Bote des Schreckens - Hildegard E. Merkes - E-Book

Bote des Schreckens E-Book

Hildegard E. Merkes

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Beschreibung

Was ist Wirklichkeit? Etwas, dessen wir uns sicher sein können? Oder ist auch sie nur eine Illusion und daher beliebig veränderbar? Und was bedeutet das für die Bewohner, deren Welt durch die sich verändernde Wirklichkeit in Stücke zu brechen droht? Dheyrion, Fheondri und ihre Freunde sehen sich einem der mächtigsten Wesen gegenüber, die es je in ihrer Welt gegeben hat. Und dieses Wesen wird nur von einem einzigen Gedanken beherrscht: Rache

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Seitenzahl: 705

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung.

 

 

 

Impressum

 

Hildegard E. Merkes

»Bote des Schreckens Band 3«

 

edition winterwork | Carl-Zeiss-Str. 3 | 04451 Borsdorf

[email protected]

www.edition-winterwork.de

© 2025 edition winterwork

 

Alle Rechte vorbehalten.

Satz: edition winterwork

Umschlag: edition winterwork

 

Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf

ISBN Druck 978-3-98913-175-0

ISBN E-BOOK 978-3-98913-189-7

Hildegard E. Merkes

 

 

Bote des Schreckens

 

Band 3

 

 

 

 

 

 

 

 

edition winterwork

 

 

 

 

Für meine liebe Tante Hebbie

und meine lieben – zwei- und vierbeinigen – Freunde Johanna, Johann und Tefka

 

In dankbarer Erinnerung an die vielen schönen Stunden,

die ich mit euch erleben durfte

 

 

 

 

Das, was ist, ist

 

William Shakespeare 1564 - 16161

 

 

Doch was, wenn nicht?

~ Prolog ~

 

 

Der See lag ruhig da.

In den Bäumen ringsum sangen die Vögel, und eine strahlende Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel.

Ein Kaninchen hatte es sich im Schatten eines Wäldchens nahe dem Ufer bequem gemacht und mümmelte träge an einem Löwenzahnblatt. Eigentlich war es ja schon satt, aber der Löwen­zahn schmeckte in diesem Jahr einfach besonders lecker.

Es leckte sich seine kleinen Fingerchen ab, lehnte sich an den Baumstamm einer Buche und blinzelte verschlafen, als ohne erkennbaren Grund der Gesang der Vögel plötzlich abbrach.

Nach einem Moment der Stille hoben ganze Schwärme unver­mittelt aus den Kronen der Bäume ab und flohen beinahe panisch in Richtung Süden.

Das Kaninchen richtete sich auf und sah sich um – und in diesem Moment verschob sich die Wirklichkeit.

Es war, als habe es geblinzelt, und eine Wirklichkeit ver­schwand, während eine andere an ihre Stelle trat.

Im Grunde war nichts zu erkennen. Die Sonne strahlte weiter aus dem tiefblauen Himmel herab, friedlich und still lag die Welt um es herum da.

Doch etwas hatte sich verändert.

Das Kaninchen konnte es deutlich spüren, denn es jagte ihm eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken.

Es war, als habe sich auf einmal ein dunkler Schatten über seine Welt gelegt und den eisigen Frosthauch eines nahenden Winters mit sich gebracht.

Es sprang auf die Beine und floh.

Warum?

Das Kaninchen wusste es nicht.

Aber es hatte Angst.

Große Angst.

 

 

 

 

Es beginnt …

 

 

Furcht besiegt mehr Menschen

als alles andere auf der Welt

 

Ralph Waldo Emerson 1803 - 18822

~ I ~

 

 

»Isst du das noch?«, fragte Fheondri und starrte hungrig auf das Stück Erdbeerkuchen, das auf Dheyrions Teller übrig geblie­ben war.

Der grinste breit und hielt seinem Freund dann großzügig den Teller hin. »Nein, nimm dir nur.«

Fheondri schnappte sich den Kuchen und stopfte sich das ganze Stück auf einmal in den Schnabel.

»Alfo, ich muff schon fagen, der Kuchen ift mir diefef Mal befonderf gut gelungen«, lobte er sich selbst mit vollem Schnabel.

Ardorvar, der den entsprechenden Krümelregen abbekam, strich sich demonstrativ über sein Gewand und warf ihm einen scharfen Blick zu – er hasste schlechte Tischmanieren.

Fheondri schluckte und erwiderte seinen Blick ohne auch nur den Hauch eines schlechten Gewissens.

»Noch ein Tässchen Tee, Meister?«, bot er dennoch versöhn­lich an, obwohl ihm absolut schleierhaft war, warum der Meister ihn auf einmal so verärgert ansah.

Der räusperte sich und gemahnte sich – da er hier Gast war – zur Ruhe. »Ja gerne. Danke, Fheondri.«

Seit der Hochzeit und Krönung von Lumivhir und Anvyllor waren einige Jahre vergangen, und am heutigen Morgen war Ardorvar gemeinsam mit Vhil überraschend zu einem Besuch vorbeigekommen. Er war ein eher seltener Gast, weshalb sie sich besonders gefreut hatten, ihn zu sehen. Und da er noch nie im Tal der Schmetterlinge gewesen war, beschlossen sie wegen des schönen Wetters spontan, gemeinsam einen Ausflug in das Tal zu machen, damit er sich die Farbenpracht einmal selbst anschauen konnte.

Während ihrer Wanderung dorthin erzählte ihnen Ardorvar, dass er vor einigen Wochen mit Alpha, Beta und Gamma zu der grünen Barriere zurückgekehrt sei, da sie ja seinerzeit ver­sprochen hätten, ihre Erlebnisse mit den dort Verbliebenen zu teilen.

»Ich gebe zu, dass wir uns damit etwas viel Zeit gelassen haben«, sagte er und errötete leicht. »Aber stellt euch vor, als wir dort ankamen, war die Barriere – ebenso wie dieser kochende See – einfach verschwunden.«

»Davon hast du bisher noch gar nichts erzählt«, meinte Vhil verwundert.

»Na ja …« Das Rot auf den Wangen Ardorvars vertiefte sich. »Eigentlich waren wir nicht ganz unfroh darüber«, gestand er.

Die drei sahen ihn fragend an, und so fuhr er fort: »Wisst ihr, irgendwie haben wir vier uns in diesen gemeinsamen Jahren doch sehr aneinander gewöhnt und der Rückkehr zur Barriere deshalb mit recht gemischten Gefühlen entgegengesehen. Alpha, Beta und Gamma hätten ja gegebenenfalls ihre Plätze mit ande­ren tauschen müssen, die ebenfalls einmal in die Welt hinaus­wollten.«

»Und das hätte keinem von euch gefallen, nicht wahr?« Vhil nickte verständnisvoll.

»Nein.«

»Vermutlich wären die drei mit ihren … äh … Kameraden … wohl auch nicht mehr so gut zurechtgekommen nach allem, was sie mit dir erlebt haben.»

»Das dachten wir auch.«

»Und du hättest mit den Neuen dann ja auch wieder ganz von vorne anfangen müssen.«

Man konnte sehen, wie es Ardorvar schauderte. Mit einem schiefen Grinsen meinte er: »Eine wirklich erschreckende Vor­stellung.«

» … «

»Ja, jetzt!«, sagte er. »Beta meinte, wir würden doch eigent­lich recht gut zusammenpassen«, gab er an die anderen weiter. »Aber ich erinnere mich noch genau an die Anfänge, und das war wirklich, wirklich …«

» … «

»Ja, das war es.«

» … «

»Ich hör ja schon auf. Und ihr habt recht, inzwischen passen wir ganz gut zusammen.«

» … «

Ardorvar lachte. »Jaaa, wirklich!«

»Aber was könnte denn mit der Barriere und dem See gesche­hen sein?«, fragte Dheyrion.

»Vielleicht hat der See ja die Barriere überschwemmt, nur Gemüse übrig gelassen, das dann verrottet ist, und ist dann ein­fach verdampft«, überlegte Fheondri laut.

»Verdampft.«

»Kann doch sein.«

»Der See und die Barriere waren aber gar nicht so nahe bei­einander«, gab Vhil zu bedenken.

»Dann hat er sich womöglich durch den Boden geätzt, ist unterirdisch zu der Barriere geflossen und hat deren Wurzeln zerkocht, wodurch die Pflanzen eingegangen sind«, spekulierte Fheondri weiter. »Und jetzt schwabbelt das kochende Wasser irgendwo in den Tunneln herum.«

»Es schwabbelt irgendwo in den Tunneln herum?«, wieder­holte Dheyrion lachend.

»Warum nicht? Du musst zugeben, dass wir schon merkwürdi­gere Dinge erlebt haben«, meinte Fheondri.

»Da hast du allerdings recht«, musste Dheyrion zugeben.

Er grübelte noch eine Weile vor sich hin und meinte dann: »Vielleicht sollten wir Flämmchen und die Felskobolde informie­ren, damit sie sich da unten mal umsehen. Sollte tatsächlich kochendes Wasser in die Tunnel gelaufen sein, wäre das ja nicht ganz ungefährlich.«

»Wir gehen doch davon aus, dass sowohl der kochende See als auch die Barriere von dem Weltgeist erschaffen wurden, oder?«, warf Vhil ein. »Es könnte also auch sein, dass dieser Zauber in dem Augenblick, in dem der Weltgeist die Quelle betrat, einfach erloschen ist, so wie es damals bei dem Kampf im Norden der Fall war.«

»Und Alpha, Beta und Gamma?«, fragte Fheondri. »Die sind doch auch noch da.«

»Vielleicht sind sie diesem Schicksal entgangen, weil sie mit Ardorvar verbunden waren«, mutmaßte Vhil.

