Brainrise - Christian F. Schultze - E-Book

Brainrise E-Book

Christian F. Schultze

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  • Herausgeber: 110th
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

In Madrid entdeckt die Molekularbiologin Dr. Alethea Pardo Calderón eine Formel, wie neuronale Zellen mithilfe genetischer Manipulation regeneriert werden können. Dieser epochale Durchbruch auf dem Gebiet der Biowissenschaften eröffnet ungeahnte Möglichkeiten, die intellektuellen und psychischen Fähigkeiten des Menschen zu verbessern. Schnell gerät sie in die Fänge eines internationalen Pharmakonzerns, vor dem sie mit ihrer Familie nach Kuba flüchtet, wo sie sich mit ihrer Heilsmission besser aufgehoben glaubt. Die chinesisch-amerikanische Topspionin Li Hui erwacht in einer unterirdischen Zisterne aus dem Koma. Sie befreit sich aus ihrem ägyptischen Gewahrsam und trifft den US-Geheimdienstmann Alban Jeremias Redcliff wieder, der sie fortan auf ihrer weiteren Suche nach den "Heiligen Steinen", den zurückgelassenen Kristallspeichern der exterrestrischen Besucher der Atlantiszeit, begleitet. In den USA arbeiten Mitglieder einer Geheimorganisation an der Züchtung genetisch veränderter Humanoiden, den Genorgs. Mit ihnen wollen sie in einem riesigen Weltraumhabitat die Erde verlassen, weil sie überzeugt sind, dass der Untergang der Menschheit wegen einer globalen Umweltkatastrophe kurz bevor steht. Doch die Dinge entwickeln sich anders, als von den Mächtigen geplant und von den Forschern vorausgesehen. Die Erdenbewohner können ihrem Schicksal zwar nicht entrinnen, einige von ihnen bekommen aber eine neue Chance. Der Aufstieg des Bewusstseins kann beginnen.

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BRAINRISE

Realfiction

Impressum:

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-422-8

MOBI ISBN 978-3-95865-423-5

Urheberrechtshinweis:

In Madrid entdeckt die Molekularbiologin Dr. Alethea Pardo Calderón eine Formel, wie neuronale Zellen mithilfe genetischer Manipulation regeneriert werden können. Dieser epochale Durchbruch auf dem Gebiet der Biowissenschaften eröffnet ungeahnte Möglichkeiten, die intellektuellen und psychischen Fähigkeiten des Menschen zu verbessern. Schnell gerät sie in die Fänge eines internationalen Pharmakonzerns, vor dem sie mit ihrer Familie nach Kuba flüchtet, wo sie sich mit ihrer Heilsmission besser aufgehoben glaubt.

Die chinesisch-amerikanische Topspionin Li Hui erwacht in einer unterirdischen Zisterne aus dem Koma. Sie befreit sich aus ihrem ägyptischen Gewahrsam und trifft den US-Geheimdienstmann Alban Jeremias Redcliff wieder, der sie fortan auf ihrer weiteren Suche nach den "Heiligen Steinen", den zurückgelassenen Kristallspeichern der exterrestrischen Besucher der Atlantiszeit, begleitet.

In den USA arbeiten Mitglieder einer Geheimorganisation an der Züchtung genetisch veränderter Humanoiden, den Genorgs. Mit ihnen wollen sie in einem riesigen Weltraumhabitat die Erde verlassen, weil sie überzeugt sind, dass der Untergang der Menschheit wegen einer globalen Umweltkatastrophe kurz bevor steht.

Doch die Dinge entwickeln sich anders, als von den Mächtigen geplant und von den Forschern vorausgesehen. Die Erdenbewohner können ihrem Schicksal zwar nicht entrinnen, einige von ihnen bekommen aber eine neue Chance.

Vorwort

Die Wissenschaftsgemeinde streitet noch, ob die Astrologie von den Sumerern, Babyloniern oder Ägyptern auf uns gekommen ist. Vielleicht stammt sie ja eher von den Atlantern.

Die Astrologen hingegen sind sich in der Anwendung der uralten Einteilung der Menschheitsgeschichte nach der Sternenzeit einig. Dem skeptischen Zeitgenossen sollte auffallen, dass der Gegenbeweis zu dieser Weltsicht derzeit ebenso unmöglich ist, wie der Gottesbeweis oder der des Atheismus. Deshalb hat der Autor sich erlaubt, den Hinweis der Astrologie, dass die Menschheit mit dem Ende der Fischzeit und dem Eintritt in das Zeitalter des Wassermanns am 21. Dezember 2012 eine völlig neue Epoche ihrer Geschichte beginnen wird, in diesem Buch aufzugreifen.

Dennoch glaubt er doch lieber an die – wenn auch ambivalente - Kraft des menschlichen Verstandes. Das Feuermachen hat der Mensch nämlich durch Erkenntnis gelernt, nicht durch Glauben.

Dresden, 1. Juni 2012

Die Endzeit des Fisches

1.

Je nachdem, wie einer die Welt sehen wollte, war es eine Laune des Schicksals oder ein Zufall, dass doctora Carona Alethea Pardo Calderón plötzlich von einer Art Erleuchtung heimgesucht wurde.

Die Molekularbiologien befand sich an diesem Abend des zu Ende gehenden heißen Tages im Monat August nach einem langen Arbeitstag im Labor bereits ein Stück auf dem Nachhauseweg. Nach diesem Geistesblitz, der sie aus heiterem Himmel ereilt hatte, wunderte sie sich geradezu, dass sie nicht schon eher darauf gekommen war. Sie konnte dem Drängen, sich deshalb unverzüglich wieder an die Arbeit zu machen, nicht lange widerstehen

Heute war offenbar ein hervorragend geeigneter Tag, eine nächtliche Extraschicht zu fahren. Denn jetzt wusste sie, dass sie mit ihren Experimenten ganz offensichtlich auf eine heiße Spur gestoßen war. Die Versuchsreihen der letzten zwei Wochen bestätigten unwiderlegbar, dass die Enzymkombination, die sie und ihr kleines Team seit ein paar Tagen verwendeten, tatsächlich geeignet war, Neuronen des Riechzentrums gezielt aus Stammzellen wachsen zu lassen. Wieso war ihr das nicht schon eher aufgefallen? Schließlich hatte es bei siebzig Prozent aller angesetzten Kulturen so funktioniert. Die Dreiundzwanzig, das musste der Schlüssel sein!

Das Phantastische und beinahe Unglaubliche daran war, dass damit die Aussicht zunahm, andere Nervenzellarten ebenfalls zum Wachsen zu bringen. Wenn sich ihre Datenreihen bestätigten, dann war ihnen ein wichtiger Schritt in der Forschung zur Rehabilitation zerstörter Nervenzellen gelungen, der bahnbrechend für die medizinische Behandlung von neuronalen Schädigungen aller Art werden konnte. Sie musste sich das sofort noch einmal ansehen!

Während sie sich auf die Kühle ihrer Wohnung gefreut hatte und gleichzeitig an ihre in der Ferne weilenden Lieben dachte, war ihr mit einem Mal der Gedanke gekommen, dass es vielleicht dumm sein mochte, wenn sie ihre Erkenntnisse über die Wirkung der Enzymscheren ausschließlich für die Gewinnung von RNA-Sequenzen zur Erzeugung von Riechaxonen anwendete. Und scheinbar hatte es mit jener dreiundzwanziger Sequenz, die ihr bei ihren Tests immer wieder begegnet war, etwas Besonderes auf sich. Das war ihr in den Veröffentlichungen dieses Tom Tuschels von der New-Yorker Rockefeller-University gleichfalls sofort aufgefallen. Diese Zahl hatte bei den Experimenten der Deutschen und der Amerikaner zur Separierung bestimmter RNA-Basen stets eine Rolle gespielt. Hatte sie bei deren Versuchsreihen am Axolotl, den Bärtierchen und den Seehasen etwa auch etwas bedeutet? Das mussten sie schnellstens überprüfen!

Wo bekam sie also solche Wirbellosen, solche Lärvchen her und was kosteten sie? Konnte sie im World Wide Web etwas darüber finden und wer waren außer Tuschel noch die derzeit Führenden auf diesem Gebiet? Diesen Abend ohne Familie konnte sie wunderbar dazu nutzen, im Internet zu recherchieren und zu sehen, wo und wie man ein paar Prototypen dieser Niedrigzeller bestellen konnte. Gleich morgen früh würde sie dem Chef ihre Entdeckung kundtun und ihn überreden, alles in dieser vielversprechenden Richtung zu unternehmen.

