Brandstädter - Ein paar Altlasten zu viel - Leo Taut - E-Book

Brandstädter - Ein paar Altlasten zu viel E-Book

Leo Taut

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Beschreibung

EINE RÄTSELHAFTE VILLA EIN UNERWARTETER MORD EIN ERMITTLERTRIO WIDER WILLEN Ein beschauliches Städtchen in den 1980ern. Der eigenbrötlerische Architekt Felix Brandtstädter erhält den Auftrag, ein Denkmalgutachten für eine verlassene Industriellenvilla zu erstellen. Ein einfacher Auftrag, wäre da nicht die Gruppe Punks, die sich ausgerechnet dort als Hobby-Hausbesetzer eingenistet hat. Vor allem die vorlaute Trixi macht Felix das Leben schwer und raubt ihm den letzten Nerv. Doch die Hausbesetzer bleiben nicht sein einziges Problem. Seltsame Vorkommnisse und ein unerwarteter Leichenfund machen Felix zum Ermittler wider Willen. Zusammen mit dem Gemeindepfarrer und der forschen Trixi beschließt er den Mord zu lösen. Doch wie hängt das alles mit dem alten Gemäuer zusammen? Ein spannender Kriminalroman um ein dunkles Geheimnis aus der Nazizeit, humorvoll erzählt, mit Figuren, die einem ans Herz wachsen.

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Seitenzahl: 564

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Prolog

Die Sirenen auf dem Dach des örtlichen Spritzenhauses heulten in dem vertrauten an- und abschwellenden Kreischton, der allen Einwohnern der Stadt durch Mark und Bein ging. Sie kündigten unmissverständlich das Herannahen der Alliiertenarmee an, die seit der Landung in der Normandie 1944 Monat für Monat unaufhaltsam auf sie zugerollt war. Nun würde es bald vorbei sein – mit dem Krieg. Was danach kommen würde, ließ sich nur dunkel erahnen und machte ebenso wenig Hoffnung wie die aktuelle Situation.

Es war eine Zwischenzeit – so ambivalent wie die Gefühle eines Wundfiebernden, der auf der einen Seite die Amputation fürchtet, auf der anderen Seite jedoch endlich das Ende von Schmerz und Qual herbeisehnt in der trüben Gewissheit, dass dies die einzige Möglichkeit der Genesung ist.

Wie auf Kommando unterbrachen die wenigen Leute, die auf der Straße waren, ihr Tagwerk und verschwanden eilig in ihre Keller, in denen sie schon so viele angstvolle Stunden verbracht hatten. Innerhalb weniger Minuten war die Ortsstraße menschenleer bis auf eine hübsche, dunkelhaarige Frau, kaum 20 Jahre alt, die mit ihrem wenige Wochen alten Kind auf dem Arm wie paralysiert auf der Straße stand. Die schmutzig grünen und zum Teil bereits vom Krieg gezeichneten Gebäude um sie herum nahm sie nicht wahr.

Auf der linken Seite lag die kleine Ladenzeile des Ortes mit dem Kolonialwarenladen und der früher schönen Jugendstilfassade. Jetzt waren die Scheiben eingeschmissen und an der mit Brettern notdürftig verrammelten Tür waren noch die Reste eines hingeschmierten Judensternes zu erkennen. Daneben war der alte Metzgerladen, in dem es schon seit dem Winter nichts mehr zu kaufen gab – zumindest nicht offiziell.

Noch an diesem Morgen war das letzte Aufgebot aus Ober­sekunda-Schülern und alten Greisen auf dieser Straße unter der Aufsicht der örtlichen Befehlshaber missmutig in Richtung Westen abmarschiert. Mit viel Verve war von den hiesigen Parteigrößen das letzte Gefecht beschworen worden – mit einer traurigen Handvoll Handfeuerwaffen aus ausgedienten Restbeständen ein ebenso aussichtsloses wie sinnloses Unterfangen. Längst war aus dem großen Kampf der Revanche und Großmannssucht der Kampf ums nackte Überleben geworden. Dabei war das Städtchen, die ehemals idyllische Ansammlung von Häusern und kleinen Betrieben entlang des schmalen Flüsschens von den großen, systematischen Bombardements verschont geblieben. Zu klein und unwichtig war das Örtchen, als dass es die Aufmerksamkeit der Marschälle hätte auf sich ziehen können. Trotzdem sollte kaum einer der Unglücklichen, die am Morgen mit dem Licht der aufgehenden Sonne ins ungewisse Dunkel marschiert waren, diesen Ort je wiedersehen.

Die Frau stand einsam auf der inzwischen menschenleeren Ausfallstraße und blickte in Richtung Ortsausgang, als könnte sie noch immer die Volkssturmgruppe vom Morgen in der Ferne erblicken.

„Mensch, machense, dass Sie hier wegkommen“, rief ihr eine Stimme zu, die aus dem Nichts zu kommen schien. Sie kam jedoch nicht aus dem Nichts, sondern aus einem Kellerfenster und gehörte zu einer resoluten Frau mittleren Alters, die ihr aus dem kleinen Schlitz unmittelbar über dem Bürgersteig energisch zuwinkte. „Hier bricht gleich die Hölle los. Was meinen Sie, was Ihnen passiert, wenn Sie hier wie Falschgeld in der Gegend rumstehen. Denken Sie doch an Ihr Kind! Los, kommense hier zu uns ins Haus. Da isses sicher.“

Wie aus einer Trance erwacht löste die Frau ihren Blick vom Ende der Straße und hörte auf den Ruf der gutmütigen Dame. Ja, sie musste jetzt an ihr Kind denken – es um jeden Preis beschützen. Auch wenn alles andere hoffnungslos und vergebens war: Diesem noch unschuldigen Leben sollte nun ihre ganze Aufmerksamkeit gelten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie ihr Kind an sich drückte. Wie würde sie das nur alles schaffen?

Mit leerem Blick starrte sie ein letztes Mal wie zum Abschied nach Westen, von wo das erste dumpfe Grummeln leichten und mittleren Artilleriefeuers mit dem Wind herüberwehte, während sie sich langsam von der Frau, die nun extra nochmal aus dem Keller auf die Straße getreten war, in Sicherheit führen ließ.

Im wenige Kilometer entfernten Waldschlösschen saß ein Mann am Schreibtisch seines Arbeitszimmers. Er war in den besten Jahren und seine kantigen und herrischen Gesichtszüge verrieten bereits, dass er in seiner Welt Gehorsam gewohnt war. Einer Welt, die nun unaufhaltsam zusammenbrach. Er atmete schwer, als drohte er zu ersticken, zerrte am ordnungsgemäß zugeknöpften Kragen der Uniformjacke, um mehr Luft zu bekommen. Der ebendort an buntem Band befestigte Orden fiel dadurch zu Boden und hinterließ eine kleine, unbedeutende Kerbe in den altehrwürdigen Dielen des Hauses.

Schweißperlen standen dem Mann auf der Stirn, während er in dem bei jeder Granatenexplosion flackernden Licht der Schreibtischlampe fieberhaft einige Worte auf ein Blatt Papier kritzelte. Der Rest des Zimmers war in Dunkelheit gehüllt, aber in der Tiefe des Raumes konnte man hinter dem Schreibtisch einen großen Konferenztisch ausmachen, auf dem in schönster Ordnung Karten ausgebreitet lagen, in die in ebensolcher Ordnung rote und blaue Linien und Pfeile eingetragen waren. Die um den Tisch gruppierten Sessel waren alle leer und standen wie in großer Hast verlassen. Durch die geschlossenen Fenster tönte von draußen das Donnergrollen der nahenden Artillerieeinschläge, die das gesamte Inventar erzittern ließen. Als eine Granate großen Kalibers in unmittelbarer Nähe des Gebäudes explodierte, barsten die Fensterscheiben und Splitter flogen durch den Raum. Ein Splitter traf den Mann an der Wange. Er ließ sich jedoch von seinem Brief nicht abbringen. Unbeirrt schrieb er weiter. Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er das Klopfen an der Tür überhörte und ebenfalls den uniformierten Mann mit Stahlhelm, der das Zimmer betrat. Da der Schreibtisch mit dem Stuhlrücken zur Tür stand, bemerkte er den Neuankömmling erst, als er zum wiederholten Male angesprochen wurde. Erschrocken fuhr er hoch und hörte unvermittelt auf zu schreiben. Wie ein Schüler, den man während der Klassenarbeit beim Spicken erwischt, faltete er hastig den Brief zusammen und steckte ihn schnell in eines der auf dem Schreibtisch liegenden Bücher.

