Boston - Upton Sinclair - E-Book

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Upton Sinclair

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Beschreibung

Das große US-Epos um Klassenjustiz und staatliche Willkür jetzt in deutscher Neuübersetzung

Vom Tellerwäscher zum Märtyrer – die Namen Sacco und Vanzetti stehen für den Wirklichkeit gewordenen amerikanischen Alptraum. Ihr Schicksal erschütterte Millionen Menschen weltweit in ihrem Glauben an Recht und Ordnung. Upton Sinclair, engagierter Romancier und Gesellschaftskritiker, inszenierte die realen Geschehnisse der Zwanzigerjahre als fesselndes literarisches Epochendrama.

Glamour, Jazz und endlose Partys: Das waren die Roaring Twenties. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit – Upton Sinclair zeigt uns die ganze. Denn während die Happy Few feierten, wurden die Massen mittels brutaler Klassenjustiz niedergehalten. Am Beispiel der einflussreichen Ostküsten-Sippe Thornwell zeigt «Boston», wie das System staatlich sanktionierter Korruption funktionierte. Als Kulminationspunkt dient der Schauprozess gegen die zwei bekanntesten Justizopfer der amerikanischen Geschichte, Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, die 1927 wegen Mordes hingerichtet wurden. In diesem ergreifenden Buch geht es um die moralische Glaubwürdigkeit offizieller Repräsentanten und Institutionen, um Menschenliebe und Bürgerpflicht, um Gerechtigkeit und den Mut zur Wahrheit.

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Das Exempel, das die US-Administration in den 1920er-Jahren an Sacco und Vanzetti statuierte, erschütterte Millionen Menschen weltweit in ihrem Glauben an Recht und Freiheit. Upton Sinclair inszeniert den legendären Fall als fesselndes Justiz- und Politdrama und zeigt, auf welche Abwege Fremdenfeindlichkeit und Hysterie eine ganze Nation führen können. In «Boston», halb Dokumentation, halb Fiktion, geht es um zwei Einzelschicksale und zugleich um das große Ganze – um Würde und Selbstachtung, Nächstenliebe und Bürgerpflicht, Sinn für Gerechtigkeit und den unbedingten Mut zur Wahrheit.

«Sacco and Vanzetti must not die.»

Allen Ginsberg

Der moderne Klassiker in Neuübersetzung!

UPTON SINCLAIR

Boston

Ein zeithistorischer Roman

Neu aus dem amerikanischen Englisch übersetztvon Viola Siegemund

Nachwort von Dietmar Dath

MANESSE VERLAGZÜRICH

KAPITEL 1

Die durchgebrannte Großmutter

IDas Zimmermädchen fand Josiah senior morgens vornübergesackt, den Kopf auf den Armen, an seinem Schreibtisch. Auf den ersten Blick sah es so aus, als würde er schlafen, doch sein eleganter Anzug verriet ihr, dass er gar nicht zu Bett gegangen war. Sie blieb im Türrahmen stehen und krächzte leise seinen Namen, bevor sie zu Addicks, dem Butler, floh, der den Hausherrn als Einziger unangemeldet belästigen durfte. Als er die Hand des alten Mannes berührte, war sie kalt. Also wurde Cornelia Thornwell geweckt und erfuhr, dass sie frei war.

Insgeheim hatte sie schon seit Jahren damit gerechnet. Doch jetzt, da es endlich so weit war, schien es auf einmal zu spät zu sein. Angst stieg in ihr auf, ein Gefühl unbeschreiblicher Einsamkeit. Wie würde ihr Leben von nun an wohl aussehen, ohne Ehemann, der alles bestimmte? An wem sollten sich ihre Enkel ein Beispiel nehmen, wenn Josiah nicht mehr die Familientradition hochhielt?

Doch vor den Bediensteten galt es Haltung zu bewahren. So schlüpfte sie in ihren Morgenrock und ging die Treppe hinunter ins Arbeitszimmer ihres Mannes. «Rufen Sie Dr. Morrow», sagte sie zum Butler. «Und geben Sie dann Mr. James oder Miss Clara Bescheid.» Das Haus, in dem Cornelias jüngste Tochter zusammen mit ihrem Gatten James Scatterbridge auf dem Anwesen wohnte, schimmerte in der Ferne durch die Bäume. Clara war zu dieser Stunde wahrscheinlich gerade dabei, mit ihrer siebenköpfigen Kinderschar zu frühstücken, während James sich für seine Arbeit in der Fabrik fertig machte. Beide würden alles liegen und stehen lassen, um ihrer Mutter beizustehen.

Keine vier Minuten später stand Clara vor der Tür, wie immer heillos aufgekratzt – auch sonst wurde sie ihrer lebhaften Brut mit jedem Tag ähnlicher. Genau wie die Kleinen nahm sie in einem fort zu, schnatterte sie unentwegt wild drauflos und kam sie ständig vom Hundertsten ins Tausendste. Trotzdem wusste sie genau, was sich gehörte, und nahm fassungslos zur Kenntnis, dass ihre Mutter nicht eine Träne vergoss.

James Scatterbridge hatte seine Frau begleitet. Nachdem der Leichnam auf seine Anweisung hin nach oben abtransportiert worden war und er seine zwei Schwager benachrichtigt hatte, trat er zu Cornelia. «Mutter, über die praktischen Belange brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Wir kümmern uns um alles.» James war körperlich wie geistig ein robuster Zeitgenosse; ein Geschäftsmann mit geradem Scheitel und geradem Gemüt, ganz ohne «Schnörkel», wie er zu sagen pflegte. Er leitete die riesige Baumwollfabrik unten im Tal, und eine Lappalie wie eine Beerdigung bereitete ihm kein großes Kopfzerbrechen. «Ich rufe gleich beim Bestatter an, am besten bei Hobson’s; außerdem müssen wir uns was für die Zeitungen überlegen.» Damit verschwand er, Clara trocknete ihre Tränen und begann laut über einen Schneider für die Trauerkleidung nachzudenken.

Cornelia sah ein, dass auch solche Fragen der Klärung bedurften. «Aber ich trage keinen Schleier, Clara!»

«Also, Mutter! Ich höre wohl nicht recht!» Claras große porzellanblaue Augen weiteten sich vor Entsetzen.

«Ich bin doch keine Hinduwitwe, die mit auf den Scheiterhaufen springt.»

«Spar dir die Scherze, Mutter! Du hast es gerade nötig, die Exzentrikerin zu spielen.»

«Ach! Und warum, meine Liebe?»

«Weil alle Welt weiß, dass du mit Vater nicht glücklich warst – du hast ihn doch nie geliebt.»

«Und weil ich ihn nie geliebt habe, soll ich jetzt so tun, als ob?»

«Aber Mutter, sollen sich etwa alle über uns das Maul zerreißen? Diesen letzten Gefallen bist du ihm einfach schuldig!»

Da klingelte in Cornelias Zimmer das Telefon. Ihre älteste Tochter Deborah war am Apparat. «Mutter, Henry und ich sind gleich da. Es dauert höchstens noch eine Stunde; bitte sieh zu, dass in der Zwischenzeit keine Vorkehrungen zum Ablauf getroffen werden.»

«Was meinst du, Liebes?»

«Ich meine die Beerdigung.»

«James sagte, er wolle bei Hobson’s anrufen.»

«Ach, Mutter, das ist ja grauenhaft! Weißt du denn nicht, dass niemand zu Hobson’s geht!»

«Nein, das wusste ich nicht, Deborah.»

«Nun, ich finde es angemessen, dass wir das Begräbnis unseres Vaters ausrichten, statt uns dies von der angeheirateten Verwandtschaft aus der Hand nehmen zu lassen! Clara hat so viel Geschmack wie ein Sack Kartoffeln, und sie überlässt sowieso alles James, der sich andauernd einmischt und überall seine ordinären Duftmarken setzt! Bitte trage Sorge dafür, dass uns diese Bestatter gar nicht erst ins Haus kommen!»

«Meine Liebe», sagte Cornelia, «ich werde es so machen wie immer und mich aus euren Streitereien heraushalten.» Und damit legte sie auf.

Dass es ihrer Tochter nicht um den Leumund eines Bestattungsunternehmers ging, lag auf der Hand; schließlich tobte unter Cornelias Kindern schon seit Jahren ein erbitterter Machtkampf, bei dem kein Ende in Sicht war. Deborah und Alice, die beiden ältesten, fühlten sich von Claras Gemahl um ihr Erbteil betrogen und bezichtigten ihre Schwester der Beihilfe zu diesem Kapitalverbrechen, da sie sich weigerte, ihrem Mann das Leben zur Hölle zu machen. Früher hatten die Thornwell-Werke nämlich der Familie Thornwell gehört; und als Josiah die Geschäfte von seinem Vater übernahm und das Unternehmen weiter ausbaute, war James Scatterbridge nur ein einfacher Angestellter gewesen. Doch dieser machte sich bald unentbehrlich, und als nach der Panik von 19071 eine Umstrukturierung erforderlich war, genoss er das Vertrauen von Geschäftsleitung und Banken, weshalb inzwischen ein Großteil der Firmenaktien nicht mehr zur Erbmasse zählte, sondern sicher verwahrt in James’ Tresor lag.

Erschwerend kam noch hinzu, dass der ehemalige Angestellte die jüngste Enkelin des Firmengründers geheiratet hatte – ein Skandal, den die Welt nicht so bald vergessen würde. Noch in drei Generationen sollte an den Bostoner Speisetafeln getuschelt werden: «Ach, meine Liebe, wussten Sie gar nichts davon? Der erste Scatterbridge war Buchhalter bei den Thornwells, und er hat die Familie um all ihre Anteile gebracht. Am Ende musste geheiratet werden, um die Firma nicht zu verlieren!»

