Boy Parts - Ein Roman - Eliza Clark - E-Book

Boy Parts - Ein Roman E-Book

Eliza Clark

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Beschreibung

Irina ist wie besessen: Auf den Straßen Newcastles spürt sie unscheinbare Männer auf, um sie zu fotografieren – schonungslos, in expliziten Posen. Und statt sich um den öden Barjob und ihre Kunstkarriere zu kümmern, gibt sie sich Drogen, Alkohol und extremen Filmen hin. Als sich in einer Londoner Galerie die Chance einer großen Ausstellung bietet, gerät Irina in einen selbstzerstörerischen Strudel aus Wahn und Gewalt – und reißt ihre beste Freundin sowie den schüchternen Supermarktangestellten, in den sie sich verguckt hat, mit hinab … Ein rabenschwarzer Psychothriller, kompromisslos und narzisstisch, intelligent und modern. Furchtlos lotet die Autorin die Tabubereiche der Sexualität und der Geschlechterrollen im 21. Jahrhundert aus. Es ist kein Zufall, dass Boy Parts als feministisches American Psycho gefeiert wird.  Eliza Clark ist eine der besten jungen britischen Schriftstellerinnen. GUARDIAN: »Die meisten Leser werden vor Lachen heulen und/oder vor Entsetzen die Augen schließen.«  MSLEXIA: »Wenn jemand die Angst unserer Zeit durchdringen und verstehen kann, dann ist es Eliza Clark.«

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 406

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Aus dem Englischen von Elena Helfrecht

Impressum

Die englische Originalausgabe Boy Parts

erschien 2020 im Verlag Influx Press.

Copyright © 2020 by Eliza Clark

Copyright © dieser Ausgabe 2025 by

Festa Verlag GmbH

Justus-von-Liebig-Straße 10

04451 Borsdorf

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Lektorat: Joern Rauser

Titelbild: Dragan Lončar

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-202-5

www.Festa-Verlag.de

Für meine Mutter und meinen Vater.

Bitte lest das nicht.

Bilder, die idealisieren, sind nicht weniger aggressiv als solche, die aus der Schlichtheit eine Tugend machen. Jeder Einsatz der Kamera birgt eine Aggression in sich.

Susan Sontag, On Photography

DEAN / DANIEL

Im Bus zur Arbeit kommt mir das Essen hoch. Ich schlucke es wieder runter, Textur und Geschmack des Haltestellen-Sandwichs sind immer noch unverkennbar.

Als der Bus links ranfährt, wackle ich auf meinen Absätzen raus. Ich stelle mir vor, wie ich umknicke, wie mein Knöchel bricht und sich durch die Haut spießt. Ich stelle mir vor, wie ich in der Notaufnahme ein Foto davon knipse und es Ryan schicke: Ups, heut kann ich wohl nicht! Aber ich kriege mich nicht dazu hinzufallen. Das ist, als würde man versuchen, im seichten Gewässer den Kopf unten zu behalten, das geht einfach nicht.

»Alles klar bei dir, Liebes?«, fragt der Busfahrer.

»Geht schon.«

Ich komme eine halbe Stunde zu spät in die Bar. Um zwölf hätten wir aufmachen sollen. Ryan wird frühestens um eins hier sein. Ich drücke meine Stirn gegen das kühle Türglas, verfehle das Schlüsselloch ein paarmal und hinterlasse einen hellen Fleck Make-up.

Ich bereite nur das Nötigste für den Tag vor und nippe an einem Glas Wasser, bis Ryan da ist. Er jammert, weil ich die Tür (schon wieder) mit Make-up eingesaut und oben im Mezzanin – im Mez, wie er es nennt – nicht die Stühle von den Tischen geholt hab. Mir brummt der Schädel. Er fragt, wann ich nach Hause gekommen bin (um vier Uhr früh – ich sage um zwei) und ob ich verkatert bin (»nein«), dann lässt er mich allein am Tresen stehen und drückt sich im Büro rum.

Eine Stunde lang schneide ich in Ruhe Obst; ich kille sechs Zitronen und häute eine Ananas. Die Limonen lasse ich liegen, mein letzter Tequila klebt mir noch bitter am Gaumen.

Ich höre sie, ehe ich sie sehe: zwölf Kerle in Anzügen. Sie kommen die Straße runter, platzen rein und brüllen rum, mit roten Gesichtern, total von sich überzeugt, und die nächste halbe Stunde stehe ich da und mixe Old Fashioneds.

Sie beschweren sich, ich würde zu lange brauchen. Als schnellere Alternative biete ich ihnen Manhattans an, und der Anführer des Rudels lacht höhnisch auf. Seine Designerkrawatte sitzt locker, und er öffnet den obersten Knopf seines Monogramm-Hemds, am dicken Handgelenk eine protzige Uhr. Um einen wohlhabenden Eindruck zu erwecken, wurden keine Mühen gescheut. Höchstwahrscheinlich ein »Graf Rotz von der Backe«, wie meine Mam sagen würde.

»Ist uns ’n bisschen zu weibisch, Schätzchen.«

»Im Grunde ist ein Manhattan das Gleiche wie ein Old Fashioned, bloß schneller in der Zubereitung«, sage ich und rühre dabei in zwei Gläsern. Weil er nur auf meine Titten glotzt, entgeht ihm mein spöttisches Lächeln.

»Ist der nicht rosa?«

»Nein, ist vor allem mit Bourbon.« Ich glaube, das verwechselt er mit einem Cosmopolitan, aber so oder so will er nicht.

Sie gehen rauf ins Mezzanin und beschweren sich lautstark über die Wartezeit. Kein verficktes Trinkgeld. Was auch sonst?

Ich bete, dass es bei der einen Runde bleibt, aber sie bestellen noch zwei Flaschen Auchentoshan und bereiten mir die Hölle auf Erden. Es kostet echt Kraft, nicht die Hände überm Kopf zusammenzuschlagen, auf dem Boden sitzen zu bleiben oder in den Eiskübel zu kotzen, den ich ihnen bringen muss. Um sie rauszuekeln, lege ich ein Album von Merzbow ein. Für die ersten drei Songs ist das noch witzig, aber dann glauben sie, die Lautsprecher wären kaputt, und der Lärm verschlimmert meinen Brummschädel.

Der Anführer entfernt sich vom Rudel. Er kommt runter und lehnt sich an den Tresen. Ich warte darauf, dass er noch eine Flasche bestellt, aber stattdessen quatscht er mich an. Er quatscht und quatscht und quatscht. Sein nach hinten gegeltes Haar lichtet sich; eine Strähne fällt ihm dauernd in die Augen, worauf er sie sich jedes Mal zurückklatscht, als erschlüge er eine Fliege.

»Ich bin übrigens Vollpartner«, sagt der Anzugtyp. Klare Aussprache, Oxford-Englisch, bestimmt nicht von hier. Ein Kolonist, hat sich offenbar aus dem Londoner Umkreis herverpflanzt. Wahrscheinlich lebt er bei den ganzen Fußballern oben in Northumberland und gibt vor seinen Stadtjungs damit an, dass ihn seine Villa in Darras Hall bloß ’ne schlappe Mille kostet, dass er neben Martin Dúbravka wohnt und die Lebensqualität da oben ja so viel besser ist, solange man sich von den miesen Gegenden fernhält.

»Meine Zeit ist teuer«, sagt er.

»Meine auch.« Das missversteht er und knallt mit seiner Pranke einen 20-Pfund-Schein auf den Tresen, als wäre die Granitplatte der Arsch seiner Sekretärin.

Hinter ihm ist eine Frau aufgetaucht: schon älter, dürr, ohne Begleitung; ihre Solarienhaut nussbraun, die Haare viel zu dunkel gefärbt, die Zähne gelblich. Bestimmt ein Alki.

»Entschuldigung«, sagt sie. Der Anzugtyp ignoriert sie – vielleicht hört er sie auch nicht.