Juan, ihr Mann war noch auf dieser Literaturmesse in Deutschland und würde vor Freitag nicht zurückkommen. Und Oneca, ihre einzige Tochter, würde wohl erst zum Weihnachtsfest wieder in Madrid auftauchen. In der in diesen Sommermonaten furchtbar heißen und staubigen Hauptstadt ihres Heimatlandes gefiel es der jungen Oberschülerin nicht mehr. Im Internat der katholischen Mädchenschule und überhaupt in Barcelona fühlte sie sich angeblich viel besser aufgehoben. Allerdings rief sie mindestens dreimal in der Woche an, um die Eltern zu bedrängen, ihren Wohnsitz doch ebenfalls in die katalanische Mittelmeerstadt zu verlegen. Der schriftstellernde Vater wäre gern dorthin zur geliebten Tochter gezogen, aber sie, Carona Alethea, fühlte sich wohl in ihrer Heimatstadt und außerdem an ihr Institut gebunden. In dieser erfolgreichen Phase ihrer Forschungen konnte sie auf gar keinen Fall von Madrid wegziehen. Sie hatte Juan inständig gebeten, bei ihr zu bleiben und sie nicht zur Pendlerin zwischen diesen beiden Städten zu machen, was er ihr, zwar widerwillig, aber doch einsichtig, auch versprochen hatte.

Als sie kehrt gemacht, die wenigen dutzend Meter bis zum verschlossenen Eingangstor des Institutes zurückgelaufen, dieses aufgeschlossen und auf den Kiespfad zu ihrem im hinteren Teil des sorgfältig gepflegten Parkgeländes gelegenen Laborgebäudes eingeschlagen hatte, entdeckte sie plötzlich, dass in ihren Forschungsräumen in der zweiten Etage Licht brannte. Hatte sie vergessen, das Licht zu löschen? Sie war kurz vor Beginn der Dämmerung aufgebrochen! Es war in der hellen Jahreszeit einmal vorgekommen, dass sie, als sie ungewohnt früh die Labors verlassen hatte, weil eine Familienfeier anstand, vergessen hatte, das Licht auszuknipsen. Aber heute, da war sie sich sicher, war ihr das keinesfalls passiert. Was ging dann da oben vor? Sie pirschte sich vorsichtig an das Gebäude heran und tippte die Kombination für die Eingangstür ein. Dann legte sie ihre Hand auf die matte Glasfläche. Die schwere Stahltür glitt fast geräuschlos zur Seite. Sie machte kein Licht im Flur und tastete sich im Dunkeln zur Treppe. Sie schlich den Treppenflur hinauf, anstatt den Aufzug zu benutzen, immer wieder kurz inne haltend und lauschend, ob sie auffällige Geräusche von oben hören konnte. Aber alles war still. Dann stand sie vor der Eingangstür zu den Räumen ihres Laboratoriums. Sie drückte vorsichtig die Klinke herunter und versuchte, die Tür zu öffnen, doch diese war verschlossen. Die Frau steckte den Sicherheitsschlüssel in das Spezialschloss. Er ließ sich nicht drehen. Von innen war die Sicherung eingeschaltet.

Dr. Pardo legte ihr Ohr an die schwere Tür und lauschte längere Zeit. Aus den Innenräumen war nichts zu hören. Es musste aber jemand drin sein und sie hatte das Licht ausgeschaltet, dessen war sie sich jetzt gewiss! Sie stieg einige Stufen des nächsten Treppenabsatzes hinauf, kauerte sich auf der hinteren Seite des dunklen Aufgangs in eine Ecke und wartete. Die Frau musste, nachdem sie mindestens eine Stunde in dieser unbequemen Haltung ausgeharrt hatte, schließlich doch eingeschlafen sein, denn sie brauchte einen Augenblick, um sich zu fangen, als das Flurlicht aufflammte und sie die Türgeräusche hörte. Vorsichtig schaute sie in das Treppenhaus hinunter und war nicht wenig erstaunt, ihre Assistentin, Dr. Nalda Baroja Alemán zusammen mit ihrem Chef, Professor Fernán Carrasco Cela, dem Eigner des kleinen, aber feinen Madrider Biotech-Institutes Célula Nueva Inc., herauskommen und leise vertraut miteinander tuschelnd die Treppen hinuntergehen zu sehen. Als die Türen mit einem leicht saugenden Geräusch eingeschnappt waren, erlosch alsbald das Licht. Leider konnte sie nichts von dem fast unhörbar geführten Dialog verstehen. Dr. Pardo sah auf ihre schwach fluoreszierende Armbanduhr. Mittlerweile war es beinahe Mitternacht geworden.

Die Molekularbiologin wartete, bis sie auch die sanften Schließgeräusche der schweren Eingangstür gehört hatte. Dann schlich sie sich, ohne das Flurlicht anzuschalten, zur Tür ihres Laborkomplexes, schloss diese auf und suchte an der Wand eine der angehängten Taschenlampen, die mit anderen Sicherheitsausrüstungen dort angebracht waren. Die batteriegetriebene, faustgroße Lichtquelle hatte leider nur noch wenig Strom und gab lediglich einen matten Schein von sich. Dies war der Wissenschaftlerin gerade Recht. Sie führte den gelben Lichtkegel über ihren Schreibtisch und schaltete dann ihren Computer an. Während des Sicherheitschecks konnte sie nichts Ungewöhnliches entdecken. Deshalb entschloss sie sich, hinüber zu den gesicherten Laborräumen zu gehen. Dafür musste sie allerdings ihren Schutzanzug überziehen, um dann durch die Schleuse in den besonderen Unterdruckbereich der Experimentierstation zu gelangen. In dem vom Fußboden bis zur Decke weiß gefliesten Umkleideraum bemerkte sie einen Overall, der zusätzlich in den Schrank gehängt worden war und der ihrem Chef passen konnte. Sie waren also im Allerheiligsten gewesen!

Dr. Pardo betätigte den Schleusenmechanismus, wechselte hinüber in die sterilen, geschützten Räume und sah sich um, so gut es der Schein der erbärmlichen Funzel zuließ. Nach einiger Zeit entdeckte sie, dass am anderen Ende der Regale hinter ihren Zellkulturen eine neue Reihe von acht Reagenzschalen eingeordnet war, deren Aufschriften sie in dem diffusen Licht nur schwer zu entziffern vermochte. Wie konnten sie es wagen, in „ihrem“ Labor herumzupfuschen!? Doch dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Sie hatten Hybride ihrer Kulturen angesetzt und sie ahnte, warum. Das Herz klopfte ihr vor Wut und Empörung bis zum Halse. Sie würde Professor Carrasco gleich morgen früh zur Rede stellen. Mit der Recherche zur Neuronenforschung und entsprechenden Lieferanten für Aplysia und Axolotl wurde es heute nichts. Sie hatte nun ein völlig neues Problem.

Dr. Pardo verwischte die Spuren ihres nächtlichen Besuches, so gut sie es verstand, passierte erneut die Schleuse, entkeimte den Schutzanzug in der vorgeschriebenen Prozedur und zog sich an. Dann eilte sie, immer noch im Dunkeln, durch das stille Haus und den kleinen Park bis zur Straße. Als sie die Seitentür des Haupteinganges betätigte, sandte sie ein Stoßgebet zu Mutter Maria und hoffte inständig, dass sie niemand, vor allem nicht Professor Carrasco, bei ihrer nächtlichen Detektivarbeit beobachtet hatte.

Am folgenden Morgen stürmte sie, wie sie es sich vorgenommen hatte, ins vornehme und teure Office ihres Chefs Professor Doktor rer. nat. Fernán Carrasco, den vielleicht renommiertesten Biochemiker ihres Landes; wutschnaubend vorbei an seiner attraktiven, hünenhaften, blonden Vorzimmerdame. Dabei warf sie die Türen, soweit diese nicht gedämpft waren, möglichst demonstrativ ins Schloss.

Carrasco blickte überrascht, aber keineswegs besonders irritiert auf, so als hätte er kommen sehen, was jetzt stattfinden würde. Er lehnte sich leger in seinem schwingenden Lederchefsessel zurück, streckte seine langen, dürren, in schlotterigen Hosen steckenden, Beine demonstrativ unter den chromverzierten Schreibtisch, verschränkte die Arme hinter seinem langen Schädel und musterte Dr. Pardo, aus seinen dunkelgrauen, müde wirkenden Augen, ohne eine Regung erkennen zu lassen. Er gab der Sekretärin, die der Molekularbiologin hinterher geeilt war und nun unschlüssig neben ihr in der noch offen Tür stand, mit der Hand einen leisen Wink, diese zu schließen und sie beide allein zu lassen.

„Haben Sie gedacht, dass ich es nicht bemerken würde? Glauben Sie, dass man so etwas mit mir machen kann?“, legte Dr. Pardo los, ihre kurzgeschnittenen, schwarzen Haare wütend umherschüttelnd. Ihre dunklen Augen funkelten kampfeslustig.

Professor Carrasco konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Tapfere kleine Kämpferin, dachte er. Sie wiegt vielleicht gerade mal hundert Pfund und ist nicht mal einssechzig groß. Aber sie ist wunderbar, wenn sie wütend ist. Und sie ist temperamentvoll, wie es eine echte Spanierin sein sollte. Wahrscheinlich weiß sie nicht einmal, wie hübsch sie ist mit ihren neununddreißig Jahren. Er wusste alles über sie, über ihre Herkunft und ihre Familie. Er kannte ihren Vater aus der Studienzeit.