»Durchaus eine Möglichkeit«, bestätigte dieser.

»Ich denke zwar auch, dass es dessen ungeachtet nicht schaden kann, Flämmchen und die Kobolde vorsichtshalber darüber in Kenntnis zu setzen«, schränkte Vhil ein und nickte bekräftigend. »Ich werde auf der Heimreise mit ihnen sprechen.«

Als er aufblickte, erreichten sie gerade das Tal der Schmetter­linge. Und angesichts des überwältigenden Anblicks, der sich ihnen hier bot, ließen sie das Thema vorerst auf sich beruhen und beschlossen, stattdessen lieber den schönen Tag zu genie­ßen – nicht ahnend, dass bereits sehr viel größere Probleme auf dem Weg zu ihnen waren …

~ II ~

 

 

Die Bäume des Sprechenden Waldes genossen den milden Som­mernachmittag. Ein leichtes Lüftchen strich sanft durch ihre Äste und Blätter und ließ sie sich behaglich rekeln. Doch auf einmal setzte ein lautes Knacken und Bersten ein.

Etwas Großes schien sich seinen Weg durch das trockene Unterholz zu bahnen.

Hastig zogen die Bäume ihre Wurzeln aus der Erde und stoben wild in alle Richtungen davon, als ein riesiges Wesen im Galopp durch den Wald gerannt kam. Es hatte vier lange gebo­gene Hörner, ein zottiges Fell und ähnelte entfernt einem über­dimensionierten Stier.

Wütend machten die Bäume ihrem Unmut über diese Störung des nachmittäglichen Friedens Luft.

»Was zum …!«

»Unverschämtheit!«

»Also, so was!«

»Hey! Das hier ist doch keine Rennstrecke!«

»Was bildet dieses Ungetüm sich …!«

Ärgerlich starrten sie dem Wesen hinterher, das ohne anzu­halten einfach weitergelaufen war.

»Wo will es denn so eilig hin?«, fragte die Eiche, nachdem das Wesen wieder aus ihrem Sichtfeld verschwunden war und die Bäume sich grummelnd zurück an ihre angestammten Plätze begaben.

»Weiß der Himmel«, erwiderte der neben ihr gehende Ahorn. »Aber bei der Eile, die es an den Tag legt, muss es wohl um etwas recht Wichtiges gehen.«

»Hm«, meinte die Eiche nachdenklich. Sie hatte ein sehr ungu­tes Gefühl, was dieses Wesen betraf, denn irgendetwas stimmte damit nicht.

Sie sann eine ganze Weile darüber nach, bis ihr auf einmal der Gedanke kam, dass dieses Wesen nicht hierhergehörte – nicht nur nicht in ihren Wald oder diese Gegend, sondern überhaupt nicht in diese Welt!

»Wo es wohl herkommt?«, murmelte sie gedankenverloren.

Sie warf dem Wesen einen letzten Blick hinterher, ging dann zu ihrem Platz, senkte ihre Wurzeln in den Boden und vergaß den Vorfall im Laufe des Tages.

~ III ~

 

 

Die Bewohner des Nordens saßen gerade im Gemeinschaftssaal beisammen und lauschten einem mehr oder weniger interessan­ten Vortrag über die gemeine Knispelbeere: Nutzen und Risiken einer speziellen Züchtung dieser Pflanze als Lockmittel für den Drechsel.

Auch wenn weder Lendritos noch einer der neuen Magier bei ihnen im Norden lebten, widmeten sie sich weiterhin der Her­stellung von Zaubern und Zaubertränken. Die speziellen Zuta­ten wurden dann gemischt, sobald einer der Magier zu Besuch kam – was selten genug der Fall war. Aus diesem Grund hatten sie sich angewöhnt, immer gleich einen Vorrat von allem anzu­legen, damit die Zauber bereitstanden, wenn einer von ihnen sich blicken ließ.

Nach der Ankunft der vier neuen Magier hatte sich leider in Bezug auf das Tor nichts mehr getan, was die Bewohner des Nordens sehr bedauerlich fanden – hatten sie doch mit vielen neuen Magiern gerechnet und gehofft, ihr Reich würde nun tatsächlich wieder ein Reich der Magier werden.

Das Tor wurde entsprechend akribisch überwacht, damit ihnen nur ja nicht entging, wenn sich eine Kugel darin bilden sollte, die die Ankunft eines neuen Magiers angekündigt hätte. Doch bisher vergebens.

Der Redner am Pult kam nun offenbar langsam zum Ende sei­ner Ausführungen.

»Ich denke daher, dass wir zumindest einen Versuch unterneh­men sollten, diese spezielle Hybrid-Pflanze zu züchten und damit die Drechsel vermehrt an einen bestimmten Ort zu locken, an dem wir sie leichter einfangen könnten. So bliebe es uns erspart, ihnen ständig in den Magischen Gärten hinterherrennen zu müssen, was ja doch recht zeitraubend und anstrengend ist.«

Der Redner war etwas beleibt – einer der Nachteile des Menschseins –, und allein der Gedanke an die Rennerei reichte wohl bereits aus, dass ihm die Puste ausging, weshalb er am Ende seines Vortrags erst einmal tief Luft holen musste. Sein Blick wanderte über die Anwesenden und richtete sich schließ­lich erwartungsvoll auf ihr Oberhaupt.

Cryptorios rammte Meliorphos, der selig schlummernd den Vortrag verschlafen hatte, den Ellbogen in die Rippen.

Mit einem lauten »Äh, ja!« fuhr der aus seinen sehr viel ange­nehmeren Träumen auf.

»Crassustis«, begann er dann, räusperte sich, stand auf und ging zu dem Redner nach vorn. »Wir danken dir für diesen fes­selnden Vortrag.«

»Denkt Ihr denn, dass wir das so umsetzen sollten?«, fragte Crassustis eifrig.

Meliorphos hatte keinen blassen Schimmer, wovon der Vor­trag eigentlich gehandelt hatte, und warf Cryptorios einen hilfe­suchenden Blick zu. Der nickte leicht.

»Ja sicher, Crassustis, das ist eine wirklich gute Idee«, sagte er also. »Aber nun muss ich mich anderen Dingen widmen. Du verzeihst.«

Damit wandte er sich schnell ab und eilte, einen lachenden Cryptorios im Schlepptau, aus dem Saal.

»Was für eine Unsitte, dass von mir inzwischen erwartet wird, jedem Vortrag beizuwohnen, egal um welche Nichtigkeiten es sich auch immer handelt«, beschwerte Meliorphos sich und rannte beinahe hinaus in den kalten Wind, der über das Eis strich, zum Portalsraum und in den ›Sommer‹ hinein.

Dort blieb er stehen, atmete tief die warme Luft ein und drehte sich dann zu Cryptorios um. »Wärt Ihr so nett, kurz zusam­menzufassen, worum es da ging?«, fragte er, nun schon wieder ruhiger.

Sie setzten sich auf eine Bank, und Cryptorios verschaffte ihm mit wenigen Worten einen Überblick über den Vortrag.

»Und dafür sitzen wir dann geschlagene zwei Stunden in dem Saal und quälen uns durch diesen endlosen Sermon?« Meliorphos schüttelte ungläubig den Kopf.

»Nun ja«, erwiderte Cryptorios schmunzelnd. »Sehr gequält saht Ihr nicht gerade aus.«

»Ja, dem Himmel sei Dank bin ich eingeschlafen. Die Gastvor­träge sind ja noch ganz interessant, aber dieses anhaltende Gebrabbel über jeden Grashalm, der es wagt, in die falsche Richtung zu wachsen … Seit wir keine Magier mehr sind, scheint niemand mehr auch nur eine winzige Entscheidung ohne mich treffen zu können – das gilt natürlich nicht für Euch, mein lieber Freund.«

Cryptorios lächelte. »Vielleicht solltet Ihr auch einmal einen Vortrag halten über das Fällen von Entscheidungen und die Übernahme von Verantwortung«, sagte er.

»Auf jeden Fall werde ich bekanntgeben, dass solcherlei Anfragen künftig schriftlich bei mir eingereicht werden«, ent­gegnete Meliorphos. »Dann kann ich wenigstens selbst bestim­men, wann ich mich damit beschäftigen und wie viel Zeit ich dafür aufwenden möchte.« Sein Gesicht hellte sich auf, als er anfügte: »Herzlichen Dank übrigens, dass Ihr mich vorhin gerettet habt.«

Cryptorios winkte ab. »Hab ich doch gerne gemacht.«

Meliorphos lehnte sich zurück und hielt sein Gesicht der Sonne entgegen.

»Ich denke, ich gehe noch ein wenig in die Bibliothek«, meinte Cryptorios. »Man sollte es nicht glauben, aber es gibt noch immer eine Menge aufzuräumen. Das Ordnungssystem von Vhil ist wirklich gut. Leider dauert es nur recht lange, bis wir alles dementsprechend neu sortiert haben.«

»Hmm«, brummelte Meliorphos zustimmend, die Augen fest geschlossen.

»Und wenn wir das geschafft haben, werde ich in den Süden gehen, Flämmchen heiraten und Mottfrey als Kind adoptieren«, fuhr Cryptorios fort.

»Ja, sehr schön«, antwortete Meliorphos träge. »Tut das.«

Mit einem Grinsen stand Cryptorios auf, überließ Meliorphos seinen Träumen und machte sich auf den Weg zur Bibliothek.

Meliorphos fuhr hoch. »Was?«

Es dauerte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, dass Cryptorios einen Scherz gemacht hatte. Er hatte doch einen Scherz gemacht, oder?