»Also, hier hab ich ’n hübsches kleines Trinkgeld für dich.« Erniedrigend, aber ich steck’s trotzdem ein. »Für heute gehörst du mir, klar?«

»Die nächsten fünf Minuten vielleicht.« Wieder landet ein Zwanni auf dem Tresen, dann in meiner Tasche. »Ich werd nur kurz die Dame hier bedienen.«

»Wie viel, damit du hier hinschmeißt und mit mir heimkommst?«

»Für so was ist’s noch zu früh.« Ich verdrehe die Augen, seine Miene verfinstert sich.

»Entschuldigung!«, brüllt der Alki jetzt, aber der Anzugtyp lässt sie nicht vorbei.

Er beugt sich vor und packt mich am Handgelenk, sein Bauch quillt über die Thekenkante. Er grunzt, die zusammengekniffenen Schweinsäuglein blutunterlaufen vom nachmittäglichen Alkoholkonsum.

»Du zitterst ja«, stellt er fest. Reizend, dass er glaubt, er wäre dafür verantwortlich und nicht etwa mein – wie ich angenommen hatte, offensichtlicher – Kater. Er greift fester zu; meine Haut färbt sich weiß unter seinen Fingern. Alles dreht sich. Sobald ich ihn erst mal vollgereihert hab, wird er’s bereuen. Eine Schande, dass ich nicht kotzen kann, ohne mir die Finger in den Rachen zu stecken. Damit könnte ich mich jetzt wunderbar aus der Affäre ziehen, ohne mich groß zu bewegen. Ich könnte natürlich schreien, nur bin ich von der ganzen Raucherei gestern Abend immer noch heiser. »Na, hast du Schiss?«, lallt er. Er ist besoffener als angenommen.

»Lass mich los.« Tut er aber nicht. Ich komme nicht an die Obstmesser ran. Mit der freien Hand greife ich mir stattdessen eins der Biergläser aus der Reihe vor mir. »Ich zähl jetzt bis drei«, warne ich ihn.

Der Alki hämmert auf den Tresen.

»Was glaubst du, wie alt mein Sohn ist?«, fragt sie. Der Mann lässt mein Handgelenk los, als hätte er sich die Finger verbrannt.

»Gary, was zum Henker?« Ein zweiter Kerl, im cremefarbenen Sommeranzug, wankt peinlich berührt die Treppe runter; er ist ungefähr im gleichen Alter, zwar gepflegter, dafür aber knallrot, vermutlich von zu viel Scotch und Urlaub ohne Sonnencreme. »Liebes«, setzt er an. Die Frau fällt ihm ins Wort. Wahrscheinlich doch kein Alki, bloß ’ne ruppige Mam.

»Was glaubst du, wie alt mein Sohn ist?« Sie hält mir ihr Smartphone vor die Nase. Auf dem Display leuchtet mir meine Website entgegen. Sie hat ein Schwarz-Weiß-Foto aufgerufen: Da kniet ein Junge, seine Zunge zwischen meinem Mittel- und Zeigefinger, mein Ringfinger bohrt sich in seine Wange.

Ah.

»Er ist 20 Jahre alt. Hat seinen Ausweis dabeigehabt und mir einen Modelvertrag unterschrieben. Kann ich Ihnen alles zeigen.«

»Blödsinn. Was für ein Quatsch! Sie da.« Sie tippt Gary auf die Schulter. Der Kerl im Sommeranzug fragt, was hier los sei – die ruppige Mam ignoriert ihn. »Wie alt sieht der Bursche da aus, Ihrer Meinung nach? Sieht der vielleicht wie 20 aus? Sieht der für Sie verdammt noch mal wie 20 aus?«

Gary blickt zu der Mam hin, dann zu mir, dann aufs Foto.

»Ich glaube, wir sollten abhauen«, sagt der Kerl im Sommeranzug. »Jungs«, ruft er. »Jungs, Zeit zu gehen.«

Aber Gary denkt immer noch nach und betrachtet das Foto.

»Er hatte seinen Ausweis dabei«, sage ich. Ich hole mein Smartphone raus und rufe ein Foto davon auf. Zuerst zeige ich’s Gary. »Seht ihr? 20. Und jetzt zieht Leine.«

Die ruppige Mam verlangt, dass die Männer bleiben. Als Zeugen. Aber da sind sie auch schon weg und hinterlassen bloß eine Wolke aus teurem Rasierwasser, das so penetrant riecht, dass mir ganz schwummrig wird. Die ruppige Mam will den Ausweis sehen.

»Das ist mein Ältester! Das ist Dean, du dämliches Miststück; der Ausweis gehört meinem älteren Sohn. Daniel ist 16. Wenn du das nicht aus dem Netz nimmst, zeig ich dich verdammt noch mal an.«

Ich hab ihn im Bus gescoutet und da schon vermutet, dass er eventuell erst in die Oberstufe geht. Er hatte einen Anzug an. Wahrscheinlich geht er auf eine dieser Schulen, deren Uniformen wie Büro-Outfits aussehen, aber man kann ja schlecht von mir erwarten, das gleich auf den ersten Blick zu wissen. Ich hab schon Kerle gesehen, die sehen mit 30 noch wie zwölf aus. Deswegen sollen sie auch immer den Ausweis zeigen. Deswegen speichere ich alles ab.

Außerdem könnte mich kein Gericht der Welt dafür verurteilen. Die Brüder sehen sich dermaßen ähnlich. Nur eine Mutter würde wegen eines Passbilds eine solche Haarspalterei betreiben. Ich kann mir echt nicht vorstellen, dass sich die Geschworenen in so einem Prozess gegen mich stellen würden: Schönheit setzt man ja automatisch mit Tugendhaftigkeit gleich. Und ich bin eher Mae als Rose West. Ich kann einfach auf die Tränendrüse drücken, einen auf dumm machen und mir die Haare hochtoupieren, so wie diese Fernsehpredigerinnen – je höher die Frisur, desto näher bei Gott und so.

»Tja, dann hat mich Daniel offenbar angelogen und mir den falschen Ausweis vorgelegt. Außerdem habe ich ihn mitten in der Woche fotografiert, zur Unterrichtszeit. Vielleicht behalten Sie ihn zukünftig besser im Auge?« Ich rufe den Admin-Bereich meiner Website vor ihr auf (was auf dem Smartphone ewig dauert) und entferne das Bild aus meinem Portfolio. »Gelöscht.«

»Ich möchte einen Vorgesetzten sprechen.«

»Hier.« Ich zeige auf mich selbst.

»Dann möchte ich eben deinen Vorgesetzten sprechen.«

»Ich bin allein hier.«

»Ach so«, sagt sie, »na, wenn das so ist.« Sie steht da und funkelt mich an. Ich komme hinterm Tresen vor, um ihr die Tür aufzuhalten, da verpasst sie mir eine. Also, so richtig.

Dann stürmt sie aus der Bar. Halbherzig versuche ich, ihr nachzulaufen, aber ich trage Stilettos – und so schnell ich in Stiefeln oder Plateauschuhen auch sein mag, auf Pfennigabsätzen hab ich keine Chance.

Ich spucke ihr hinterher. Meine Reichweite ist ziemlich beeindruckend, aber treffen tu ich sie nicht. Sie verschwindet um die nächste Ecke.

Völlig außer Puste stöckle ich in die Bar zurück. Meine Wange schmerzt, und ich fühle mich hundeelend.