„Was erdreisten Sie sich? Was führt Sie auf diese Weise hier herein?“, fauchte er sie dennoch heftig an. Er hatte etwas Mühe, wirkliche Empörung zu heucheln. Eigentlich hätte er sie lieber getröstet und sich damit selber beruhigt, wegen der voraussehbaren, unvermeidlichen und nahezu tragischen Entwicklungen, die sie beide alsbald ereilen würden.

„Sie haben letzte Nacht in meinem Labor herumgepfuscht. Sie sind im Sicherheitsbereich gewesen mit dieser Alemán, und haben in unverantwortlicher Weise neue Kulturen angesetzt, für die ich nicht gerade stehen möchte“, schrie sie ihn weiter an.

„In Ihrem Labor war ich? Wieso nehmen Sie an, dass das Ihr Labor ist?“, konterte der Professor mit gedämpfter Stimme, beinahe lachend vor Vergnügen, aber nun auch mit hartem, mitleidlosem Blick aus seinen sich jäh verengenden Augen.

„Was haben Sie mit dieser Nalda, der Baroja doctora Alemán? Sie hat doch sowieso alles nur von mir! Sie weiß doch sonst gar nichts!“

Der Professor geriet in Stimmung. Diese wunderbare, ausdauernde und strebsame Enddreißigerin brachte ihn in Schwung. Er musste nur achtgeben, dass sie nicht anfing, ihm Leid zu tun. „Sie ist einiges jünger als Sie, Calderón“, sagte er. „Und sie bläst mir einen, wenn ich sie darum bitte. Das könnten Sie, ihren Umständen nach, nie tun. Außerdem ist sie keineswegs dumm, wie Sie wissen“, fügte er hinzu. Sein schmales, furchenreiches Gesicht blieb dabei abgespannt und fahl, obwohl er sonst gut gebräunt war. Und mit seinen fast sechzig Jahren fühlte er sich in diesem Moment älter, als er war.

„Das können Sie nicht machen!“, schrie Dr. Pardo Calderón wie von Sinnen. „Das ist mein Wissen! Das ist mein Schweiß! Das ist mein geistiges Eigentum.“ Die Kraft ihrer Stimme hatte abgenommen, weil ihr, während sie es sagte, plötzlich bewusst wurde, wie die Rechtsverhältnisse, schlimmer noch, wie die Machtverhältnisse lagen. Der Professor hatte es gerade ausgesprochen.

„Meine liebe doctora Pardo“, setzte er nach, „meine verehrte Alethea. Sie sind eine entzückende Frau und hervorragende Molekularbiologin. Und Sie haben meinen aufrichtigen Respekt. Aber was Sie hier in meinen Labors, in meinem Institut machen, gehört Ihnen keineswegs allein. Sie wissen, was Arbeitnehmererfindungen sind!?“, setzte er sarkastisch hinzu.

„Das ist es doch gar nicht, worum es geht, und Sie wissen das. Sie wissen genau, was ich meine“, sagte sie. Ihre Stimme klang jetzt deutlich matter.

„Richtig“, erwiderte ihr Chef, „im Gegensatz zu Ihnen weiß ich genau, was wirklich los ist. Es geht zum Beispiel um mein kleines, bislang unbedeutendes, hochspezialisiertes Institut, das kurz vor dem Zusammenbruch steht. Aber vor allem geht es um mich.“

Und er dachte an seine kranke, sterbend im Hospital dahinsiechende Frau, mit der er vormals schöne Zeiten erlebt hatte und mit der ihn schon viele Jahre, eher Jahrzehnte, keinerlei Liebe mehr verband. Und plötzlich, wegen dieses unerfreulichen Gedankens, brach es aus ihm heraus. „Da ist doch jede karrieregeile Nutte vom Typ doctora Nalda Baroja Alemán zehnmal besser als irgendwer! Die bemüht sich wenigstens, lieb zu sein und bildet sich nicht ein, die ganze Welt retten zu müssen!“ Zuletzt hatte auch er beinahe geschrien.

„Wissen Sie überhaupt, was Sie damit sagen? Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Ihnen ein Orgasmus wichtiger und es für sie befriedigender ist, wenn Ihnen die Alemán den Hintern leckt? Wir machen hier gerade Dinge, die Millionen Leben verbessern könnten! Das beschissene Leben armer, leidender Menschen, die gegenwärtig kaum irgendeine Hoffnung haben.“

„Was wissen Sie über Hoffnung?“, fragte Carrasco trocken und böse. „Vielleicht hoffen Sie eher, berühmt zu werden und den Nobelpreis zu kriegen! Vielleicht geht es Ihnen in Wirklichkeit auch um Geld. Das möchte ich Ihnen eigentlich gar nicht unterstellen, obwohl es wenigstens ein verständliches Argument wäre. Aber es nützt nichts. Sie haben die Reihen in meinem Labor gefahren. Und damit Sie mir nicht mit den Formeln und Kulturen abhauen, habe ich Alemán befohlen, die Hybriden anzusetzen. Wenn wir die patentiert haben, kommt niemand mehr an uns vorbei.“

„Na wunderbar“, erwiderte Dr. Pardo, nun wieder einigermaßen gefasst, „wir patentieren das, was wir der Natur abgeguckt haben, weil wir die Ausbildung und die Instrumente dazu haben. Wir werden noch Ahornblätter für uns patentieren lassen.“ Die feinen, gepressten Ahornblätter des Herbariums ihrer Tochter waren ihr als erstes, völlig unpassendes Beispiel eingefallen. Sie bemerkte zu spät, dass sie zum Zwecke der Darstellung ihres Gedankens denkbar ungeeignet waren.

„Mit Ihrem unverbesserlichen Altruismus könnten Sie nicht einmal solch ein kleines, feines Institut, wie meines, am Leben erhalten“, erwiderte Carrasco spöttisch. „Ich habe schon so viele Jahre an derartigen Problemen gearbeitet, wissen Sie. Viel länger als Sie. Ich war schon beim Diabetes mellitus-Projekt dabei. Dann hat dieser Egomane von Serejanow seinen Patentanspruch durchgesetzt, sich anschließend dumm und dämlich verdient und zu allem Überfluss sogar noch den Preis bekommen. Und ich, ich konnte nicht mal meine Frau retten! Deshalb sehe ich sie wahrscheinlich jetzt auch noch sterben. Und nun deutet sich hier der entscheidende Coup für uns an und Sie begreifen es nicht einmal.“ Er wischte sich mit seiner rechten Hand über das schlaffe, nun ein wenig gerötete Gesicht und sah sie jetzt beinahe feindselig an.

„Man kann sich mit diesem von den Amerikanern verbogenen Patentwesen nicht über alle Menschenwürde hinwegsetzen. Sie wissen, was es für Konsequenzen hätte, el profesor. Es ist völliger Wahnsinn! Wir entdecken zufällig eine Formel, die die Natur seit Millionen Jahren verwendet, und lassen sie uns dann patentieren. Wir entdecken ein Heilverfahren und sagen, es wäre unsere Erfindung. Wir kopieren einen Vorgang des Lebens im unendlichen Universum und belegen ihn mit Juristerei. Wenn das richtig wäre, müssten wir noch Milliarden Patente weltweit anmelden. Das können doch auch Sie nicht wollen!“

„Wissen Sie, was ich will, Calderón? Wissen Sie, was ich wirklich noch will?! Ich möchte die zehn, fünfzehn Jahre, die mir vielleicht noch bleiben, ohne Sorgen und Stress diese fabelhafte Welt genießen und meine Ruhe haben. In diesem unendlichen und unergründlichen Kosmos reicht mir eine schöne Ecke unseres Globus, dieser wunderbaren, verdammten Erde, vollkommen aus. Ich müsste mich zukünftig weder mit meinem unterfinanzierten Institut und der ganzen gnadenlosen Konkurrenz herumschlagen, noch mit Ihnen. Ich könnte mich den Schönheiten dieses vergänglichen Sonnentrabanten und seiner Bewohnerinnen widmen, mich jeden Tag besaufen und mir von Alemán den Arsch lecken lassen, wie sie es auszudrücken belieben. Wissen sie, wie lange ich auf solch einen Erfolg gewartet habe?“ Eigentlich hatte er mit der Vulgärsprache angefangen, doch das war ihm im Moment entfallen.

„Aber es muss doch ein wenig mehr geblieben sein von Ihren Idealen“, sagte Dr. Pardo resignierend. „Ein bisschen Hingabe für die eigene Art. Sie haben doch früher mehr gewollt.“

„Ha, die eigene Spezies! Das werden sie schon auch noch lernen! Warten sie mal ab,“ rief der Professor, nun tatsächlich aufgebracht. „Diese lächerliche Selbstmörderbande!“

Dr. Pardo erkannte mit einem Mal die ganze Verbitterung dieses Mannes, dem es vermutlich zu lange Zeit an jeglicher Liebe gefehlt hatte.