Er warf dem davonschlendernden Cryptorios einen schlaf­trunkenen Blick hinterher und schüttelte dann über sich selbst den Kopf. Natürlich hatte er einen Scherz gemacht! Diese ewi­gen Vorträge weichten ihm langsam das Gehirn auf.

Konnte denn nicht irgendetwas passieren, das ihn aus diesem langweiligen Trott herausholte?

~ IV ~

 

 

Das Kaninchen war noch immer auf der Flucht. Getrieben von dem Gefühl, verfolgt zu werden, floh es weiter und weiter, aß und trank nur auf die Schnelle und schaute ängstlich nach rechts und links, ob nicht im Gebüsch etwas Böses lauerte.

Es sah nicht die grünen Täler.

Es sah nicht die Bäche und Flüsse, die seinen Weg begleiteten.

Es hatte keinen Sinn mehr für das Strahlen der Sonne und den Duft der Blumen.

Es nahm nichts mehr wahr.

Die Angst hatte sich seiner mit einer Kraft bemächtigt, die alles um es herum ausschaltete.

Sein Körper – und mehr noch sein aufgewühlter Geist – lechz­ten nach Ruhe.

Aber es konnte keine Ruhe mehr finden. Es schlief nicht mehr, döste nur noch hier und da einige Minuten.

Wie weit war es nun schon gelaufen?

Es spielte keine Rolle.

Es musste weg … weg … weg …

~ V ~

 

 

Sie übernachteten im Tal der Schmetterlinge. Die Nachtluft war mild und warm, und der endlose Sternenhimmel strahlte über ihnen in all seiner Pracht.

Sie hatten ein lauschiges Plätzchen gefunden, an dem sie es sich gemütlich gemacht und ihre Abendmahlzeit eingenommen hatten, und Vhil erzählte gerade eine seiner ›Abenteuer-Grusel-Geschichten‹, ganz so, wie er es getan hatte, als Fheondri noch klein gewesen war.

Gespannt lauschten Dheyrion und Fheondri seiner Erzählung, und sogar Ardorvar saß andächtig an einen Stein gelehnt da und unterbrach ihn kein einziges Mal.

Die Geschichte endete schließlich mit dem grauenhaften Tod der Hauptprotagonisten, denn sie wurden unter Tonnen von Fel­sen zerquetscht.

»Also Vater, so geht das doch nicht«, beschwerte sich Fheondri. »Du kannst sie doch nicht alle einfach so sterben lassen! Und dann auch noch so … so … schmerzhaft.« Er schauderte.

»Doch, kann ich«, widersprach Vhil. »Ist schließlich meine Geschichte.«

Fheondri war empört. »Jetzt kann ich bestimmt wieder die ganze Nacht nicht schlafen«, jammerte er. »Oder ich habe Alb­träume, in denen ich zerquetscht werde.«

»Ich bin mir sicher, du wirst ausgesprochen gut schlafen«, meinte sein Vater überzeugt. »Und wenn nicht, darfst du mich gerne wecken, in Ordnung?« Er legte sich hin und war in Minu­tenschnelle eingeschlafen.

Grummelnd legte sich Fheondri ebenfalls hin. »Du hast gut reden. Neben dir könnte ein Vulkan ausbrechen, und du wür­dest noch immer tief und ruhig weiterschlafen.«

Keine Minute später war er ebenfalls selig eingeschlummert.

Dheyrion grinste Ardorvar an. »Man könnte wirklich meinen, sie stammten aus einer Blutlinie, nicht wahr?«

Ardorvar nickte. »Ja, es war schon ein Glück, dass die beiden sich damals gefunden haben.«

»Vielleicht war es weniger Glück«, meinte Dheyrion. »Vielleicht war es eher Vorsehung.«

»Ja, so wie bei uns«, erwiderte Ardorvar.

»So wie bei uns?«

»Ja, nein, doch, irgendwie auch.« Ardorvar lächelte. »Aber Beta fragte mich gerade, ob es so gewesen sei wie bei uns.«

»Da hat Beta vermutlich gar nicht mal so unrecht.«

»Der Gedanke ist mir noch nie gekommen.« Ardorvar sah ihn nachdenklich an. »Nun, wie auch immer. Ich denke, wir sollten uns jetzt auch langsam schlafen legen. Du weißt, ich werde unge­nießbar, wenn ich nicht genügend Schlaf bekomme.« Er zwin­kerte ihm zu.

»Kann mich dunkel erinnern«, antwortete Dheyrion schmun­zelnd. »Na dann, schlaft gut.«

»Ja, du auch.«

Das beruhigende Zirpen der Grillen lullte sie ein und ließ auch sie schnell in das Land der Träume entschwinden.

~ VI ~

 

 

Das Wasser des Sees kräuselte sich sacht.

Einige winzige Luftbläschen stiegen aus der Tiefe empor und zerplatzten mit einem leisen Geräusch an der Oberfläche.

Nach einigen Augenblicken wurden die Luftblasen größer, ein Blubbern erfüllte die vorherige absolute Stille. Beinahe schien es, als ob das Wasser zu kochen begänne.

Doch dann beruhigte sich das Wasser des Sees wieder. Unbe­rührt lag er da …

… bis etwas Großes das Wasser verdrängte und an die Ober­fläche stieg.

Ein riesiger Schädel tauchte langsam aus den Fluten auf.

Wachsam beobachteten die großen gelben Augen die Umge­bung, ihre Pupillen nur schwarze Schlitze. Das Wesen hob den Kopf aus dem Wasser und ließ ein giftiges Zischen hören.

Nach einem weiteren langen Blick verschwand es wieder unter der Wasseroberfläche.

Nichts deutete mehr auf seine Anwesenheit hin.

~ VII ~

 

 

Der nächste Morgen begann im Tal der Schmetterlinge mit einem farbenfrohen Sonnenaufgang. Und obwohl die vier dieses Schauspiel bereits unzählige Male gesehen hatten, beobachte­ten sie auch heute wieder fasziniert, wie der Himmel rot erglühte und die kleinen Wölkchen beinahe violett wurden. Das Rot ging in ein Orange und dann in ein helles Gelb über, während der Himmel heller und blauer wurde und die Sonne langsam über den Hügeln aufstieg.

Sie genossen ein reichhaltiges Frühstück und machten sich, nachdem sie alles zusammengepackt und verstaut hatten, wie­der auf den Heimweg.

»Ich hab doch gesagt, dass ich die ganze Nacht kein Auge zutun würde«, beschwerte sich Fheondri unterwegs bei seinem Vater, als dieser sich über ihn lustig machte, weil er nach ein paar Stunden wandern schon total geschafft war. »Und wenn man keinen Schlaf bekommt, ist man am Tag darauf auch nicht so belastbar. Frag Meister Ardorvar, der wird mir da sicher recht geben.«

Ardorvar sah ihn gleichmütig an und zog als Erwiderung ledig­lich eine seine Augenbrauen in die Höhe, enthielt sich ansons­ten aber jedes weiteren Kommentars.

»Du hast geschlafen wie ein Stein«, entgegnete Vhil mit einer lässigen Geste. »Ich denke, es liegt eher daran, dass du gestern Abend und heute Morgen zu viel gegessen hast, hm?«

Empört plusterte Fheondri sich auf. Er hätte ja gerne behaup­tet, dass er zumindest von schweren Albträumen geplagt wor­den war – wenn dem denn so gewesen wäre.

»Na gut«, gab er sich geschlagen und grinste. »Ich hab von dem Rhabarberkuchen mit Baiserhaube geträumt, den ich uns backe, sobald wir zu Hause sind«, gestand er.

Fheondri hatte seit Neuestem das Backen von Kuchen und Gebäck für sich entdeckt. »Davon habe ich dann solchen Hun­ger bekommen, dass ich heute Morgen früher aufgewacht bin als sonst.«

»Das hört sich doch schon eher nach meinem Jungen an«, erwi­derte sein Vater, legte den Arm um ihn und drückte ihn kurz. »Ich hab doch schließlich kein Angsthühnchen großgezogen, nicht wahr?«

Fheondri wollte gerade darauf antworten, als irgendetwas aus den Bäumen auf der rechten Seite des Weges herangeschos­sen kam und sie sprichwörtlich einfach über den Haufen rannte.

Er stieß ein entsetztes »Huuuäääh!« aus, bevor sich seine Welt in ein fürchterliches Durcheinander verwandelte, als sie alle kreuz und quer durch die Gegend kullerten.

Fheondri sah sein letztes Stündlein gekommen.

Die Felsen!

Er hatte es gewusst!

Nun würden sie alle zerquetscht werden!

Hätte sein Vater bloß diese Geschichte nicht erzählt!

Aber der hatte ja unbedingt …

Fheondri lag da und überlegte, wie es sich wohl anfühlte, von Felsen zu Brei zermatscht zu werden. So aber doch ganz sicher nicht.

Als weiter nichts geschah, richtete er sich auf. Alles noch heil, wie er nach einer kurzen Selbstdiagnose feststellte. Er schob Ardorvars Bein und Dheyrions Arm von sich herunter und sah sich um.

Von welchem Höllengeschoss waren sie denn da bloß getrof­fen worden?

Außer ihnen vier, die in einem Knäuel auf dem Waldweg lagen und nun langsam wieder ihre diversen Gliedmaßen auseinan­derdröselten, war nichts zu erkennen. Bis Vhil auf einmal mit einem Satz aufsprang.

Wie es aussah, war er wohl mitten auf dem Höllengeschoss gelandet … das sich bei näherer Betrachtung jedoch als kleines, doch eher harmloses Kaninchen herausstellte.