Dabei hätten die anderen beiden Schwiegersöhne das Geld überhaupt nicht nötig gehabt. Für den Bankier Rupert Alvin galt jedes Geschäftsjahr, in dem sein Privatvermögen nicht um mindestens eine Million wuchs, als glatter Verlust; und Cornelia war jüngst zu Ohren gekommen, dass Henry Cabot Winters’ Kanzlei keinen Auftrag unter einem Streitwert von fünfundzwanzig Millionen annahm. Doch wenn es ums Geld ging, bekamen manche Leute den Hals einfach nicht voll. Rupert und Henry, die einander stets den Rücken freihielten, hätten Jerry Walkers Filzfabriken und das Thornwellsche Baumwollwerk nur zu gerne in einem Happs geschluckt. Die beiden hatten bei so vielen Unternehmungen die Finger im Spiel, dass Cornelia allmählich den Überblick verlor; in ihren Ohren klangen die Namen wie sagenumwobene Kriegsschauplätze, die sie bloß noch nie auf der Landkarte gesucht hatte.

IIDa erschien Dr. Morrow, wie immer tadellos gekleidet, mit rosigen Wangen, silbergrauem Haar und säuberlich gestutztem, gepflegtem weißen Schnurrbart. In seiner Gegenwart fühlte man sich stets unweigerlich daran erinnert, dass eine gute Kinderstube über alle Unbilden der Vergänglichkeit erhaben ist. Er trat an das breite Himmelbett, fühlte die eiskalten Hände, lauschte dem nicht mehr vorhandenen Herzschlag und drehte sich dann zu der Witwe um. «Nun, liebe Cornelia, unser alter Josiah hat sein biblisches Vorbild um vierzehn Jahre überlebt.2 Wir dürfen uns also nicht beklagen.» Er wusste, dass die Eheleute einander nicht geliebt hatten.

Sobald das ärztliche Urteil ergangen war, wies der betriebsame James Josiahs Sekretär an, die Zeitungen zu verständigen. Manche gingen früh am Tag in Druck, und dieser wichtigen Meldung gebührte ein angemessener Vorlauf. Der Sekretär sollte mit dem «Transcript» beginnen; Zentralorgan all jener Familien, die in Massachusetts «etwas darstellen». Bösen Zungen zufolge schnellen die Sterberaten am Freitag nur deshalb jäh in die Höhe, weil die bessere Gesellschaft ihre Todesanzeigen unbedingt in der Samstagsausgabe unterbringen will.

Inzwischen hatte der betriebsame James mit dem betriebsamen Kopf des Hobsonschen Bestattungsunternehmens in Josiahs Arbeitszimmer die Verhandlungen aufgenommen, und es stellte sich bald heraus, dass die beiden dieselbe Sprache sprachen. Durch so ein großes, staatstragendes Begräbnis ließen sich Ansehen und Bekanntheitsgrad des Veranstalters natürlich enorm steigern. Ja, die Familie sei wohlhabend und durchaus willens, sich die Angelegenheit etwas kosten zu lassen, doch müsse unbedingt gewährleistet sein, dass man auch bekam, wofür man bezahlte. Mr. Hobson hörte aufmerksam zu und antwortete, er könne Mr. Scatterbridges Standpunkt voll und ganz nachvollziehen. Es bestehe kein Grund, eine Beerdigung nicht wie einen normalen Geschäftsabschluss anzugehen; selbstverständlich wisse seine Firma den zu erwartenden Prestigegewinn zu schätzen und sei gerne bereit, Mr. Scatterbridge preislich entgegenzukommen. Im Anschluss förderte er seinen Sargkatalog zutage, mit der Bemerkung, es gebe auch kunstvoll gestaltete Varianten aus polierter Bronze ab fünfundzwanzigtausend Dollar aufwärts. James Scatterbridge schluckte und ordnete schleunigst seine Gesichtszüge, um sich sein plebejisches Erstaunen nicht anmerken zu lassen.

Draußen entstieg gerade Deborah Thornwell Alvin ihrer Limousine; groß gewachsen und steif, und dank ihrer schwarzen Garderobe, nur mit einem Hauch von Weiß am Kragen und einer doppelreihigen Perlenkette, bereits passend für eine Beerdigung gekleidet. Die schmalen, strengen Gesichtszüge hatte sie von ihrem Vater, dem sie beim Hüten der Familientradition treu zur Hand gegangen war. Kaum im Haus, begann sie in dezentem Flüsterton zu intervenieren; und da kam auch schon Alice, ihre Schwester und Verbündete im Krieg gegen die Scatterbridge-Sippe. Wer hatte James bloß dazu ermächtigt, diesen vulgären Hobson ins Spiel zu bringen? Und wer konnte bei dem Tempo, das ihr Schwager an den Tag legte, garantieren, dass die Familie nicht das Opfer einer billigen Schlagzeile wurde?

«Mutter», sagte Deborah, «was weißt du eigentlich über Vaters Testament?»

«Gar nichts, mein Kind; mit mir hat er zeitlebens nie darüber gesprochen.»

«Bestimmt wird James das Haus und das Grundstück bekommen. Immerhin hat er eine Hypothek darauf aufgenommen, als Vater bei der New-Haven-Pleite sein ganzes Geld verloren hat.»

«Darf ich dich bei der Gelegenheit daran erinnern, Mutter», warf Alice ein, «dass Vater mir ein paar von den wertvollen alten Möbeln versprochen hat? Er wusste, dass ich die Einzige bin, die sie zu schätzen weiß, das hat er mir immer wieder gesagt.»

«Ja, Liebes. Hoffentlich steht das so auch in seinem Testament.»

«Eins sage ich euch – wenn James und Clara sich meine alte Mayflower-Wiege unter den Nagel reißen, dann können sie mich gleich darin begraben!» Beim Anblick der tiefen Falten, die sich bei diesen Worten längs der Mundwinkel in Alice Thornwell Winters’ hübsches, blasses Gesicht gruben, hätten ihre Schönheitsspezialisten gewiss lauthals Alarm geschlagen. Alice galt unter den Schwestern als die kapriziöse, hatte kostpielige kulturelle Bedürfnisse und lud regelmäßig Künstler, Dichter und sonstige halbseidene Zeitgenossen zu sich nach Hause ein. Sie war schon mehrfach porträtiert worden und in Ausstellungen zu bewundern gewesen und verstand sich inzwischen selbst als eine Art Kunstwerk, als Blickfang auf dem gesellschaftlichen Terrain. Dass nur sie die alten Familienschätze zu würdigen wusste, war in moralischer Hinsicht Grund genug für einen Erbstreit; und Moral gehörte bei Streitigkeiten in Boston nun einmal dazu.

IIIHätte Cornelia am Abend zuvor geahnt, dass sie gerade die letzten Worte ihres Gatten vernahm, sie hätte fraglos besser zugehört. Der Endgültigkeit an sich wohnt stets eine gewisse Tragweite inne, selbst wenn es um einen Menschen geht, mit dem einen vierzig Ehejahre verbinden und dessen jede Gefühlsregung man in- und auswendig kennt.

Sie hatte vor Kurzem etwas über die Zerstörung der Kathedrale von Reims3 gelesen, und da sich unter den Kunstwerken, die sie auf ihrer Hochzeitsreise erstanden hatte, auch ein Kupferstich dieses Bauwerks befand, war sie im Arbeitszimmer ihres Mannes in die Knie gegangen, um eine alte Kommode zu durchstöbern, in der Urgroßvater Thornwell einst die Geschäftsunterlagen zu seiner Handelsflotte in Ostindien aufbewahrt hatte. In einer Schublade, auf der in verblassten goldenen Lettern «Sylph of the Sea» stand, war sie schließlich auf die Mappe mit den Stichen gestoßen und hatte ein, zwei Stunden mit Durchblättern zugebracht.

Währenddessen waren Josiah und Rupert Alvin, sein ältester Schwiegersohn, in ein angeregtes Gespräch vertieft. Sie zollten der alten Dame auf dem Boden in etwa so viel Aufmerksamkeit wie einer Maus. Es ging um Jerry Walkers Filzunternehmen, und obwohl ihre Gedanken um Kathedralen kreisten, schnappte Cornelia die eine oder andere Bemerkung auf. Jerry Walker hatte als Botenjunge in einer Einrichtung angefangen, zu deren Schirmherrinnen Cornelia gehörte, und befand sich inzwischen offenbar auf dem besten Weg, den gesamten neuenglischen Filzmarkt zu beherrschen. Rupert Alvin, Präsident der Pilgrim National Bank, hatte grundsätzlich etwas gegen Monopole in der Hand fremder Leute, und hielt Jerry zudem für gefährlich spontan – dieser hatte nämlich für über eine Million die Atlas-Hutfabriken aufgekauft, während Rupert noch hin und her überlegte, ob das Unternehmen eventuell eines Kleinkredits würdig sei.

Cornelias Blick fiel auf ihren Schwiegersohn, der kerzengerade wie immer in einem wuchtigen Ledersessel saß und mit seinem vorne ausgebeulten Smoking und der Falten werfenden Hemdbrust aussah wie eine schwarz-weiße Kropftaube. Ruperts Gesicht bestand nur aus Wülsten: ein breiter rosa Wulst die Stirn, zwei kleinere über den Augen, seine Wangen ein halbes Dutzend rosige und Hals und Kinn mehrere dicke, dunkelrote Wülste. Seine Empörung darüber, dass ein anderer sich unterstanden hatte, schneller nachzudenken als er, entbehrte für Cornelia nicht einer gewissen Komik. Doch hatte sie in vierzig Jahren Ehe gelernt, solche Ansichten tunlichst für sich zu behalten.

Mit altersheiserer Stimme, die zeitweise zu versagen drohte, erging schließlich Josiahs Entscheidung. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis Jerry Walker Konkurs machen werde, momentan komme es darauf an, so viel wie möglich zu kaufen, und zwar zu jedem Preis; Hüte würden von den Armeen gebraucht und Filzschuhe in Krankenhäusern getragen – womit die beiden bei dem Thema waren, das in jenem Sommer 1915 in Unternehmerkreisen sämtliche Diskussionen beherrschte. Josiah tat wieder einmal die allseits bekannte Meinung kund, dass sich der Krieg noch lange hinziehen werde. Deshalb sei Kaufen auch das Gebot der Stunde. Während Cornelia an die Soldaten an der Front dachte, dachten die beiden nur ans Geld.