„Ich werde es nicht hinnehmen“, sagte sie. „Und ich teile Ihre Weltsicht überhaupt nicht.“

„Wissen Sie was, Pardo“, er nannte sie absichtlich Pardo, ohne den Doktor voranzustellen, um womöglich bissiger zu wirken, „es tut mir aufrichtig Leid, dass Sie überhaupt nichts begreifen. Sie sind eine Idiotin! Sagt man das bei einer Frau? Sie sind gefeuert! Sie dürfen ab sofort nicht mehr in mein Institut herein! Fahren sie zur Hölle!“ Er hatte den letzten Satz ausgesprochen, ohne seine Stimme zu erheben.

Hätte sie jetzt eine Feuerwaffe gehabt, hätte sie ihn erschossen, so gewaltig fuhren in ihr mit einem Mal die schlimmsten Hassgefühle hoch. Und sie wusste gleichzeitig, dass es gar nichts gebracht hätte. Und eigentlich konnte sie ihn immer noch ganz gut leiden. Irgendwie verstand sie ihn sogar. Es war nämlich wie immer ungewiss, ob ein neues gentechnisches Heilverfahren tatsächlich geeignet war, die Welt, exakter, die Bewohner dieser Erde – oder wenigstens allerhöchstens Bruchteile von ihnen - retten zu können. Oft genug war solch ein Schuss auch nach hinten losgegangen! Die Welt war nämlich so, wie sie war und nicht, wie sie sie sich vorstellte. Und schon gar nicht, wie sie sie sich wünschte!

2.

Er lag ganz entspannt und von besseren Zeiten träumend im heißen Wasser seiner großen Badewanne. Das waren die wenigen Augenblicke von Freiheit und Komfort, die man sich hier, bei Höhe 242, an die er kürzlich verfrachtet worden war, ohne unliebsame Störungen gönnen konnte. Wie früher, als sie noch Kinder waren, konnte man, wenn man nicht zu faul für die Vorbereitungen war, freitags in dieser Banja, so lange man wollte, das hieß, so lange die Glut im Badeofen anhielt und es einigermaßen warm blieb in dieser sibirischen Kälte und Trockenheit, langgestreckt in der alten, aber riesigen Emaillewanne liegen und sich den Frust der verflossenen Tage aus dem Leib saugen lassen.

Aus seinem Weltempfänger schallte ein Konzert des Deutschlandfunk Kultur. Der Empfang schwankte ein wenig, aber die Kurzwellensender, die ihre Modulationen rund um den Erdball senden konnten, waren in den letzten Jahren wesentlich leistungsfähiger geworden. So konnten sie sogar hier hinter dem Ural alle möglichen Rundfunksender dieser Welt hören. Die russischen Privatsender brachten zumeist nur Folklore oder billige Unterhaltungsmusik. Das war nicht nach seinem Geschmack.

Überhaupt, was war übrig geblieben von der Höhe der Kultur, auf der sie einst, vor der totalen Kapitalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, gestanden hatten? Immerhin - Radiohören mit Weltempfängern hatten sie nicht untersagt. Eigentlich waren sie sowieso nicht dumm. Das konnte man nicht behaupten. Sie durften hier alle Informationen dieses Globus ziehen. Sie hatten unbegrenzt zu essen und zu trinken, sie konnten, wenn sie wollten, alle Zeitungen und Bücher dieser Welt bestellen. Sie konnten auch Internet empfangen. Er bekam französischen Kognak oder Wodka, wenn er Appetit darauf hatte. Er hätte sich jeden Tag sinnlos besaufen können.

Nein, dann wären sie wohl doch gekommen und hätten mit ihm gesprochen. Es fehlte ihm wie seinen Kollegen also nichts an Gütern des täglichen Bedarfs. Aber sie konnten, seit sie hier waren, nur mit den Leuten des Camps reden und verkehren. Das waren natürlich keine blöden Typen, das waren wahrscheinlich die Spitzen der russischen Wissenschaftsgemeinde, Physiker, Mathematiker, Chemiker, Biologen, Astronomen, alles gute Leute.

Es gab nur einen einzigen Mangel. Er war vielleicht kaum der Rede wert, so gut, wie es ihnen hier ging. Aber am Ende war es doch eine riesige Schweinerei. Denn sie durften nach außen nicht kommunizieren! Mit niemandem. Weder mit der Familie, wenn jemand eine hatte, noch mit Freuden. Auch nicht mit Wissenschaftskollegen in der Welt nicht, egal, wo sie lebten und arbeiteten. Nicht einmal mit denen vom nur hundert Kilometer entfernten zweiten Camp an Höhe 242, von denen sie nicht wussten, was die dort machten.

Man munkelte, sie würden an einem Superbeschleuniger vom Kaliber Large Hadron Collider basteln, wie er in Genf vor zwei Jahren in Betrieb gegangen war. Doch sie erfuhren nichts Genaues darüber. Ansonsten durften sie sich alle Informationen beschaffen. Doch im Grunde waren sie Gefangene. Das Geld, das man ihnen gab, nutzte ihnen daher wenig. Ihr Projekt hatte die allerhöchste Geheimhaltungsstufe. Es sollte nichts nach draußen, vor allem nichts in die westliche Welt, dringen.

Die Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen, waren gering. Sie kriegten einen überall auf der Welt. Sollte es jemals einem gelingen, hier herauszukommen und bis in eine der Städte jenseits des Gebirges zu gelangen, westlich dieser willkürlich festgelegten Grenze der beiden Kontinente ihrer eurasischen Zentralplatte, würden die Spezialeinheiten des Inlandgeheimdienstes ihn garantiert dort fangen. In dieser Hinsicht waren sie perfekt. Bis ins Ausland kämen sie erst gar nicht! Aber wie konnte sich die Medwedjew-Administration einbilden, dass auf diese Weise bei ihrer Arbeit etwas Vernünftiges herauskäme?

Er stieg aus der Wanne und legte noch mal einige dicke Birkenblöcke in den Badeofen. Das Feuer roch zart würzig nach Uralbirke. Auf dem kalten Fliesenboden entstanden kleine Pfützen vom Wasser, das von seinem Körper heruntergelaufen war, als er sich zum Ofenloch gebeugt hatte. Er ließ etwas heißes Wasser aus dem Boiler nachfließen und legte sich wieder genüsslich in seiner Wanne zurecht.

Langsam rann der kühle Kognak aus dem großen Schwenker seine Kehle hinunter. Die Kerzen, die er angezündet hatte, flackerten in dem leichten Lufthauch, der durch seine Bewegungen entstand. Er hätte auch zu den anderen in die Sauna gehen können, die knapp zweihundert Meter von seinem Hüttchen hier hügelaufwärts. Dort hätte er vielleicht Alex oder Anja getroffen. In der Sauna war es stets schön heiß. Doch es gab nur kalte Duschen und er stand nicht besonders auf Schneebaden oder Eisschwimmen und solche extremen sibirischen Sachen. Da legte er sich lieber für eine blaue Stunde in „seine“ Wanne, ließ sich vom mit Tannennadel-Badelotion versetzten Wasser auslaugen, ließ seine manchmal traurigen, manchmal bösen Gedankenbündel in dieses Kolloid strömen und hörte dabei "seine" Musik.

Der letzte Satz vom dritten Klavierkonzert Rachmaninovs lief gerade. Ja, der ging gerade noch, obwohl der manchmal zuviel Menge Krach in seine Musik legte, wie alle die neueren Komponisten. Am Ende hatte alles andere keinen Zweck, man musste Bach oder Mozart hören, wenn man rauskommen wollte aus dieser verdammten dreidimensionalen Zeitdeterminiertheit. Von Bach war er freilich ein bisschen weggekommen. Dessen protestantische Frömmigkeit störte ihn zunehmend, obwohl seine Musik ohne Zweifel auch tief rein ging. Aber warum musste der alles so streng und fromm machen, alles so fügen? Er hörte deswegen fast nur noch dessen Oboen- oder Orgelmusiken gern. Und immer wieder die Goldbach-Variationen, gab er sich zu.

Dann der Beethoven! Der war wohl der einzige wirkliche Revolutionär gewesen unter ihnen, vielleicht auch noch Schumann zu Beginn seiner Laufbahn. Aber dann hatte der sich als kleinkarierter Spießer erwiesen. Wie der seine Klara behandelt hatte! OK, man konnte nicht immer nur Mozart hören. Und wenn man dessen oder dessen Vaters Briefe an den Erzherzog las, wurde einem sowieso richtig gehend schlecht. Wusste der Fürst, dass die Mozarts Freimaurer waren? Hatte man Wolfgang Amadeus nach dem pompösen Totenamt im Stephansdom deshalb anonym in einem Armengrab verscharrt? Beethoven dagegen war irgendwie ein richtiger Revoluzzer gewesen – sein Streichquartett in B-moll, Die Große Fuge! Vielleicht auch deshalb, weil sie sein Gehör verpfuscht hatten!