»Oooch, kuck mal Dheyrion, der sieht aber niedlich aus«, meinte Fheondri, rappelte sich hoch und ging zu seinem Vater hinüber, der stirnrunzelnd das bewusstlose Kaninchen betrach­tete. Fheondris vorwurfsvoller Blick traf Vhil. »Du wirst ihn doch wohl nicht verletzt haben?«

»Na hör mal«, verteidigte sich sein Vater. »Immerhin ist er doch mit Krawumm in uns hineingedonnert.«

Fheondri betrachtete den kleinen Kerl zweifelnd. »Versteh ich nicht«, meinte er kopfschüttelnd. »Kuck doch mal, wie klein der ist, Vater, der kann uns doch unmöglich alle umgerannt haben.«

»Na ja, wenn er genug Schwung hatte«, warf Ardorvar ein, der ebenfalls hinzugetreten war und das kleine Tier nun stirn­runzelnd beäugte.

»Trotzdem.« Fheondri war nicht überzeugt. »Vielleicht war da ja noch ein Riesenkerl hinter ihm, und der hat sich dann in dem Wirrwarr schnell davongemacht.« Er sah sich ein weiteres Mal um.

»Das wäre uns doch aber aufgefallen«, meinte Dheyrion unschlüssig, obwohl er sich auch nicht erklären konnte, wie dieses kleine Ding so viel Kraft hatte aufbringen können, um sie alle von den Beinen zu reißen.

Fheondri beugte sich zu dem Kaninchen hinunter und tät­schelte es sanft an der Wange. »Denkst du, du kannst die Augen für uns mal aufmachen?«, fragte er leise.

Das Kaninchen stöhnte und warf den Kopf hin und her.

»Ich glaube, er kommt zu sich.« Vhil trat vorsichtshalber einen halben Schritt zurück, was ihm einen weiteren vorwurfs­vollen Blick seines Sohnes einbrachte.

Aber Vhil zuckte nur mit den Schultern. Schließlich wusste man ja nie – vielleicht hatte der Kleine durch irgendeinen Umstand besondere Kräfte. Da war er doch lieber vorsichtig.

Das Kaninchen öffnete die Augen, schien sie aber gar nicht wahrzunehmen, denn sein Blick ging geradewegs durch sie hin­durch.

Es öffnete den Mund und murmelte etwas. Es hörte sich an wie: »Muss weg … muss weg …«

»Was hat er denn?« Fheondri sah ratlos zu Dheyrion hoch.

Ardorvar trat zu ihnen heran. »Lasst mich mal«, meinte er und hockte sich zu dem Kaninchen.

Eine der grünen Ranken löste sich aus seinem Haar, schlängelte sich um das Handgelenk des Kaninchens und drang dann in es ein. Die Ranke ging dabei sehr viel vorsichtiger vor als seinerzeit noch bei Ardorvar und seinen Freunden, denn als dieser im letzten Jahr von der Leiter gefallen war und sich die linke Schulter ausge­renkt hatte, lernten die Wesen etwas Neues kennen: Schmerz.

Eine sehr unangenehme, aber auch sehr lehrreiche Erfahrung.

Ardorvars Blick wurde glasig, als der Strang eine Verbindung zum Geist des Kaninchens herstellte.

Seine Freunde warteten geduldig ab, bis der Strang sich wie­der zurückgezogen hatte, und sahen ihn dann neugierig an.

Doch Ardorvar schien Probleme zu haben, in die Wirklichkeit zurückzufinden.

Vhil legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ardorvar?«, fragte er besorgt.

Er war schon oft dabei gewesen, wenn Ardorvar sich mit einem anderen Lebewesen verbunden hatte, aber so desorientiert war er danach nie gewesen. Was hatte es nur mit diesem kleinen Kerl auf sich?

Ardorvar blinzelte heftig. Dann klärte sich sein Blick.

»Vhil, hilf mir hoch«, bat er ihn, anscheinend nicht mehr in der Lage, alleine aufzustehen.

»Was hast du denn?« Beklommen sah Vhil in an.

»Sein Geist …«, begann Ardorvar.

»Was ist mit seinem Geist?«

»Er hat etwas gesehen.«

»Etwas gesehen? Was denn?«

Vhil verstand nicht, warum Ardorvar ihnen nicht einfach erzählte, was in dem Geist des Kaninchens vor sich ging. An der ganzen Geschichte war doch irgendetwas extrem faul.

Ardorvar atmete tief durch. Langsam kam er wieder zu sich.

»Da war ein See, irgendwo im Nordwesten«, berichtete er. »Eine … Kraft … ich weiß nicht, wie ich es sonst ausdrücken soll, hat sich seiner bemächtigt und ihn verwandelt.«

»Verwandelt?«, fragte Dheyrion. »In was verwandelt?«

»Das ist es ja. Ich weiß es nicht.« Ardorvar wirkte verun­sichert – etwas, das Dheyrion noch nie bei ihm wahrgenommen hatte und das ihn daher zutiefst beunruhigte.

»Danach war alles anders … und doch auch wieder nicht«, fuhr Ardorvar verwirrt fort. »Die Tiere sind von dort geflohen. Angst hatte Besitz von ihnen ergriffen; eine Angst, die bis in die tiefsten Tiefen ihrer Seelen drang. So etwas habe ich noch nie gesehen oder erlebt. Ich muss mich noch einmal mit ihm verbin­den.« Er wandte sich erneut dem Kaninchen zu.

»Was? Nein!«, wehrte Vhil entschieden ab und hielt ihn am Arm fest. »Schau doch, was beim letzten Mal geschehen ist. Das nimmt dich alles viel zu sehr mit.«

Ardorvar sah ihn sehr ernst an. »Vhil, dieses Wesen leidet so sehr wie noch keines, mit dem ich es je zu tun hatte. Ich muss versuchen, ihm zu helfen und seine Seelenqualen zu lindern.«

Erschüttert atmete er einmal tief ein und aus. »Kein Wunder, dass er uns einfach überrannt hat, er befindet sich in einem Zustand absoluter Panik. Wenn er nicht über uns gestolpert wäre, wäre er vermutlich weitergerannt, bis er irgendwann tot umge­fallen wäre.«

Er sah auf das Kaninchen herunter. »Ich wünschte, Ymedislar wäre jetzt hier«, sagte er bedauernd. »Er wüsste sicher besser, was zu tun wäre.«

Die neuen Magier hatten festgestellt, dass ihre Kräfte sich im Grunde nicht sehr verändert hatten. Ymedislar konnte noch immer das Verborgene erkennen und nutzte diese Kraft, um seelisch Leidenden zu helfen – und er war sehr gut darin, denn seine Kraft beinhaltete die Fähigkeit, diesen Wesen wieder Freude und Hoffnung zu vermitteln. Zusammen mit Ažuravyn, der Heilerin, stellten sie ein unschlagbares Duo dar.

»Nun ja, es nutzt ja nichts«, murmelte Ardorvar. »Das arme Wesen muss wohl leider mit mir vorliebnehmen.«

Vhil ließ ihn widerstrebend los, und Ardorvar kniete sich aber­mals neben dem Kaninchen auf den Boden. Dieses Mal nahm er alle seine Mitreisenden zur Hilfe, und Alpha, Beta und Gamma stellten gemeinsam den Kontakt zu dem Kaninchen her.

Dheyrion, Fheondri und Vhil setzten sich an die andere Seite des Kaninchens und warteten. Was sollten sie auch sonst tun?

Es dauerte lange.

Nach einer endlosen halben Stunde zogen sich die grünen Stränge zurück. Ardorvar wankte ein wenig, und Vhil eilte schnell zu ihm und stützte ihn. »Alles in Ordnung?«

»Ja danke, Vhil, es geht schon«, antwortete Ardorvar zu seiner grenzenlosen Erleichterung.

»Wart Ihr erfolgreich?«, fragte Dheyrion.

»Ich hoffe es.«

Sie musterten das Kaninchen, dessen Augenlider zu flattern begannen.

Ein Blinzeln, und es sah sie an.

Es sah sie richtig an.

»Hallo«, wisperte Fheondri leise – er wollte es nicht gleich wieder erschrecken. »Fühlst du dich etwas besser?«

»Wo bin ich?«, fragte das Kaninchen verwirrt.

»Woran kannst du dich denn erinnern?«, wollte Vhil wissen.

Das Kaninchen überlegte angestrengt. »Ich war am See … da war Nebel … und dann … war ich plötzlich hier. Was ist passiert?« Es hielt sich den Kopf. Es hatte Löwenzahn gegessen und war eingedöst … danach … nichts mehr … bis es hier erwachte.

Vhil nahm Ardorvar zur Seite und flüsterte: »Was hast du getan?«

»Es gab keine andere Möglichkeit«, verteidigte sich Ardorvar. »Ich konnte ihn nicht von seiner Panik befreien, also …«

»Also hast du seine Erinnerung ausgelöscht?«, entfuhr es Vhil entsetzt.