»Alles klar bei dir?«, fragt Ryan. »Was zum Henker war das?« Vielleicht ist es sein Anblick, der das Fass – beziehungsweise mich – zum Überlaufen bringt. Er ist einer dieser Zwerge, die ihre mangelnde Körpergröße durch übertriebene Muckis kompensieren. Auf seinem breiten Hals sitzt ein klitzekleiner Erbsenschädel; er hat schütteres Haar, gebleichte Zähne und ein fliehendes Kinn. Grotesk. Wenn ich jetzt den Mund aufmache, kotze ich. Ich flüchte auf die Behindertentoilette, lass mich auf die Knie fallen und knalle mit dem Kopf auf den Klositz. Das Sandwich, das ich heute schon mal halb hochgewürgt hab, kriecht zum zweiten Mal meine Speiseröhre rauf, und diesmal findet es den Weg nach draußen. Platschend landet es im Wasser, wie eine Brotscheibe, die aus großer Höhe in eine Suppenschüssel plumpst. Kohlenhydrate gönn ich mir sonst nur selten, und im Nachhinein sollte es mich eigentlich nicht verwundern, dass mein Körper das mehlige Tesco-Baguette wie ein inkompatibles Transplantat abgestoßen hat.

»Ich hab’s grade auf den Überwachungsvideos gesehen.« Ryan kommt ins Bad und schließt hinter sich die Tür. »Du hast behauptet, du hättest keinen Kater«, sagt er, als hätte ich ihn hintergangen, als hätte er mir nicht noch vor zwölf Stunden Koks verkauft.

»Hab ich ja auch nicht. Das war bloß der Schreck. Hast du gesehen, wie die mir eine gescheuert hat?« Ich würge wieder. Ja, hat er. Er fragt, warum. »Was meinst du mit warum? Du hast sie doch gesehen, das war ein durchgeknallter Alki! Ich hab mich mit einem der Anzugtypen unterhalten, statt sie zu bedienen, und da ist ihr die Sicherung durchgebrannt.«

Ich spucke aus, halte den Mund unter den Wasserhahn und spüle. Ich zittere am ganzen Leib, laufe rot an, aus jeder Pore trieft der Schweiß. Ich spüre, wie mir das hastig aufgepinselte Make-up vom Gesicht schmilzt und die Wimperntusche in Streifen über die Wangen rinnt. Aus meinen Nasenlöchern tröpfelt Kotze, und ich bin mir ziemlich sicher, dass das Galle ist, die mir da aus den Augen läuft.

»Gib mir mal ’n Kaugummi.«

Er wirft mir ein Päckchen Bubblemint zu – was nicht wirklich besser ist als Kotze.

»Weißt du, wenn jetzt jemand reinkäme, der wirklich behindert ist …«

»Fick dich. Fick dich einfach, Ryan. Ich benutze ganz sicher nicht die Gästetoiletten. Mich hat grade jemand geschlagen!«

Wenn’s nach Ryan ginge, würden wir bei den Gästen pissen, als wären wir Tiere. Er rechnet jeden Moment damit, dass jemand mit Hinkebein, Rollstuhl oder Reizdarmsyndrom in die Bar platzt – mit der gesamten Interessenvertretung eines Wohltätigkeitsvereins im Schlepptau.

»Ich hol nicht die Polizei«, sagt er. »Nur zu deiner Info.«

»Auch gut. Aber du lässt mich jetzt nach Hause, oder?«

»Nein. Heute sind wir unterbesetzt. Wegen einem Kater schick ich dich bestimmt nicht heim. Wie schlimm kann sie dich schon erwischt haben? Die war doch ein Strich in der Landschaft!«

»Verarschst du mich? Die hatte Ringe! Außerdem hab ich keinen verfickten Kater. Schreib irgendwem. Der Neuen, der mit den pinken Haaren. Carrie.«

»Cassie. Und nein, die hat heute frei.«

»Die wird sich deshalb bestimmt nicht von dir vögeln lassen – ich hoffe, das ist dir klar. Den Blödsinn schlägst du dir lieber gleich aus dem Kopf. Die sieht nämlich ziemlich woke aus.« Dabei zeichne ich Anführungsstriche in die Luft und grinse höhnisch. »Die Zeiten sind vorbei, Ryan.«

Ich nicke zu dem Shout Up!-Plakat hinüber, das an der Toilettentür hängt und die Bar als belästigungsfreie Zone ausweist. Er blickt stinksauer drein. Ryan glaubt, solange man gut aussieht, zählt es nicht als Belästigung – und natürlich hält er sich für extrem gut aussehend. Aber ehe er einen Streit vom Zaun brechen und mich daran erinnern kann, dass er ja beim Shout Up!-Schulungstag war und überhaupt, taucht hinter ihm Ergi auf. Ich wusste nicht, dass er heute da ist. Ist er sonst nie. Die Bar hier ist eine von drei zentral gelegenen Szenekneipen, die alle ihm gehören. Ich glaube, meistens hat er uns einfach nicht auf dem Schirm.

»Was geht hier ab?«, fragt er und wirft Ryan einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Gar nichts!«, ruft Ryan. Ich breche in Tränen aus. Wenn ich müde bin, wenn’s mir beschissen geht, wenn meine Augen sowieso schon feucht sind, fällt es mir leicht, einfach loszuheulen.

»Irgend so ’ne Bekloppte hat mir eine gedonnert, schau mal.« Ich zeige auf den roten Fleck an meiner Wange. »Ich hab so ’nen Schrecken gekriegt, dass ich kotzen musste. Und Ryan lässt mich nicht heim.«

»Warum schickst du sie nich’ nach Hause, Mann?«, fragt Ergi. Er hat einen merkwürdigen Akzent: albanisch, mit dem unverkennbaren Einschlag der nordöstlichen Tyne-Gegend. »Ruf doch die Neue an – die mit den pinken Haaren. Carrie, oder?«

»Die hat heute frei, außerdem hat sich Irina schon zu oft krankschreiben lassen.«

»Jemand hat sie grade geschlagen, Mann!« Dann wendet sich Ergi an mich. »Geht’s dir gut? Warum hat sie dir eine geknallt?«

»Ich war ihr nicht schnell genug. Weil mich so ein Typ festgehalten hat. Ist von Anfang bis Ende auf Band. Es war schrecklich.«

»Ich besorg dir ’n Taxi und kümmer mich um alles. Mach dir kein’ Kopf.« Er fragt nach meiner Anschrift und bestellt mir ein Uber. Außerdem verspricht er, sich die Überwachungsaufnahmen anzusehen und einen Bericht über den Vorfall zu schreiben, und er schickt Ryan los, um mir Servietten und ein Glas Wasser zu holen.

Ryan funkelt mich an. Sobald Ergi weg ist, höre ich mit dem Weinen auf.

»Total krank, dass du das wie auf Knopfdruck kannst.« Ryan reicht mir die Servietten und das Wasser.

»Krank ist, dass du Koks vertickst«, gebe ich zurück. »Dafür werden Kinder versklavt und so.«

»Ach was?«

»Google doch.«

Stinksauer bringt er mich zur Tür und versichert mir, er wisse genau, dass ich einen Kater habe. Er will mich bei Ergi verpfeifen. Ich kontere, dass ich ihn dann fürs Dealen anzeige; von wegen Glashaus und Steine und so.

Dann steht das Taxi draußen, und ich haue ab.

Während ich im Uber sitze, flutet mich Ryan mit Entschuldigungsnachrichten. Sorry, dass ich so mies reagiert hab; hab mir grade die Aufzeichnungen angesehen; hoffe, dir geht’s gut; bitte verpfeif mich nicht; und so weiter und so fort.

Ich antworte mit ein paar Emojis: Pizza, Schulterzucken, Smiley, Facepalm, Sonne. Mach aus den Bildchen, was du willst, Ryan.

Der Heimweg dauert nicht lange. Flo ist immer noch da. Sie staubsaugt – in meinem Schlafanzug. Als ich reinkomme, strahlt sie mich an, die Zähne kaffeegelb, der stufige Bob verstrubbelt.

»Ich hab dich nicht so früh erwartet! Und was ist denn mit deinem Gesicht passiert? Du meine Güte, hast du etwa geweint?« Ich murre, feuere die Schuhe in die Ecke und lass mich aufs Sofa fallen. Ich vergrabe das Gesicht in den Händen. Der Kaugummi schmeckt inzwischen säuerlich. Ich berichte Flo von dem Vorfall. Wie vorgesehen schnappt sie immer wieder nach Luft und haucht ein O mein Gott!, als sähe sie sich eine Panto-Vorstellung an.