Der soeben in den Raum getretene Soldat blutete aus einer notdürftig verbundenen Wunde am Arm. Die Jacke war zerrissen und der linke Ärmel hing halb abgetrennt herunter. Gehetzt stieß er hervor: „Sie kommen! Die Stellung ist nicht mehr zu halten, wir müssen hier schnellstens verschwinden.“ Er war höchstens achtzehn Jahre alt und der Helm war mindestens eine Nummer zu groß für ihn.

Von der ersten Überraschung erholt und nun eher ärgerlich, sowohl über die Unterbrechung als auch über seine eigene Schreckhaftigkeit, fuhr der Angesprochene den jungen Soldaten an, ohne ihn überhaupt dabei anzusehen: „Sieht so eine ordnungsgemäße Meldung aus? Wie sehen Sie überhaupt aus? Nehmen Sie mal Haltung an“, raunzte er, während er weiterhin am Schreibtisch mit dem Rücken zu Tür und Besucher saß.

Der so Gemaßregelte knallte geräuschvoll die Hacken zusammen und wiederholte die Lagebeschreibung in formellem Ton.

Seiner Routine wieder mächtig erhob sich jetzt der andere, wischte sich den Schweiß von der Stirn, setzte seine auf dem Schreibtisch liegende Schirmmütze auf und stellte das Buch an seinen angestammten Platz in einen hohen, die halbe Wand des Raumes umfassenden Bücherschrank und verließ zusammen mit dem jungen Melder das Zimmer.

Wenige Minuten später erschütterte eine Explosion den östlichen Wirtschaftsanbau des Gebäudes, sodass die gesamte Anlage erzitterte. Als das Echo der Explosion verhallt war, wurde es im Haus still – für sehr lange Zeit.

Kapitel 1

Etwas mehr als 40 Jahre später ...

Krrrrrrrrrrrrrriähhhh

Rrrrrrrrrrrahhhhkkh

Jääääääääääkiiiiiiihhh

Ohrenbetäubender Lärm ließ die Wände des alten, umgebauten Bauernhauses erzittern. Felix Brandtstädter, der dieses Heim sein eigen nannte, war bestürzt.

„Das ist doch nicht dein Ernst. Was um ähh … Himmels Willen soll ich denn mit diesen Viechern anfangen?“ Eigentlich hatte er drastischere Worte wählen wollen, beherrschte sich aber angesichts der Tatsache, dass ihm Gregor Szymaniak, der hiesige Gemeindepfarrer, gegenüberstand. Der konnte Flüche schon aus beruflichen Gründen nicht sonderlich gutheißen und erst recht keine, wie sie ihm gerade durch den Kopf schossen.

Allerdings wäre es vermutlich egal gewesen, denn man verstand so oder so kaum sein eigenes Wort.

Gregor schleppte nämlich gerade einen riesengroßen Vogelkäfig zur Tür herein, in dem zwei ziemlich große, graue Vögel saßen, die markerschütternde Schreie ausstießen.

„Jetzt stell dich nicht so an“, sagte der Pfarrer, „Papageien sind eine prima Gesellschaft für dich, glaub mir, die sind jetzt nur etwas nervös, weil ich sie die ganze Zeit im Käfig herumgeschaukelt habe. Das gibt sich schon noch.“

„Waaas?“, brüllte Felix, „Ich kann dich leider nicht verstehen.“

„Du bist doch auch ein Tierfreund oder nicht? Frau Mielke ist gerade ins Altenheim umquartiert worden und kann die Vögel nicht mitnehmen. Sie hängt an den Tieren und ich habe ihr versprochen, ich kümmere mich darum, dass sie in gute Hände kommen. Und du bist der einzige, den ich kenne, dessen Haus ansatzweise für die Unterbringung geeignet wäre.“

„Hat Frau Mielke denn keine Verwandten, die sich um das … naja, um die da kümmern können?“

„Sie hat keine Kinder, nur die Papageien – und eine ziemlich arrogante Nichte, die eigentlich nur auf das Erbe schielt und die beiden armen Geschöpfe direkt einschläfern lassen wollte.“

„Dann gäben sie wenigstens Ruhe.“ Das letzte Wort sagte Felix betont laut und gedehnt.

Für ihn waren Haustiere an sich ein abstraktes Konzept – wie eigentlich alle banalen Alltäglichkeiten. Er hätte sich nie mit so etwas Schnödem anfreunden können, wie täglich dieselbe Runde mit dem Hund gehen zu müssen, nur damit dieser seine Verdauungsprodukte irgendwo in der Welt verteilen konnte. Felix war ein typischer „Gedankenmensch“, der viel grübelte, wenig sagte und noch weniger von alltäglichen, praktischen Routinen hielt. Es war ihm auf diese Weise schon nicht gelungen, es im Sport oder Musizieren weit zu bringen, da er ständige Wiederholungen als extrem quälend empfand. Selbst bei der unumgänglichen Körperpflege hatte er seine Gedanken meist ganz woanders und war auch schon mal mit Rasierschaum am Hals aus dem Haus gegangen, ohne es zu merken. Seine Welt spielte sich in seinem Kopf ab.

Und diese Introvertiertheit hatte sich noch exponentiell gesteigert, seit seine Frau gestorben war. Seitdem hatte er sich aus dem aktiven gesellschaftlichen Leben mehr oder weniger komplett zurückgezogen und lebte nur noch in seinen Erinnerungen.

Der Pastor schob sich mit dem Käfig an Felix vorbei weiter in Richtung Wohnzimmer. Das Haus, in dem Felix wohnte, lag etwas abseits der Ortschaft. Es war ein alter aufgelassener Bauernhof, den er sich seinerzeit mit seiner Frau Elke als Wohnhaus und Büro umgebaut hatte. Sie hatten gemeinsam ein Architekturbüro und sich bereits früh auf Restauration und Denkmalpflege spezialisiert, zu einer Zeit, als es Denkmalpflege eigentlich – zumindest in den Köpfen der meisten – noch gar nicht gab.

Seine Frau hatte Kunstgeschichte studiert und beide hatten schon immer ein Faible für alte Sachen und alles Historische gehabt. So bestand auch die Einrichtung aus einem bunten, aber gekonnt und geschmackvoll zusammengestellten Potpourri aus echten Antiquitäten, persönlichen Lieblingsstücken aus der eigenen „Gründerzeit“, den 60er Jahren, und wenigen aktuelleren Möbeln.

Von der Diele, in der Gregor und Felix jetzt standen, ging die ehemalige Scheune mit einem fast sechs Meter hohen Dachgebälk ab. Felix und seine Frau hatten sie zu einem großzügigen Wohnraum umgestaltet und eine Galerie eingezogen, die man über eine kleine, hölzerne Wendeltreppe oder über den Flur im ersten Obergeschoss des Hauptgebäudes erreichte. Die allseitig umlaufend weiß lackierten Einbauregale verschmolzen mit der ebenfalls weißen Deckenverkleidung, von der sich das sichtbare, dunkel gebeizte Gebälk abhob. Die Regale waren gefüllt mit einer schier unendlichen Anzahl antiquarischer Bücher wie in einer historischen Bibliothek. Auch der Rest des Raumes war mehr oder weniger vollgestopft mit allen möglichen Antiquitäten, Kunstwerken und anderen Dingen, die viele vermutlich als Nippes bezeichnet hätten. Aber jedes dieser Dinge war eine kleine Zeitmaschine für Felix, mit der er sich in seinen Erinnerungen in eine frühere, glücklichere Zeit zurückteleportieren konnte. Solchen, eigentlich toten, Dingen vermochte er in seinem Kopf eine Seele zu geben. Gegenüber Lebendem hatte er – insbesondere nach dem Tod seiner Frau – ein gewisses Ressentiment entwickelt. Erst recht, wenn sie Krach machten wie ein Düsenjet.

„Du brauchst mal ein bisschen Gesellschaft in deiner Höhle hier, etwas mehr Leben in deinem Leben“, versuchte Gregor ihn nun für die Haustierhaltung zu erwärmen.