Ardorvar antwortete mit einem Achselzucken. »Es gab keine andere Möglichkeit«, wiederholte er. »Ich habe das Finstere in ihm hinter einer imaginären Tür eingesperrt – und damit auch alle seine Erinnerungen daran. Und glaub mir, das war gar nicht so einfach.« Er hob die Hände in einer hilflosen Geste. »Was hätte ich denn sonst tun können?«, fragte er eindringlich und fügte nach einem Augenblick des Schweigens hinzu: »Nun ist er wenigstens wieder er selbst und hat auch wieder ein Leben.«

Vhils Blick wechselte von Ardorvar zu dem Kaninchen und wie­der zurück. Nach einer Weile sagte er: »Vielleicht hast du recht.«

Ganz überzeugt war er aber dennoch nicht, und so setzte er hinzu: »Aber Ymedislar soll ihn sich ansehen, sobald es möglich ist. Vielleicht kann er ihm seine Erinnerung ja wieder zurück­geben, ohne seine Angst zu reaktivieren.«

»Natürlich«, stimmte Ardorvar zu. »Es war schließlich nur eine Notlösung, und doch immerhin besser als nichts.«

»Sei nicht so bescheiden«, entgegnete Vhil lächelnd. »Es war trotz allem eine große Leistung, die du da vollbracht hast – egal, wie es für den Kleinen weitergeht.« Er klopfte ihm auf die Schulter. »Wie du schon sagtest: Zumindest hat er nun wieder ein Leben.«

Sie gingen zu den anderen zurück.

Fheondri unterhielt sich bereits angeregt mit dem Kaninchen, das sich ihnen als Auritus vorgestellt hatte. Wie es seine Art war, hatte Fheondri gleich Freundschaft mit dem Neuankömm­ling geschlossen.

Auritus wandte sich Vhil und Ardorvar zu. »Könnt ihr mir denn nun sagen, was mit mir geschehen ist?«

Fheondri hatte dieses Thema wohlweislich vermieden und die Zeit lieber mit anderen Plaudereien verbracht.

Vhil sah Auritus munter an. »Tja, das wissen wir auch nicht so genau«, meinte er. »Du hast dich wohl verlaufen und bist dann mit Schwung in uns hineingestolpert, unglücklich gestürzt und hast dir dabei vermutlich den Kopf angeschlagen. Deshalb bist du wohl auch noch ein bisschen durcheinander. Das wird schon wieder.«

»Aha. Und was mache ich jetzt?« Auritus sah ihn unschlüssig an.

»Vielleicht solltest du uns einfach begleiten, wie wäre das?«

Auritus stand auf und klopfte sich den Schmutz aus dem Fell. Lachend meinte er: »Da ich keine Ahnung habe, wohin ich eigentlich wollte, ist dieser Vorschlag sicher so gut wie jeder andere. Vielen Dank für die Einladung.«

»Kein Problem, mein Freund.« Vhil, der seine anfänglichen Vorbehalte abgelegt hatte, legte jovial den Arm um ihn. »Wir haben immer noch ein Plätzchen frei für einen Reisenden.«

Ardorvar trottete sorgenvoll hinter ihnen her. Das, was er in Auritus’ Geist gesehen hatte, bevor er dessen Erinnerung daran gelöscht hatte, war in der Tat erschreckend gewesen.

Wenn diese Kraft tatsächlich existierte und sie nicht nur etwas war, das Auritus in seiner Angst aufgebauscht und zu etwas gemacht hatte, das es in Wirklichkeit gar nicht gab …

Ja, was dann?

~ VIII ~

 

 

Es knackte.

Feine Risse bildeten sich im Eis und dehnten sich rundherum aus.

Ein leichtes Beben ging durch den Untergrund und brachte den Schnee, der auf dem Eis lag, in Bewegung.

Das Knacken wurde lauter, und die Risse verbreiterten sich, bis das Eis schließlich aufbrach.

Eine Klaue hob sich langsam aus der Tiefe des Abgrunds und krallte sich in die Abbruchkante. Sie war weiß, haarig und hatte zentimeterlange gelbe Krallen. Ein Kopf schob sich hinterher, schwarze Augen, eine rote Pupille in ihrer Mitte, dann ein Kie­fer mit langen Eckzähnen und mächtige Schultern.

Das Wesen kletterte hoch auf die endlose Eisfläche. Es war ungefähr acht oder neun Meter groß und hatte einen kräftigen, massigen Körperbau. Durch sein weißes Fell hob es sich den­noch kaum vom Eis ab.

Kurz sah es sich um, bevor es sich auf den Weg zu den Gebäu­den machte, die es in weiter Entfernung gerade noch ausma­chen konnte.

Seine Befehle waren klar … und nie würde es dem Meister widersprechen!

Diejenigen, die das gewagt hatten, waren längst nicht mehr unter ihnen.

Sie waren keines schnellen Todes gestorben. Der Meister hatte so seine eigene Art, mit Verrätern umzugehen.

Schaudernd zog das mächtige Wesen die Schultern hoch.

Nein, es war nicht ratsam, dem Meister zuwiderzuhandeln.

Aber warum sollte es auch?

 

 

 

 

Schein oder Sein

 

 

Träumend plant der Geist

seine eigene Wirklichkeit

 

Søren Aabye Kierkegaard 1813 - 18553

~ I ~

 

 

Das Abendessen verlief ungewöhnlich still. Auritus hatte sich drei Riesenschüsseln mit gemischtem Salat einverleibt, wobei er den halben Tisch vollgekleckert hatte, und war dann in das nächstbeste Bett gefallen und sofort eingeschlafen.

Ardorvar hatte sich nicht einmal zu dem Geklecker geäußert, sondern saß während der gesamten Mahlzeit nur brütend am Tisch.

Auch gegessen hatte er nicht viel, obwohl Fheondri sich extra noch an den Ofen gestellt und den versprochenen Rhabar­berkuchen gebacken hatte – worüber er dann doch ein bisschen beleidigt war.

Nachdem Auritus verschwunden war, räusperte sich Vhil und meinte: »So, ihr Lieben, dann sollten wir uns wohl mal über die Geschehnisse des heutigen Tages unterhalten.« Er sah Ardorvar auffordernd an.

»Ja, also …«, begann dieser, schwieg dann aber wieder.

»Ein wenig mehr könntet Ihr uns aber schon erzählen«, sagte Fheondri nach einer Weile grinsend.

Ardorvar raffte sich zu einem müden Lächeln auf. Schließlich berichtete er ihnen, was er in Auritus’ Geist gesehen und auch, was er anschließend während seiner Verbindung mit ihm getan hatte. Die nachfolgende Stille wurde nur von Auritus’ Schnar­chen unterbrochen.

Nun verstand Fheondri – zumindest in gewissem Rahmen –, was Ardorvar den Appetit verdorben hatte. Ihm könnte das zwar nicht passieren, aber er war in dieser Hinsicht wohl auch etwas Besonderes.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Dheyrion und sah von einem zum anderen.

»Ich denke, wir sollten zu diesem See reisen und uns selbst ein Bild von der dortigen Situation machen«, erwiderte Ardorvar, nachdem er noch eine Weile darüber nachgedacht hatte.

Vhil warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Hältst du das wirk­lich für eine gute Idee?«

Ardorvars Blick war ernst. »Vhil, ich weiß nicht, was dort gesche­hen ist, aber irgendetwas ist dort geschehen. Und ich halte es nicht für eine gute Idee, dass wir hier sitzen bleiben und so tun, als wäre das nicht der Fall. Was, wenn es etwas Tiefgreifendes ist? Was, wenn es so ist und es sich weiter ausbreitet?«

Ardorvar hatte sich in Rage geredet und schien – zur Erleich­terung seiner Freunde – langsam wieder in seine gewohnten Umgangsformen zurückzufinden. Als Vhil ihn anlächelte, runzelte er irritiert die Stirn.

»Was gibt’s denn da zu grinsen?«, fragte er verärgert.

»Entschuldige«, meinte Vhil. »Ich bin nur froh, dass du wie­der der Alte bist.«

»Tja, nun«, brummelte Ardorvar, etwas peinlich berührt. »So schnell haut mich ja dann doch nichts aus den Schuhen. Und nachdem das nun geklärt ist, was haltet ihr von meinem Vor­schlag?«

»Fheondri«, sagte Dheyrion und zwinkerte ihm zu. »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir unsere Rucksäcke packen gehen.«

»Also, heute Abend packe ich gar nichts mehr und gehe garan­tiert auch nirgendwo mehr hin!«, erklärte dieser bestimmt und verschränkte demonstrativ die Flügel vor der Brust.

Das wäre ja noch schöner! Immerhin waren sie ja nun schon zwei Tage durch die Gegend gelatscht!

»Nein, mein Sohn, heute geht niemand mehr irgendwo hin«, beruhigte ihn Vhil. »Außer zu Bett.«

Und damit erhob er sich, und die anderen folgten ihm die Treppe hinauf und in die gemachten Betten.

 

~II ~

 

 

Die Bewohner des Nordens lauschten gerade gemeinsam mit den Gästen des Reiches in einem der größeren Säle einem wei­teren, zugegebenermaßen erschreckend langweiligen Vortrag eines Redners, der das Thema ›Wäsche, und wie das Zusam­menfalten effizienter gestaltet werden kann‹ abhandelte, als ein kleines Beben spürbar wurde.

Das sich wiederholte.

In kurzen Abständen ging ein winziger Rums durch den Boden, bis der Redner irgendwann aus dem Konzept gebracht – endlich – schwieg. Kleinere Beben waren in den letzten Mona­ten im Reich öfter vorgekommen, weshalb die Zuhörer zunächst wegen des abrupten Endes der Rede nur erleichtert aufatmeten und einige sogar begeistert klatschten – was den Redner, wie man unschwer an seinem hochroten Gesicht erkennen konnte, ziemlich erboste.

Er murmelte etwas von »Diese ignoranten Banausen! Da bemüht man sich um einen höchst vortrefflichen Sachvortrag …«, während er wütend die Rednerbühne verließ.

Die Beben gingen unterdessen weiter, doch anders als sonst wurden sie langsam stärker, und sie wurden begleitet von einem gleichmäßigen Rumsbums, das näher zu kommen schien.

