sessel, gehe entschlossenen Schrittes in die Küche und mache mich an der Kaffeemaschine zu schaffen. In Helsinki haben wir alles runtergekippt, was uns an schwarzem Gebräu vor die Nase kam. Hier investieren wir mehr Mühe in das Zubereiten des Kaffees, und unsere Kaffeemaschine von der Größe eines kleinen Gefrierschranks war keineswegs billig. Janina hält unser neues Hobby für versnobt, ist allerdings einem Latte macchiato aus frisch gemahlenen Bohnen und aufgeschäumter Milch nicht abgeneigt.

Ich trage den Espresso ins Wohnzimmer und stelle die Tassen vorsichtig, als wären es Vogeljunge, auf den Sofatisch. Dann gieße ich reichlich Calvados ein. Pauliina ist verschwunden, ich gieße ihr trotzdem ein Glas ein.

Nun fange ich an, über dienstliche Dinge zu reden, und frage Niko und Lena, was sie dazu bewogen hat, in den Polizeidienst einzutreten. Die Antworten sind nicht sehr tiefschürfend. Niko kann sich sogar die abgedroschene Bemerkung über den schmalen, aber verlässlichen Verdienst beim Staat nicht verkneifen. Lena, die sonst immer so direkt ist, antwortet ebenfalls ausweichend. Dabei würde mich besonders ihre Antwort interessieren, schließlich war sie früher beim russischen Inlandsgeheimdienst FSB beschäftigt. Bei der finnischen Polizei gibt es wahrscheinlich keine Zweite mit ihrem Hintergrund.

Für mich müsse ein Beruf mit Inhalt gefüllt sein, fahre ich fort, mit etwas Handfestem und Beständigem. »Auch wenn mir die Arbeit manchmal meine letzten Kräfte und fast den Verstand raubt, solange man einen Sinn darin sieht, hält man es aus.« Meiner Theorie nach hält ein Mensch harte Arbeit ohne Sinn entweder nicht aus oder wird im Alter von dem Gefühl heimgesucht, umsonst gelebt zu haben. Wenn vom jahrzehntelangen Schuften zum Lebensabend nichts bleibt, ist es schwer, stolz auf das Erreichte zu sein. Dann sind Partner und Familie für nichts und wieder nichts vernachlässigt worden, vollkommen grundlos hat man nicht mitbekommen, wie Kinder und Enkel herangewachsen sind, und auf der hohen Kante liegt auch nichts, für das sich das alles gelohnt hätte.

Meine Überlegungen bringen meine Kollegen in Verlegenheit.

»Wenn man fünfzig wird«, verteidige ich mich, »ist es ja wohl erlaubt, über das Leben zu philosophieren.«

Wenn es nur um Geld ginge, würde ich täglich am Black-Jack-Tisch im Casino sitzen. Dann könnte ich meine besondere Erinnerungsgabe zu Geld machen und das Polster auf dem Konto wäre komfortabler, aber in anderer Hinsicht wäre ich ärmer.

»Und was ist dir wichtig?«, fragt Lena ungeduldig.

Ich habe wohl etwas zu weit ausgeholt. Nach kurzer Überlegung antworte ich: »Die Welt ist voller zerstörerischer Kräfte, die nur im Dunkeln gedeihen. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass das Licht nicht erlischt.«

Das war vielleicht ein bisschen zu pathetisch. Doch zu meiner Überraschung nickt Lena ernst.

»Gut auf den Punkt gebracht. An dir ist ein Dichter verlorengegangen.«

»Jeden Morgen erinnere ich mich daran, warum ich zur Arbeit gehe. Dann bin ich besser gerüstet, wenn der Tag mir wieder einmal alles abverlangt. Probiert’s mal aus.«

Niko fühlt sich von meinen Ausführungen offensichtlich unangenehm berührt und versucht, die Stimmung ein bisschen aufzulockern.

»Du, mach doch noch mal den Trick«, fordert er mich auf und greift nach dem Kartenstapel. »Mal sehen, wie sich Alkohol auf dein Erinnerungsvermögen auswirkt.«

Am frühen Abend habe ich auf Wunsch meiner Gäste einen Trick vorgeführt. Dabei liegen drei gemischte Stapel Karten vor mir auf dem Tisch. Ich blättere sie einmal durch und zähle dann aus dem Gedächtnis alle Karten der Reihe nach auf. Jemand anders hält die Stapel in der Hand und kontrolliert vor aller Augen meine Aufzählung. Vorhin habe ich keinen Fehler gemacht.

»Ach, lass sein«, wehre ich ab. »Das Gedächtnis ist doch nur ein Werkzeug, die Arbeit an sich ist viel interessanter.«

Niko wirkt enttäuscht. Er ist jung, knapp dreißig, noch ein richtiger Grünschnabel.