„Danke, ich komme auch ohne enervierende Dauerbeschallung ganz gut zurecht.“ Nicht nur, dass er mit Haustieren nichts anfangen konnte, wenn er etwas ganz und gar nicht haben konnte, dann war das Lärm. Felix liebte die Stille. Stille, die ihm den Raum gab, seinen Gedanken nachzugehen. Was zum Henker sollte also ausgerechnet er mit diesen nervenden Kreischern anfangen?

„Aber dann werden sie eingeschläfert!“, flehte der Pastor.

Als hätten die Papageien jedes Wort verstanden und gemerkt, dass es um die Wurst ging, waren sie bei dem Wort „eingeschläfert“ mucksmäuschenstill geworden, sodass das laut gesprochene Wort noch lange durch die Diele hallte.

Ruhig und interessiert schauten sie nun ihren potenziellen Neubesitzer an. Der schaute nun ebenfalls etwas weniger genervt und mit einem leichten Anflug von Mitleid in die Richtung der beiden mit dem Kopf hin- und herwackelnden Geschöpfe.

„Sie heißen übrigens Leo und Lori“, sagte der Pastor, währen die Papageien bei ihrem Namen wiederum interessiert und aufmerksam von einem zum anderen schauten.

„Ach herrje“, murmelte Felix. Naja, was sollte man auch von einer Frau Mielke an Kreativität bei der Namensgebung erwarten.

„Sie sind nicht sehr aufwändig in der Haltung. Nur ein bisschen geschältes Obst jeden Morgen und jeden Mittag, abends etwas Nüsse und zweimal am Tag bräuchten sie etwas Flugzeit.“

Ja, natürlich, dachte Felix, und abends noch eine Geschichte zum Einschlafen vorlesen, zweimal die Woche ein Streichkonzert, damit sie sich nicht langweilen, und zur Pediküre mussten sie vermutlich auch noch.

Das würde ja lustig werden. Ständig kam der Pastor mit irgendwelchem Gedöns an, um ihn auf „andere Gedanken“ zu bringen. Irgendwie war er ihm ja dankbar für sein Engagement und seine Freundschaft, aber er schob ihn ständig aus seiner Komfortzone in die unfreundliche Welt da draußen.

Erst vor kurzem hatte er dafür gesorgt, dass Felix nach nun mehrjähriger Auszeit von seinem Job von der Stadt einen Auftrag für ein Denkmalgutachten eines quasi abbruchreifen, alten Jahrhundertwende-Landsitzes irgendwo im Wald im weiteren Umkreis der Stadt erhalten hatte. Die Stadt hatte seine Sachkompetenz gelobt und im scheinbar nicht ganz unpolitischen Streit ein fachlich neutrales Urteil gewünscht. Auch damit hatte er sich noch kein Stück beschäftigt, er war bisher noch nicht mal vor Ort gewesen, um sich das Haus anzuschauen – und der Endtermin zur Abgabe rückte langsam aber unaufhaltsam näher.

„Na schön, ich überlegs mir noch“, sagte Felix. Er würde ihn ja sowieso nicht loswerden. Der Pastor hatte so eine Art an sich, dass man einfach nicht Nein sagen konnte.

Er bat den immer noch mit Vogelkäfig und einer großen Tüte bewaffneten Besuch nun endgültig herein und zeigte auf die Sitzecke im Wohnraum, in den man durch die große, übermannshohe doppelflügelige Tür von der Diele aus hineinsehen konnte.

Dankbar entledigte sich Gregor des schweren Käfigs. Er war ganz schön aus der Puste, obwohl er ganz sicher nicht unsportlich war. Er war Mitte dreißig und trotz oder vermutlich gerade wegen der eher geringen Körpergröße und einer gewissen Kompaktheit ziemlich kräftig und durchtrainiert, vermutlich auch nicht gerade typisch für einen Priester. Das Haupt bedeckten braune, krause Locken, die an den vorderen Ecken jedoch bereits langsam lichter zu werden begannen. Felix Brandtstädter war Mitte vierzig, groß und eher schlaksig. Als die beiden nebeneinander ins Wohnzimmer marschierten, hätte man sie von hinten für Pat und Patachon halten können. Felix trug – wie zu fast jeder Tages- und Nachtzeit einen dunkelgrauen Anzug mit Weste in einem altmodischen schmalen, hochgeschlossenen Schnitt, sodass man hätte meinen können, er sei gerade erst in einer Zeitmaschine vom Fotoshooting des CIAM-Gründungscongresses 1928 aus der Schweiz zurückgekehrt. Auf den ersten Blick verlieh ihm der Anzug eine gewisse Würde, erst auf den zweiten Blick sah man, dass die Kleidung schon ziemlich abgetragen und fadenscheinig war. Trotzdem wäre er mit seiner noch nahezu vollen Haarpracht, die ein bisschen an Cary Grant in seinen besten Jahren erinnerte, nur in blond und mit längeren Koteletten, durchaus nicht unattraktiv gewesen, wenn seine blauen Augen nicht so eine unendliche Traurigkeit ausgestrahlt hätten, dass selbst der tristeste, graue Souterraineingang daneben noch gestrahlt hätte wie eine bunte Blumenwiese.

Der Pastor hatte noch einen letzten Trumpf im Ärmel. Er wusste natürlich, wie sehr Felix alte Sachen schätzte, insofern hatte er auch in dieser Hinsicht vorgesorgt. „Frau Mielke will dir zum Dank auch was schenken.“

Er kramte in der Tüte, die er mit dem Vogelkäfig ebenfalls ins Wohnzimmer geschleppt und abgestellt hatte, und holte ein mittelgroßes, in Packpapier eingeschlagenes Päckchen heraus. „Ich habe Frau Mielke erzählt, dass sich der Vogelsitter sehr für alte Bücher interessiert und da hat sie mir erlaubt, etwas aus einer der Bücherkisten mitzunehmen, die ihre Nichte schon für den Trödel zusammengepackt hatte. Sie sagte, sie könne mit ihren Augen ja eh nicht mehr sehr gut lesen und nur wenige Sachen ins Altenheim mitnehmen, und bevor ihre Nichte alles versetzt, könnte ich das gerne haben.“

„Na, das wird ja sicher eine Offenbarung sein“, sagte Felix, „vermutlich eine 50er-Jahre Ausgabe irgendeines Heimatromans. ‚So ist die Liebe in den Bergen‘ oder etwas dergleichen, ganz großartig.“

Was der Pastor ihm jedoch überreichte, ließ ihn verstummen.

Statt eines Groschenromans kam ein mittelbrauner Ledereinband zum Vorschein, dessen Buchrücken mit allerlei Goldprägungen verziert war. Das Buch hatte ein großes Oktavformat, war also etwa so hoch wie ein DIN-A5-Blatt, dabei jedoch etwas schmaler. Auf dem Rücken klebte ein Etikett mit dem Titel ,Herrn Belidors Ingenieurwissenschaft‘.

„Erstaunlich, wo hat sie denn das her?“, sagte Felix. Sein antiquarisches Interesse war geweckt, zumal es sich auch noch um ein Buch handelte, das mit Architektur zu tun hatte. „Ich schätze mal ausgehendes 18. Jahrhundert. Bist du sicher, dass Frau Mielke wusste, was sie da verschenkt? Das Ding ist mit Sicherheit einiges wert.“

Gregor zuckte mit den Schultern: „Naja, wenn’s in einer Bücherkiste für den Flohmarkt lag …“

Vorsichtig blätterte Felix das Buch auf.

Neben dem Frontispiz, einem ganzseitigen Titelbild, das ein großes Portal vor einer Stadtlandschaft zeigte, vor dem eine teilentblößte Dame und mehrere Putten scheinbar in diverse Bücher vertieft saßen, war der Titel in roten und schwarzen Lettern gedruckt. Ganz unten auf der Seite stand die Jahreszahl 1757. Vorsichtig blätterte er die ersten Buchseiten um. Die Bindung war noch gut intakt. Anscheinend hatte das Buch keine Zeiten in feuchten Kellern oder muffigen Kisten verbracht und war auch wenig gelesen worden.