Rupert hingegen rechnete mit einem baldigen Kriegsende, da die beteiligten Nationen geradewegs auf den Staatsbankrott zusteuerten. Doch Josiah konnte ihn beruhigen; wir werden ihnen das Geld schon leihen, vorausgesetzt, sie investieren es in unsere Waren. Aber wie bekommen wir es danach wieder? Worauf Josiah meinte, das sei gar nicht nötig. Mit diesen Darlehen verhalte es sich genau wie mit Jerry Walkers Filzimperium: «Wenn Jerry seine Schulden nicht begleichen kann, übernehmen wir einfach seine Firma.»

In diesem Moment stand Cornelia auf, den Stich in der Hand. Ihr «Gute Nacht» erwiderten die beiden Männer eher beiläufig, und damit wäre eigentlich alles gesagt gewesen, hätte Josiah damals die richtige Sorte Frau geheiratet. Doch Cornelia konnte es sich nicht verkneifen, im Vorbeigehen ihrem Schwiegersohn zuzuwerfen: «Das wäre doch eine gute Gelegenheit, Rupert, Europa von Grund auf zu modernisieren.» Rupert, ein praktisch veranlagter Mensch, nickte zustimmend, da hielt sie das Bild von der Kathedrale hoch. «Wir könnten den Engelsturm verbreitern und dort eine Zweigstelle von Jerry Walkers Filzwerken einrichten.»

Seit vierzig Jahren – einschließlich der beiden, in denen Josiah Quincy Thornwell Gouverneur des Commonwealth4 gewesen war – leistete Cornelia sich nun schon solche Kommentare, zum Vergnügen von so manchem Zuhörer. Doch Josiah verstand keinen Spaß und hatte auch diesmal nur ein Stirnrunzeln und ein mürrisches «Deine Scherze sind höchst unangebracht, Cornelia» für seine Frau übrig. Sie tätschelte sanft seine weiße Perücke und sagte: «Gut, aber bitte gib mir Bescheid, wenn die Situation zur Abwechslung nach einem verlangt.»

Damit trippelte sie aus dem Zimmer, jene kleine alte Dame, die in diesem großen Haus schon so viel Skurriles erlebt hatte, dass sie dank der tiefen Lachfalten um ihre Augen inzwischen so aussah, als würde sie sich in einem fort amüsieren. Auch jetzt vermochten nicht einmal die Zerstörung der Kathedrale von Reims und der Gedanke an die Bauernjungen im Schützengraben ihre stille Heiterkeit ob des Bostoner Moralkomplexes zu dämpfen, der Rupert Alvin dazu bewog, sowohl Jerry Walkers Filzfabriken als auch das Kommando über die Landesgrenzen und Finanzen Europas an sich zu reißen. «Am Ende wird ihm wohl beides gelingen», dachte sie noch bei sich. Und über kurz oder lange sollte es ihm tatsächlich gelingen.

IVInzwischen hatten die «Stehsatz»-Redakteure von einem halben Dutzend Abendzeitungen ein paar Spalten Text ausgegraben, die seit dreißig Jahren auf ihren Abdruck warteten und regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht wurden. Ganz oben war jetzt zu lesen, dass Josiah Quincy Thornwell, zweimaliger Gouverneur des Commonwealth of Massachusetts, bedeutender Industrieller, Philanthrop und zwanzig Jahre lang Mitglied im State Committee der Republikaner, am frühen Morgen im Örtchen Thornwell am Schreibtisch seines Anwesens tot aufgefunden worden sei, vermutlich infolge Herzversagens. Der Klatschpresse ließ sich entnehmen, dass ein Hausmädchen den Leichnam entdeckt habe, was Deborah James Scatterbridge noch lange vorhalten sollte. Außerdem hieß es, die Beerdigung finde in der Bostoner Trinity Church statt, obwohl Deborah und Alice sich ausgebeten hatten, ihren Vater auf dem Familienanwesen beizusetzen, um unerwünschte Trauergäste fernzuhalten.

Oben in den Gemächern des ehemaligen Gouverneurs breiteten Mr. Hobsons hemdsärmelige Angestellte derweil ihre Gummimatten aus und schoben zwei Tische zusammen, während ihr Arbeitgeber im Brustton der Überzeugung verkündete, sein Geschäft bestehe «zu neunzig Prozent aus Psychologie. Einen abgebrühten Typen wie den da unten muss man einfach reden lassen, so lange, bis er sich schämt und einem zum Schluss aus der Hand frisst. Ich meine, woher will so jemand wissen, wie man eine gelungene Beerdigung ausrichtet?»

Zur gleichen Zeit kam in Cornelias Wohnzimmer das Gespräch auf einen kostbaren Perserteppich. «Er gehört definitiv mir», sagte Deborah. «Ich habe ihn nur hiergelassen, weil Vater die Erbstücke gerne beisammenhatte. Ich kümmere mich schon seit Jahren darum, dass er jedes Frühjahr gereinigt wird, und schicke jedes Mal extra jemanden, der dabei auf ihn aufpasst. Oder etwa nicht?»

«Ja, natürlich», sagte Alice.

«Wenn nun James und Clara demnächst hier einziehen und ihre Kinder darauf herumtrampeln lassen …»

Cornelia ging nach unten, um Großonkel Abner, Josiahs jüngeren Bruder, in Empfang zu nehmen. Abner Quincy Thornwell, ein behäbiger Hüne mit Buckel, war stocktaub; wie viele seiner Leidensgenossen legte er jedoch gesteigerten Wert darauf, den Klang seiner eigenen Stimme zu hören. «Ach, Cornelia», dröhnte es jetzt durchs ganze Haus, «ach, ach – jetzt ist es also so weit! Ich weiß, das ist alles nicht leicht für dich! Aber wir stehen hinter dir, Liebes! Kann ich irgendetwas für dich tun?» In seinem sanften, rotwangigen Gesicht spiegelte sich Besorgnis – was sonst eher selten vorkam, da Abner sich eigentlich nur für Schach interessierte und mitunter stundenlang über einem einzigen Spielzug brütete.

Clara kam, um ihren Großonkel zu begrüßen, und als er sie fragte, ob er irgendwie behilflich sein könne, brüllte sie ihm ins Ohr: «Sieh zu, dass Mutter bei der Beerdigung einen Schleier trägt!»

«Schleier?», wiederholte Abner. «Natürlich trägt sie einen Schleier! Das gehört sich so als Witwe!»

«Mutter ist das egal, sie will vor aller Welt kundtun, dass sie nicht trauert. Ich glaube, sie hat noch keine Träne vergossen.»

Worauf Cornelia nur erwiderte: «Ich habe gelesen, dass beim Film Glyzerintränen zum Einsatz kommen. Am besten besorge ich mir welche fürs Begräbnis.»

«O Mutter, wie kannst du nur so schreckliche Dinge von dir geben!» Clara schüttelte entgeistert den Kopf und fing an, sich echte Tränen von der Nase zu wischen, während der Blick ihres schwerhörigen Onkels verunsichert zwischen den beiden Frauen hin und her wanderte. «Glyzerin?», sagte er. «Soll angeblich gegen Krebs helfen, keine Ahnung, ob das stimmt. Woran ist Josiah denn gestorben?»

«Laut Dr. Morrow an Herzversagen.»

«Herzversagen, ja? Nun, das ist aller Ehren wert. Wo liegt er denn, oben in seinem Zimmer? Armer alter Knabe! Aber er hatte ein langes Leben, in dem er erreicht hat, was er wollte.»

Damit trottete er von dannen, und Cornelia wurde in die Bibliothek bugsiert, wo sie eine Dienstbesprechung mit James Scatterbridge erwartete. Ihr Schwiegersohn verfügte nicht über die Gabe, seine Absichten wortreich zu verbrämen, sondern kam, ganz Geschäftsmann, sofort auf den Punkt. «Mutter, du hattest wahrscheinlich noch keine Gelegenheit, dir über die Zukunft Gedanken zu machen, aber du sollst wissen, dass du Clara und mir jederzeit willkommen bist. Es wäre uns wirklich eine große Freude, und wir werden alles tun, damit du dich hier weiterhin wie zu Hause fühlst. Im Sinne des Gouverneurs soll alles so bleiben, wie es ist.»

Was damit gemeint war, lag offen zutage. Deborah und Alice hatten mit ihren Befürchtungen also recht gehabt! «James», sagte Cornelia, «soll das heißen, mein verstorbener Mann hat dir das Haus vermacht?»

«Es gehört mir bereits, Mutter. Der Gouverneur hat es mir vor ein paar Jahren überschrieben. Du erinnerst dich bestimmt, die New-Haven-Aktien sind flöten gegangen, und ich habe ihm damals viel mehr Geld vorgestreckt, als das Anwesen wert war. Seit ich die Leitung der Firma übernommen habe, standen der Gouverneur und ich uns besonders nahe.»

«Gewiss, James. Aber für die Mädchen ist das natürlich ein harter Schlag. Hat Josiah dir die Einrichtung denn mit abgetreten?»

«Ja, Mutter; aber Clara und ich werden uns redlich bemühen, die anderen abzufinden. Am wichtigsten ist für uns, dass du weißt: Es ist immer noch dein Zuhause. Du brauchst nicht zu befürchten, dass sich hier etwas ändern wird.»