Aber wenn er dann wieder Mozarts Musik hörte, glaubte er nicht, dass der einen untertänigen Geist gehabt haben könnte. Der hatte doch regelrechte Schlager gegen das Establishment geschrieben! Manche seiner Melodien waren geradezu Gassenhauer geworden. Aber sie waren dennoch von solcher Tiefe, von solcher Genialität, wahrhaft kosmisch!

Sowas hatten nur noch diese trivialen italienischen Opern an sich! Wenn er seinen Operntag hatte, ließ er laut La Traviata oder Nabucco oder eben Fidelio auf seiner Anlage röhren. Wagner manchmal auch, selbstredend. Der hatte sogar auf den Barrikaden von 1849 für eine Republik, frei von adeliger Vormundschaft, gekämpft, zusammen mit Semper und Röckel. Rienzi und der Fliegende Holländer!

Mein Gott, wenn er daran dachte, an seine Zeit in Dresden, als er mit Caroline, der rothaarigen, hochgewachsenen Engländerin, fast jede Woche einmal in der Semperoper oder in der neu errichteten Frauenkirche gewesen war. Damals hatte er gar nicht gewusst, welch herrliche Zeit er durchlebte während seines Studiums an der Technischen Universität. Gut, er hatte sich nicht ganz wohlgefühlt mit seinem Zusatzauftrag, der ihm das Geld brachte, das er mit Caroline wieder ausgab. Er war sowieso erstaunt gewesen, wie stabil die Verbindungen, die Putin vor Jahrzehnten aufgebaut hatte, auch nach der Jahrtausendwende immer noch waren. Caroline war das ganze Gegenteil einer kühlen Engländerin gewesen. Nach außen hin, ja, da wurde sie dem Klischee gerecht. Aber sobald sie allein miteinander waren...

Nein er wollte nicht schon wieder ins Higgsfeld! Er war sich sicher, dass sie hier in Wahrheit eine Variante des Higgsfeldes suchen sollten. Etwas anderes konnten diese nonlokalen Informationsgitter, hinter denen sie her waren, eigentlich nicht sein. Alle Welt suchte derzeit nach dem Higgsfeld, das noch niemand experimentell hatte nachweisen können. Oder dem Higgsteilchen oder nach etwas, das alles, was ihnen in den letzten Jahrzehnten weggeschwommen war, erklären konnte. Zum Beispiel, woher die Musik in die Gehirne dieser Genies gelangt war. Oder die Gedichte und die Gemälde. Und die Märchen. Ja, klar, ebenso die Horrorfilme.

Je mehr sie nach Stephen Hawking in diese Stringwelt eingestiegen waren, desto unwahrscheinlicher war alles geworden. Und nun noch die Neuroforscher oder seine speziellen Freunde, die Psychoanalytiker. War es ebenfalls das Higgsteilchen, das sie suchten? Oder waren diese morphogenetischen Felder, war diese Harmopathie, von denen ein paar Kollegen behaupteten, dass sie sie empirisch belegen könnten, mehrere ineinander liegende, oszillierende Strukturen, die schon alles, die gesamte kosmische Information, enthielten? Manche waren schon für weniger Spinnerei in der Klapsmühle gelandet! Und sie hier kamen damit zurzeit ja auch einfach nicht weiter! Das mussten sie aber! Die Oberen wollten Ergebnisse! Sie nahmen derlei umherschwirrende Hypothesen neuerdings ernst und wurden ganz unruhig dabei!

Er würde mal wieder die Neunte von Beethoven, diesem Optimisten, einlegen müssen! Vielleicht fiele ihm dabei was ein. „Alle Menschen werden Brüder...“ Das war von Schiller. Merkwürdig, dass Goethe, der Realist, den später so unterstützt hatte. „Die Räuber“, „Kabale und Liebe“, und „Don Carlos“ und solche Sachen. Immer diese Kabalen. War schon mutig gewesen für die damalige Zeit. Und der Herr Geheimrat hatte es wahrscheinlich geahnt. Erst hatte er ihn ausbremsen wollen! Fünf Jahre lang. Aber Schiller war dem Weltgenius, der höheren Moral oder der reinen Kunst oder wie immer einer sowas nennen wollte, wohl schneller näher gekommen, als der gefeierte Dichterfürst. Da nützten dessen ganze humanistische Weltbildung und all sein realistischer Sinn nichts. Besonders, wenn die Liebe zuschlug. Liebe, Moral, woher kam das? Und Unmoral? Schiller hatte zeitig in der höchsten Liga gespielt. Wie Mozart.

Jetzt lief das Larghetto aus diesem 27. Klavierkonzert, seinem letzten. Das war unübertrefflich. Und der Kerl, das „Wolferl“, ist nur sechsunddreißig Jahre alt geworden, dachte er melancholisch. Der schrieb in einer Nacht eine unsterbliche Musik, wozu Heutige ein Jahr brauchen. Quatsch, sie schreiben ein Jahr dran, und dann ist es doch nichts, obwohl niemand eingestehen will, dass es nichts ist, am allerwenigsten unsterblich. Joannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart, so hieß er komplett, das kam seinem Genie einigermaßen nahe. Dieses Larghetto war schlicht überirdisch, einfach direkt am Wahnsinn. Genie und Wahnsinn!

Sie hatten im Team lange darüber nachgedacht, was Musik eigentlich sei. Es war natürlich völliger Blödsinn gewesen, das analysieren zu wollen, das fanden auch die meisten der Kollegen. Es blieb ein vollkommenes Rätsel: wieso empfand man manche Musik so schön, so herrlich, so göttlich? Andere dagegen nicht! Oder waren die wenigen, die diese neue Musik machten, weiter als der Rest, der sich auf bereits Gängiges, Ein-Gängiges, verständigt hatte? War nur unsere Empfangswelt veraltet?

OK, dieses letzte Klavierkonzert von ihm war schon fast seine Zauberflöte, deshalb erreichte es diese Reife. War Mozart ein Savant gewesen, ein hochbegabter Autist mit außergewöhnlichen Fähigkeiten? Milos Formans Film „Amadeus" flitterte durch seinen Sinn. Wenn sie herauskriegten, wie Musik imaginiert wurde, wären sie ein ganzes Stück weiter. Es hatte gerne gevögelt, das Wolferl. Seine Constanze hatte offenbar was vom Leben verstanden, trotz Syphilis, Streptokokken, Quecksilber oder die angebliche Vergiftung; was auch immer die beiden zeitlebens gequält haben mochte. Hätte er es ohne Syphilis hingekriegt? Syphilis veränderte das Gehirn schwerwiegend, das stand fest! Auch das Bewusstsein – in Richtung Genie? Oder Wahnsinn!

Die beiden hatten es offenbar geschafft, ihr Leben trotz der fürchterlichen Indolenz ihrer Zeitgenossen frohsinnig auf die wenigen gemeinsamen Jahre zu komprimieren, die ihnen gegönnt gewesen waren. Und wie herablassend und perfide die Oberen ihn und seine Familie behandelt hatten! Er musste es aber doch irgendwoher gehabt haben! Es konnte nicht einfach so in seinem Kopf entstanden sein! Andererseits Einstein... Wahrscheinlich benötigten sie hier im Camp dringend so einen Typen wie diesen deutschen Juden, um das Bild von der Welt, auf das sie sich derzeit geeinigt hatten, wieder einmal umstoßen zu können.

Vadim Nikolajewitsch Korylenkov wäre mit dem nun laufenden dritten Satz dieser übermenschlichen Mozartschen Klaviermusik um ein Haar träumend eingeschlafen, wenn nicht sein Badewasser ausgekühlt und das Feuer im Badeofen verglüht wäre. Und wenn der deutsche Kultursender nicht plötzlich seine Musiksendung unterbrochen hätte.

„Meine Damen und Herren, wir unterbrechen jetzt unsere laufende Musiksendung wegen einer aktuellen Meldung. Die Übertragung wird anschließend fortgesetzt.“ Korylenkov liebte die deutsche Sprache. Er glaubte, dass keine andere Sprache diese an Nüchternheit und fehlender Dramatik übertreffen konnte. Deshalb war sie so für wissenschaftliche Abhandlungen geeignet, und für Philosophie. Dagegen war die russische Sprache einfach zu arm und die englische, obzwar unvergleichlich begriffsreicher, zu unbestimmt, zu deutbar. Jetzt wurde er vollends in den Bann der laufenden Meldung gezogen.