„Wenn’s dir nicht gefällt, kann ich gerne noch mal schauen, ob sie auch das mit dem Bergmädel irgendwo in der Kiste hat“, scherzte der Pastor. „Aber keine Sorge: Frau Mielke hat ausdrücklich bestätigt, ich könnte jedes Buch haben, denn sie könne ja ohnehin am Ende nichts mitnehmen – wobei ich mir nicht sicher war, ob sie das Altenheim meinte oder die nächstgrößere Weiterreise.“

„Ja, es ist schon komisch“, sagte Felix versonnen, „wir betrachten die Dinge gerne aus unserem Blickwinkel und denken daran, wem wir was hinterlassen oder was mit den Sachen wohl nach unserem Tode passiert. Betrachtet man das Ganze aus dem Blickwinkel des Buches, sind es die Menschen, die das Buch eine Zeitlang begleiten, pflegen, in den Schrank stellen, bis es sich einen neuen Begleiter sucht und wieder einen und wieder einen. Stoisch sieht es die scheinbar so wichtigen Dinge des Menschen an sich vorüberziehen.“

„Aber ein Buch hat keine Seele, es lebt und erlebt nicht und am Ende ist es doch der Vergänglichkeit preisgegeben. Der Mensch aber kehrt irgendwann zu seinem Schöpfer zurück und vollendet dort sein Leben. Er hat ein ewiges Zuhause“, warf Gregor ein.

Das Gottvertrauen des Pastors konnte Felix nach dem Tod seiner Frau nicht mehr uneingeschränkt teilen. Zwar besuchte er immer noch, wenn auch unregelmäßig, den Gottesdienst, aber sein Herz war nicht bei der Sache. Er konnte es nicht verwinden, dass Gott ihm so mir nichts, dir nichts den wichtigsten Menschen in seinem Leben genommen hatte. Und diese Trauer ließ ihn mittlerweile an vielem zweifeln. Manchmal hatte Felix das Gefühl, seine Begeisterung für alte Sachen rührte nur aus der Angst vor der Vergänglichkeit, der Panik vor Verlust und Sterblichkeit.

„Du bist wohl der Einzige, der es schafft, selbst dann noch schwermütig zu werden, wenn man ihm was schenkt“, sagte der Pastor. „Freu dich doch mal ein bisschen an dem unverhofften Zuwachs.“

Felix blätterte das Buch weiter durch. Neben dem zweifarbig gesetzten Text gab es diverse schöne Kupfertafeln. Als Felix vorsichtig eine davon auffalten wollte, fiel ein Stück Papier heraus.

Erschrocken und mit der Befürchtung, etwas kaputt gemacht zu haben, hob er das gefaltete Blatt auf. Aber das Papier sah ganz anders aus, das war definitiv keine Buchseite.

Er faltete den Zettel auf und las erst flüchtig, dann intensiver.

„Was ist es denn“, fragte der Pastor, „was Wichtiges?“

Aber Felix war schon wieder ganz in Gedanken verloren.

„Etwa ein alter Liebesbrief von Frau Mielke an einen geheimen Verehrer?“

Felix hörte gar nicht hin und zeigte keinerlei Regung.

„Jetzt mach’s nicht so spannend“, sagte der Pastor und versuchte über die Schulte auf den Brief zu spicken.

„Was? Wie?“, fuhr Felix aus seinen Gedanken hoch. „Hier lies selber.“ Er reichte den Zettel weiter, der offensichtlich ein Brief war.

Der Pastor hatte weniger Ehrfurcht vor alten Dingen, aber er bemühte sich doch, das Papier mit ebensolcher Vorsicht entgegenzunehmen. Darauf las er folgende Zeilen:

Meine Rose,

soweit Du diese Zeilen liest, werde ich vermutlich nicht mehr unter den Lebenden weilen.

Die Welt mag mir nicht gnädig sein, wie auch ich ihr keine Gnade zuteilwerden ließ, aber dies lässt meinen Mut nicht sinken, denn ich will ihre Gnade auch nicht. Gnade ist nur ein Zeichen von Schwäche und Rührseligkeit, die die Popen von der Kanzel predigen.

Denke aber immer daran, dass ich Dich trotz aller Unwägbarkeiten des Lebens und der Geschichte … (hier war ein Tintenfleck und das Wort unleserlich) geliebt habe, auch wenn Du es bei einem Menschen wie mir für nahezu unmöglich und wohl reine Eitelkeit gehalten haben magst.

Daher werde ich meinen größten Schatz auch nicht vernichten, sondern ihn für Dich an sicherer Stelle aufbewahren – am Ende unserer geheimen Treppe hinter Sedans Lohn. Sieh es als Zeichen meiner aufrichtigen Zuneigung. Vielleicht wirst Du es einmal …

Hier brach der Brief ab.

„Das ist ja … unglaublich“, sagte der Pastor. „Meinst du, da hat irgendeiner was Wertvolles versteckt?“

„Vielleicht“, antwortete Felix, „in jedem Fall ist es eine skurrile Entdeckung.“

Vermutlich war der Wunsch Vater des Gedankens, aber das war ein Fund, nach dem sich jeder Geschichtsbegeisterte sehnte. In alte Zeiten eintauchen, Geheimnisse lüften und Geschichte von damals neu erleben. Seine Augen leuchteten.

„Aber du hast keinerlei Anhaltspunkte. Man kann dem Brief weder einen Adressaten noch einen Absender entnehmen.“

„Also der Adressat ist ja genannt – eine gewisse Rose. Wie heißt Frau Mielke mit Vornamen?“

„Gerda. Aber was sagt das schon. Viele nennen ihre Frauen ja auch Häschen, Schätzchen oder Mausebein, warum nicht auch mal Rose?“

Felix hatte seine Frau immer Elke oder auch schon mal Frau Brandtstädter genannt – was sie nicht so gern gehabt und ihn dann scherzhaft dafür ausgeschimpft hatte. Aber dergleichen Kosenamen – nein, das war ihm viel zu albern.

„Wir können auch ohne die Namensangabe dem Brief einiges entnehmen. Also, was hätte Sherlock Holmes wohl aus dem Stück Papier alles herausgelesen? Betrachten wir das Dokument doch einmal eingehender.“

Der Pastor schaute sich das Blatt genau an, drehte es zwischen den Fingern und hielt es abschließend sogar gegen das Licht.

„Nun, das Papier ist etwa DIN A5 groß, fühlt sich wertig an und hat sogar ein Wasserzeichen. Der Vergilbung nach ist es sicherlich einige Jahrzehnte alt.“

„Schon nicht so schlecht, was? Aber da ist noch mehr“, ergänzte Felix. „Siehst du hier den Tintenfleck im Text? Und hier das etwas kleinere Pendant auf der anderen Blattseite? Der Brief ist fraglos in großer Eile geschrieben worden, denn der Schreiber hat – trotz des gewichtigen Inhalts – diesen Klecks ignoriert und einfach weitergeschrieben. Und er hat den Brief zusammengefaltet, bevor die Tinte trocken war. Würdest du deiner Angebeteten einen völlig verklecksten Abschiedsbrief hinterlassen?“

„Die Frage ist bei mir wohl eher rhetorisch“, erwiderte der Pastor mit Verweis auf seinen Berufsstand, der ihm das Eheleben ja nun nachhaltig untersagte, „aber ich weiß, was du meinst: Wenn er genug Zeit gehabt hätte, dann hätte er das verschmierte Blatt weggeworfen und einfach nochmal neu angefangen. Und er hätte vermutlich den Brief zu Ende geschrieben.“

„Nun“, ergänzte Felix, „theoretisch hätte es auch sein können, dass er es sich anders überlegt hat und den Brief einfach nicht weiterschreiben wollte, aber dann hätte er ihn wohl zerknüllt und weggeworfen. Tatsächlich hat er ihn aber zusammengefaltet und das, ohne vorher ein Löschblatt drüberzulegen. So haben sich die noch feuchten Punkte des oberen Textes auf die leere, untere Blatthälfte abgedrückt. Vermutlich ist der Schreiber beim Notieren der Nachricht irgendwie gestört worden.“

Felix besah sich nun das Buch, in dem der Brief gesteckt hatte. Auf der Seite, wo das Blatt herausgefallen war, konnte man ebenfalls einen kleinen blauen Fleck erkennen.