Ich trinke mein Glas aus und fühle mich ungewohnt mitteilsam. Wenn man mein Alter erreicht hat, braucht man sich nicht mehr davor zu fürchten, sich zu blamieren. Vielleicht bin ich aber auch nur außergewöhnlich alkoholiiert.

Wie auch immer, auf jeden Fall beginne ich, über ein empfindliches Thema zu reden: im Dienst begangene Fehler.

»Ich habe den Sohn eines Ministers getötet«, bekennt Lena unumwunden. »Allerdings hat er zuvor versucht, mich umzubringen.«

Und sie hat es ohne Waffe getan. Ich kenne die Geschichte, und Nikos Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hört er sie auch nicht zum ersten Mal. Der Tod des Ministersohns war der Grund, warum Lena vor einem Jahr aus Russland nach Finnland geflohen ist. Jemand vom FSB hatte sie gewarnt, dass der Minister ihren Kopf fordere. Der Grund, warum sie sich ausgerechnet für Lappeenranta entschied, war das Verschwinden ihrer Tochter Katia, deren Spuren von Russland hierherführten. Der Fall war ungewöhnlich grausam und hatte mehrere Todesopfer gefordert, ist für Katia aber noch einmal glimpflich ausgegangen. Lena hat damals der Sondereinheit Schwerkriminalität auf die ihr typische Art geholfen, den Fall zu lösen: mit absoluter Hingabe und kurzentschlossenem, nervenstarkem Handeln.

Ihre Fähigkeiten hatten mich sofort beeindruckt, sie ist das genaue Gegenteil von mir. Lena analysiert nicht und geht auch nicht besonders systematisch vor – mitunter richtet sie in ihrem Privatleben ein ziemliches Chaos an –, aber ihre Intuition ist sensationell. In gewissem Sinne ist sie eher Künstlerin als Beamtin.

Es gelang unserer Abteilungsleiterin Taina Henttunen, die richtigen Strippen zu ziehen und Lena für eine Polizistin einzustellen, die wegen eines Dienstvergehens entlassen werden musste. Sie hat sich als wertvolle Mitarbeiterin erwiesen, und Taina hat nicht eine Sekunde lang bereut, sie ins Team geholt zu haben.

Katia ist heute Janinas beste Freundin. Allerdings gibt es auch einen Wermutstropfen: Lena ist mir auf ewig dankbar, dass ich ihre Tochter gerettet habe, und spricht das leider auch allzu oft aus. Sie meint es nicht böse, aber ihre Dankbarkeit lastet auf meinen Schultern.

»Das war doch ein Unfall«, werfe ich ein. »Der Sohn des Ministers stand unter Drogen und ist mit dem Kopf auf den Bordstein gefallen.«

»Trotzdem bereue ich es und denke oft darüber nach, wie ich es hätte verhindern können.«

Lena ist nur wenige Jahre jünger als ich, absolut professionell und erfahren. Es wäre grotesk, ihr zu sagen, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen soll. Trotzdem kann ich mir nicht verkneifen zu sagen: »Gib nicht dir die Schuld, es war Selbstverteidigung. Mit einem Meth-Junkie kann man nicht vernünftig reden.«

Lena zuckt mit den Schultern. Sie bereue es und damit gut.

Ein Blick auf Niko zeigt mir, dass er offensichtlich nichts preiszugeben hat. Also ergreife ich wieder das Wort und bekenne: »Amtsmissbrauch.«

Niko und Lena sehen sich an, Lena rutscht auf dem Sofa hin und her, als ob sie gleich aufstehen wollte.

»Wir müssen jetzt los.«

»Hört bitte erst zu!«

»Das kannst du uns doch morgen erzählen«, entgegnet Niko. »Wenn du es dann noch für eine gute Idee hältst.«

Ich bitte sie eindringlich, noch einen Moment zu bleiben. Die Sache quält mich seit Monaten, genau genommen seit dem Moment, in dem es geschah.

»Ich habe im Krankenhaus um eine dringende Auskunft gebeten und dabei vorgetäuscht, ich wäre im Amt.«

Meine Kollegen sehen verdutzt drein.

»Ihr versteht nicht, es ging um Angaben, die der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen, dabei hatte es rein gar nichts mit einem Fall zu tun.«

»Das ist kein großes Vergehen«, beschwichtigt mich Lena. »Vergiss die ganze Sache. Du hattest gewiss einen triftigen Grund.«

Niko wirkt ebenfalls erleichtert. »Ich hatte schon befürchtet, jetzt kommt was ganz Schlimmes«, stößt er hervor.

Sie verstehen mich nicht. Es ist ein schreckliches Vergehen.

»Das Verbrechen des Amtsmissbrauchs ist ein Straftatbestand, der mit einer Geldbuße oder einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet wird«, zitiere ich aus dem Gedächtnis. »In besonders schweren Fällen kann die betreffende Amtsperson vom Dienst suspendiert werden.«

»Wie lange hast du mit dem Arzt gesprochen?«, fragt Lena.