«Das ist nett von dir, James.» Während ihre Lippen die Worte formten, überschlugen sich Cornelias Gedanken. Sobald Clara mit ihrer siebenköpfigen Kinderschar anrückte, würden die kleinen Racker ohne Rücksicht auf Verluste über das herrschaftliche alte Haus herfallen – schon hörte sie ihr Geschrei durch die Flure hallen und ihre Absätze über die Treppen klappern, sah, wie sie über das frisch gebohnerte Parkett schlitterten und auf dem Perserteppich mit Murmeln spielten. Die Wand gegenüber zierte ein Bücherregal, etwa zehn Fuß hoch und sieben Fuß breit, aus französischem Nussbaumholz und von oben bis unten mit handgeschnitzten Rosenzweigen und -blüten übersät; in der Morgensonne funkelten seine tausend Facetten wie poliertes Gold. Ein Stück weiter stand ein zweites Regal gleicher Bauart, und soweit Cornelia sich erinnern konnte, hatte der letzte Händler, bei dem ihr Mann seine kostbaren Möbel hatte schätzen lassen, allein den Wert dieses Paares auf rund achttausend Dollar beziffert. «Dieses Haus beherbergt ein paar echte Schätze, James.»

«Ich weiß, Mutter, aber mach dir keine Sorgen. Wir haben hinterm Wintergarten einen Anbau geplant, wo die Kinder untergebracht werden, bis sie gelernt haben, sich zu benehmen. Im Gegensatz zu mir ist Clara mit Antiquitäten aufgewachsen, und sie hat, was die Familie angeht, das Sagen. Du bist ja da und kannst ihr helfen!»

«Ich weiß nicht, James. Ich bin sechzig Jahre alt und habe immer nur getan, was andere von mir erwartet haben. Ich denke, es ist jetzt endlich an der Zeit, mir selbst etwas Gutes zu tun.»

Bei diesen Worten stahl sich hinter den großen runden Brillengläsern ein besorgter Ausdruck in James Scatterbridges Augen. In seinem durch und durch prosaischen Leben drehte sich alles um die Produktion von siebzig Millionen Yard billiger Baumwollwaren pro Jahr; diese Produktion war seine wahre Religion, den Rest überließ er seiner Frau, mit dem befriedigenden Gefühl, in Sachen Ehe alles richtig gemacht zu haben. Und jetzt kam plötzlich diese kleine alte Dame mit den lachenden Augen und dem glorreichen Namen Thornwell und spielte ganz offen mit dem revolutionären Gedanken, sich etwas Gutes zu tun. Insgeheim hatte James panische Angst vor seinen vornehmen Verwandten, die so viel unbeugsamen Stolz und würdevolle Grausamkeit ausstrahlten; allesamt stammten sie von Piraten und Freibeutern ab, während er ein Junge vom Land war, dessen Vorfahren sich ihr Leben lang auf dem Feld abgerackert hatten.

VDoch er kam nicht mehr dazu, bei Cornelia nachzuhaken, denn es klingelte an der Haustür, und kurz darauf sah er Addicks, den Butler, jenseits der breiten Doppeltüren der Bibliothek mit ein paar gut gekleideten Männern jüngeren Alters konferieren. Und dann überbrachte der Dienstbote James eine Nachricht, deren Wortlaut an den Speisetafeln der Bostoner Oberschicht noch lange für Heiterkeit sorgen sollte. Addicks stand seit über fünfzig Jahren im Dienst der Familie und war Experte, was die Hierarchien der hiesigen Gesellschaft betraf. Nach gebührendem Besinnen wandte er sich nun mit der wohlformulierten Botschaft an den neuen Herrn des Hauses: «Mr. James, dort draußen stehen drei Reporter und ein Gentleman vom ‹Transcript›.»

James zog sich daraufhin mit den drei Reportern und dem Gentleman ins Arbeitszimmer des Gouverneurs zurück und fuhr fort, die Früchte seiner vortrefflichen Ehe zu ernten. Er erinnerte seine Besucher daran, dass die Thornwell-Linie bis zur Mayflower zurückreichte; hier in der Villa stehe sogar noch eine Wiege, die die ersten Siedler einst auf diesem bedeutendsten aller Schiffe nach Amerika gebracht hätten. Er erinnerte daran, dass sich unter ihren Vorfahren nicht nur zwei Kolonialgouverneure befänden, sondern auch zwei Gouverneure des Commonwealth. Er erinnerte daran, welche Taten Joshua während seiner Amtszeit vollbracht und wie viele korrupte Staatsbeamte er hinter Schloss und Riegel gebracht habe. Er bestätigte die Namen der Kinder des ehemaligen Gouverneurs und vergaß beim Thema Enkel nicht, seine eigenen sieben Sprösslinge zu erwähnen, die allesamt den gepriesenen Namen trugen: Josiah Thornwell Scatterbridge, Cornelia Thornwell Scatterbridge, James Thornwell Scatterbridge, Quincy Thornwell Scatterbridge und so weiter. Gerade war er dabei, zu erklären, dass die Maschinen in den Thornwell-Fabriken anlässlich der Beerdigung einen halben Tag lang ruhen würden, als es auf einmal energisch an der Tür klopfte. Ins Arbeitszimmer gerauscht kam Mrs. Rupert Alvin, geborene Deborah Quincy Thornwell.

«James, gehe ich recht in der Annahme, dass das die Herren von der Presse sind? Guten Morgen, Gentlemen, ich bin Mrs. Alvin, die älteste Tochter des Gouverneurs. Es wird Sie gewiss interessieren, dass ich gerade mit Reverend Doctor Wolverhampton telefoniert habe, dem Pfarrer der St. Luke’s Church hier in Thornwell, die mein Vater in Auftrag gegeben und der Gemeinde gestiftet hat. Der Reverend hat sich bereit erklärt, die Trauerfeier abzuhalten, und zwar hier auf dem Familienanwesen. Offenbar steht in einigen Zeitungen, die Feier werde in der Trinity Church in Boston stattfinden, dabei handelt es sich jedoch um eine Fehlmeldung. Der Gottesdienst ist für Freitagnachmittag um zwei Uhr hier in diesem Haus anberaumt; bitte machen Sie das ganz deutlich, damit es unter unseren Freunden nicht zu Missverständnissen kommt. Ja, der Name wird ‹Woolton› ausgesprochen, aber man schreibt ihn W-o-l-v-e-r-h-a-m-p-t-o-n – Reverend Doctor James Lowell Wolverhampton, Pfarrer der St. Luke’s Church in Thornwell. Ihm zur Hand gehen wird Reverend Mr. Quincy Adams Thornwell, ein Vetter des Governeurs. Die Beisetzung erfolgt in der Familiengruft auf dem Friedhof von St. Alston.»

Danach nahm Mrs. Rupert Alvin, geborene Deborah Quincy Thornwell, ungerührt auf dem Sofa Platz, in dem sicheren Wissen, dass nach diesem Auftritt nicht einmal ihr plebejischer Schwager es wagen würde, ihr die Stirn zu bieten. Familiengerüchten zufolge hatte Deborah bei einem Streit mit ihrem Gatten einst den Ausspruch getan: «Im stillen Kämmerlein kannst du mir meinetwegen ins Gesicht spucken, aber in der Öffentlichkeit zollst du mir gefälligst den Respekt, der meinem Stand gebührt.»

Gemeinsam traten die drei Reporter und der Gentleman per Taxi den Rückzug ins Dorf an, wo sie sich postwendend ans Telefon klemmten, um ihre brandneuen Informationen abzusetzen, die alsbald über Schreibmaschinen, Setzmaschinen und Druckmaschinen flogen. Keine Stunde, nachdem James gesprochen und Deborah ihn verbessert hatte, riefen Zeitungsjungen an jeder Ecke bereits die Zweitausgabe der Nachmittagsblätter aus, mit allen erdenklichen Details über Leben, Sterben und das bevorstehende Begräbnis des Exgouverneurs des Commonwealth. Auf sämtlichen Titelseiten prangte sein Bild, ein schmales Gesicht mit dünnen, fest zusammengepressten Lippen und einer spitz zulaufenden Nase; ein Gesicht, das im Laufe von drei Jahrhunderten immer wieder in Erscheinung getreten war. An der Holztäfelung des Musikzimmers hingen vier lebensgroße Ölgemälde von vier ehemaligen Gouverneuren in unterschiedlichster Aufmachung, die jedoch eines Geistes waren: selbst außerstande, einen Frevel zu begehen, und gnadenlos allen Frevlern gegenüber. Ob als Staatsmann, Unternehmer, Philanthrop, in den Leitartikeln war man sich einig: ein Vorbild für die Nachwelt; ein Ausbund an Ehre und Anstand, an dem es sich ein Beispiel zu nehmen gelte …

Zur gleichen Zeit herrschte Hobson, der Psychologe, in dem weitläufigen Zimmer mit dem Himmelbett und den abgedunkelten Fenstern einen seiner Untergebenen an: «Wenn Sie nicht langsam aufhören, auf die Halsschlagader zu drücken, hat der alte Knabe bald gar keine Farbe mehr im Gesicht, und wir müssen ihn anpinseln.»

VINach einem Abstecher in die Pilgrim National Bank, wo er kurz seine Post durchgesehen und ein paar Termine verschoben hatte, traf nun auch Rupert Alvin ein. Er stieg aus seiner schnurrenden Limousine, baute sich zu seinen vollen sechs Fuß Größe auf, brachte entschlossen das wulstige Gesicht in Fasson, strich sich über die Weste und trat ins Haus. Geduldig ließ er sich durch James von den bislang getroffenen Vorkehrungen in Kenntnis setzen und war ganz Ohr, während seine Frau sich ein Zimmer weiter wutentbrannt über Hobson, Teppiche und die Impertinenz ausließ, mit der James sich der Familie aufgedrängt hatte.

Schließlich machte er Cornelia ausfindig. «Mutter! Du weißt hoffentlich, dass du Deborah und mir jederzeit willkommen bist und wir alles Menschenmögliche unternehmen werden, damit du dich bei uns wohlfühlst.»