„Hier, siehst du diesen Tintenklecks? Er hat genau die gleiche Farbe wie die Tinte des Briefes. Wir können also konstatieren, dass der Brief vom Schreiber zusammengefaltet und dann direkt in dieses Buch gesteckt und danach offensichtlich nicht wieder herausgenommen wurde, bis die Tinte trocken war.“

„Das heißt“, ergänzte der Pastor, „dass das Buch wohl offensichtlich dem Schreiber gehört haben muss?“

„Das ist höchst wahrscheinlich, wobei die große Hast auch dafür sprechen könnte, dass er woanders geschrieben hat. Allerdings nicht in einer Bibliothek, denn dann wären in dem Buch Stempel oder Registernummern auf dem Buchrücken oder wenigstens die Klebespuren einer ehemaligen Nomenklatur.“

Er besah sich den Buchdeckel und den Vorsatz noch einmal. „Stattdessen ist aber ein Exlibris auf dem Vorsatz. Hier, sieh mal.“

Auf dem Innendeckel des Buches war ein etwa sechs mal sechs Zentimeter großer Aufkleber mit einem ungewöhnlich dekorativen Motiv angebracht. Es zeigte eine Art Wappen mit einer Rose vor einem Baum, in dessen Krone der Name Samuel Rosenholz kunstvoll kalligrafisch eingebunden war.

Der Name kam Felix entfernt bekannt vor, aber er konnte sich partout nicht entsinnen, wo er ihn schon einmal gesehen oder gelesen haben könnte.

Gregor war deutlich pragmatischer als Felix, was von Vorteil war, wenn es sich dieser mal wieder viel zu kompliziert machte. „Da ist eine Rose im Wappen. Und der Brief beginnt mit: „Meine Rose …“ Kann es sein, dass Herr Rosenholz seiner Gattin diesen Brief geschrieben hat?“

„Grundsätzlich ist das eine plausible Theorie, aber mindestens genauso wahrscheinlich wie die, dass der Brief Frau Mielke gehört. In jedem Fall bestärkt es mich in der Ansicht, dass das Buch fälschlicherweise herausgegeben wurde. Wir müssen es Frau Mielke zurückbringen, egal ob sie das nun im Altenheim gebrauchen kann oder nicht. Aber bei der Gelegenheit könnten wir sie ja mal auf den Brief ansprechen.“

„Du hast wahrscheinlich recht. Und Frau Mielke wird sich über Besuch sicher freuen. Aber heute ist es schon zu spät, die Besuchszeit ist vorbei. Um 18:00 Uhr gibt’s im Altenheim bereits Abendbrot.“

„Das wird wohl eines der Dinge sein, an die ich mich dort nie gewöhnen werde: dass man schon am frühen Nachmittag ins Bett geschickt wird“, seufzte Felix fatalistisch.

„Denk doch nicht jetzt schon ans Altenheim. Du bist doch grad mal Mitte 40!“ Der Pastor war eigentlich eine Frohnatur, die jeden mitreißen konnte, aber bei Felix verzweifelte selbst er manchmal.

„Also schön, bevor ich mir da ein Zimmer miete, bringen wir erst mal Frau Mielke das Buch zurück“. Mit diesen Worten faltete Felix den Brief wieder zusammen und steckte ihn zurück ins Buch.

„Gut, ich werde auch mal wieder“, sagte der Pastor und wendete sich Richtung Ausgang.

„Halt, stopp mal, nicht so schnell“, hielt Felix ihn zurück, „was mache ich denn jetzt mit den beiden Vögeln hier?“

„Na, wie ich gesagt habe: Morgens und mittags etwas Obst geben, abends ein paar Nüsse und jeden Tag zweimal fliegen lassen.“

Der Pastor war der perfekte Netzwerker. Er hatte so eine Art, dass man ihm Gefallen kaum abschlagen konnte. Allerdings nutzte er diese Gefallen praktisch nie für eigene Zwecke, sondern ganz im Sinne seiner christlichen Agenda für die Belange seiner Nächsten, die zum Teil mit den unmöglichsten Dingen an ihn herantraten. Diejenigen, denen Gregor helfen konnte – und das waren nicht wenige – waren so dankbar, dass sie ihn dann auch wieder gerne bei anderer Gelegenheit unterstützten. Und so entwickelte sich mit der Zeit ein komplexes Netz aus Helfenden und Unterstützten, wie es nach seinem Verständnis der Bibel Gott auf Erden für die Menschen vorgesehen hatte.

„Oh je“, stöhnte Felix. „Ich hoffe, der Herr wird’s mir eines Tages danken.“

„Der vermutlich auch“, erwiderte der Pastor, während er sich bereits wieder auf sein Rennrad schwang, „aber insbesondere Frau Mielke, der wir morgen mit gutem Gewissen sagen können, dass ihre beiden Lieblinge nicht zu Katzenfutter verarbeitet werden.“

„Na gut“, sagte Felix, „aber ich behalte mir vor, die beiden umzubenennen. Lori und Leo klingt einfach zu banal.“

Auch nachdem der Pastor weg war, ließ Felix der ominöse Brief nicht los. Schon als Kind hatte er zu viel Fantasie gehabt und ein bisschen davon hatte sich bis heute erhalten.

Viele hätten diesen Brief vermutlich als triviale Alltagsschreiberei abgetan, aber Felix spürte instinktiv, dass es ein Rätsel um dieses Schriftstück gab, das sich zu entwirren lohnte – und er liebte Rätsel.

Bis spät in den Abend grübelte er über die Worte in dem Brief, ohne einen Zusammenhang herstellen zu können. Er brauchte einfach mehr Information! Aber wie genau er sich das Buch auch anschaute, er fand nichts, das ihm weiterhalf.

Müde und ein wenig frustriert schaute er den beiden neuen Mibewohnern zu. „Tja, ihr wisst wohl auch nicht, wer diese ominöse Rose ist“, sagte er mehr zu sich selbst als zu den Vögeln, worauf diese kurz von ihrem Futter abließen und begeistert im Chor „Rosi, Rosi“ riefen.

Hoppla, die lernen ja schnell, dachte Felix. Eigentlich hatte er das immer für einen modernen Mythos gehalten, aber die schienen wirklich sprachbegabt zu sein. In diesem Fall musste er wohl aufpassen, was er sagte, sonst würden sie vermutlich bald eine bunte Mischung aus Schimpfwörtern nachplappern, die ihm entwischten, wenn etwas nicht so klappte, wie er es sich vorgestellt hatte.

Noch blieben die Vögel allerdings bei Rosi, was Felix auch irgendwie kompromittierend fand, denn schließlich hieß seine verstorbene Frau ja Elke.

„Los, sagt mal Elke, Elke. Na?“

Die Vögel blieben aber bei Rosi. „Tja, Elke, da wirst du dich wohl leider an die Konkurrenz gewöhnen müssen“, sagte er halblaut zu seiner verstorbenen Frau. Mit ihr zu reden, das war für ihn mindestens genauso normal wie für andere, mit ihren Haustieren zu reden. Eigentlich redete er immer noch so mit ihr, als wäre sie nur gerade in der Küche einen Kaffee holen.

Kapitel 2

Am nächsten Tag wachte Felix bereits früh am Morgen auf. Gerade blitzten die ersten Sonnenstrahlen durch die weißen Holzlamellen der Fensterläden. Das frühe Aufstehen sah ihm überhaupt nicht ähnlich, Felix war kein Morgenmensch. Er quälte sich grundsätzlich aus dem Bett und war vor dem ersten Kaffee auch nicht wirklich ansprechbar. Er konnte die Leute nicht verstehen, die freiwillig morgens eine Stunde eher aufstanden, um dann auch noch joggen zu gehen oder Aerobic vor dem Fernseher zu machen. Abgesehen davon, dass er Aerobic vor dem Fernseher sowieso für den größten Unfug der Menschheitsgeschichte hielt, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, dafür auch noch extra früher aufzustehen und die wertvollste Energie des Tages damit zu vergeuden, hirnlose Leibesübungen nachzumachen, die einem irgendeine Tante in rosa Leggings und Baumwollstrümpfen vorturnte.

Aber heute war es seltsamerweise anders. Nicht was das Joggen oder Aerobic in rosa Leggins betraf – die blieben ein Verbrechen an der Menschheit – aber er war bereits bei Sonnenaufgang hellwach. Er fühlte sich ein wenig wie ein Kind am Weihnachtstag. In der Erwartung des großen Abends wieselte man schon morgens um fünf durchs Haus und riss die genervten Eltern aus dem Tiefschlaf.

In Ermangelung seiner Eltern klingelte er stattdessen beim Pastor an. Eigentlich hatte er eine mürrische, verschlafene Stimme erwartet, stattdessen meldete sich der Pastor frisch und munter.