»Vielleicht zehn Minuten. Oder eine Viertelstunde.«

»Die anderen mussten also etwa diese Zeit länger warten.«

»So ist es.«

Für einen Moment sind wir alle still. Dann sagt Lena: »Du bist wie lange Polizist, seit gut zwanzig Jahren? Wenn das dein schwerstes Vergehen ist, dürfen wir stolz darauf sein, mit dir zusammenarbeiten zu dürfen. Es gibt nicht viele von deiner Sorte.«

Mit diesen Worten erhebt sie sich vom Sofa, und Niko folgt ihrem Beispiel. Sie geben mir die Hand, wünschen mir noch einen schönen Restgeburtstag und eine gute Nacht.

Jetzt erst bemerke ich, dass Pauliina im Zimmer steht, und zucke zusammen. Berauscht von meinem Bekenntnis habe ich gar nicht bemerkt, dass sie zurückgekommen ist. Wie lange hat sie schon da gestanden?

Als sich die Haustür hinter den Gästen schließt, werfe ich einen Blick auf sie. Ihr Gesichtsausdruck verrät mir, dass sie genug gehört hat und die Sache nicht auf sich beruhen lassen wird. Ich versuche, mich ins Bad davonzustehlen. Doch Pauliina stellt sich mir in den Weg und fragt mich streng, was ich beim Arzt gewollt habe. Auch müde Beine oder die redliche Erschöpfung eines Fünfzigjährigen lässt sie nicht gelten. Unerbittlich folgt sie mir ins Schlafzimmer und befiehlt mir, mich zu setzen. Ich lasse meinen Hintern brav auf die Bettkante plumpsen. Pauliina steht vor mir und sieht mich durchdringend an. Im Laufe des letzten Jahres hat sie jene Entschiedenheit zurückgewonnen, die sie bei ihrer Arbeit im Außenministerium ausgezeichnet hat. Die Überwindung der Krankheit hat ihren Blick noch unnachgiebiger werden lassen. Ehrlich gesagt möchte ich keiner ihrer Kollegen im Rathaus sein. Sie lässt niemandem leere Reden durchgehen, nicht einmal ihrem Oberboss und Jugendfreund Robert Degerman, dem Bürgermeister von Lappeenranta.

»Lass mich raten«, sagt sie, »du hast nach mir gefragt.«

»Lass uns morgen darüber sprechen.«

»Kommt nicht in Frage!«

Ich seufze tief und gebe dann zu, dass ich mir Sorgen wegen ihrer dauernden Migräne und der Schlafstörungen gemacht habe und das Gefühl hatte, sie verheimliche mir etwas. Ich hatte Angst, ihre Krankheit könnte wieder ausbrechen. Ich höre selbst, wie albern das klingt. Pauliina hat auch ohne die Hysterie ihres Mannes schon genug zu tragen. Nicht sie sollte es sein, die mich beruhigt, sondern umgekehrt.

»Es ist alles in Ordnung«, sagt sie. »Das MRT war negativ. Warum fällt es dir so schwer, das zu glauben?«

»Weil ich ein Idiot bin«, entfährt es mir. »Ich suche ständig zwanghaft nach Fehlern. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht bin ich so daran gewöhnt, mir Sorgen zu machen, dass ich nicht mehr anders kann.«

Wäre unser neues Leben eine Designervase von Tapio Wirkkala, würde ich heimlich mit der Lupe nach Kratzern suchen. Das ist meine ganz persönliche negative Kraft, die aus dem Dunkel entspringt.

»Das hier kommt mir alles vor wie ein Traum«, sage ich mit einer Handbewegung, die unser ganzes gegenwärtiges Leben umfassen soll. »Ich habe Angst, jeden Augenblick geweckt zu werden. Wahrscheinlich bin ich dabei durchzudrehen.«

Pauliinas Haltung und Gesichtsausdruck sind während meiner Beichte weicher geworden. Jetzt setzt sie sich neben mich und greift nach meiner Hand. Ich komme mir vor wie ein kleiner Junge, der von seiner Mama getröstet wird. Zugegebenermaßen fühlt es sich gut an.

»Was hat der Arzt gesagt?«, fragt mich Pauliina.

»Ich solle mich beruhigen und das Leben genießen.«

Über Pauliinas Gesicht huscht ein keckes Lächeln. »Dann sollten wir tun, was der Arzt gesagt hat«, sagt sie entschlossen und beginnt, ihre Bluse aufzuknöpfen.

4

Der Saimaa-See war spiegelglatt, nur der Morgendunst lag über dem Wasser, verflüchtigte sich aber im Schein der schnell wärmer werdenden Sonne und gab den Blick auf Felsvorsprünge und Inseln frei. Zwischen den Inseln verlief eine mit roten und grünen Tonnen markierte Fahrrinne. Von weit her war das gleichmäßige Tuckern eines gemächlich fahrenden Fischerbootes zu hören.