Meliorphos war aufgestanden und ging nun gemeinsam mit Cryptorios nach draußen.

Wie auf ein geheimes Zeichen hin folgten ihnen alle anderen – alles war besser als dieser Vortrag … oder der nächste, der darauf folgen würde.

Draußen angekommen, sahen sie sich nach allen Seiten um, konnten aber nichts erkennen.

Das Geräusch war jetzt lauter und die Erdstöße heftiger, folg­ten aber noch immer dem gleichen konstanten Rhythmus.

Meliorphos trat weiter auf das Eis hinaus, um in die andere Richtung hinter das Gebäude schauen zu können, und blieb wie erstarrt stehen. Ein Riesenmonstrum hob sich dort gegen den Himmel ab und kam beinahe gemütlich auf die Gebäude zu.

»Meister Cryptorios, seht Ihr auch, was ich sehe?« Kurz glaubte er, er habe Halluzinationen, aber bei jedem Schritt des Unge­tüms ging ein weiterer Rums durch das Eis.

»Was ist das?«, fragte Cryptorios neugierig, als ihm etwas einfiel. »Wartet, ich kann mich erinnern, von solch einem Wesen irgendwo gelesen zu haben.« Angestrengt kramte er in seinem Gedächtnis herum. »Wenn mir nur einfallen würde, in welchem Zusammenhang.«

»Der sieht nicht so aus, als würde er anhalten, wenn er uns erreicht hat«, sagte Meliorphos angespannt. »Könnt Ihr Euch wenigstens erinnern, ob wir ihn als Freund oder Feind betrach­ten sollten?«

»Nein, dazu kann ich Euch leider nichts Genaueres sagen«, meinte Cryptorios vage.

Da hatte das Wesen das erste Gebäude erreicht.

Ohne zu zögern hob es seinen riesigen Fuß an und trat mitten hinein. Ein gigantisches Loch entstand im Dach, das sich nach unten fortsetzte, als es den Fuß auf dem Boden abstellte. Es zog das andere Bein nach und schlug, in dem zerstörten Gebäude stehend, mit beiden Fäusten auf die noch vorhandenen Mauern ein. Steine, Scherben, Holz und Teile des Inventars flogen Dut­zende Meter in alle Richtungen davon und regneten auf die draußen Stehenden herab.

Meliorphos wartete nicht länger. »Los!«, schrie er und duckte sich unter dem Trümmerregen. »Alle in den Portalsraum!«

Hektisch scheuchte er alle auf ihr Ziel zu, bevor er ihnen zusammen mit den letzten Nachzüglern folgte. Unterwegs schnappte er sich noch eine kleine Schildkröte, die nicht einmal annähernd das erforderliche Tempo erreichte, und drückte sie beschützend an sich.

Eine große Scherbe kam auf sie zugeflogen und hielt auf seinen Hals zu. Meliorphos schlug schnell einen Haken, und die Scherbe verfehlte seine Kehle um Haaresbreite. Mit einem laut klirrenden Geräusch prallte sie neben ihnen auf.

Er gab einem vor ihm Laufenden mit der freien Hand einen kräftigen Schubs, bevor der von einer Tischplatte erschlagen werden konnte, und sah ständig von rechts nach links, um sich zu vergewissern, dass ihm auch bloß niemand verloren ging. Ein Blick zurück zeigte ihm, dass das Wesen sich bereits bis zu ihrer Wohnstätte vorgearbeitet hatte.

Atemlos erreichten sie endlich den Portalsraum und stürmten hinein. Alle außer Cryptorios waren bereits in die Magischen Gärten geflohen.

Meliorphos übergab jemandem die Schildkröte und trieb die letzten Flüchtenden dann weiter hinter den anderen her. Er selbst ging zu Cryptorios zurück, der an der Eingangstür des Portalsraums stehen geblieben war und dem Wesen bei seinem Wüten zusah.

»Ich hoffe, es waren alle im Vortragssaal«, sagte Cryptorios – wegen des Getöses – überlaut.

Meliorphos sah erschüttert den Weg zurück, den sie gekom­men waren. »Wir können nicht mehr zurück und nachsehen«, erwiderte er mit Tränen in den Augen. »Es ist nichts mehr da.«

Der Lärm war entsetzlich und die Zerstörung allumfassend.

Schweigend sahen sie mit an, wie das Wesen jedes einzelne Gebäude dem Erdboden gleichmachte, bis nur noch ein riesiger Trümmerhaufen darauf hinwies, dass hier einmal jemand gelebt hatte.

Dann kam es auf den Portalsraum zu.

~ III ~

 

 

Am Morgen war die allgemeine Laune in Dheyrions Haus erheb­lich besser. Sie hatten gut geschlafen, die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel, und sie setzten sich zum Frühstück nach draußen, wo sie dem Zwitschern der Vögel und dem Gesumm und Gebrumm der Insekten lauschten.

Es hatte ein wenig Überzeugungsarbeit erfordert, um Auritus zu überreden, zusammen mit ihnen zu dem See zurückzukehren. Er konnte sich zwar nicht mehr erinnern warum, aber allein der Gedanke an den See verursachte ihm eine Gänsehaut.

Als sie ihm jedoch erklärten, dass dort möglicherweise etwas geschehen sein könnte, das vielleicht doch weitreichendere Aus­wirkungen auf ihre Welt haben könnte und sie den See ohne ihn wahrscheinlich nicht finden würden, stimmte er letztlich zu.

Fheondri und Dheyrion gingen ihre Rucksäcke packen – sie waren noch immer überzeugt davon, dass man sich gar nicht gut genug gegen alle Eventualitäten absichern konnte. Und um ihm sein unwohles Gefühl zu nehmen, erhielt auch Auritus einen kleinen Rucksack, in den er alles einpacken durfte, was er wollte. Es schien ihm tatsächlich zu helfen, wie Vhil und Ardorvar amü­siert feststellten – vielleicht war ja an der Philosophie der bei­den doch etwas dran.

Als Letztes sperrte Dheyrion die Haustür ab, und sie machten sich in Richtung des Goldenen Tals auf den Weg. Es lag ohnehin auf ihrer Reiseroute, und das gab ihnen zudem die Gelegenheit, Lumivhir und Anvyllor über die neuesten Ereignisse in Kenntnis zu setzen.

Den Proviant hatte Dheyrion Vhil übergeben, der damit eben­falls einen Rucksack zu tragen hatte. Aus Erfahrung wusste er, dass ihr Essen dort am besten aufgehoben war, da Vhil als Einzi­ger die oft notwendige Durchsetzungskraft gegenüber Fheondri besaß, der ansonsten wohl gleich am ersten Tag alles aufessen würde, was sie dabeihatten. Dheyrion war einfach zu gutmütig, und von Ardorvar bekam Fheondri alles, wenn er damit dann endlich wieder seine Ruhe vor ihm hatte.

Sie nahmen den Weg an der Küste entlang, weil dieser deutlich kürzer war als der über das Innenland, auch wenn sie so am Ende ihrer Reise über einen Gebirgspass wandern mussten.

Auch Dheyrion wusste inzwischen, dass es – anders als er seinerzeit angenommen hatte – mehr als nur einen Zugang zum Goldenen Tal gab. Insgesamt waren es sogar vier, doch bei den anderen beiden gab es nur die Möglichkeit, über sehr steile Hänge in das Tal zu klettern.

An einem sonnigen Vormittag erreichten sie schließlich die andere Seite des Gebirgspasses, und das Goldene Tal kam in Sicht.

Vhil warf einen Blick hinunter und blieb abrupt stehen.

»Was ist denn hier passiert?«, entfuhr es ihm bestürzt.

Die anderen waren neben ihm stehen geblieben, und die Blicke aller wanderten fassungslos über das Tal. Es sah aus, als habe zwischen den Berghängen ein Wirbelsturm getobt. Eine breite Schneise der Verwüstung zog sich mitten durch den Ort in Richtung Schloss.

Eilig rannten sie den an dieser Stelle etwas sanfter abfallen­den Hang hinunter, während Fheondri vorausflog.

Das Haus der Mäusefamilie stand noch, wie Fheondri fest­stellte, aber die Haustür war offen, und es schien niemand da zu sein. Er flog über das Tal, das wie ausgestorben dalag, und kehrte schließlich zum Haus der Mäusefamilie zurück. Dort fan­den ihn die anderen in der Tür stehend vor, als sie ihn endlich atemlos erreichten.

»Und?«, fragte Dheyrion sogleich. »Was ist passiert?«

»Es ist niemand da.«

»Nirgendwo?« Vhil warf einen Blick in die Runde.

»Nein.«

»Flämmchen und Mottfrey?«

»Auch nicht da.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Dheyrion.

Ratlos betrachteten sie abermals ihre Umgebung, wodurch sich aber auch keine neueren Erkenntnisse gewinnen ließen.

Was war denn hier nur geschehen?

~ IV ~

 

 

Lendritos war eingeschlafen. Er hatte in einem der Bücher gele­sen, die ihm Anvyllor und Lumivhir bei seinem letzten Besuch im Goldenen Tal ausgeliehen hatten, und darüber waren ihm die Augen zugefallen.

Nun schrak er mit einem lauten »Nein!« hoch.

Verwirrt sah er sich in dem Raum um.

Etwas war durch seine Träume gegeistert.

Etwas Erschreckendes.

Etwas aus der Vergangenheit.

Aber nun, da er wach war, konnte er nicht mehr auf die Erinne­rung zugreifen.

Entschlossen versuchte er dennoch, den Traum zurückzu­rufen, doch er war endgültig fort.

Beunruhigt stand er auf; er würde nach der Quelle sehen.