„So früh schon wach?“, fragte Felix. „Klar“, erwiderte Gregor, „ich war gerade schon eine Runde um den Block joggen. Frisch gestärkt und mit ein bisschen Bewegung kommt man doch morgens gleich viel besser in Schwung.“

„Und hast du auch die Aerobic-Übungen aus dem Tele-Gym mitgemacht?“, fragte Felix, eine für ihn absolut logische Konsequenz.

„Wie?“

„Ach nichts, schon gut.“

Sie verabredeten sich für 11:00 Uhr an der Eingangspforte des Altenheims. Felix hatte das Buch mit dem Brief unter den Arm geklemmt. Als er punktgenau um 10:59 Uhr den waschbetonplattierten Weg zum Haupteingang entlanglief, stand der Pastor bereits da und schwatzte mit einem der Heimmitarbeiter. Da er einige der Bewohner seelsorgerlich betreute, war er auch hier bestens bekannt.

Das Seniorenheim des örtlichen Sozialdienstes war kein Bau, auf den das Prädikat architektonisch wertvoll gepasst hätte. Dem Objekt sah man schon von weitem an, dass es als Nutzbau konzipiert worden war. Die Anlage, deren beide Bettenflügel mit dem eingeschossigen Mittelbau eine Art H bildeten, stammte aus den späten 60er Jahren und hatte seitdem wohl auch keinen Handwerker mehr von nahem gesehen. Hie und da blätterte bereits die Farbe ab und auf der Fassade setzte sich langsam Moos an, wo die nicht sehr gut gepflegten Vorgartensträucher an das Haus heranwuchsen.

Das erwartet mich also in spätestens 20 Jahren, dachte Felix missmutig, als er zusammen mit dem Pastor die ramponierte Eingangstür durchschritt. Es war ihm als Architekten unbegreiflich, wie Menschen in einer solchen Umgebung Stein gewordener Unästhetik lange überleben konnten. Naja, vermutlich taten sie das auch nicht, dachte er. Der trübe Eindruck setzte sich auch im Innenbereich fort, in dem es neben Bohnerwachs nach dem typischen „Alte-Leute-Muff“ roch, der sich im Wesentlichen aus den drei Hauptelementen Tigersalbe, Tabac Original und Klosterfrau Melissengeist zusammensetzte, jedoch – ähnlich wie beim Schwarzpulver – nur in der exakten Mischung wie sie ausschließlich in Einrichtungen dieser Art vorkam, seine volle, grauenhafte Wirkung entfalten konnte.

Der Pastor grüßte im Vorbeigehen freundlich die säuerlich dreinblickende Dame in der verglasten Pförtnerloge, die etwa den Charme eines Kartenverkaufsschalters in einem ungepflegten Kleinstadtbahnhof hatte – also die Loge, wobei man auch der Dame grundsätzlich zugetraut hätte, dass sie heimlich unterm Ladentisch noch Karten für den D-Zug um 11:23 Uhr verkaufte.

Sie fanden das Zimmer von Frau Mielke im 2. Stock am Ende des knallgelb gestrichenen Ganges, auf dem zwei tratschende Schwestern sich Zigaretten qualmend aus dem Flurfenster lehnten, direkt neben einem „Bitte nicht rauchen“-Schild .

Frau Mielke begrüßte den Pastor fast überschwänglich, als dieser mit Felix nach höflichem Anklopfen das winzige Zimmer betrat. Immerhin schien es ein Einzelzimmer zu sein, was in diesem Gebäude wohl nicht unbedingt üblich war.

„Ach, Herr Pastor, das ist aber nett, dass sie mich besuchen kommen!“ Sie musste Ende 80 sein, wobei das Alter für Felix schwer zu schätzen war – eigentlich, dachte er, war jedes Alter, in dem man nicht gerade selbst war, schwer zu schätzen. Als Kind waren ja auch Erwachsene jenseits der 20 uralt und da gab es höchstens einen Unterschied zwischen Oma und Mama. Aber ob Mama nun 30 oder 40 war, war als Kind ein völlig theoretischer Wert – ungefähr so greifbar wie unendlich und zweimal unendlich.

Frau Mielke war aus ihrem Stuhl, dem einzigen im Raum, der an einem kleinen runden Tisch stand, aufgestanden und auf die beiden zugekommen, obschon sie nicht mehr gut zu Fuß war.

„Hallo, Frau Mielke“, sagte der Pastor in warmherzigem Ton. „Es freut mich, dass es Ihnen gutgeht, Sie können ja sogar wieder ein bisschen gehen. Haben Sie sich denn hier schon ein wenig eingewöhnt?“

„Verwöhnt? Ne, verwöhnt werd ich hier jetzt nich gerade.“ Schwerhörig war sie offenbar auch, das konnte ja eine tolle Unterhaltung werden, dachte Felix. „Aber man lebt sich so ein. Ja, es ist schon besser hier, die Hausarbeit hätt ich ja doch nicht mehr machen können und es kümmert sich ja keiner mehr um mich, seit mein Mann – Gott hab ihn selig – gestorben ist. Hier gibt’s regelmäßig was zu essen und saubergemacht wird auch. Aber wissense, es ist ja doch sehr langweilig hier“, sie zwinkerte dem Pastor schelmisch zu, „hier sind ja überall nur alte Leute.“

Felix musste ein Schmunzeln unterdrücken, während ihm der Pastor unauffällig in die Rippen boxte.

„Aber ihre Nichte kommt sie doch sicher öfter mal besuchen oder?“

„Wer?“

„Ihre NICHTEEE, die Frau Lochner.“

„Die? Ach was glauben Sie denn. Die jungen Dinger haben doch alle nur Flausen im Kopf. Erben wollense aber sonst auch nix. Nene, wenn es hier nicht wenigstens den Fernseher gäbe, würde ich schon allein an Langeweile sterben. Wobei, die heutigen Sendungen sind ja auch alle nicht mehr das, was sie mal waren. Das ganze neumodsche Zeugs, immer mit Mord und Totschlag wie beim Tatort oder diese neue Lindenstraße – schrecklich. Jetzt mal unter uns Pastorentöchtern“, dabei zwinkerte sie dem Pastor zur plakativen Verdeutlichung ihres kleinen Wortwitzes wieder fröhlich zu, „wer will denn sowas Scheußliches sehen? Die guten alten Filme werden heutzutage ja fast gar nicht mehr gezeigt. Diese schönen Filme mit Rudolf Prack und Sonja Ziemann oder Marika Rökk. Und dafür kommt dann diese GEZ zu dir nach Hause und knöpft dir das letzte Geld ab, wo man doch schon so wenig Rente hat.“

Felix konnte sich aus seiner Jugend nur dunkel an die schnulzigen 50er-Jahre-Streifen erinnern. Einen Fernseher hatten sie damals natürlich noch nicht und ins Kino gehen kam im Sündenregister schon kurz nach Sex vor der Ehe. Naja, wenn man den Prahlereien so mancher Oberprima-Kollegen von damals glauben konnte, lief’s hie und da vermutlich auch fast auf dasselbe raus. Wie auch immer, verpasst hatte er da nix – zumindest nicht, was die Filme anging. Er hielt zwar von den genannten heutigen Serien ebenso wenig wie Frau Mielke und ärgerte sich auch jedes Jahr aufs Neue wieder über die Fernsehzwangsabgabe, aber er war eigentlich der Ansicht, dass diese gruseligen Schnulzenstreifen immer noch viel zu häufig im Fernsehen gezeigt wurden.

„Was machen denn meine Lieblinge? Haben Sie sie denn gut untergebracht? Ist doch eine Schande, dass man hier keine Tiere halten darf. Meine Lori macht doch weniger Dreck als die beiden Rauchschlote da draußen. Habense die gesehen? Stehen doch bestimmt wieder aufm Flur und quatschen.“

„Ja, wir sind gewissermaßen deswegen hier. Darf ich Ihnen Herrn Brandtstädter vorstellen? Er kümmert sich seit gestern um Ihre Vögel.“

Jetzt erst schien Frau Mielke Felix zu registrieren. „Ach, das ist aber nett. Mögen Sie Vögel auch so gerne wie ich?“

Ja, draußen in der Natur schon, dachte Felix.