«Danke, Rupert. Ich fürchte, ich kann im Moment noch keine Entscheidung treffen, das geht mir alles ein wenig zu schnell.» Doch ihr Verstand arbeitete bereits auf Hochtouren. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie eine Zukunft mit Rupert und Deborah aussehen würde. Drei Monate im Jahr residierten die beiden in einem eleganten Stadthaus an der Commonwealth Avenue, um den Rest der Zeit in einem Palast an den Klippen der North Shore5 Hof zu halten. Mit ihrem schmalen Gesicht, der langen Nase und dem stocksteifen Gang erinnerte Deborah auf frappierende Weise an den alten Josiah; Stühle mit senkrechten Rückenlehnen waren für Leute wie sie nachgerade geschaffen. Was die Pflege und Fortführung der Thornwellschen Traditionen anging, galt sie als ideale Nachfolgerin ihres Vaters. Sie war tiefgläubig, widmete jede freie Minute der Wohlfahrt – alles handverlesen, versteht sich – und sah es nicht gerne, wenn Außenstehende sich für ihre Stiftungen engagierten, aus Angst, sie würden früher oder später auf einem Mitspracherecht bestehen. Tüchtige Hilfskräfte waren ihrer Meinung nach dünn gesät; Verantwortung abzugeben kam nicht infrage, und so erledigte sie lieber gleich alles selber.

Rupert leitete derweil ein Bankenimperium, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, andere Industriezweige nicht nur zu kontrollieren, sondern sie gegebenenfalls auch zu übernehmen. Wenn es seine Zeit erlaubte, beriet er die Stiftungen seiner Frau in Finanzfragen und religiösen Belangen. Sein Steckenpferd war die Kirchenarchitektur; Gemeindeoberhäupter aus ganz Ostmassachusetts wandten sich mit der Bitte um Rat an ihn, wenn es um die optimalen Proportionen einer Apsis ging. Cornelia erkannte, dass sie sich bei diesen beiden fraglos «ganz wie zu Hause» fühlen würde, denn auch sie würden ihr andauernd nur Vorschriften machen, genau wie ihr verstorbener Mann.

Deborah zitierte Rupert zu sich, um die Gästeliste mit ihm durchzugehen, und Cornelia wanderte ins Musikzimmer, wo die Trauerfeier stattfinden sollte. Doch dem Anblick der vier lebensgroßen Gouverneure mit ihren schmalen Gesichtern, verkniffenen Mündern und spitzen Nasen hielt sie nicht stand. Sie floh in den Wintergarten, wo es üppig grünte und blühte und überall kleine Bänke standen, auf denen Verliebte gemeinsam Musik hören konnten – ja, selbst in den noblen Bostoner Vororten kam dergleichen mitunter vor. Cornelias Kinder waren hier aufgewachsen, und ihre Enkel kamen allmählich ins heiratsfähige Alter, trotzdem hatte sie selbst sich in diesem Haus nie wohlgefühlt; nie war es nach ihr gegangen, immer ging es nur nach den Thornwells. Josiah hatte sich nicht mit einem hohen öffentlichen Amt begnügt, sondern auch zu Hause das Heft an sich gerissen, mit Unterstützung seiner Geschwister, einer ganzen Phalanx hochanständiger Leute. So hatte Großtante Deborah bis zu ihrem noch nicht lange zurückliegenden Tod bei ihnen gewohnt und sich als inoffizielle Hausherrin dazu bemüßigt gefühlt, Cornelias Töchtern beizubringen, was man als echte Thornwell zu wissen und zu denken habe.

Cornelia musste mit etwas Musik und ein wenig Malerei vorliebnehmen, einem Rosengarten und ein paar Büchern, der einen oder anderen Freundschaft und hier und da einem Theaterabend oder einem Sinfoniekonzert. Mit der Zeit gewöhnte sich die Familie daran, dass von ihr nicht mehr zu erwarten war; dass man froh sein konnte, wenn sie sich nicht anmerken ließ, wie sehr sie das steife Gehabe ihrer Sippe belustigte. Obwohl Cornelias Lächeln allen Rätsel aufgab, kam niemand auf die Idee, ihm auf den Grund zu gehen; gerade weil sie es nie für möglich gehalten hätten, von einem Nicht-Bostoner etwas lernen zu können, mussten die Thornwells wohl oder übel als waschechte Bostoner gelten. Dass Cornelias Vater an einem kleinen College als Professor gelehrt hatte, erschien hinlänglich achtbar, doch sein Vater war ein ganz gewöhnlicher Einwanderer gewesen, und noch in drei Generationen sollten die oberen Zehntausend der Stadt beim Dinner ihren Tischnachbarn zuflüstern: «Aber ja, meine Liebe, Cornelia Thornwells Großvater kam in der Holzklasse über den Atlantik! Er soll ein Bogtrotter6 gewesen sein; Ire jedenfalls, dem Namen nach zu urteilen.»

Selbst die Rolle der Gouverneursgattin bot wenig Zerstreuung. Mochten sich doch die auf Ruhm und Geltung Erpichten an Cornelias Prominenz schadlos halten! Ihre Aufgabe hatte darin bestanden, nicht enden wollenden Reden zu lauschen, sich mit langweiligen Leuten zu unterhalten und schwer verdauliche Speisen zu sich zu nehmen. Nie durfte man etwas Spontanes von sich geben, nie fröhlich auflachen; alles war genau geplant, alles nur eine Frage der Taktik, um eine Karriere voranzutreiben, die man als treu sorgende Gattin selbstredend zu befördern hatte. Cornelia hielt sich die Ohren zu, um das Gegröle der siegestrunkenen Massen am Wahlabend auszublenden, während neben ihr eine vornehm näselnde Stimme gelobte, sich fortan mit Haut und Haar in den Dienst der Öffentlichkeit zu stellen. «Bürger des Commonwealth, an diesem historischen Abend haben Sie mir durch Ihr Stimmrecht das Vertrauen …», und so weiter. Kein Charme, kein Witz, kein Hauch von Glaubwürdigkeit weit und breit! Nur Schmierentheater und hohle Gesten, von der Wiege bis zur Bahre!

Sogar jetzt noch, da der psychologisch bewanderte Mr. Hobson in dem abgedunkelten Zimmer das Kommando über Josiahs Geschäfte führte. Als ein Angestellter murrte: «Die Perücke von dem alten Knacker bleibt einfach nicht, wo sie hingehört! Soll ich in der Küche mal nach Klebstoff fragen?», sagte der erfahrene Psychologe nur: «In so einem Haus kann man doch nicht nach Klebstoff fragen – was sollen die denn von uns denken? Sehen Sie lieber zu, dass Sie in der Kommode da ein paar Sicherheitsnadeln auftreiben.»

VIIDie Nachricht hatte inzwischen die Runde gemacht, unentwegt schrillte das Telefon, Kondolenzschreiben trafen ein – im Sterbehaus war ein stetes Kommen und Gehen und Raunen: der Schneider, der Cornelias Trauerkleidung anfertigen sollte; die alte Haubenverkäuferin aus dem Dorf, die man aus reiner Nächstenliebe unterstützte. Gegen Nächstenliebe hatte Cornelia nichts einzuwenden, bis sie feststellte, dass Clara über diesen Umweg versuchte, ihr doch noch einen Schleier aufzuschwatzen. Die Fragen nahmen kein Ende: Wie sollte der Blumenschmuck aussehen, und wo sollte man ihn bestellen? Welche Musik sollte gespielt werden und von wem? Sollten die Fabrikarbeiter Gelegenheit bekommen, ihren aufgebahrten Brotgeber noch einmal zu sehen, und wie sollte das vonstattengehen? Zwei Orgeltasten waren verstummt und mussten repariert werden. Doch letztlich sorgten all diese Kleinigkeiten unter den Trauernden für willkommene Abwechslung.

Auch der Strom der Verwandten riss nicht ab. Quincy Thornwell, Großonkel Abners Sohn, einem Klubherrn um die fünfzig mit schlohweißem Haar, sprang der Schalk förmlich aus dem verschrumpelten Gesicht. Im prüden Boston galt einer wie er als Frauenheld, und Cornelia konnte ihn gut leiden, weil er nicht so überkorrekt war wie der Rest der Familie und immer ein paar amüsante Geschichten aus der Stadt auf Lager hatte. Dank familiärer Fingerzeige war Quincy auf dem Aktienmarkt zu sehr viel Geld gekommen; tagsüber vertrieb er sich die Zeit vor den Börsentafeln, auf denen die Kurse angeschrieben waren, und wenn er abends gerade keine Dame besuchte, spielte er mit seinem tauben alten Vater Schach. Auch jetzt kam Abner nach ein paar warmen Worten über den armen Josiah schnurstracks auf sein Lieblingsthema zu sprechen. «Der Bursche, der die letzte Runde gewonnen hat, ist Jude», versuchte er seinem Sohn vergebens ins Ohr zu flüstern, «aber es heißt überall, er sei Franzose – drollig, was?»

Und dann Priscilla und Elizabeth, Deborahs Töchter. Priscilla, die ältere, war das exakte Ebenbild ihrer Mutter und mit ihren einundzwanzig Jahren fest entschlossen, sich der Settlement-Arbeit7 zu verschreiben. Betty, die jüngere, war Cornelias erklärter Liebling; sie hatte ein rundes Gesichtchen, eine Nase, deren Spitze mit aller Macht nach oben strebte, warmherzig leuchtende braune Augen und kleine Grübchen, wenn sie lachte. Während die Frauen sich in den Haaren lagen, saß sie sittsam schweigend daneben, wie es sich für eine junge Dame von siebzehn Jahren gehört, die ihre Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen nicht aufs Spiel setzen will. Als Cornelia das Zimmer verließ, folgte sie ihr. «Ach Grannie, ich wünschte, sie würden sich nicht immer so zanken!»

«Mir geht es genauso, Betty.»

«Schwesterchen ist ganz außer sich wegen diesem alten Perserteppich. Natürlich ist die Vorstellung aufregend, dass Großvater durch Persien gereist ist und der Schah ihm Geschenke gemacht hat; aber man kann doch einfach einen Teppich kaufen! Mutter sagt, wenn Tante Clara ihn nicht herausrückt, spricht sie kein Wort mehr mit ihr. Glaubst du, sie meint das ernst?»

«Es wäre nicht das erste Mal, Liebes. Dein Großonkel Abner spricht seit fünfzig Jahren nicht mehr mit deinem Großonkel Ahab.»