»Du könntest da echt klagen!«

Ich sage, dazu hätte ich keinen Bock. Die Sache mit dem Jungen und den Fotos lasse ich aus.

»Wenn jemand bei der Arbeit auf dich losgeht, stehen dir sechs Wochen Urlaub zu, wusstest du das? Und zwar komplett bezahlt«, sagt sie.

»Ohne Scheiß? Na, das ist ja ein Lichtblick. Bring mir mal meinen Schlafanzug und ein Abschminktuch.« Flo gehorcht.

»Ich hab die Küche geputzt«, ruft sie von oben, »und die Koksreste auf dem Kaffeetisch zusammengekratzt. Reicht nicht für ’ne ganze Line, aber vielleicht für ’nen Fingernagel voll oder so. Hab’s dir in ’nem Tütchen aufgehoben.«

Sie bringt mir meine einzige Jogginghose und einen alten Pulli – das Outfit, das nur bei den schlimmsten aller Kater zum Einsatz kommt.

Ich ziehe mich vor ihr um und werfe die alten Klamotten auf den Boden meines blitzblanken Wohnzimmers.

»Cool.« Darüber wird sie sich später garantiert in ihrem ›privaten‹ Blog auslassen. Privat insofern, als nur 200 ihrer engsten Internetfreunde mitlesen. Hat mich ungefähr fünf Minuten gekostet, ihn aufzustöbern.

»Hier drin war’s echt abgeranzt, also hab ich mir gedacht, solang du auf Arbeit bist, kann ich ein bisschen aufräumen.«

Mit einem Seufzen schrubbe ich mein Make-up weg, bis mir das Gesicht brennt.

»So ist’s besser.« Flo rupft mir das eingesaute Feuchttuch aus der Hand, hält es hoch und betrachtet den Gesichtsabdruck aus Foundation, Wimperntusche und Brauenpuder. »Schau dir das an. Wie das Turiner Grabtuch.« Ihr Smartphone klingelt, die rechte Tasche meiner Schlafanzughose (die sie trägt) leuchtet auf. Sie drückt den Anruf weg. »Ist bloß Michael. Ich hab ihm gesagt, dass ich bei dir bin. Wahrscheinlich fragt er wegen Abendessen. Manchmal ist er so überfürsorglich! Chill mal, Michael!« Dann schaltet sie ihr Handy aus, was vielleicht alle 100 Jahre vorkommt. »Möchtest du ein bisschen Eis für deine Wange?«

Möchte ich. Ich lasse mir mein Kater-Kit und zwei Gläser Wasser von ihr bringen. Das Kit ist eine Tupperware-Dose mit frei verkäuflichen Schmerzmitteln. Zuerst bringt Flo die Dose, dann das Wasser. Paracetamol mit Codein (und Koffein) in Brauseform – die Boots-Eigenmarke – kommt ins erste Glas, Dioralyte ins zweite. Während sich das Schmerzmittel auflöst, trinke ich das Dioralyte. Dann spüle ich zwei Antihistaminika hinterher (die außerdem antiemetisch sind und in Sachen Katerkur wahre Wunder wirken), zwei 342-Milligramm-Tabletten Ibu-Lysin (das gute Zeug gegen Regelkrämpfe) und eine Imodium. Als ich beim Paracetamol angelangt bin, fühle ich mich fast wieder wie ein Mensch. Flo bringt mir ein Geschirrtuch voller Eis, das ich mir gegen die Wange drücke.

»Soll ich schnell zu Tesco? Ich könnte uns ’ne Flasche Katerwein besorgen. Und was Anständiges zu essen. Hab ’n Blick in deinen Kühlschrank geworfen: Da sind bloß ’n riesiger Eisbeutel und ein bisschen Salat drin.«

»Okay.« Sie marschiert los, immer noch in meinem Schlafanzug.

Das letzte bisschen Galle in mir gerinnt bei dem Gedanken daran, sich mit Wein zu vermischen. Ich schmeiße mir noch eine Imodium ein.

Dann hole ich meinen Laptop raus und scrolle mich durch das Shooting mit Dean. Daniel. Wie auch immer er heißt.

Er war echt süß und völlig aus dem Häuschen, als ich ihn im Bus vor seinen Freunden angesprochen und ihm meine Karte gegeben hab. 20 Minuten später trudelte auch schon seine E-Mail ein, wann er zu mir ins Studio könne.

Beim Shooting spritzte er in seiner Unterhose ab und dachte, ich würd’s nicht merken. Ehrlich gesagt hatte ich schon vorher geahnt, dass er keine 20 ist, aber war ja alles einvernehmlich, oder? Schließlich hat er den Modelvertrag unterschrieben und mir einen überzeugenden Ausweis vorgelegt.

Die Fotos sind cool geworden. Irgendwie grungy. Obwohl sie schwarz-weiß sind, wirken seine Wangen gerötet. Die Sommersprossen auf Schultern und Nase kommen richtig gut raus. Ich hab schon ein paar Vorschaubilder an meine privaten Sammler geschickt – an die wenigen, die für Originale und großformatige Drucke tief in die Tasche greifen. Bisher hat noch keiner geantwortet, aber ich hab mir schon gedacht, dass das Kerlchen kein Bestseller wird. Der Ärmste ist nicht gerade ein Hingucker – mit der großen Nase und den ganzen Pickelkratern. Ich finde, er hat Charakter, aber ich bin generell keine Kostverächterin.

Mit dem Löschen werde ich noch ein bisschen warten. Wahrscheinlich wäre es klüger, es gleich zu tun, aber was will seine Mam jetzt machen, da sie mir vor laufender Kamera eine verpasst hat?

Flo verkündet in hohem Singsang, dass sie zurück ist, untermalt vom unverkennbaren Rascheln wiederverwendbarer Supermarkttüten. Das Eis im Geschirrtuch ist geschmolzen, und ich schleudere es in die Küche. Meine Hand ist vor Kälte taub, also schiebe ich sie zwischen meine warmen Oberschenkel.

»Ich hab dir ein paar Kohlenhydrate, Dosenfutter und so Kram besorgt.« Sie läuft über den Teppich an mir vorbei (in Schuhen), hebt das klatschnasse Geschirrtuch auf und macht sich daran, die Einkäufe zu verstauen. Kohlenhydrate. Ich rümpfe die Nase.

»Gluten ist der Teufel«, sage ich. Was Essen angeht, hört sie nie auf mich, andernfalls wäre sie nach wie vor schlank. In ihrem Blog postet sie über meine Essstörung. Darüber, wie sehr sie sich um mich sorgt und ständig versucht, mir Brot unterzujubeln. »Und zieh die Schuhe aus.«

Sie entschuldigt sich und erzählt mir von dem Kerl, der bei Tesco angefangen hat. Seit ich hier wohne, arbeitet dort die gleiche Handvoll Leute, darum ist er ihr auch gleich ins Auge gestochen. Sie sagt, er sei echt süß, aber ihr Männergeschmack ist einfach fade. Sie steht nur auf die Typen, auf die sie glaubt stehen zu müssen. Ihr Freund hat einen buschigen Bart und einen Undercut, weil das, als sie zusammengekommen sind, gerade der letzte Schrei war. Der Typ, mit dem sie was hatte, als wir uns kennengelernt haben, war so ein New Musical Express-Pappaufsteller, eine generische Indie-Arschgeige mit Porkpie-Hut und überlangem Pony. Vor ein paar Jahren ist sie noch auf Harry Styles abgefahren, jetzt steht sie auf dieses Weißbrot, dieses Vollbaguette von einem Kerl aus Call Me by Your Name.