„Wie der arabische Nachrichtensender Al Dschasira meldet, haben russische oder israelische Kommadoeinheiten in der vorvergangenen Nacht versucht, die Kaaba in Mekka während des laufenden Hadsch zu stürmen und den heiligen Schrein zu attackieren. Sie wurden von saudischen Sicherheitskräften zurückgeschlagen. Was dieser Vorfall für internationale Konsequenzen nach sich ziehen wird, ist noch völlig unklar. Experten gehen davon aus, dass die weltweite Umma ihren Guerillakampf gegen den Westen intensivieren und zum heiligen Krieg gegen Israel aufrufen wird.“

Korylenkov fuhr zusammen und sprang dann fast aus seiner Wanne. Dabei stieß er sowohl den Schwenker mit dem französischen Kognak als auch eine der Kerzen um, deren Licht in der Pfütze aus Wasser und Schnaps zischend verlöschte. Er ärgerte sich über diesen Verlust und gleichzeitig beschloss er, schleunigst hinüber zum Club eilen, wo er hoffentlich noch die Kollegen antreffen würde. Denn das war eine Sache, schlimmer, als diese verdammte weltweite Rezession und es kam auch alles auf einmal und wieso konnte diese Menschheit nicht begreifen, dass sie bereits auf dem letzten Ast ihres blauen Raumschiffes namens Erde saß. Hatte sie denn überhaupt keine Lust am Leben mehr, trotz Mozart?! Er trocknete sich hastig ab und zog sich an. Der deutsche Kurzwellensender brachte den Rest von Amadéus’ Klavierkonzert.

Sie hatten scheinbar gar nicht begriffen, was da vorgegangen war. Sie sendeten einfach weiter Musik.

Der „Club“ war ein geräumiges Blockhaus aus der Zarenzeit am oberen Rande des Camps, ziemlich nahe am Wald gelegen, mit einem riesigen Kamin und einem Fußboden aus Birkenhirnholzpflaster. An den Wänden hingen einige graubraune Bärenfelle, ein Elchgeweih und andere Jagdtrophäen und auf dem Holzfußboden lagen nicht mehr ganz neue Felle von Elchen und Wildschweinen herum. Es war ein wirklich gemütlicher Club, und Korylenkov dachte, dass vor den Holzfeuern dieses mächtigen, nach vorn völlig offenen und rauchverschwärzten Kamins, wenn er lange genug in die in wunderbar chaotischer Weise gelbblaurot züngelnden und flackernden Flammen geguckt hatte, vielleicht die meisten seiner zündenden Ideen entstanden waren, bessere noch, als es während seiner ausgedehnten Spaziergänge durch das große, hoch eingezäunte Waldgelände geschah oder wenn er völlig entspannt auf dem Abort gesessen hatte.

Als er im Club ankam, waren die Kollegen wie stets am Diskutieren. Waren sie schon alle da gewesen oder gerade erst angekommen? Wussten sie es bereits? Hörten sie auch Deutschlandfunk Kultur oder hatten es andere Sender ebenfalls gebracht? Es war in diesen frühen Septembertagen bereits etwas Schnee gefallen. Das kam manchmal vor in dieser Gegend, hier in den westlichen Ausläufern der Taiga, während die kleinen Blätter der sibirischen Birkenwälder immer noch golden von den Zweigen schimmerten. Und nun dieser mysteriöse Vorfall beim diesjährigen Hadsch! Stimmte es oder was sollte die Meldung bedeuten? Steckten wirklich die Israelis dahinter? Den Gedanken, dass es Russen gewesen sein könnten, wies Korylenkov sogleich weit von sich. Wieso provozierte jemand die ganze muslimische Welt in dieser Weise? Wollte man eine Endlösung, weil es mit den dauernden Anschlägen auf der ganzen Welt von Tag zu Tag schlimmer wurde und niemand nirgendwo mehr sicher sein konnte? Er wunderte sich immer wieder darüber, wie hemmungslos führende Politiker westlicher Länder wegen solch lokaler terroristischer Überfälle ihren Gegenspielern sofort mit umfassendem Krieg drohten. Glaubte man, mit tausenden Toten ein paar hundert aufwiegen zu können!? Kindischer ging es im Grunde gar nicht! Was war in diesen Köpfen los? Aber erst in denen der Selbstmordbomber? Wie gelangte so etwas Lebensfeindliches in deren Gehirne? Auf welche Weise gelang es ihnen, ihren Selbsterhaltungstrieb auszuschalten? War das etwa auch schon irgendwo da draußen? Er glaubte nicht daran. Er glaubte nicht an diese morphologischen Informationsgitter. Es machte nicht viel Sinn, aber es war vielleicht dennoch gut, daran zu forschen. Auch negative Ergebnisse waren Erkenntnisse. Manche Phänomene, die sich bei ihren Experimenten zeigten, waren allerdings äußerst frappierend, das musste sogar er zugeben. Und irgendwas musste sowieso mit den Gehirnen der Menschen gemacht werden, damit die Spezies überlebte und man sich nicht mehr dafür zu schämen brauchte, zu ihr zu gehören.

Sie konnten sich doch nicht alle Zeiten gegenseitig umbringen, für den richtigen Gott, oder was die jeweilige Seite, die zu ihm betete, dafür hielt, oder für Gold, was diejenigen vorantrieben, die keinen anderen Gott hatten! Schließlich hatte es Mozart gegeben! Und Schubert, den hätte er beinahe vergessen - ebenfalls Syphilis!

„Hallo Vadim, hat es dich auch rausgetrieben!? Die werden jetzt erst richtig losziehen gegen Israel, oder was meinst du? Das ist ja wohl ein Ding! Mitten im Hadsch! Selbst wenn man sie nicht mag, aber das ist ja auch eine Frage der Vernunft, sie nicht derartig zu provozieren“, sprudelte es aus Alex hervor. Anja saß in einem der tiefen Ledersessel bei einem Glas Rotwein und nickte Korylenkov lächelnd zu. Alex war aufgesprungen und hatte den hageren, meist wortkargen und oft unwirschen Neurobiologen, dessen wache graue Augen stets vor allem und jedem auf der Hut schienen, herzlich umarmt.

„Was soll ich dir holen?“

„Na, wie immer, du weißt schon.“

Außer der Ukrainerin Anja und Alex, dem Sankt Petersburger, waren noch der Engländer Carlson und der Sibirier Sostschenko im Club anwesend. Carlson war eigentlich Waliser und stolz auf seine angeblichen keltischen Vorfahren. Korylenkov zog ihn indes mit seinem schwedischen Namen auf und insistierte, dass es nicht sein könne, dass Carlson ein Kelte sei, die hätten nämlich wenigstens gälische Namen. Außerdem würde er ja schottischen Whisky trinken, und Parejos oder Figurados aus Kuba oder Brasilien dazu rauchen, was von den meisten hier als sehr störend empfunden wurde. Daher stamme er wohl doch eher von Wikingern ab. Die Schwarzwälder Kuckucksuhr, mit der sie ihren Club ausstaffiert hatten, zeigte eine halbe Stunde vor Mitternacht. Alex brachte eine Flasche Courvoisier XO hinter der kleinen Theke hervor. Wo hatte er die denn her, die war ein kleines Vermögen wert!? „Man gönnt sich doch sonst nichts“, bemerkte er grinsend, stellte ein Glas für sich und Korylenkov und die Flasche auf die Glasplatte und rückte einen Sessel heran. Anja bugsierte ihre wohlgeformten Füße auf die andere Seite unter den flachen Tisch und protestierte heftig, dass Alex ihr keinen Schwenker mitgebracht hatte.

„Wer weiß, wie lange noch...“, sagte Alex.

Matwej Surewitsch Sostschenko, der vierschrötige Astronom vom anderen Ende der Welt, verabschiedete sich. Er würde sich nur sinnlos aufregen, meinte er. Er wolle mal bisschen in die Galaxis schauen. Die klare, kalte Septembernacht verspräche einen herrlichen Sternenhimmel.

Anja Rogula, die ukrainische Neurochirurgin, die nach Vadim Nikolajewitsch ´s Auffassung wegen ihres seltsamen Nachnamens rumänische Vorfahren besitzen musste, hatte ihre langen, in ausgewaschenen Jeans steckenden Beine so unter den Couchtisch mit der dicken Glasplatte verstaut, dass Alex, Sostschenko und er, ein wenig Aufmunterung daraus ableiten konnten, wenn sie das wollten. Alex gab vor, Psychologe zu sein, hatte aber in Moskau zuerst Physik studiert und eine Weile an geheimen Projekten in Dubna mitgearbeitet. Jetzt war er hier einer der führenden Männer bei ihrem "Kozyrev-Projekt", welches seit zwei Jahren vorbereitet wurde. Mit neu ausgedachten Quanten-Nonlokalitäts-Tests sollten er und Brett Carlson Beweise dafür sammeln, dass sämtliche im Multiversum vorhandenen Informationsgehalte raumzeitlich ungebunden übertragbar wären, und dass das gesamte Universum, also auch diese kleine Erdenwelt, voller rauschender Informationsinhalte sei, die alle Zellen und biologischen Systeme, insbesondere aber die Neuronen – wenn auch nur nach dem Zufallsprinzip und ausschnittsweise – empfangen und verarbeiten konnten. Das war ein revolutionärer, höchst umstrittener, aber nicht ganz neuer Gedanke. An diesen Theorien hatten bereits der ukrainische Biologe Alexander Gurwitsch, der sowjetische Astrophysiker Nikolaj Kozyrev und ihre Nachfolger gearbeitet. Gurwitsch hatte die Hypothese eines „biologischen Informationsfeldes“ zuerst formuliert und diese die mitogenetische Strahlung genannt. Die Forschung an diesen Phänomenen hatte in Russland nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums eine Wiederauferstehung erlebt und zu zahlreichen Experimenten mit so genannten Kozyrev-Spiegeln geführt. Die Ergebnisse dieser Versuche waren teilweise so verblüffend, dass sich die neue russische Regierung entschlossen hatte, neben dem riesigen Superbeschleuniger und Schwarzlochgenerator bei Höhe 242 ein Forschungszentrum für Zeitwellenstrahlung, wie sie das Projekt nach endlosen Diskussionen benannt hatten, aufzubauen. Die Forschungsergebnisse des Wiener Quantenphysikers Anton Zeilinger über die Quantenteleportation hatten diesen Entscheidungsprozessen noch einen zusätzlichen Schub gegeben.