Auf dem Weg dorthin begegnete ihm Ažuravyn. »Meister«, begrüßte sie ihn, doch er eilte einfach an ihr vorbei und weiter in die Höhlen hinein.

Sie kannte seine Eigenarten, und da das schon öfter vorge­kommen war, zuckte sie nur mit den Schultern und ging weiter ihren Tätigkeiten nach.

Atemlos erreichte Lendritos die Höhle und sah sich um.

Die Dunkelsteine lagen unberührt aufgeschichtet an der Seiten­wand, die Quelle strahlte in sanftem Licht. Nichts rührte sich. Alles schien in Ordnung zu sein.

Er atmete tief durch. Vermutlich hatte er doch einfach nur einen Albtraum gehabt.

Er schalt sich einen alten Narren, kehrte nach oben in das Haus zurück, nahm das Buch wieder auf und las weiter.

Das Wesen, dunkel und schattenhaft, hatte er nicht bemerkt.

Es hatte sich hinter einer der Säulen der Höhle versteckt, bis Lendritos wieder gegangen war. Es war gerade erst in die­ser Welt erschienen und hatte noch keine Befehle vom Meister erhalten.

Ein ungehaltenes Knurren drang aus seiner nebelhaften Kehle.

~ V ~

 

 

Das zottige Riesenwesen blieb etwa zwanzig Meter vor dem Portalsraum stehen und schnüffelte feucht. Immer wieder sog es die kalte Luft in seine Nase und schmatzte dann eine Weile, als ob es die Luft abschmecken würde.

Es drehte sich nach links, dann nach rechts und nach hinten, ging zu den zerstörten Gebäuden zurück und nahm die Witte­rung dort auf.

Der Meister hatte ihm befohlen, die Magier aufzuspüren, gefan­gen zu setzen und anschließend zu ihm zu bringen, nötigenfalls auch einige von ihnen zu töten, um sich den erforderlichen Res­pekt zu verschaffen. Und hier war das Reich der Magier – das wusste es genau.

Wieder atmete es tief ein. Es wusste, wie Magier rochen.

Irritiert kratzte es sich am Kopf, doch eines war klar: Hier gab es nicht einen einzigen Magier – weder lebendig noch tot!

Es wendete sich erneut zu dem Portalsraum um und ging darauf zu.

Mühsam beugte es sich zu dem Eingang hinunter, steckte die Nase zur Tür hinein und atmete tief ein und aus. Minutenlang testete und schmeckte es die Luft, nahm den Duft von Blumen, Pflanzen und Bäumen, Pilzen und Beeren, Insekten, Tieren und Menschen auf, aber ansonsten … nichts.

Es richtete sich auf und runzelte nachdenklich die Stirn. Da es nicht wusste, was es nun tun sollte, setzte es sich mit dem Meister in Verbindung.

Dieser hörte sich verwundert seinen Bericht an, überlegte kurz und erteilte ihm anschließend neue Befehle. Das Wesen nickte gehorsam, wandte sich von dem letzten noch stehenden Gebäude ab und ging zielstrebig Richtung Süden.

 

Meliorphos und Cryptorios, die hinter den Säulen in Deckung gegangen waren, traten vorsichtig in die Mitte des Portalsraums.

Das Rumsbums erklang wieder, doch dieses Mal schien es sich von ihnen zu entfernen.

Sie warteten noch einige weitere Minuten, schlichen dann zum hinteren Eingang und wagten einen schnellen Blick hinaus. Das Wesen marschierte eindeutig in die entgegengesetzte Richtung.

Meliorphos stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ich war mir sicher, es würde auch den Portalsraum niederreißen«, sagte er und fügte an: »Ich weiß, es war die einzige Möglichkeit, unser aller Leben zu retten, aber der Gedanke, in den Magi­schen Gärten gefangen zu sein, bis irgendjemand ein neues Por­tal geschaffen hätte, hat mich, wie ich zugeben muss, doch etwas erschreckt. Wie gut, dass es nicht dazu gekommen ist.«

Cryptorios sah dem Wesen gedankenverloren hinterher. »Was denkt Ihr, was es letztlich davon abgehalten hat?«

»Es schien mir, als habe es nach etwas gesucht.«

»Und wie es aussieht, hat es nicht gefunden, was auch immer es hier suchte.«

»Ja, so sieht es aus«, erwiderte Meliorphos zögernd. »Doch was war es wohl, das es gesucht und nicht gefunden hat? Und wird es nun woanders danach suchen und dort vielleicht fündig werden?«

»Wir werden uns später darum kümmern müssen.«

»Ja, lasst uns die anderen aus den Magischen Gärten zurück­rufen. Wir müssen feststellen, ob irgendjemand vermisst wird.«

»Jemand, nach dem wir dann in den Trümmern suchen müss­ten?«

Meliorphos nickte bedrückt. »Ich hoffe wirklich, dass uns allen das erspart bleibt.«

Cryptorios legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie kurz. »Ihr hättet nichts weiter tun können«, versicherte er ihm.

»Ich weiß, mein Freund, ich weiß … und dennoch …«

~ VI ~

 

 

Sorgenschwer wandten sich Cryptorios und Meliorphos jeweils einem der Portale zu und verschwanden in der Jahreszeit dahin­ter, um die Bewohner und Besucher des Reiches zurückzuholen. Es dauerte nicht lange, da alle sich noch nahe den Portalen auf­gehalten hatten.

Sie schafften sie in den ›Sommer‹ hinüber, versammelten sie dort und begannen mit der mühevollen Aufgabe herauszufinden, ob irgendjemand fehlte.

Alle waren voller Angst, und es dauerte eine Weile, bis sie eine Art Ordnung in das Durcheinander gebracht hatten. Doch in ihrer besonnenen und sachlichen Art gelang es den beiden zu guter Letzt, und ihre Befragung erbrachte schließlich, dass fünf Besucher des Reiches, drei Menschen und zwei Tiere, vermisst wurden.

Ihr Heiler Arcianthor versorgte zusammen mit vielen freiwilli­gen Helfern die Verletzten, während die anderen unter Führung von Meliorphos zu dem Trümmerhaufen zurückkehrten, den das Wesen hinterlassen hatte und der einmal das Zuhause der Magier gewesen war.

Meliorphos teilte sie in verschiedene Gruppen ein und wies ihnen jeweils ein Areal zu, in dem sie nach den Vermissten suchen sollten.

Die Menschen mussten sich bei der Arbeit abwechseln, da keiner von ihnen für die vorherrschenden Temperaturen ausrei­chend bekleidet war – schließlich hatte niemand damit gerech­net, plötzlich hinaus in das Eis zu müssen.

So wärmte sich jeweils die eine Hälfte im ›Sommer‹ auf, wäh­rend die andere Hälfte mit der zusätzlichen Bekleidung arbei­tete, die ihnen von den anderen überlassen worden war.

Äußerst behutsam kletterten sie über das Geröll, riefen und klopften, um dann innezuhalten und zu horchen. Den ganzen Tag und bis in den Abend schleppten sie Schutt und Geröll fort, legten Räume frei, die sich in den Untergeschossen befunden hatten, und horchten auf etwaige Lebenszeichen.

Die Glühkugeln waren heil geblieben – es hätte Magie bedurft, um ihr Licht zu löschen – und beleuchteten, nachdem sie einige von ihnen gefunden und ausgegraben hatten, das gesamte Areal.

Doch konnten sie keinen der Vermissten finden.

Sie aßen, was sie aus dem Lagerhaus hatten retten können, und zogen sich so wie sie waren – staubig und verdreckt – zum Schlafen in die Magischen Gärten zurück.

Aber Meliorphos fand keine Ruhe. Er musste ständig daran denken, wie er sich erst vor ein paar Tagen gewünscht hatte, etwas würde ihn aus dem langweiligen Trott herausholen, für den er sein Leben gehalten hatte.

Wie sehr wünschte er sich jetzt, er könne wieder einem dieser eintönigen Redner-Monologe lauschen und dabei ein kleines Nickerchen machen.

Er seufzte und drehte sich auf die andere Seite.

Was hatte er sich nur dabei gedacht?

Leider stellte sich die andere Seite auch nicht als bequemer heraus, also drehte er sich auf den Rücken. Sein Blick ruhte auf dem sternenübersäten Firmament.

»Könnt Ihr auch nicht schlafen?«, fragte Cryptorios, der sein Nachtlager neben ihm aufgeschlagen hatte.

»Mir geht zu viel durch den Kopf«, antwortete Meliorphos.

»Ja.«

Schweigend betrachteten sie den Himmel …

… über den plötzlich ein Flackern lief, wie eine kleine Welle, die das Wasser eines Teiches ein wenig in Unruhe brachte.

Anschließend schienen die Sterne sich um eine Winzigkeit verschoben zu haben.

»Habt Ihr das auch gesehen?«, fragte Meliorphos.

Cryptorios richtete sich auf. Ihm war auf einmal ganz kalt, obwohl hier im ›Sommer‹ eine beinahe schon brütende Hitze herrschte. »Ja. Was war das?«

Nun setzte sich auch Meliorphos auf und sah sich um. Alle anderen schliefen.

»Kann es sein, dass wir einfach nur sehr müde sind und unsere Augen uns deshalb einen Streich gespielt haben?«

»Uns beiden?«, fragte Cryptorios skeptisch.

Beunruhigt beobachteten sie den Himmel. Schlaf fand von ihnen keiner mehr in dieser Nacht.

 

 

 

 

Fragen über Fragen

 

 

Halte dich still, halte dich stumm,

nur nicht forschen, warum?

Warum?

Nur nicht bitt’re Fragen tauschen,

Antwort ist doch nur wie Meeresrauschen.