»Ich schwör bei Gott, der ist echt schnuckelig«, sagt sie. »Sieht aus wie der Hauptdarsteller von Mr. Robot, den du so toll findest.«

»Rami Malek.« Ich verdrehe die Augen. Für Flo sieht jeder kurz geratene, leicht gebräunte Typ wie Rami Malek aus.

»Er ist echt süß, versprochen! Wenn du ihn siehst, weißt du gleich, wen ich meine. Vertrau mir.« Sie bringt mir ein Glas Wein und stellt Brot und Hummus ab, obwohl ihr klar sein muss, dass sie das allein essen kann. Sie hebt meine Füße an, setzt sich neben mich und legt sie sich auf den Schoß. »Hast du Lust auf ’nen Film?«

Ich nicke und reiche ihr meinen Laptop. Sie bewundert die Fotos und navigiert zum Download-Ordner. Falls ihr irgendwas spanisch vorkommt oder sie das Model für zu jung hält, kommentiert sie es nicht. Sie scrollt durch die Filmdateien und googelt ein paar Titel.

»O mein Gott!« Sie zeigt auf den Bildschirm, schiebt die Unterlippe vor und schaut mich an. »Fritz the Cat!«

Sie zeigt auf die Datei. Damit meint sie unseren Fritz.

Als Flo und ich während unseres Studiums in einer WG wohnten, fütterte sie einen Streuner an: einen riesigen, hässlichen roten Kater – mit den dicksten Eiern, die ich je an so einem Vieh gesehen hab. Ich taufte ihn auf den Namen Fritz. Flo kaufte ihm ein Halsband mit einem scheißnervigen Glöckchen und allem Brimborium. Später, während meines Masterstudiums, verpisste sie sich für ein Praktikum nach Leeds und ließ mich allein mit dem Vieh zurück. Da kam es mir dann abhanden.

»Fritzi fehlt mir«, sagt sie.

»Tja, hättest ihn mitnehmen sollen.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich nehme an, Fritz the Cat willst du schon mal nicht gucken.«

»Ganz sicher nicht.« Sie gibt mir den Laptop zurück. »Von denen schau ich mir gar keinen an.«

»Dein Geschmack ist so langweilig.« Sie sieht sich nichts an, was auch nur annähernd anspruchsvoll ist. Nekromantik, Vase de Noces und Irréversible musste ich ihretwegen abbrechen; ja, sogar The Poughkeepsie Tapes. Dabei ist Letzteres bloß Found-Footage-Horror, quasi Mainstream: Mit einer linearen Handlung, ohne Untertitel, und sogar richtige Dialoge kommen da vor. Sie fragt, ob sie einen Blick in die verstaubte DVD-Mappe hinter meinem Fernseher werfen darf.

»Nein.« Sie fragt, warum. »Das haben wir doch bestimmt … 50-mal durch. Die hab ich nur für Notfälle! Nichts davon ist in HD, auf meinem Fernseher sehen die alle beschissen aus.« Ich zeige wieder auf den Download-Ordner. »Schau mal, Pretty Baby ist doch ziemlich normal.«

»Ist das dieser Pädostreifen mit Brooke Shields?«

»Wenn du’s so ausdrückst, hört sich alles mies an, Flo. Ach, Jurassic Park, ist das nicht dieser Dino-Nekromantie-Film mit Jeff Goldblum?«, äffe ich sie mit dieser nasalen, leicht lispelnden Kleinmädchenstimme nach, die sie sogar mir gegenüber benutzt. Nur wenn sie betrunken ist, vergisst sie manchmal, die Stimme zu verstellen. Keine Ahnung, warum sie das macht.

»Himmel, können wir nicht einfach Moana oder so was gucken?«

»Hab ich nicht hier. Würdest du warten, bis ich ihn runtergeladen hab?«

Sie schon, aber ich nicht. Ich schwatze ihr Blue Velvet auf, was mir nur gelingt, weil sie das Gefühl hat, David Lynch mögen zu müssen, obwohl sie seine Filme in Wahrheit nicht ausstehen kann. Bei der Eingangsszene mit Frank zuckt sie zusammen und hält sich die Augen zu. »Schrecklich«, sagt sie.

»So schlimm ist’s nun auch wieder nicht.« Ich stoße sie mit dem Ellbogen an. »Trink deinen Wein.«

Mam schreibt, dass sie morgen mit mir zu Mittag essen will. Ich sage zu. Sie weiß, dass ich freihab (regulär – nicht etwa weil ich verprügelt wurde), und es wäre zwecklos, mich herauszuwinden oder deswegen einen Streit vom Zaun zu brechen. Letztes Mal, als ich ohne wasserdichtes Alibi behauptet habe, ich sei anderweitig beschäftigt, stand sie plötzlich auf der Matte; und ich saß im Schlafanzug da und musste mich krank stellen. Je schneller ich antworte, desto weniger Scheiße muss ich mir anhören, wenn ich sie nächstes Mal sehe – was unvermeidlich ist.

Flo beschwert sich jedes Mal, wenn Kyle MacLachlan spricht (»Der ist so schmierig!«), und quiekt wie ein abgestochenes Schwein, wann immer Frank ins Bild kommt. Trotzdem singt sie bei In Dreams leise mit – irgendwie hat sie die älteren Stücke von Roy Orbison ganz aus eigenem Antrieb für sich entdeckt.

Später nicke ich ein, und als ich aufwache, ist das Haus leer. Flo hat mir geschrieben.

Hab verpeilt, dass ich nach Hause muss, lol! Konnte heut nicht über Nacht bleiben, Schatz hat sich einsam gefühlt. Hatte nen fetten Kater. Bis bald x

Am nächsten Morgen rufe ich ihren Blog auf, nur für den Fall, dass ihr nach Beichten war. Ich traue ihr ohne Weiteres zu, mir die Haare zu kämmen und mich zu fingern, während ich schlafe.

fräuleinhasenherz:

Arrrghhh hier bin ich also wieder, um euch mit einem neuen SadGay-Post™ auf die Nerven zu gehen. Rini macht mir wirklich zu schaffen. Ich dachte eigentlich, ich hätte mich endlich von ihr entwöhnt und tu mein Bestes, mich auf Michael zu konzentrieren – und darauf, wie gut es zwischen uns grade läuft. Aber ich denk die ganze Zeit nur an sie. Schwer zu sagen, ob mich mein Hirn wieder mal sabotiert oder ob ich schlichtweg erbärmlich und immer noch in sie verschossen bin, so wie damals im Foundation-Jahr und Studium.

Maaannn, das geht jetzt schon fast 10 Jahre so.

Ich frag mich langsam, ob ich überhaupt je über sie hinwegkommen werde. Und ich weiß schon, dass ich damit bestimmt wieder 10 von euch auf den Plan rufe, von wegen DIE HÖRT SICH TOTAL TOXISCH AN bla bla bla. Ich schwöre, sie ist nicht so schlimm, wie ich sie hier manchmal darstelle!!! aber sie hat schon viel Scheiße durchgemacht, worauf ich hier nicht näher eingehen werde, und sie ist wirklich, wirklich nicht das grauenhafte Monster, für das ihr sie manchmal alle zu halten scheint.

Ich glaub *echt*, dass sie undiagnostizierte Borderlinerin ist. Sie hat kaum richtige Freunde und sie ist UNFÄHIG, gesunde Beziehungen einzugehen. Ich glaub, sie braucht meine Hilfe?? Als ich gestern bei ihr war, hab ich für sie eingekauft, sonst würde sie sich bloß von Wasser und Salat ernähren. Das Problem liegt nicht bei Rini, sondern bei mir, aber ich weiß zu schätzen, dass ihr euch alle solche Sorgen um mich macht und euch mein Gejammer durchlest.

Ich lese im Bus. Flo vermutet schon lange, dass ich unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leide. Würde mir sonst jemand ohne jegliche Qualifikation diese Diagnose stellen, wäre sie mit Sicherheit die Erste, die Ableismus! schreien würde.