Die bisherige Arbeit ihres neuen geheimen Institutes war dadurch gekennzeichnet gewesen, weltweit Menschen als besonders geeignete Medien für Telepathie-Versuche und Raum-Zeit-Tor-Experimente zur Entschlüsselung einer eventuellen kosmischen Informationsmatrix zu suchen und für eine freiwillige Mitarbeit zu gewinnen. Dabei sollten auch die Arbeitsergebnisse der deutschen Veden-Akademie, der nordindischen Dev-Sanskrit-Universität in Haridwar sowie der Grenzwissenschaftler des Stanford Research Institutes gesichtet, sortiert, bewertet und gegebenenfalls nachgeahmt werden. Dafür war in ihrem Camp ein weiterer, größerer und leistungsfähigerer Kozyrev-Spiegel fertig gestellt sowie einer der modernsten Großrechner installiert worden, um damit diese Art von Informationen aufzeichnen, speichern und nach und nach entschlüsseln zu können.

Als Vadim Nikolajewitsch mit den drei Kollegen anstieß, um den von Alex spendierten Spitzencourvoisier zärtlich mit der Zunge in der Mundhöhle umherwälzend ausgiebig zu genießen, dachte er, während er dabei in Anjas rehbraune, lächelnde Augen sah und seinen Blick sekundenschnell über ihren in einem dicken, selbstgestrickten Pullover steckenden, schmalen Körper huschen ließ, an die letzte gemeinsame Nacht mir ihr, die nun bereits zwei Wochen zurück lag. Diese Begegnungen waren für ihn neben der Musik, den ausgedehnten Spaziergängen im Gelände, den Besuchen in der Banja und dem Lesen in seinen Büchern die lebendigsten und erfreulichsten Stunden seines hiesigen Lebens. Er konnte nicht behaupten, dass ihm seine Arbeit hier keinerlei Befriedigung verschaffte. Aber im Gegensatz zu seinen Kollegen, und vor allem zu Alex Fedorowitsch, glaubte er nicht daran, dass dieser ganze Aufwand, den sie hier betrieben, der Menschheit irgendetwas bringen würde. Stimmten nämlich Kozyrevs Theorien, dann wäre es mit dem größten Teil der eingebildeten Selbstbestimmung des Menschen vorbei und der Homo Sapiens tatsächlich nur ein Durchgangsstadium einer unergründlich bleibenden Kosmogenese. Der Beweis einer Raumzeit unabhängigen Urinformation würde allen Religions-, Karma- und Kismetanhängern neue Nahrung geben und letztlich am freien Willen jedes menschlichen Individuums nagen, für all sein Tun die volle und alleinige Verantwortung zu übernehmen.

Vielleicht war es ja auch eine kosmische Konstellation, wenn Anja außer mit ihm noch mit Alex, und, wie er allerdings nur argwöhnte, mit Brett Carlson schlief. Sie war vorläufig die einzige Frau hier und schien Sex als pflichtgemäßen sozialen Dienst an diesen drei Spitzenforschern zu betrachten. Lediglich den Sibirier Matwej Sostschenko konnte diese Frau scheinbar nicht beeindrucken. Vadim nahm sich jedes Mal wieder vor, das bizzare Verhältnis zu beenden, war aber nach spätestens vierzehn Tagen regelmäßig wieder an dem Punkt, wo er deutlich spürte, dass er es dringend brauchte. Irgendwie waren die drei in einer Art hassliebenden Symbiose miteinander verbunden, die jegliche rationale Steuerung ausschloss. Wie Anja dies verkraftete, war ihm ebenfalls ein Rätsel. Aber vielleicht gefiel es ihr ja sogar, wer wusste das schon außer ihr. Man sollte sie mal an den neuen Kozyrevspiegel anschließen. Vielleicht konnte man ja gewisse nonlokale Informationen über etwaige Hintergründe dieser Beziehung generieren. Wenn so etwas bereits in der kosmischen Informationsmatrix enthalten sein sollte, mit allem anderen, dann half nur noch die Gnade Gottes...

Der englische Sender für klassische Musik, den Brett im Club am Laufen hielt, hatte die Meldung über die Ereignisse in Mekka nun ebenfalls ausgestrahlt. „Ob das auch bereits in der Gesamtinformation enthalten ist? Oder wieviel Eigenwillen können wir unter diesen Umständen entwickeln? Was meint ihr?“, rief Vadim mit gespielter Neugier in die Runde, nachdem die Musik im Radio wieder eingesetzt hatte.

„War mir klar, wie du drauf sein wirst, wenn du nach dem hier rüber kommst“, spottete Alex. „Ist aber OK so, schließlich haben wir eine Aufgabe.“

„Ich wüsste ja gar nicht, wohin mit mir, wenn ihr mich hier rausschmeißt“, erwiderte Vadim. „Andererseits – ohne eure Beckmesserei bin ich eigentlich zu nichts nütze.“

„Nun übertreib mal nicht!“, warf Brett ein. „Wenn wir hier keinen hätten, der ohne Voreingenommenheiten genau nachguckt, was da jedes Mal seltsames passiert in diesen merkwürdig gekräuselten Zellhaufen zwischen den großen Ohren unserer Probanden, dann werden unsere Aussagen nicht lange Bestand haben. Vielleicht können wir selber gar nicht ermessen, was es für die Menschheit bedeutet, wenn wir feststellen, dass wir vielleicht nur spiegeln.“

Mit „Spiegeln“ bezeichneten sie hier die Tatsache, dass einige Neurobiologen eine Art biologische Relativitätstheorie vertraten, nach der die Vorstellungen, die die menschlichen und vielleicht auch tierischen Gehirne von der Welt reflektierten, jeweils nur ganz spezielle und lediglich sehr eingeschränkt determinierte Wiedergaben der Gesamtwirklichkeit abbildeten. Sozusagen eine Mittelwelt der Außenwelt in der jeweiligen Innenwelt. Denn dem Menschen waren nur ganz bestimmte Skalenspektren, zum Beispiel ein recht begrenzter Farbwellenumfang, ein ebenso eingeschränkter Schallwellenbereich, eine relativ schmale Bandbreite der Geruchsempfindungen und eben auch nur ein mittlerer Bereich von Größenverhältnissen sinnlich direkt wahrnehmbar. Im Gegensatz zu Hunden zum Beispiel, die tausendfach besser riechen konnten oder Fledermäusen, die in dunklen Räumen eine für den Menschen krass scheinende Raum- und Farbenwelt durch Ultraschall reflektieren konnten, blieb Homo Sapiens in dieser merkwürdigen Mittelmäßigkeit haptisch, räumlich und zeitlich ziemlich beschränkt. Das konnte den Schluss nahe legen, dass sich das menschliche Gehirn, trotz seiner unendlich anmutenden Komplexität, dennoch erst in einem Frühstadium seiner Entwicklung befand.

„Unsere neuronale Imagination erzeugt nur etwas aus dem, was wir schon mal als Input bekommen haben oder gerade bekommen. Fragt sich nur, was momentan gerade einfließt und wie wir das, was wir als Kinder mal eingetrichtert bekamen, im Speicher geordnet haben. Und vor allem, wie wir es verwerten und kombinieren können. Offensichtlich macht das nicht jeder Mensch gleich. Und vor allem nicht mal mit Bewusstsein. Wie wir aus den Analysen zu Einsteins Gehirn wissen, hängt es offenbar sogar von der morphologischen Gestalt der Gehirne ab, was einer zu leisten im Stande ist.“

„Das lässt einen wie mich hoffen“, deklamierte Vadim, erfreut darüber, dass Brett angebissen hatte. „Denn dann hätten wir wenigstens beschränkte eigene Spielräume zum Spiegeln, wie du sagst. Der eine spiegelt dann Musik, der andere Mathematik und der Dritte Literatur, immer auf seine Art.“

„Und der Vierte Folter und Krieg“, raunzte Anja, indem sie ihre Beine unter dem Tisch hervorhievte, weil ihr diese Lage offenbar unbequem geworden war. Nach einigem Hin und Her legte sie sie dekorativ auf die dicke Glasplatte, nachdem sie die Kognakschwenker entsprechend umgeordnet hatte.