„Wir haben sie schon seit über 50 Jahren. Damals haben wir noch auf der Karl-Haarmann-Straße gewohnt, mein Mann und ich. Wir haben sie fast als Küken von einem Bekannten aus Holland bekommen. Das war noch vor dem Krieg und sogar noch vor den Nazis. Die beiden haben mit uns zusammen alles überlebt: den Luftkrieg, die harten Winter danach aber vor allem die Gestapo. Naja, man hatte ja immer Angst, dass die Vögel irgendwas aufschnappen und dann im falschen Moment ausplaudern. Man musste da schon achtgeben, was man sagt. Was meinense, was da los gewesen wäre, wenn so ein hundertfünfzehnprozentiger beim Kaffee sitzt und die Lori ruft „Scheiß Hitler“ oder sowas. Da wärense doch standrechtlich erschossen worden für. Aber die haben im rechten Moment immer die Klappe gehalten. Richtig klug sind die und so lieb und zutraulich.“

Ja, und so laut und nervig, hätte Felix am liebsten gesagt, aber er verkniff es sich. Schließlich war er ja nicht hier, um sich über die Vögel zu beschweren, sondern um das Buch zurückzugeben und etwas über den Brief zu erfahren.

„Ja, sehr nett“, sagte er stattdessen.

„Und so klug, wissense?“

Ja, das wusste er, das hatte sie schon vor einer Minute gesagt.

„Mein Leo vergisst kein Gesicht. Der Herr Schwesig – das ist der Gasableser, wir haben ja schon seit den 60ern Ferngas, wissense, der war ja mal zwei Jahre weg, hat’s ja angeblich so im Rücken gehabt. Naja, ich glaub ja nicht dran, da war doch irgendein Frauenzimmer Schuld und seine Frau hat ihn vor die Tür gesetzt – und mit Recht, nicht wahr, was muss er da auch mit ner andern rumpoussieren. Naja, was wollt ich sagen … Auf jeden Fall kam der nach zwei Jahren wieder und was meinense: Ruft der Vogel doch direkt „Habicht, Habicht“ als der reinkommt. Wissense, wir haben den zu Hause heimlich immer Habicht genannt, weil der so ne Hakennase hatte. Naja, der Leo kann sich aber nicht nur Gesichter merken, der kann über 100 Wörter sprechen. Ach, es ist ein Jammer, dass ich die beiden nicht mitnehmen konnte.“

„Soso“, sagte Felix. In der Tat hatte er ja selbst gemerkt, wie schnell die Vögel lernten, wobei er Lori und Leo – diese grässlichen Namen, was konnte man den armen Tieren nur mal für neue Namen geben – auch nicht unterscheiden konnte.

„Ja, sehr tragisch, dass Sie die Vögel nicht mitnehmen konnten“, ergänzte er. Und das meinte er aus tiefstem Herzen.

„Aber nochmal wegen des Buches, das Sie dem Pastor für mich mitgegeben haben.“ Felix holte das Buch aus der Tasche.

„Wegen des Tuches?“, fragte Frau Mielke. „Was denn für ein Tuch?“

„Das BUCH. Herzlichen Dank, aber das war bestimmt ein Missverständnis, das kann ich nicht annehmen.“

„Ach was, junger Mann, behaltense das mal ruhig. Am Ende kann man ja zum Herrgott eh nix mitnehmen – und eigentlich hier ins Altersheim auch schon nicht. Und selbst wenn, wird’s einem hier eh geklaut. Die Frau Schmitt von gegenüber, der habense ja das Portemonnaie aus dem Zimmer geklaut. Fuffzich Mark waren da drin. Da hat unsereiner früher ne ganze Woche für arbeiten müssen. Das war bestimmt eine von den qualmenden Schrappen da draußen. Nene, das passt schon, junger Mann. Wenn die beiden dann ein gutes Zuhause haben …“

Von wegen junger Mann, dachte Felix. Zweimal umgeguckt und ich sitze auch hier auf diesem hässlichen, rundgelutschten Stapelmobiliar aus Rotbuche auf mausgrauem PVC-Boden und muss den ganzen Tag Kastanienmännchen basteln.

„Ja, danke Frau Mielke“, sagte er stattdessen, „aber sehen Sie sich das Buch lieber nochmal an. Das ist uralt und mit Sicherheit sehr viel wert. Das muss ein Missverständnis gewesen sein.“ Er holte das Buch hervor und zeigte es Frau Mielke. Frau Mielke schaute aufs Buch und dann schnell wieder weg. Es schien fast so, als hätte es ihr einen Schrecken eingejagt.

„Wollen Sie es nicht vielleicht doch behalten? Wo haben Sie das denn her?“

Frau Mielke nahm das Buch in die Hand und wie Kryptonit bei Superman schien es ihr sämtliche Lebensenergie auszusaugen. Mit zittrigen Händen hielt sie das Exemplar und besah es sich mit starrem Blick, als hätte sie einen Korb Schlangen in der Hand.

„Ja, woher …“, sagte sie. „Wissense, ich weiß es nicht mehr … es sind ja so viele Bücher. Mein Mann hat ja die Schränke mit Allmöglichem vollgestellt.“

„Nun, vielleicht hilft Ihnen das Exlibris hier weiter. Es ist von einem Herrn Rosenholz.“

„Rosenholz, der alte Rosenholz, ach herrje …“ Es schien, als rede sie mehr mit sich selbst als mit Felix oder dem Pastor. Dann aber sah sie die beiden wieder an. „Aber wo wir das herhaben, nein, ach es ist ja auch alles so lange her… Ich glaub ich muss mich auch mal wieder ein bisschen ausruhen.“

Sie war auf einmal ganz blass und zittrig geworden.

„Ja, dann setzen Sie sich mal lieber“, sagte nun wieder der Pastor, holte schnell den Stuhl vom Fenster heran, sodass Frau Mielke sich hineinfallenlassen konnte.

„Mir wird ein bisschen schwarz vor Augen“, sagte sie. „Der Kreislauf wissense, im Alter kann man dann doch nicht mehr so, wie man will.“

Sie gab Felix das Buch zurück – scheinbar um sich besser festhalten zu können.

„Sollen wir die Schwestern rufen?“, fragte dieser jetzt.

„Ja, vielleicht ist das ganz gut. Ich muss mich nur mal ein bisschen hinlegen, dann geht’s gleich wieder. Tut mir leid, dass ich Ihnen so viele Umstände mache.“

„Ach was“, beschwichtigte der Pastor. „Ruhen Sie sich nur aus. Wir kommen gerne ein andermal wieder. Wir holen eine Pflegerin und dann können Sie sich wieder ein bisschen berappeln.“

„Ja, danke“, sagte Frau Mielke. „Und kümmern Sie sich um Lori und Leo.“

Eine Schwester kam rein, half Frau Mielke ins Bett und gab ihr ein paar Tabletten.

Etwas verstört verließen die beiden das Zimmer. Felix war nicht mal dazu gekommen, ihr den Brief zu zeigen. Anscheinend weckte das Buch selbst schon genügend schlechte Erinnerungen, um bei Frau Mielke fast einen Herzanfall auszulösen.

„Ich glaube, wir gehen mal besser“, riet der Pastor.

„Und was machen wir jetzt mit dem Buch?“

„Das nehmen wir wohl erst mal wieder mit. Frau Mielke scheint es nicht sonderlich zu mögen. Man hat fast den Eindruck, sie fürchtet sich davor.“

„Ja seltsam, nicht wahr? Es muss doch irgendein Geheimnis um dieses Buch und den darin enthaltenen Brief geben. Irgendeine spannende Geschichte.“ Und Geschichte war etwas, das Felix schon immer fasziniert hatte.

Vor dem Heim trennten sich die beiden. Zu Hause angekommen umfing Felix wieder die altvertraute Umgebung seiner eigenen Geschichte. Den Tag brachte er mit der Erledigung mehr oder weniger notwendiger Dinge hinter sich, ohne am Abend wirklich zu wissen, was er denn alles getan hatte. Er kramte einen guten Whisky aus dem Schrank und ließ sich mit dem halbvollen Glas in der Hand in einen der Sessel fallen. Er sog den angenehmen Geruch von Sherry, Vanille und einem Hauch Torfrauch ein. Das Aroma in der Nase war ihm fast wichtiger als der Geschmack. Gerüche und Düfte brachten ihm Erinnerungen zurück. Oft saß er mit einem alten Ilay-Whisky stundenlang einfach nur so da, nippte an seinem Glas, hörte den Amseln bei ihrem Gesang zu und hing seinen Gedanken nach. Meist waren sie bei seiner Frau. Er war kein Alkoholiker, aber manchmal stellte er beim Ins-Bett-Gehen doch fest, dass die Flasche seltsamerweise ein ganzes Stück leerer geworden war.