Außerdem: Wenn schon eine von uns Borderlinerin ist, dann ja wohl sie. Und ich hasse es, wenn sie mich Rini nennt. Meine Fresse. Mam schreibt, dass sie schon in der Stadt ist, und im Posteingang wartet eine ungelesene E-Mail.

Liebe Irina,

hier schreibt Jamie Henderson, die Junior-Kuratorin von Hackney Space. Vor ein paar Jahren hatte ich das große Vergnügen, dich bei einer deiner Master-Ausstellungen kennenzulernen (damals war ich selbst noch Studentin, haha!). Ich habe deine Arbeit über deine Website verfolgt, und wir wären sehr daran interessiert, ein paar deiner aktuelleren Werke im Kontext einer Gruppenausstellung über zeitgenössische Fetischkunst zu zeigen. Ein paar andere Künstler von ähnlichem Kaliber haben bereits zugesagt (Cameron Peters, Serotonin, Laurie Hirsch – nur um einige zu nennen).

Wir würden gern fünf bis sechs großformatige Fotografien ausstellen, die möglichst bisher noch nicht gezeigt wurden. Wir können dir leider kein Honorar anbieten, aber wir übernehmen sämtliche Produktionskosten und erwarten viele Sammler. Ich bin mir sicher, deine Arbeiten würden sich gut verkaufen.

Außerdem haben wir uns ein paar ältere Filme von deinen Master-Shootings angesehen (die sind ja wirklich versteckt auf deiner Website, haha!) sowie die Interviews mit Vice und Leather/Lace. Bahnbrechend! Dein Prozess klingt wirklich faszinierend, und wir würden als Teil der Ausstellung gern eine filmische Dokumentation davon zeigen, falls du Interesse hast. Wenn du keine Filme mehr machst, ist das auch in Ordnung.

Für alle Fotografen, die an der Ausstellung teilnehmen, produzieren wir zudem Fotobücher in limitierten Auflagen (nicht mehr als 100). Es wäre toll, wenn du dein Archiv durchforsten und uns eine größere Auswahl schicken könntest, von Frühwerken bis hin zu den Bildern, die du gern in der Hauptausstellung zeigen würdest.

Ich freue mich, von dir zu hören!

Jamie

Ich erinnere mich zwar nicht mehr an das Miststück, aber ich muss grinsen, richtig breit, von einem Ohr bis zum anderen. Mein Herz rast, ich hab Schmetterlinge im Bauch.

Kurz sammle ich mich. Klar wollen die mich – wen auch sonst?

Hi Jamie,

schön, von dir zu hören! Ich bin sehr daran interessiert, an der Ausstellung teilzunehmen. Außerdem kann ich dir gern ein paar aktuelle Filmarbeiten schicken. Tatsächlich habe ich mit Serotonin schon mal sechs Wochen lang gearbeitet, haha.

Spaß beiseite, wir waren wirklich gemeinsam am Royal College of Art (sie im Jahrgang über mir), wir sind ständig zusammen weggegangen. Performt sie live? Oder zeigt sie nur einen Film?

Fotobuch sollte auch klargehen, mein Archiv ist sehr umfassend.

Irina

Ich lese mir die E-Mail noch mal durch. Bahnbrechend. Das gefällt mir. Ich poste einen Screenshot im Gruppenchat mit Flo und meinen Speichelleckern.

Lasst uns bald feiern gehen!!!, schreibe ich und werde prompt mit Glückwünschen überhäuft. Die Gruppe besteht aus Flo und drei ihrer ehemaligen Studenten. Sie sind furchtbar nervig, wie nur Kunststudenten im Bachelor es sein können, aber man kann ja nicht ständig allein trinken.

Ich steige aus dem Bus, Mam wartet draußen schon auf mich. Wir sehen uns kein bisschen ähnlich. Sie ist einen ganzen Kopf kleiner als ich.

»Du meine Güte, Rini«, begrüßt sie mich, zieht mich zu sich herunter und drückt mir einen klebrigen Lipgloss-Schmatzer auf die Wange. »Musst du unbedingt Absätze tragen? Kein Wunder, dass du Single bist, wenn du dauernd als Zwei-Meter-Hünin durch die Gegend rennst. Wenigstens die Haare könntest du dir glätten; du musst dich ja nicht noch größer machen.«

Der Fleck auf meiner Wange fällt ihr erst nach einer Weile auf. Ich hab farbtechnisch bestmöglich gegengesteuert und ihn mit professioneller Theaterschminke zu kaschieren versucht. Darüber regt sie sich als Erstes auf und fragt, ob ich denn unterwegs zu meiner eigenen Beerdigung sei. Dann bemerkt sie das Rot, das durch die Make-up-Schicht schimmert.

»Was in aller Welt hast du mit deinem Gesicht angestellt?« Sie funkelt mich an. »Für Schlägereien bist du doch viel zu alt, Irina!«

»Da hat mich ’ne Betrunkene auf Arbeit erwischt. Ich wollte sie rausschmeißen.«

»Was, du allein?!« Ich versuche, ein paar Schritte vor ihr zu bleiben, aber trotz ihrer Stummelbeinchen hält sie Schritt. »Das war dumm von dir, Irina. Du bist doch keine Türsteherin! Und überhaupt, wo haben eure Türsteher gesteckt?«

»Tja, ich war eben allein. Das ist gestern Nachmittag passiert, Mam. An Wochentagen haben wir keine Türsteher, und tagsüber erst recht nicht.«

Die Antwort stellt sie nicht zufrieden. Auf dem Weg zu dem ASK Italian, in dem sie gerne isst, sagt sie, ich solle mich nicht mit Psychos abgeben. Sie beschwert sich, dass ich sie mit so einem Veilchen in Verlegenheit bringe. Ich sähe aus, als wär ich in eine Schlägerei geraten oder verprügelt worden, was beides ordinär sei.

Im Restaurant passt ihr unser Tisch am Fenster nicht; sie möchte beim Essen nicht angegafft werden. Wir teilen uns einen Antipasti-Teller: Sie isst Fleisch und Käse, ich das Gemüse. Sie findet meine Nägel schrecklich – lang, rot und spitz gefeilt.

»Die sind erst ordinär! Und dann auch noch der Bluterguss. Die Leute halten dich noch für ’ne Bordsteinschwalbe. Eine traurige wohlgemerkt, die sich verprügeln lässt.« Einen Moment lang herrscht Stille, und ich sehe förmlich, wie es in ihrem Kopf rattert, wie sie nach dem i-Tüpfelchen für ihre Kritik sucht. »Außerdem stichst du dir so noch ein Auge aus.«

Ich stelle mir das bildlich vor: ich als traurige, einäugige Hure. Mam ruft mich beim Namen. Sie verlangt, dass ich etwas sage – als gäbe es irgendetwas, das sie nicht als Anlass für einen Streit hernehmen würde.

»Ich hab sie mir erst machen lassen, und jetzt bleiben sie so.«

»Ich hab nie gesagt, dass du sie nicht so lassen kannst. Nur dass ich sie schrecklich finde. Darf ich denn keine Meinung haben?«

»Das hab ich nie gesagt. Aber das sind meine Nägel und …«

»Ich weiß, dass es deine Nägel sind; ich finde sie eben nur grässlich, Irina. Warum streitest du mit mir?«

»Ich streite nicht mit dir, verdammt!«

»Kein Grund, gleich so an die Decke zu gehen! Du versaust das ganze Mittagessen.«

Mir ist heiß, ich bin zittrig. Ich stammle, bringe nichts Zusammenhängendes heraus, wohl wissend, dass alles nur schlimmer wird, wenn ich versuche, das letzte Wort zu haben. Ich nicke, schmuggle die Gabel unter den Tisch und steche mir damit in den Oberschenkel. Mein Atem beruhigt sich. Ich wechsle das Thema.

»Wie geht’s Dad?«

Sie verdreht die Augen.