Etwas abseits der Fahrrinne, unweit einer dunklen Felszunge, trieb ein Segelboot mit einem elegant geschnittenen Schiffsrumpf aus sorgfältig lackiertem Mahagoni, der in der Sonne glänzte. Darauf stand in weißen, verschnörkelten Buchstaben der Name »Tuuli« – Wind. Das Segel war gehisst, hing aber reglos am Mast. Obwohl der Anker nicht heruntergelassen war, bewegte das Boot sich nicht von der Stelle. Es wirkte verlassen, niemand war zu sehen oder zu hören.

Auf der Felszunge versammelten sich immer mehr und immer lauter kreischende Möwen. Das Segelboot machte sie offensichtlich nervös. Jetzt erhob sich die mutigste von ihnen in die Luft und ließ sich auf dem Deck nieder. Vorsichtig trippelte sie erst in die eine, dann in die andere Richtung und gab schließlich ein siegesgewisses Kreischen von sich.

In diesem Moment erwachte Janina. Nur langsam kam sie zu sich, als müsste sie sich durch einen klebrigen Brei an die Oberfläche kämpfen. Es vergingen Minuten, bevor sie nach dem ersten unsicheren Blinzeln langsam ein Glied nach dem anderen bewegen konnte.

Jemand hatte geschrien, war sie es gewesen? Das war das Letzte, woran sie sich erinnern konnte. Danach war sie in einer endlosen Dunkelheit versunken, aus der sie ein erneuter Schrei geweckt hatte.

Vorsichtig hob sie den Kopf, doch sie konnte nichts erkennen. Vollkommene Dunkelheit umgab sie. Einen Moment lang fürchtete sie, erblindet zu sein, und der Schreck fuhr ihr unter die Haut. Doch dann erblickte sie einen schmalen Lichtstreifen. Sie kroch darauf zu und spürte dabei eine dünne Matratze unter ihren nackten Knien. Offensichtlich befand sie sich auf einem schmalen Bett. Erschrocken hielt sie inne und betastete ihren Körper. Sie trug nur Unterwäsche und ein Top.

Als sie das Bettende erreicht hatte, ließ sie vorsichtig die Füße auf den Boden gleiten. Der Raum war niedrig, sie musste sich fast ein bisschen ducken. Außerdem schien alles zu schwanken, und ihr wurde übel. Sie streckte die Hand aus, bekam einen Vorhang zu fassen und schob ihn beiseite. Gleißendes Sonnenlicht fiel durch ein kleines rundes Fenster, das den Blick auf einen Streifen blauen Himmels freigab. Das Fenster befand sich in einer kleinen Tür, die Janina nun vorsichtig aufdrückte.

Mit unsicheren Schritten trat sie hinaus, richtete sich auf und registrierte verwundert, dass sie sich an Deck eines Segelbootes befand. Rings um sie nichts als Wasser und ein kleiner Felsvorsprung, von dem sich gerade ein Schwarm Möwen erhob. Janina blickte ihnen nach, bis sie von der Sonne geblendet wurde. Sie hob die Hand, um ihre Augen abzuschirmen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Ihr gesamter Arm vom Ellenbogen bis zu den Fingerspitzen war über und über mit etwas Dunklem, Rotbraunem beschmiert. Ebenso ihr anderer Arm und ihr Top. Überall große Flecken und kleinere Spritzer.

Janina stieß einen schrillen Schrei aus und versuchte, ihre Arme abzureiben, doch die dicke Kruste ließ sich nicht einfach so wegwischen.

Es war Blut, getrocknetes Blut, und zwar eine Menge.

5

Gerade habe ich das seltsamste Telefonat meines Lebens beendet. Ich stehe im Morgenmantel in der Küche und starre auf das schwarze Display des Telefons in meiner Hand. Der Anrufer war Taina.

Als ich ihre Nummer sah, habe ich kurz gedacht, meine Chefin würde sich bestimmt einen Scherz erlauben und sich nach dem Befinden meines Kopfes erkundigen. Ich habe es sogar für möglich gehalten, sie würde dem frischgebackenen Fünfzigjährigen einen freien Tag anbieten – auf der Arbeit war zurzeit eh nicht viel los. Doch das Telefonat ist komplett anders verlaufen.

Pauliina erscheint in der Küche und macht sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. »Für dich auch?«, fragt sie in meine Richtung.

»Ja, nein, doch bitte.«

Sie hält mitten in der Bewegung inne und fixiert mich. Wir haben so viele Jahre miteinander verbracht, dass sie sofort weiß, dass etwas passiert ist. »Was ist los?«, fragt sie beunruhigt.