«O Grannie! Dieser Familie ist wirklich nicht mehr zu helfen! Kommt Großonkel Ahab denn zur Beerdigung?»

«Natürlich.»

«Und du meinst, er wird kein Wort mit Großonkel Abner wechseln?»

«In Gesellschaft vielleicht, aber nicht, wenn sie allein sind. Abner hat Ahabs Verlobte geheiratet, und Ahab ist den Rest seines Lebens Junggeselle geblieben. Du kennst doch das große Haus an der Küste, das in der Mitte entzweigesägt wurde?»

«Ach, darum ging es dabei also?»

«Die beiden waren derart zerstritten, dass sie das Haus geteilt haben und Ahab mit seiner Hälfte ans andere Ende der Stadt gezogen ist.»

Da sagte Betty: «Ich bin ja so froh, dass du dich bei der Trauerfeier nicht hinter diesem schrecklichen schwarzen Schleier versteckst. Das würde überhaupt nicht zu dir passen. Und ich finde es gut, dass du nicht so tust, als müsstest du weinen, wenn dir nicht danach zumute ist. Du sollst machen dürfen, wonach dir der Sinn steht.»

«Danke, liebe Betty.»

«Jeder weiß doch, dass Großvater auf Zärtlichkeiten keinen Wert gelegt hat – zumindest hat er nie den Anschein erweckt –, warum sollen jetzt andere Gefühle zeigen?» Sie hielt inne und ergriff die Hand der alten Dame. «O Grannie, nun weinst du! Ich habe dir wehgetan!»

«Nein, Liebes, du kannst nichts dafür! Ich musste nur daran denken, wie viel Kummer einem erspart bliebe, wenn die Leute von Haus aus ehrlich miteinander wären.»

«Ich kann es Mutter auch nie recht machen; sie sagt immer, ich sei ein missratenes Kind und sie wisse nichts mit mir anzufangen. Siehst du das etwa genauso?»

«Nein, mein Liebes.» Unter Tränen musste Cornelia lächeln. «Denk dir nichts, ich habe nur nach einem Anlass zum Weinen gesucht. Nach vierzig Jahre mit alten Gewohnheiten zu brechen ist kein Kinderspiel, egal worum es geht.»

«Ach, liebe Grannie. Ich wünschte, du würdest bei uns einziehen und dafür sorgen, dass die Familie endlich zur Besinnung kommt. Ich wünschte, Mutter wäre nicht immer so streng mit mir. Ich wünschte, ich hätte ein eigenes Auto. Donnerwetter», sagte Miss Betty, «ganz schon viele Wünsche, was?»

VIIIMit einiger Verspätung traf schließlich auch Henry Winters, Alice’ Gatte, ein; er hatte noch auf dem Gericht zu tun gehabt. Für gewöhnlich werden wegen eines verstorbenen Schwiegervaters keine Verhandlungen vertagt, doch bei Governor Thornwell lagen die Dinge natürlich anders. Im Bewusstsein, Letzterem dadurch den gebotenen Respekt zu erweisen, hatte Henry den Aufschub beantragt, und in demselben Bewusstsein hatte der Richter diesen auch gewährt, mitsamt ein paar rührenden Worten über den ehrenwerten Verblichenen.

Entsprach Alice dem Inbegriff kultivierter Eleganz, so war Henry Cabot Winters die juristische Nonchalance in Person; der erfolgreiche Anwalt galt weithin als Mann von Welt und als Mann mit Stil. Vier Jahre Harvard und drei Jahre Jurastudium hatten nicht genügt, um ihm seinen Sinn für Humor auszutreiben, weshalb er Cornelia von allen ihren Schwiegersöhnen am nächsten stand. Er war dunkeläugig und schlank, anspruchsvoll in jeder Hinsicht, stets äußerst geschmackvoll gekleidet und trug sein bereits leicht ergrautes Haar zu einer extravaganten Welle frisiert. Für sein umfassendes Expertenwissen, was die neuenglische Finanzwelt betraf, verlangte er horrende Summen, um nach Geschäftsschluss in die Rolle des Lebemanns, Fuchsjägers und Partylöwen zu schlüpfen. Er kannte die richtigen Leute und zog einen Auftrag nach dem anderen an Land, während seinen Partnern die undankbare Aufgabe zufiel, Gesetzestexte zu durchforsten und Prozesse zu gewinnen.

Nunmehr war es an Henry, seine ganze Beredsamkeit aufzubieten. Zunächst musste er seiner Frau Gehör schenken, die sich im Flüsterton über die Mayflower-Wiege ereiferte, um gleich anschließend im Salon von Schwägerin Deborah abgefangen zu werden. «Henry, es gibt da etwas, worüber ich dringend mit dir reden muss, und zwar im Namen der gesamten Familie. Du weißt, ich will mich nicht in eure Privatangelegenheiten einmischen, aber ich habe gerade mit Alice gesprochen, und obwohl ich mit allen Mitteln versucht habe, sie davon abzubringen, besteht sie darauf, Joyce Edgerton zur Beerdigung einzuladen.»

«Was ist denn dagegen zu sagen, Deborah?»

«Henry, wie deine Frau und du mit euren Eheproblemen verfahrt, geht mich nichts an …»

«Eben, Deborah!»

«… solange daraus kein öffentlicher Skandal wird! Sei versichert, ich möchte die Tugendhaftigkeit meiner Schwester nicht in Zweifel ziehen … sie hat mir gegenüber beteuert, ihre Beziehung zu Joyce Edgerton sei vollkommen unschuldig, und das mag ja auch sein … aber es gibt eine Grenze dessen, was man der Welt weismachen kann … und wenn Alice weiterhin so schamlos mit jungen Männern durch die Gegend zieht … und ihre Begleiter in einem fort wechselt – und sie danach alle zum Teufel schickt … du weißt doch, was ich meine, Henry! Gut möglich, dass dieser Joyce Edgerton ein genialer Dichter ist … oder zumindest einer werden kann … wie auch immer, fest steht, die Familie geht in so einem Fall vor, und ich finde, wir haben ein Anrecht darauf, dass unsere heilige Trauer respektiert wird … deshalb muss ich dich an dieser Stelle ausdrücklich bitten, deinen Einfluss geltend zu machen und dafür zu sorgen, dass Joyce Edgerton am Freitagnachmittag anderweitig beschäftigt ist … da wird sich doch wohl eine ledige junge Dame finden lassen, die mit ihm irgendwo hingeht – nur dieses eine Mal, mehr verlange ich ja gar nicht …»

Und so weiter, und so fort, bis Henry Cabot Winters unter einem Vorwand aufstand, um sich nach oben in die sonnendurchfluteten Gemächer seiner Schwiegermutter zu begeben, wo keine schweren Vorhänge das Licht aussperrten und er in einen Polstersessel sinken und über die Sache mit Joyce Edgerton lachen konnte. Natürlich war Cornelia längst im Bilde; Deborah hatte es nicht versäumt, ihre Mutter mit dem Problem zu behelligen. Es ging eine Weile hin und her, doch letzlich lautete Henrys Fazit, dass ein einziger Mann nun mal nicht ausreiche, um Alice die Bewunderung zu zollen, die ihr zustehe. Auch er ließ es sich nicht nehmen, der heimatlosen Cornelia eine Bleibe anzubieten und zu betonen, dass alles, was sie hätten, zu ihrer freien Verfügung stehe. Und die Winters hatten eine ganze Menge; ein Stadthaus, ein Anwesen auf dem Land und ein Feriendomizil an einem See in New Hampshire. Ihr einziger Sohn war kein Kind mehr und stand kurz vor der Aufnahme in die St. Mark’s School, Cornelia hätte also viel Platz und alle Freiheiten. Doch sie zögerte. Sich mit Henry über das Leben lustig zu machen war eine Sache, aber wie sollte sie auf die Dauer mit Joyce Edgerton umgehen, mit seinem Vorgänger und seinen fraglos zahlreichen Nachfolgern?

Natürlich hatte Alice’ Verhalten seine Gründe, galt es doch als offenes Geheimnis, dass Henry in einer Wohnung am Bostoner Fenway eine Geliebte unterhielt; und obendrein war Alice «tugendhaft» genug, um sich keinem ihrer Verehrer auszuliefern. Doch wer mit ihr unter einem Dach wohnte, wusste zwangsläufig bis ins kleinste Detail über diese emotionalen Verwicklungen Bescheid und durfte sich pausenlos anhören, was das neueste Junggenie so ausnehmend Wunderbares in Alice’ Seele fand und warum er sie all den zarten, ungeöffneten Knospen vorzog, über die noch nicht die Stürme des Lebens hinweggepeitscht waren. Man wusste, ob die Gentlemen gerade glücklich oder traurig waren, ob sie kamen oder gingen; und sobald einer fort war, wusste man binnen kürzester Zeit, weshalb er Alice und die von ihr in ihn gesetzten hohen Erwartungen so bitter enttäuscht hatte.

«Henry», sagte Cornelia, «auch wenn von Josiahs Vermögen nicht mehr viel übrig ist – ein bisschen was wird er mir doch vermacht haben, oder?»

«Das will ich hoffen.»

«Nun, James wird mich, was das betrifft, schon auf dem Laufenden halten. Sofern das Geld reicht, kannst du mir ja einen Fingerzeig geben, wo am Fenway man ein Apartment mieten kann – soviel ich weiß, geht es dort recht ungezwungen zu.» Und Henry lachte – er konnte gar nicht anders, obwohl ihm zeitgleich der Schreck in die Glieder fuhr. Wie viel wusste seine Schwiegermutter über das Thema? Inwieweit sollte er ihr zu verstehen geben, dass er wusste, dass sie wusste …? Instinktiv warf er einen Blick über die Schulter in Richtung der offen stehenden Tür.

«Ach, Henry», sagte Cornelia plötzlich. «Ich schäme mich so für das Verhalten dieser Familie. Aber wie du weißt, sind die Thornwells nun mal keine besonders ‹netten› Leute.»