»Sunderland ist letzte Woche abgestiegen, also kannst du dir das vorstellen.« Wir lachen über ihn. »Er hat eine von meinen guten Kerzen auf den Fernseher geworfen.«

»Geschieht dir ganz recht, wenn du unbedingt ’nen Mackem heiraten musst, findest du nicht?«

Sie stimmt mir zu, schweigt einen Moment und starrt glasig in die Ferne, als wäre sie meilenweit weg – wie immer, wenn sie kurz daran denkt, dass sie eines Tages sterben und ihr Leben lang nur mit meinem Vater verheiratet gewesen sein wird. Manchmal, wenn sie trinkt, erzählt sie mir von dem anderen Kerl (ärmer, dafür attraktiver), mit dem sie damals was am Laufen hatte, als sie mit Dad die ersten paar Mal ausging. Ihren Sie liebt ihn – sie liebt ihn nicht-Moment nennt sie das, obwohl ihre Beziehung um einiges älter ist als der Film.

Ich fummle an meinem Gürtel rum. Mam kehrt aus der imaginären Paralleldimension mit dem heißen Ehemann in die Gegenwart zurück. »Du hättest dir die Hose eine Nummer größer kaufen sollen. Ich hab’s mir vorhin schon gedacht. Sie spannt um den Hintern rum.«

»Das gehört sich so. Wenn sie lockerer säße, wäre sie mir an der Taille zu weit.«

Sie kommt nicht dazu, mir recht zu geben, weil sie von einer Frau abgelenkt wird, die sie durchs Fenster sieht: Sie humpelt aus einem nach Brexit-Befürwortern aussehenden Pub namens The Dame’s Garter, eine E-Zigarette zwischen den gespitzten Lippen, die so braun und runzlig wie ein ungebleichtes Arschloch aussehen. Das dünne, strähnige Haar hat sie sich zurückgekämmt, die Ansätze silbrig, die Spitzen kupferrot. Von der Goldkette um ihren ledrigen Hals baumelt ein Clown.

»Hast du die gesehen?«, fragt Mam. »Mit der bin ich zur Schule gegangen. Ist jünger als ich. Ist das zu fassen?«

»Echt?«

Mam hat sich gut gehalten, sie ist schlank und immer schick angezogen. Ihre Stirn ist glatt und unbeweglich, die Lippen so prall wie meine. 1997 hatte sie mal eine Woche lang Sorgenfalten, denen hat sie aber schnell ein Ende gesetzt.

»Das kommt davon, wenn man raucht und keine Feuchtigkeitspflege benutzt. Die war schon immer ordinär bis dort hinaus – ach, was red ich, die ganze Familie! Haben auf meinem Grundstück gewohnt. Abschaum, selbst für unsere Verhältnisse.«

Als uns die Kellnerin den Salat bringt, behandelt Mam sie wie Dreck und ich bohre wieder die Gabel in meinen Hosenstoff. Sie beschwert sich über alles, was ihr vor die Nase kommt: Im Salat ist zu viel Öl, in der Limo zu viel Zucker, ihre Freundin hat Krebs und postet dauernd bei Facebook darüber.

»Wow, was für ’ne Fotze«, sage ich. Ich bin zu erschöpft, zu gereizt, um ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Ich lege meine Beruhigungsgabel auf den Tisch.

»Irina!«

»Nein, das mein ich ernst, Mam. Was für ’ne Fotze. Wie kann sie es wagen, bei Facebook über ihre Erkrankung zu posten? Die soll sich zu Dignitas verpissen und die Sache endlich hinter sich bringen. Findest du nicht?«

»Bei dir muss immer alles gleich eskalieren, oder? Du kannst nichts einfach mal auf sich beruhen lassen; alles muss erst ein Riesenaufstand werden! Du bist so eine Dramaqueen, Irina.«

Bin ich. So wie sie. Und wenn ich eine Dramaqueen bin, dann ist sie dafür verantwortlich. Mir ist der Appetit auf Salat vergangen (in dem zugegebenermaßen viel zu viel Öl ist). Jetzt hat sie auch noch diesen beschissen selbstzufriedenen Gesichtsausdruck, so nach dem Motto: Ha, jetzt hab ich dich, da sagst du nichts mehr!

»Ist ja auch egal. Wie läuft’s auf der Arbeit?«

»Ganz okay.«

»Und dein Fotokram? Was ist damit?«, fragt sie gelangweilt. Ich lächle. »Na, sitz nicht bloß da und grins mich selbstgefällig an, Irina! Was ist los?«

»Ich wurde eingeladen, an einer echt großen Ausstellung teilzunehmen. Hackney Space möchte meine Fotografien und einen Film in einer umfassenden Retrospektive über englische Fetischkunst zeigen. Also zahlt sich die harte Arbeit wohl endlich aus.«

»Das nennt man heutzutage harte Arbeit? Fetischkunst!« Sie rollt mit den Augen. »Ernsthaft, Irina, ich wünschte, du würdest Fotos machen, die ich guten Gewissens zu Hause aufhängen kann.«

»Es gibt genug Leute, die meine Fotos aufhängen.«

»Ja, genug schwule Freaks. Und wenn mich die Tatsache, dass ich mir das Haus nicht mit Pimmelbildern zupflastern will, zur Schwulenhasserin macht, dann tut mir das schrecklich leid.«

Ich fühle mich, als würde ich mit der Kommentarsektion der Daily Mail zu Mittag essen.

»Ich vermisse deine hübschen Zeichnungen von damals, Rini. Du kannst so gut zeichnen.«

Das ist glatt gelogen: dass meine Zeichnungen je hübsch gewesen wären, dass ihr meine Arbeiten je gefallen hätten. Als ich damals Galadriel gezeichnet hatte, sagte sie mir ins Gesicht, das Bild sehe aus wie ein Brandopfer (damals war ich ungefähr zwölf). Außerdem wäre ich viel besser, wenn ich tatsächlich Talent hätte, und überhaupt komme man in der Kunstwelt ohne Talent nicht weiter.

In der Schule hab ich mir für meinen GCSE-Abschluss den Arsch aufgerissen und sie damit schockiert, um wie viel ich mich verbesserte. Tja, stelle sich nur mal einer vor – wenn man sich abrackert, wird man besser. Das hat sie nämlich auch immer gesagt: Irina, du schmeißt immer gleich hin, wenn du nicht sofort gut in einer Sache bist.

Der ganze Scheiß mit Lesley wäre garantiert nicht passiert, wenn ich zu Hause etwas mehr Rückhalt gehabt hätte. Das hat auch mein damaliger Therapeut gesagt. Also, mehr oder weniger.

»Hackney Space ist jedenfalls ’ne große Sache. Das sind gute Neuigkeiten.«

»Na, wenn du das sagst. Deine letzte Ausstellung ist Jahre her. Und ich hab noch nie von dieser Galerie gehört.«

»Ich hab Sammler. Und ich brauche keine Ausstellung, es ist nur … na, es ist nun mal was Großes.«

»So groß kann’s gar nicht sein, wenn ich noch nie davon gehört hab. Und nur weil ich nicht alle komischen kleinen Londoner Galerien kenne, bin ich noch lange nicht dumm.«

»Das hab ich auch nie behauptet. Ich hab nur gesagt, dass es ’ne große Sache ist. Ist es ja auch«, fauche ich. »Was ist dein Problem, Mam?« Ich bin schon wieder auf 180, und sie sitzt einfach bloß da. Unter größter Anstrengung hebt sie eine Braue.

»Welches Problem? Ich freu mich für dich, Schatz. Nimm doch nicht alles gleich so persönlich! Ich hab nur gesagt, dass ich von dieser Galerie noch nie was gehört hab.« Ich schmolle vor mich hin.

Zur Feier des Tages lädt sie mich auf ein neues Outfit ein. Widerwillig nehme ich das Angebot an. Das Leben als ihre Tochter hat mich gelehrt, dass ich käuflich bin. Dafür muss man gar nicht viel ausgeben. Beim Ausverkauf der Westwood-Filiale, die bald dichtmacht, spendiert sie mir ein schwarzes Cocktailkleid, und als sich der Nachmittag dem Ende neigt, strahle ich über alle vier Backen.