Wie’s dich auch aufzuhorchen treibt,

das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt

 

Theodor Fontane 1819 - 18984

~ I ~

 

 

»Wo sind denn alle hin?«, fragte Dheyrion ratlos. Sie konnten doch nicht alle verschwunden sein!

Er überlegte kurz. »Warst du auch beim Schloss?«, fragte er Fheondri dann.

Der schlug sich gegen die Stirn. »Hab ich glatt vergessen«, entschuldigte er sich. »Ich schau gleich mal nach.«

Er hob ab und flog in Richtung Schloss davon, während die vier sich auf der Bank unter der Laterne niederließen.

»Ist das euer Heimatort?«, fragte Auritus mit gedämpfter Stimme. Dieser Ort hatte etwas an sich, das ihn an den See erin­nerte.

»Fheondridor und ich haben hier gewohnt«, antwortete Vhil. »Früher.«

»Tut mir leid.«

»Ach«, meinte Vhil und winkte ab. »Die Häuser kann man wieder aufbauen.« Seine Stimme wurde leiser. »Solange es nur den Bewohnern gutgeht.«

Die Zeit verging, und Vhil konnte einfach nicht ruhig sitzen bleiben. Nach einigen Minuten sprang er auf und begann auf dem Platz hin und her zu wandern.

Kurz darauf kehrte Fheondri zurück.

»Und?«, fragte Vhil sofort.

Fheondri musste erst einmal verschnaufen. So ein bisschen Übergewicht hatte doch ein paar recht lästige Nachteile.

»Sie …«, japste er.

»Ja! Was?« Vhil sah ihn ungeduldig an.

»Sie sind alle oben im Schloss«, brachte er endlich atemlos hervor.

»Dem Himmel sei Dank. Also gut, auf geht’s.« Vhil schulterte seinen Rucksack, doch Fheondri schüttelte energisch den Kopf.

»Ich brauch erstmal eine Pause.« Er ließ sich auf die Bank fallen.

»Ich denke, auf die paar Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an«, meinte Dheyrion.

Sie warteten also, bis Fheondri wieder zu Atem gekommen war, und machten sich dann auf den Weg durch den Ort. Am Fels­hang angekommen, stiegen sie in den Aufzug – so etwas hatte Auritus noch nie gesehen, geschweige denn benutzt – und im Nu waren sie auch schon oben.

»So was will ich auch haben«, sagte er begeistert.

»Ja, toll, nicht wahr?« Fheondri grinste.

Am Schloss warteten schon ihre Freunde auf dem Vorplatz auf sie. Erst nach vielen erleichterten Begrüßungen und Umarmun­gen und nachdem sie Auritus kurz vorgestellt hatten, bemerkten sie einen großen abgedeckten Hügel auf dem Platz.

»Was habt ihr denn da versteckt?«, fragte Ardorvar interes­siert.

Anvyllor ging hin, lüftete die Plane und zeigte ihnen, was sich darunter befand.

Auritus gab einen erschreckten Laut von sich und wich ängst­lich einige Meter zurück.

Es war das stierähnliche Wesen, das durch den Sprechenden Wald gehetzt war. Und es war offenkundig tot.

»Was ist denn das für ein Ungetüm?«, wollte Fheondri wissen und trat neugierig näher.

»Niemand von uns weiß es«, antwortete Lumivhir. »Es kam gestern aus dem Landesinneren angerannt, stürmte rücksichts­los durch den Ort und dann den Berg herauf. Durch das Geschrei im Tal gewarnt, konnten wir uns rechtzeitig bewaffnen, aber wir brauchten alle unsere Kämpfer, um mit diesem Biest fertigzu­werden. Eine Weile lang sah es gar nicht gut aus.«

Anvyllor legte den Arm um ihre Schultern, ihre Ziehkinder versammelten sich um die beiden und schmiegten sich angstvoll an sie. Alle waren sichtlich mitgenommen.

»Gab es Verletzte?«, fragte Dheyrion zaghaft.

»Ja, einige«, erwiderte Anvyllor. »Aber zum Glück sind alle noch am Leben.«

Sie ließen das Untier, wo es war, und gingen hinein, wo sie es sich an den Tischen im Thronsaal gemütlich machten.

»Ich hatte überlegt, Meister Lendritos zu informieren und zu fragen, ob er hierherkommen und sich das Wesen einmal ansehen könnte«, meinte Anvyllor. »Aber es würde zu lange dauern, bis er hier wäre.« Er seufzte. »Es geht wohl nicht anders, wir werden den Körper irgendwo vergraben müssen, bevor er anfängt … äh …« Er warf einen Blick auf die Kinder. »… bevor er anfängt, ungut zu duften«, beendete er den Satz dann leise.

»Das hast du jetzt aber schön ausgedrückt«, lobte ihn Fheondri.

Anvyllor grinste. »Danke.«

Dheyrion überlegte kurz und nickte dann zu Lumivhir hin. »Könnt ihr beide es nicht wegzaubern? Das wäre doch bei Wei­tem die einfachste Lösung, oder nicht?«

»Unsere neuen magischen Fähigkeiten sind noch ziemlich unausgereift«, antwortete Lumivhir mit einem schiefen Grinsen. »Deshalb gehen wir derzeit eher noch recht sparsam damit um. Wer weiß, was wir sonst unter Umständen alles gleich mit weg­zaubern würden.«

Anvyllor nickte. Da er im Gegensatz zu den anderen dreien ursprünglich als Mensch auf diese Welt gekommen war, ging er ganz besonders vorsichtig mit seinen magischen Kräften um. Immerhin mussten die Magier gewöhnlich nicht umsonst eine jahrzehntelange Ausbildung durchlaufen, bevor sie eigenverant­wortlich in einem bestimmten Bereich tätig werden durften.

Mit gedämpfter Stimme fügte er an: »Oder der Zauber geht komplett schief und das Untier explodiert … das Resultat stelle ich mir lieber gar nicht erst vor.«

Fheondri schüttelte sich bei dem Gedanken daran angewidert und meinte: »Ich glaube, dieser Anblick würde sogar mir zur Abwechslung mal den Appetit verderben.«

Dheyrion schnaubte amüsiert.

»Doch, würde es.«

»Ich hab nichts gesagt.«

»Du hast aber so laut gedacht, dass ich es trotzdem hören konnte.« Fheondri maß ihn mit einem leicht verschnupften Blick.

»Na komm«, meinte Dheyrion einlenkend. »Ich wünschte, ich hätte so einen robusten Magen wie du.«

»Ja, das hat schon seine Vorteile«, meinte Fheondri besänftigt und fügte nach einer kurzen Pause an: »Tja, dann müssen wir es wohl doch vergraben.«

»Habt ihr euch denn schon überlegt, wie wir es von diesem Berg herunterkriegen könnten?«, fragte Ardorvar, der sich bereits mit der praktischen Umsetzung beschäftigte. »Hier oben gibt es ja wohl keine Möglichkeit, es irgendwo zu vergraben, oder?«

»Nun«, erwiderte Anvyllor und senkte die Stimme. »Wir wer­den es zerkleinern müssen.«

»Ah ja.« Ardorvar nickte.

»Warum katapultieren wir es nicht einfach über die Klippen ins Meer?«, schlug Vhil vor. »Dort gibt es mit Sicherheit genügend hungri… äh … dankbare Abnehmer, die sich seiner annehmen würden.«

»Gar keine so schlechte Idee«, stimmte Ardorvar ihm zu. »Eine ›Seebestattung‹ wäre sicher die leichteste und wohl auch die appetitlichste Lösung.«

»Gut, dann machen wir es so«, entschied Anvyllor. »Ich bin aber dennoch der Ansicht, dass wir Meister Lendritos informie­ren und hierzu befragen sollten«, fügte er an. »Ich habe ein Bild von diesem Wesen anfertigen lassen, das wir ihm zeigen könn­ten.«

»Hm«, meinte Vhil nachdenklich. »Meister Lendritos hat sicherlich von uns allen die weitreichendsten Kenntnisse, egal, um was es geht. Daher wäre ich natürlich auch dafür, ihn in Kenntnis zu setzen, aber du weißt, dass er nicht mehr so gerne auf Reisen geht.«

»Wir könnten ja zu ihm gehen«, warf Dheyrion ein.

»Wenn ich euch daran erinnern darf, wollten wir aber eigent­lich zu dem See«, wandte Ardorvar ein. »Und der liegt in der entgegengesetzten Richtung.«

»See?«, fragte Lumivhir nach. »Was denn für ein See?«

Ardorvar warf einen Blick in die Runde. Sollte er das wirklich hier vor allen Bewohnern des Goldenen Tals darlegen?

Vhil, der seine Zweifel bemerkte, nickte ihm auffordernd zu und meinte leise, aber eindringlich: »Es betrifft uns alle, Ardorvar.«

Dann erhob er sich, klopfte ihm kurz aufmunternd auf die Schulter und ging zu Auritus hinüber, der neben Dheyrion Platz genommen hatte. Sie konnten ja schlecht in seiner Gegenwart erzählen, dass Ardorvar seine Erinnerungen hatte löschen müs­sen, um ihn aus seiner Panik zu reißen.

Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt erschien Vhil das noch nicht ratsam. Auritus war noch immer sehr schreckhaft, wie sich bei der Enthüllung des Stierwesens gezeigt hatte, und am Ende provozierten sie damit einen Rückfall, der ihn erneut in seinen Ängsten versinken lassen würde.

Abgesehen davon, was das für Auritus bedeuten würde – was schlimm genug wäre –, würden sie dann auch den See vermut­lich nicht mehr finden können.