«Tja», sagte Henry, «dafür sind sie ‹bedeutende› Leute.»

«Was letztlich nur heißt», gab die alte Dame zurück, «dass sie seit jeher den Hals nicht vollbekommen – und einen Hang zum Wahnsinn haben.»

IXIn Anbetracht von Würde und Ansehen des verstorbenen Commonwealth-Gouverneurs zeigte der Himmel sich gnädig und sandte in der Nacht vor der Beerdigung Regen, um die Luft rein zu waschen und jeden Grashalm zum Glänzen zu bringen. Er ließ die Sonne besonders früh aufgehen und vertrieb die Wolken, bis nur mehr ein paar harmlose Nachzügler übrig waren, die sich gegen das tiefblaue Firmament abhoben. Die leuchtend grünen Rasenflächen rings um «Hillview» muteten weicher und sauberer an als jeder Teppich, auf den der Schah von Persien seinen Fuß gesetzt hatte. Unter den hohen, dunklen Eichen weidete eine Schafherde und hinter einem Drahtgitter ein Rudel Hirsche. Geradeaus in der Ferne zeichneten sich am Hang deutlich die weißen Säulen des Scatterbridge-Anwesens ab, und ein Stück weiter die bescheidenen Behausungen der Bauern, die die tausend Morgen Ackerland der Familie bestellten. Im Osten war unter der eben aufgegangenen Sonne die gigantische Fabrik aus rußgeschwärztem rotem Backstein zu erahnen, und jenseits der Bäume ein Fluss, den man Tag und Nacht über die Dämme rauschen hörte.

Auf hohen Säulen, die bis ins Obergeschoss reichten, ruhte an der Stirnseite der Villa ein Vorsprung, der sowohl die Veranda als auch die kiesbedeckte Einfahrt überdachte. Das Haupthaus war weiß gestrichen und die Farbe wie alles andere auf dem Anwesen gebührend in die Jahre gekommen. Beiderseits schlossen sich Wohntrakte an, auf der Rückseite lag das Musikzimmer und dahinter der Wintergarten; doch nach Symmetrie suchte man allenthalben vergeblich, denn die Architekten hatten auf die uralten Ulmen Rücksicht nehmen müssen, die den Thornwellschen Familiensitz beschatteten.

Den ganzen Vormittag über knirschten auf dem Kies die Reifen, standen Lieferanten und livrierte Chauffeure mit Kränzen und Gestecken vor der Tür. «Sag es mit Blumen» lautete das Motto, und zu jedem Sprüchlein gehörte eine Karte, auf der die Sprecher sich zu erkennen gaben: der Gouverneur des Commonwealth mit Gattin, der Diözesanbischof mit Gattin, die Mitglieder des State Committee der Republikaner, die Gemeinde der Gläubigen von St. Andrew, der Frauenbund der Kolonialgesellschaft, Jahrgang 58 der Harvard University, die Belegschaft der Pilgrim National Bank, die Geschäftsleitung der Thornwell Mills Company, die Bostoner Handelskammer, der Wirtschaftsbund von Thornwell und so weiter – die Liste war lang. Addicks, der vollendete Butler, nahm sämtliche Aufmerksamkeiten mit gravitätischer Dankbarkeit entgegen, platzierte die Karten auf ein silbernes Tablett und reichte die Blumen an den Hausdiener weiter, der sie ins Musikzimmer brachte, um sie dort unter Deborahs Regie aufzustellen.

Der Raum war zu einer Hochkirche umfunktioniert worden. Auf einer Seite stand der Altar mit einem ausladenden Kreuz aus weißen Rosen, flankiert von zwei siebenarmigen Leuchtern, in denen hohe Kerzen brannten. Der Sarg mit dem hageren Leichnam Josiahs stand an seinem Platz, und auf das Gesicht fiel ein letztes Mal die Sonne. Seine Nase wirkte länger und dünner denn je, und das bleiche Antlitz zierten ein paar gekonnte Pinselstriche – Mr. Hobson war scheinbar nicht nur Psychologe, sondern auch «Kosmetologe». Nicht umsonst warb er mit dem Slogan «Jedes Begräbnis ist mein Begräbnis», weshalb Deborah ihn auch für «vulgär» erachtete – Boston, das echte alte Boston, kann mit «spritziger» Reklame nämlich nichts anfangen.

Die drei Reporter und der Gentleman vom «Transcript» kamen wieder, doch diesmal hatten James und seine Schwägerin sich im Vorfeld abgesprochen. Wie bei dem Mann, der sagt, seine Frau und er hätten keinerlei Differenzen: In allen wichtigen Fragen gehe es nach ihm, in allen unwichtigen nach ihr; und bislang hätten sich keine wichtigen Fragen gestellt. Nachdem Deborah und James die drei Reporter und den Gentleman gemeinsam in Empfang genommen hatten, griff James nach den Karten auf dem Tablett und diktierte den Pressevertretern die Namen all derer, die Blumen geschickt hatten, während Deborah hin und wieder einwarf: «Diesen Namen bitte weglassen.» Den Thornwells dergestalt zu kondolieren war schließlich ein Privileg!

Auch für den Organisten der St. Luke’s Church fand Addicks die richtigen Worte. «Bitte hier entlang, Sir. Der Chor wird den kleinen Raum hinter dem Arbeitszimmer des Gouverneurs als Ankleide nutzen. Der Gottesdienst beginnt um Punkt zwei.» Als der Neuankömmling in seinem wallenden weißen Gewand probehalber ein paar Töne anschlug, brachten geheimnisvolle Schwingungen das Holzkonstrukt der Villa zum Beben. «Jesus, dir gehört mein Herz, lass mich ruh’n an deiner Brust», raunten Wände und Decken, während Deborah Thornwell Alvin mit geballten Fäusten dastand und Clara Thornwell Scatterbridge anzischte: «Eins lass dir gesagt sein, ein Drittel aller Familienerbstücke gehört mir, und wenn ihr sie mir jetzt wegen irgendeiner Hypothek wegnehmen wollt, seid ihr was mich anbelangt für den Rest meiner Tage nichts weiter als Pfandleiher!»

XDie Verwandtschaft traf ein. Die Damen gingen nach oben, um Frisur und Teint in Ordnung zu bringen, während die Herren herumstanden und im Flüsterton Konversation betrieben: ein herrlicher Tag, ja geradezu ideal für den Anlass, höchst erfreulich; ein gelungener Leitartikel im «Transcript», doch, man darf der Presse gratulieren; ein großer Mann ist von uns gegangen, seinesgleichen sucht man heutzutage vergebens; eine sehr gewinnende Würdigung seitens der Parteispitze, ja, es wird nicht leicht sein, ihn zu ersetzen; sieht ganz so aus, als würden die Deutschen bald den Ärmelkanal beherrschen;8 erstaunlich, wie der Markt weiterhin floriert.

Unter ihnen befand sich auch John Quincy Thornwell, Abners zweiter Sohn, der die kräftige Statur seines Vaters und die lange Nase seines Onkels geerbt hatte; sanfte Stimme, Halbglatze, Präsident der Fifth National Bank; ferner Großvater Porter Alvin, Ruperts Vater, sowie Andrew Alvin, sein jüngerer Sohn, Polospieler und Sportass, braun gebrannt wie ein Südseeinsulaner, mit einer breiten karierten Krawatte und perfekt sitzendem, schwarz glänzendem Haar. Er wartete in der Bücherei, und als Großonkel Abner röhrte: «Ja, wer liest jetzt bloß Josiahs Bücher?», ließ Andrew seine Augen über die dicken Wälzer zu Politik, Geschichte, Wirtschaft und Jura schweifen und wusste, dass er es bestimmt nicht sein würde.

Draußen kletterten gerade sechs Paar Chorknaben mit zarten Stimmlein und glänzenden Augen aus dem Auto und wurden von Reverend Mr. Quincy Adams Thornwell, dem Vetter, der bei der Trauerfeier assistieren sollte, ins Ankleidezimmer gescheucht. Groß gewachsen, die Plattfüße in breiten Gesundheitslatschen, mit schwarzem Habit und einem flachen Hut, dessen rituelle Bedeutung zum Glück über seine Hässlichkeit hinwegtröstete, nahm er sich aus wie ein englischer Dorfgeistlicher. Als Nächstes kam der Pfarrer mit Gemahlin – Reverend Dr. James Lowell Wolverhampton, Woolton ausgesprochen, hatte körperlich wie stimmlich das Zeug zum Bischof. Er neigte dazu, den Buchstaben «r», der bei Bostoner Brahmanen9 so gern unter den Tisch fällt, aufzusammeln, um seine Predigten verschwenderisch damit zu garnieren.

Nach einem letzten Hinweis von Deborah – «Um fünf vor zwei kommt die Familie nach unten» – zog er sich in Josiahs Arbeitszimmer zurück, um seinen Gehilfen über den Ablauf zu instruieren. «Als Erstes rezitiere ich ‹Herr, tu mir mein Ende kund›10, und Sie übernehmen die Antworten. Danach singt der Chor ‹Herr, du warst unsre Zuflucht›11, und dann, vor der Lesung aus dem Paulusbrief, stimmen wir den Lobgesang …»

«Heißt das, ich werde beide Bücher brauchen?», unterbrach ihn Reverend Thornwell.

«Nein, nein! Sie haben mich missverstanden …» Und mit christlicher Duldsamkeit wiederholte der Pfarrer langsam und deutlich noch einmal Punkt für Punkt seine Anweisungen. Am liebsten hätte er noch ein «Sie Trottel!» hinterhergeschickt, doch das wäre dem Vetter eines Gouverneurs gegenüber nicht eben christlich gewesen.