Später steige ich eine Haltestelle nach meiner aus und schaue noch bei Tesco vorbei. Mit meiner Westwood-Tasche und dem Korb voller Wein und Tütensalat bin ich sicher ein merkwürdiger Anblick.

Da ist der Neue. Er sitzt an der Kasse und starrt.

Eddie

Kundenbetreuer

Kasse

Seit 2012 im Team.

Er muss neu in dieser Filiale sein. Vielleicht haben sie ihn bisher in Kingston Park oder Clayton Street versteckt.

Zwischen den Schneidezähnen hat er eine Lücke; als er mich anlächelt, blitzt seine Zunge durch. Ein peinlicher Moment. Ich erwidere die Geste, bin aber nicht gut im spontanen Lächeln. Normalerweise brauche ich mehr Vorlauf, einen Taschenspiegel zum Üben.

Er hat schwarze Locken, braune Haut, Sommersprossen. Und einen Ohrring. Ich steh auf solchen Mädchenscheiß. Er ist ein Polyestertraum, ein Kassenstar; der Oscar Isaac unter den Tesco-Jungs. Und er erinnert mich an jemanden, an eins meiner ehemaligen Models.

An Tesco-Eddies Schlüsselanhänger baumelt eine kleine Anime-Figur aus Madoka Magica – worauf Flo total abfährt, wie mir einfällt.

Nur zum Spaß werfe ich ein bisschen phallisches Gemüse in meinen Korb und gehe damit zu ihm an die Kasse. Er sagt Hallo und glotzt mir voll auf die Titten. Kein Augenkontakt, sein Blick springt von Titten über Lippen zu den Tamponschachteln hinter mir. Es folgen ein paar höfliche Floskeln. Offenbar hat er tadellose Manieren, auch wenn er mir alle paar Sekunden wieder auf die Möpse starrt.

Den werde ich als Model klarmachen. Mit dem kann ich bestimmt abgefahrenen Scheiß anstellen – Betamännchen wie er sind normalerweise schamlos. Wenn man keine abkriegt und seine ganze Jugend im Morast der Gratispornos versumpft, endet man wie einer dieser Freaks, die Ahegao-Profilbilder bei Twitter hochladen und deren Browserchronik zu 75 Prozent aus Bukkake-Videos und zu 25 Prozent aus tragischen Suchverläufen besteht.

Woran erkenne ich, dass mich ein Mädchen mag?

Wie flirtet man lässig mit Frauen?

Lasagnerezept für eine Person

Wie fühlt man sich weniger einsam?

Gokkun Schulmädchen

Wie bekommt man Spermaflecke aus dem Teppich?

Mir wird klar, dass er mir eine Frage gestellt hat.

»Ich hab gefragt, ob du in der Nähe wohnst«, wiederholt er.

Gutes Zeichen. Eine Kundin so was zu fragen ist definitiv unangebracht, was heißt, dass er mich interessant genug findet, um ein Risiko einzugehen.

»Sorry«, fügt er noch hinzu, »du kommst mir nur irgendwie bekannt vor.«

»Ich komme ständig hierher. Wohne direkt um die Ecke.«

»Cool. Ich … Ich mag deine Schuhe.«

Hoffentlich hat er keinen Fußfetisch. Vielleicht steht er nur auf Absätze oder große Frauen – oder beides. Ich gebe ihm meine Visitenkarte und fahre mit meinem üblichen Gelaber fort: Bla bla bla Fotografin, bla bla bla Modelscouting.

»Ich kann dich nicht bezahlen, aber falls du Interesse hast, ich suche gerade nach Models. Ich arbeite nämlich an einer neuen Ausstellung. Schon mal was von Hackney Space gehört?«

Hat er. Was mich überrascht, wenn man bedenkt, dass er ungefähr in meinem Alter ist und in einer gottverdammten Tesco-Filiale arbeitet.

***

Als ich nach Hause komme, erwartet mich eine E-Mail von Mr. B – einem der Sammler, denen ich die Vorschaubilder von »Deaniel« geschickt hab. Um genau zu sein, ist er mein bester Kunde. Ich stöhne auf. Die Betreffzeile lautet: Mehr?, und er fragt ausgerechnet nach dem kleinen Rotschopf. Ihm ist aufgefallen, dass die Teaserbilder von meiner Website verschwunden sind. Ich stöhne noch mal.

Mr. B ist eines Tages einfach aufgetaucht. Irgendwie hat er meine private E-Mail-Adresse in die Finger bekommen, und ich hab immer noch nicht raus, wie. Er meldet sich zwar unregelmäßig, ist dann aber äußerst freigiebig. Er kauft Originale und großformatige Drucke. Und er gibt immer Trinkgeld. Je expliziter das Bild, desto tiefer greift er in die Tasche. Er steht auf junge, androgyne Kerle und mag es, wenn ich mit auf den Fotos bin. Es war dumm, davon auszugehen, er würde nicht anbeißen – die Bilder von Deaniel erfüllen alle Kriterien.

B,

was das angeht … Er hat mir einen falschen Ausweis untergejubelt. Hab die Bilder schon von Festplatte und Website gelöscht (auch die hinter der Paywall) ((besonders die hinter der Paywall)). Ich melde mich bald mit neuem Kram bei dir. Sorry.

Übrigens hab ich demnächst eine Ausstellung – Hackney Space. Total aufregend.

Irina x

Seine Antworten folgen immer sofort. Noch ehe ich die Einkäufe verstaut habe, vibriert mein Handy.

Teuerste Irina,

zuallererst, meine Liebe, möchte ich dir gratulieren. Alsdann lass mich gleich dazu übergehen, diese plötzliche Moralität anzuprangern, die dem finstersten Mittelalter zu entspringen scheint. Wir sollten uns mit bedeutenderen Männern umgeben als mit solch kleinkarierten Nörglern in Roben und mit Perücken. Hadrian, Konfuzius, da Vinci. Warum Zeus seinen Ganymed verweigern? Wo der Olymp doch so schwer mit Schätzen beladen ist.

Gott sei’s geklagt, es ist illegal. Ich werde meinen Antinoos beweinen.

Mister B

B,

tut mir leid. Ich schick dir ein paar Goodies. Wie wär’s mit ein paar Outtakes aus meinem experimentellen Webcamshooting mit dem androgynen, dürren Blondschopf von April? Hab seinen Namen vergessen, aber hier als Entschuldigung im Anhang. In Höschen! Supersüß.

Irina x

Teuerste Irina,

deine Liebenswürdigkeit steht deiner Schönheit in nichts nach. Du bist bewandert sowohl in der Kunst der Fotografie wie der Verführung. Vergiss nicht: Mister B ist ein omnivores Geschöpf und erfreut sich an deiner Teilnahme ebenso wie an der der anderen.

Mister B

***

Ich suche zehn Bilder aus. Flo schmuggelt mich abends ins College, wo ich die großen, tollen Drucker benutzen kann. Ich ziehe mir latexfreie Handschuhe an, packe die Fotos ein und schicke sie auf dem Weg zum Bus ab. Per Express mit Sendungsnummer an seine »Kontaktadresse«: einen gewissen Benjamin Barrio in Belmopan, Belize. Beknackt. Üblicherweise zahlt er, sobald er weiß, dass die Sendung unterwegs ist, also schicke ich ihm eine kryptische E-Mail.

Ich sehe mich ein Weilchen um und gebe meine Visitenkarte einem DILF, der mir im Bus ins Auge sticht.

Ansonsten verläuft der Abend ruhig. Ich verschlüssle Deaniels Bilddateien bis zum Gehtnichtmehr und speichere sie in einem ebenfalls verschlüsselten Ordner ab, tief in den Eingeweiden meines Laptops, bei all meinem anderen zwielichtigen Mist.

***