Vadim wollte gerade aufbrausen, da kam ihm Alex, der es ahnte, zuvor: „Genau das ist ja unser Ding, rauszukriegen, ob es schon da ist oder ob es nur Fehler der Reflexion sind. Wenn es schon da wäre, wäre es ziemlich deprimierend. Wir kämen nicht über den Judas-Effekt hinaus. Nach meiner Meinung müssen es Asymmetrien sein. Und es wäre gut, wenn wir es beweisen könnten. Denn wenn der Master Of Information Leid und Destruktion bereits einprogrammiert hat, würde ich es eigentlich nicht wissen wollen und nur noch Courvoisier saufen.“

„Das hast du schön gesagt“, konstatierte Vadim, der überlegte, indem er nochmals Anjas, durch die abgetragenen Jeans leider verhüllten, Beine betrachte, wem sie heute die Ehre geben würde.

„He, Vadim, mach keinen Scheiß. Ich denke, dass du ganz wichtig bist hier. Du bist der Mann, der die Dinge im Scanner sichtbar machen kann und besser in der Lage bist als wir alle hier, die Vorgänge, die im neuerdings so beliebten Forschungsobjekt Cerebrum ablaufen, vernünftig zu interpretieren. Dir werden sie abnehmen, dass das, was du sagst, einigermaßen objektiv ist, weil alle deine Veröffentlichungen bisher so skeptisch und, ich sag es mal, überwiegend sogar pessimistisch waren. Willst du jetzt noch hören, dass du unser Bester bist?“

„Weißt du, Alex, manchmal denke ich, dass du keine Ahnung hast, welches Ungeheuer dieses Scheißgehirn ist. Ich glaube, es ist ebenso hyperkomplex, wie das Multiversum selbst. Vielleicht ist es ja eine adäquate Reflexionsmaschine. Vielleicht träumt es aber auch nur. Jedenfalls danke ich dir, dass du so freundlich bist“, sagte Vadim. Brett hatte Kognak nachgeschenkt.

„Sie werden ihren Anthraxkrieg jetzt überall machen“, sagte Anja in den gerade entstandenen Frieden hinein. „Sie haben ihn schon lange vorbereitet. Oder sie nehmen irgendein anderes Biogift. Bisher hat es ihnen ihre Religion verboten. Aber es ist die ideale Antisymmetriewaffe. Es war doch absehbar, finde ich, oder?!“

Die drei Männer, ihre hiesigen gelegentlichen Beischläfer, stutzten. Sie hier, bald hundert Kilometer hinter der Grenze zwischen Europa und Asien, welche vormalige Geographen und Politiker einst völlig willkürlich festgelegt hatten, wiegten sich für ihr Leben in solch einer Sicherheit, dass sie es sich aus Gründen des psychischen Eigenschutzes beinahe abgewöhnt hatten, über politische Tagesereignisse zu debattieren. Anja, das Weib, und scheinbar der einzige Realist unter ihnen, was immer einer unter ihresgleichen darunter verstehen mochte, pochte als einzige auf zeitnahe Antworten.

„Natürlich spinnen die alle, diese Religiösen. Sie spiegeln ihre Ahnungen und Wissensfragmente unserer angenommenen Matrix in ihr jeweiliges religiöses Wahngebilde hinein. Deshalb ist es ja so gefährlich, sie zu reizen. Denn sie haben kein Problem damit, ihrem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Sie gehen ja nach ihrem Glauben sofort ins Nirwana, ins Paradies, ein. Und das ist angeblich viel schöner, als diese rätselhafte Welt mit unserer einsamen Erde im Mittelpunkt. Also werden sie es wissen wollen“, sagte Brett ziemlich tonlos.

"Na, na, na", knurrte Alex, indem er die Nase kräuselte.

„Und wo werden sie anfangen?“, fragte Vadim, ergriff die fast leere Flasche und warf einen unzufriedenen Blick in die Runde.

„Bei den Amis, natürlich. Wo sonst? Sie sind derzeit die Verwundbarsten“, antwortete Alex. Diesmal hatte Vadim nachgegossen. Anja war aufgestanden und hatte Brett aufgefordert, mit ihr zu tanzen. Sie drifteten bei Pucciniarien in Richtung Kamin ab. Vadim, der bemerkte, dass das Feuer herunter gebrannt war, ging hin, um einige Kloben vom trockenen Birkenholz nachzulegen. Dann trank er sein Glas in einem Zuge aus. Er war stets bemüht, das Große und Ganze nicht aus den Augen zu verlieren. Und er akzeptierte Anjas Entscheidung. Er verabschiedete sich von den Freunden und ging hinaus in die Nacht.

Morgen erwartete ihn schließlich ein anstrengender und spannender Arbeitstag. Alex hatte ihn auf einen ganz neuen Gedanken gebracht.

3.

Li Hui fühlte, dass ihre Geburt kurz bevor stand. Langsam erwachte sie zum Leben und wähnte sich für einige Momente zwischen Himmel und Erde. Für eine Weile schwebte sie in einer Art Ursuppe. Allmählich erwachte ihr Bewusstsein. Ihr Körper sandte erste Signale. Ihr war kalt!

Sie hatte Unglaubliches gesehen, aber ihr fiel im Augenblick nicht ein, wo genau sie gewesen war. Es war alles so herrlich erschienen, so wunderbar! Ihr wurde klar, dass sie ohnmächtig gewesen sein musste. Ihre Erinnerung gab vorerst nur wenig frei. Oder hatte ihre intensive Beschäftigung mit der ägyptischen Geschichte und Mythologie ihr Unterbewusstsein derart in Bewegung gesetzt? Hatte es ihr während ihrer Ohnmacht nur etwas vorgegaukelt? Was waren das für geheime Zeichen gewesen, diese oszillierenden Farben, diese unglaublichen Räume, durch die sie geschwebt war?

Als sie wieder ganz bei sich war, fühlte sie sich trotz der totalen Dunkelheit merkwürdigerweise vollkommen angstfrei. Auch das Gefühl für die Schwerkraft war wieder zurückgekehrt. Was war geschehen? Wo befand sie sich? Wieso schwamm sie in diesem kühlen, dunklen Element, und warum sah und roch sie nichts? Was hatte sie bis eben noch gesehen? Sie versuchte verbissen, sich deutlicher zu erinnern.

Bald begann sie ernstlich zu frieren. Und nun setzten die Kopfschmerzen ein. Wie nach einer schweren Gehirnerschütterung! Weshalb befand sie sich in dieser kalten Finsternis?

„Hallo!“, rief sie, „hallo...“. Es gab ein leises Echo...hallo... Sie konnte also sprechen. „Ich weiß, wer ich bin!“, sagte sie halblaut,...wer ich bin... kam ein schwacher Gegenhall. „Wer bin ich?“, rief sie, ...wer bin ich...echote es zurück. Sprechen und hören konnte sie also. Aber wieso sah und roch sie nichts? Sie tastete an der glatten Wand des nassen Raumes oberhalb des Flüssigkeitsspiegels herum. Es fühlte sich wie glatter Stein an. Sie betastete sich selbst. Sie trug einen eng anliegenden, dichten Schwimmanzug mit einem Gürtel, an welchem Metallgewichte befestigt waren. Er schien aus Neopren gefertigt, aber irgendwie auch wieder nicht. Sie bemerkte, dass sie einen Tauchgürtel und eine Art Klettergeschirr trug. Auf dem Rücken war eine Metallflasche montiert. Am rechten Unterschenkel steckte ein kleines Messer in seiner Halterung. Offensichtlich war sie auf Tauchgang gewesen. Aber wo und warum?

An ihrem Sicherungsgeschirr hing ein Karabinerhaken und an diesem ein dünnes Stahlseil. Sie versuchte, es hochzuziehen. Dabei geriet sie mit dem Kopf in das Element. Der Schwimmanzug hatte sie leicht in der Schwebe gehalten. Aber sobald sie sich bewegte, wurde es kritisch. Sie musste den Metallballast loswerden. Während des Erkundungsmanövers hatte sie etwas Flüssigkeit geschluckt. Es schmeckte nach Wasser und hatte auch dessen Konsistenz. Nachdem sie wieder aufgetaucht war, zog sie weiter am Seil. Als sie das Ende in der Hand hatte, schätze es auf fünf Meter Länge. An seinem Ende war es aufgedröselt. Es fühlte sich an, als ob es gekappt worden wäre. Sie ließ es wieder ins Wasser gleiten und klinkte die vier Bleigewichte von ihrem Gürtel los. Dann, nachdem sie festgestellt hatte, dass sich in der Flasche keine Luft mehr befand, warf sie auch diese ab.