XIDie Gäste trafen ein. Während sie die Stufen zur Veranda erklommen, parkten ihre Chauffeure die Wägen der Reihe nach längs der Auffahrt. Vor dem Haus hatten drei Polizisten in blauer Uniform Stellung bezogen, doch ob dieser gesitteten Trauergemeinde dienten sie nur dazu, Würde auszustrahlen. Gespräche kamen gar nicht erst auf, stattdessen begab man sich nach ein paar geflüsterten Grußworten direkt ins allseits bekannte Musikzimmer, verhaltenen Schrittes, auf leisen Sohlen und stets darauf bedacht, keine Gefühlsregung zu zeigen. Die Gäste waren mehrheitlich im hohen Alter; distinguierte Herren mit weißen, grauen, fleischig roten oder rosig glänzenden Häuptern, in feinem schwarzem Zwirn und hie und da schwarzen Biesen an den seitlichen Hosennähten. Auch die Damen trugen bis auf ein paar weiße Tupfer an Kragen oder Handgelenken von Kopf bis Fuß Schwarz und trotz der sommerlichen Temperaturen schwarz gepunktete Schleier und üppige Pelzstolen. Wohin man sah, faltenübersäte Gesichter und – bei den schwer Betagten – hängende Mundwinkel; vorsichtig ging es die drei glänzend gebohnerten Stufen hinunter ins Musikzimmer, wo die Herrschaften ihre Plätze einnahmen und fortan nur noch wahrnahmen, was mit starr nach vorne gerichtetem Blick zu sehen war.

Der lichtdurchflutete, luftige Raum wurde durch einen Mittel- sowie einen Quergang in vier Abschnitte unterteilt; rechts und links standen die Türen offen, und weiße dorische Säulen säumten die Wände, an denen die Thornwellschen Ahnen gestrengen Blicks das Geschehen verfolgten. Die dunkelroten Vorhänge beidseits der hohen Fenster passten perfekt zu den rotsamten bezogenen Stühlen. An der Stirnseite des Raums stand ein Blumenbogen, und in der Mitte, wo die beiden Gänge sich kreuzten, ruhte der Leichnam des großen Staatsmannes mit weißen Nelken um den Kopf und weißen Rosen zu den Füßen in seinem Sarg; wenn man, wie so mancher Gast, einen Blick durch den Glasdeckel warf, konnte man eine schmale, wachsbleiche Nase erkennen und eine weiße Perücke, die genau da saß, wo sie hingehörte – keine Nadel in Sicht.

Ein quer über den Gang gespanntes, purpurnes Band zeigte an, welche Plätze für die Angehörigen und ihre Dienstboten vorgesehen waren; bei diesem feierlichen Anlass fielen sämtliche Klassenschranken, zählte nur noch Thornwell oder Nicht-Thornwell. Selbst dem – amtierenden – Gouverneur des Commonwealth und seiner Ehefrau zollte niemand übertriebene Aufmerksamkeit, die beiden ließen sich anstandslos zwischen den anderen Gästen nieder. Dasselbe galt für seinen Stellvertreter samt Gattin sowie den Senator, der das Commonwealth in Washington repräsentierte; ein adretter kleiner Herr mit akkurat gestutztem Kinn- und Schnurrbart und illustrem Namen, der allseits als politische Koryphäe galt. Wer sich unter den hiesigen «Blaublütern» auskannte, wusste in den Reihen der Trauernden diverse prominente Bankiers und Anwälte auszumachen, die Präsidenten zweier Hochschulen und mehrere bedeutende Gelehrte. Als gänzlich unbekannt erwiesen sich hingegen ein paar nervös wirkende ältere Damen in abgetragenem Schwarz, die am Fuße der Auffahrt aus dem Wagen gestiegen und erst einmal ausgiebig durchs Gelände spaziert waren, um nicht vorzeitig einzutreffen – mittellose Verwandte, die dank Josiah eine kleine Rente bezogen hatten und nun zitternd vor Angst auf die Testamentseröffnung warteten.

Vor der Seitentür drängte sich einfaches Volk – die Fabrikarbeiter hatten an diesem Nachmittag ausnahmsweise schon Feierabend. Scharenweise kamen sie in ihrer schäbigen Sonntagskluft den Hügel heraufgeströmt und harrten geduldig aus, bis sie zu den Konvulsionen der Orgel einer nach dem anderen eintreten durften. So eine Gelegenheit bot sich ihnen nur selten; die nächsten zwanzig, dreißig Jahre hieß es wieder sehnsüchtig aus dem Tal zu dem weiß getünchten Schloss im Schutz der hohen Ulmen aufschauen, ohne jemals aus nächster Nähe einen Blick auf die ganze Herrlichkeit werfen zu können. Der Rest der Dorfbevölkerung, der nicht in der Fabrik arbeitete, stand am Straßenrand Spalier, um mit offenen Mündern die blitzenden Limousinen und ihre erlauchten Insassen zu begaffen – Feudalismus im Gehrock!

Als die Standuhr am Treppenabsatz sechs Minuten vor zwei anzeigte, ertönten die ersten getragenen Klänge einer majestätischen, wohlbekannten Melodie, zu der sämtliche Anwesenden dasselbe erhabene Bild vor Augen hatten:

Zehntausend Mal zehntausend, in Kleidern hell und schön,

Die Schar der Gotterlösten fährt auf zu lichten Höh’n.

Sie haben überwunden den Kampf mit Tod und Pein.

Macht weit die gold’nen Tore und lasst die Sieger ein!12

In diesem ergreifenden Moment, als der Himmel in ihren Ohren dröhnte, baute Alice Thornwell Winters – schwarzes Kleid, weißes Gesicht – sich mit finsterem Blick vor Clara Thornwell Scatterbridge auf: «Zum allerletzten Mal – wann gibst du endlich zu, dass mir die Mayflower-Wiege zusteht?»

Clara: «Das ist hier wohl kaum der passende Zeitpunkt …»

Alice: «Der Zeitpunkt könnte nicht passender sein! Mit deiner Sturheit setzt du den Familienfrieden aufs Spiel! Diese Wiege ist die Wiege unseres Schicksals und Sinnbild unseres gesellschaftlichen Ranges! In ihren Armen wurde ich in den Schlaf geschaukelt, ich und unzählige Generationen vor mir. Ich habe den ersten männlichen Nachkommen geboren …»

Clara: «Und ich fünf Jungen und zwei Mädchen, wenn auch etwas später als du.»

Alice: «Vater hat mir die Wiege hoch und heilig versprochen, und ich bestehe auf meinem Recht! Wie lautet also deine Antwort?»

Clara: «Das muss ich alles erst mit James besprechen …»

Alice: «Dazu hattest du Gelegenheit genug und hast es doch bestimmt längst getan! Wenn du mir eine Antwort verweigerst, verstehe ich das als Nein.»

Der Zeiger der Uhr war inzwischen eine Minute vorgerückt, und Cornelia trat ins Zimmer. «Es ist Zeit, hinunterzugehen. Ich hoffe, ich muss mich gleich nicht vor aller Welt für meine Kinder schämen.»

XIINachdem sich die Prozession von Männern, Frauen und Kindern am Treppenabsatz ordnungsgemäß formiert hatte, zog sie in Zweierreihen die Stufen hinunter: allen voran Cornelia, ohne Schleier und ohne Tränen in den sanften braunen Augen, das graue Haar glatt gestrichen, einen ernsten Ausdruck im runden Gesicht, die kleine Nase tapfer nach vorne und den Blick ins Leere gerichtet. Mit einer Hand hielt sie sich an Großonkel Abners Arm fest, dahinter folgte Großonkel Ahab mit Großtante Priscilla. Als Nächstes kam Deborah, die älteste Tochter, am Arm ihres Gatten Rupert Alvin, danach Alice, die Zweitgeborene, mit Henry Cabot Winters und schließlich Clara mit James Scatterbridge, gefolgt von Alice’ Sohn, Deborahs Töchtern und Claras sieben Kindern, bis zum Schluss ihre zwei Kleinsten mit einer Gouvernante in der Mitte die Treppe hinuntertapsten. Sonstige Onkel, Tanten, Neffen, Nichten, Vettern und Cousinen hatten bereits hinter dem magischen purpurnen Band Platz genommen, weshalb das Hauspersonal die Nachhut bildete: Addicks, dessen altgedienter schwarzer Anzug im hellen Sonnenlicht grünlich schimmerte, der Privatsekretär des Gouverneurs, sein schwarzer Kammerdiener, Cornelias schwarzes Dienstmädchen, der Hausmeister, der Gärtner, der Koch – allesamt Leute, die der Familie schon so lange treu ergeben waren, dass nur noch sie wussten, seit wann.

Sodann schritten die sechs Paar weiß gewandeten Chorknaben den Mittelgang hinunter, um mit engelsgleichen Stimmen zu vermelden: «Nun ist des Lebens Werk getan, nun ist der Tag der Schlacht vorbei.»13 Der letzte und größte trug ein schweres, mit Edelsteinen besetztes Kruzifix, dahinter folgten die zwei Geistlichen im schwarz-weißen Ornat. Als alle saßen, hob der Pfarrer die Hände und deklamierte: «Friede herrsche in diesem Hause.» Ja, ein ernstes Wort von ganz oben wäre durchaus angezeigt gewesen in diesem Moment, da Clara Scatterbridge grimmig mit den Zähnen knirschte («Die Sachen gehören uns, und wir lassen sie uns nicht einfach so wegnehmen!»), Alice Winters wütend die Wand anblitzte («Alles nur wegen dieser Hypothek! Wie die Pfandleiher!») und Priscilla Alvin, Deborahs ältere Tochter, mit einem stummen «Wenn es darauf ankommt, lenkt Mutter bloß wieder ein – aber ich werde bestimmt nicht klein beigeben!» die Fäuste ballte.

«Ich bin die Aufer-r-r-r-stehung und das Leben!», verkündete salbungsvoll Reverend Dr. Wolverhampton, und als wüsste er von der Mayflower-Wiege und dem Perserteppich, fügte er hinzu: «Denn wir haben nichts in die Welt mitgebracht, und wir können auch nichts aus ihr mitnehmen.»14 Der Chor sang «Herr, du warst unsre Zuflucht von Geschlecht zu Geschlecht»15