Heute allerdings war ihm nach Musik. Er kramte eine Schallplatte aus seiner Sammlung heraus: Rimsky-Korsakows Scheherazade. Die hatte er schon lange nicht mehr gehört. Er erinnerte sich noch genau, wie er damals mit seiner Frau – damals war sie noch gar nicht seine Frau – im Konzert gewesen war. Er hatte sich das Geld dafür buchstäblich vom Munde abgespart, um gute Plätze zu bekommen. Damals war er noch Student gewesen und musste jeden Pfennig umdrehen.

Eigentlich waren ihm die Romantiker etwas zu … naja romantisch. Die Musik erinnerte ihn immer ein bisschen an die Hintergrundmusik schwermütiger Hollywood-Liebesfilme aus den 50ern. Er mochte es etwas dramatischer und klarer: Brahms, Beethoven. Aber als er damals im Halbdunkel des Konzertsaales seine Frau ansah, wie sie von der Musik ergriffen fast mit den Tränen rang, begann er den Zauber zu verstehen, und von da an liebte er dieses Stück.

Heute aber konnte er sich kaum auf die Musik konzentrieren und statt dem ebenmäßigen Gesicht seiner Frau tauchte vor seinem geistigen Auge immer wieder der entsetzte Blick von Frau Mielke auf. Ihre Reaktion ließ ihn nicht los. Und es war jetzt keine wirklich angenehme Vorstellung, den Rest seines Lebens mit Frau Mielke im Kopf zu verbringen. Er stand auf und nahm das Buch noch einmal zur Hand.

Er blätterte es an der Stelle mit dem Brief auf, der jetzt direkt bis zur Bindung eingeschoben zwischen den Seiten steckte. Er besah sich die Seite mit dem Tintenfleck, nahm den Brief heraus und steckte ihn wieder in das Buch. Er wiederholte den Vorgang und stellte fest, dass das Blatt jedes Mal an einer anderen Stelle landete. Wie wahrscheinlich war es, dass dieser Brief nach dem Lesen wieder an derselben Stelle landete wie vorher? Das konnte nur heißen, dass der Brief in diesem Buch steckte, seitdem er geschrieben worden war, ohne je entdeckt worden zu sein.

Da der Brief weder vom inhaltlichen Duktus noch von der Handschrift her zu einer gemütlichen, netten, alten Dame zu passen schien, und sie ihn also wohl nicht selbst geschrieben hatte, konnte Frau Mielke den Brief dann vermutlich gar nicht kennen.

War er vielleicht doch von diesem Herrn Rosenholz geschrieben worden? Der Name schien bei ihr schlimme Erinnerungen geweckt zu haben. Rosenholz. Wenn Frau Mielke ihn kannte und er folglich aus der Gegend stammte, müsste sich der Name doch recherchieren lassen. Der Pastor, dachte er, der hatte doch Zugriff auf alle Gemeinderegister.

Es war ja erst 23:30 Uhr, also normale Architektenarbeitszeit.Daher dachte Felix sich auch nichts dabei, dort noch einmal anzurufen.

Nach dem 17. Klingeln ging Gregor auch endlich dran. Felix hörte ein traniges „Ja, Pfarrer Szymaniak hier. Was gibt’s denn“ am anderen Ende der Leitung.

„Felix hier. Frau Mielke geht mir nicht mehr aus dem Kopf.“

„Ist ja schön, dass dir das mitten in der Nacht einfällt“, murrte der Pfarrer, „aber ist die nicht doch ein bisschen zu alt für dich?“

„Was?! Ach so, nein, ich meine die geheime Geschichte. Kannst du nicht mal die Gemeinderegister nach dem Rosenholz durchforsten? Wenn Frau Mielke den kennt, muss der doch hier aus der Gegend sein.“

„Ja, aber nicht mehr heute, okay?“

„Morgen reicht völlig“, sagte Felix großzügig. „Sollte doch mit dem Teuf… äh ich meine, wäre doch gelacht, wenn wir nicht hinter das Geheimnis des Buches kämen.“

„Vermutlich. Aber meinst du, das ist klug?“, sinnierte der Pfarrer. „Manchmal ist es besser, alte Geschichten ruhen zu lassen.“

Keiner von beiden ahnte, wie recht der Pastor mit diesem Ausspruch haben sollte. Hätten sie es gewusst, hätten sie vermutlich den Brief verbrannt und das Buch für immer ins höchste Regal gestellt.

Kapitel 3

Gregor hatte Felix versprochen, den Namen Rosenholz im Gemeinderegister nachzuschlagen. Aber der Folgetag war mit Terminen bereits gut gefüllt und so kam er erst am Nachmittag dazu, sich mit der Recherche zu beschäftigen.

Die meisten Leute, die mit dem Job eines Pfarrers nicht vertraut waren, hatten immer die irrige Vorstellung, dass dieser sechs Tage lang verzweifelt an seiner Predigt kaut, um sie dann am Sonntag zu halten und danach für den Rest der Woche, soweit vielleicht nicht noch eine Taufe oder Krankensalbung dazwischenkam, in der Versenkung zu verschwinden und sich von seiner Haushälterin bekochen zu lassen.

Frau Schlüter, die gute Seele, konnte zwar wirklich gut kochen und machte das auch regelmäßig für ihn, an der Stelle endete die Übereinstimmung von allgemeiner Vorstellung und Realität aber auch schon. Die meisten Tage waren von morgens bis abends durchgetaktet: Haushaltspläne für den Kirchenvorstand vorbereiten, Arbeitspapiere für den Dekanatskreis oder den Messedienstplan neu erstellen, weil Frau Remmers-Struckmann, die stellvertretende Pfarrgemeinderatsvorsitzende und obendrein Leiterin des Arbeitskreises “Emanzipierte Frauen für die katholische Kirche“ kurz EFfkaK ungeachtet von Urlauben und Verfügbarkeiten peinlichst genau darauf achtete, dass beim Hochamt Woche für Woche immer schön abwechselnd ein Mann und eine Frau als Kommunionausteiler/in mit am Altar standen. Kam dann noch Herr Mahlmann dazu, der grundsätzlich jeden Sonntag in der dritten Reihe vorne links mit seinem Schott-Messbuch saß, und ihn montags gleich morgens anrief, um ihm einen einstündigen Vortrag darüber zu halten, dass er bei der Liturgie wieder etwas überlesen habe, fing er manchmal an, die Sinnhaftigkeit seins Tuns ein wenig anzuzweifeln. Für seinen Geschmack traten die seelsorgerlichen Tätigkeiten nur allzu oft in den Hintergrund.

Dabei hatte er sich den Beruf streng genommen nicht einmal selbst ausgesucht. Als sein Vater damals in Gefangenschaft kam, hatte seine Mutter täglich in der Kirche eine Kerze angezündet und einen Rosenkranz gebetet. Sie versprach dem Herrn, eines ihrer Kinder werde Pastor werden, wenn er ihren Mann wieder gesund heimbringen würde.

Auch wenn das Versprechen vermutlich nicht ausschlaggebend war, sah sich seine Mutter daran gebunden, als ihr Mann tatsächlich eines Tages wie durch ein Wunder vor der Haustür stand. Allerdings blieb ihr der Sohn, mit dem sie ihren Eid hätte erfüllen können, lange Zeit versagt und das Haus füllte sich derweil mit Töchtern, sodass der heimgekehrte Mann sich an manchen Tagen fragte, ob denn die Kriegsgefangenschaft nicht am Ende doch der bessere Deal gewesen wäre.

Als nun endlich der ersehnte Sohn zur Welt kam, war bereits klar, dass er einmal Priester werden würde – was diesen jedoch nicht davon abhielt, sich beim Fußball die Knie blutig zu spielen, ständig völlig verdreckt nach Hause zu kommen oder sich mit den Nachbarskindern zu prügeln, wenn diese ihn wieder mal als Pollacken beschimpften, weil die Familie erst nach seiner Geburt als sogenannte Spätaussiedler nach Deutschland gekommen war. Und so fragte sich der Vater an anderen Tagen, ob es nicht besser gewesen wäre, einfach bei Tochter Nummer drei aufzuhören, und diese quasi als kleine Wiedergutmachung ins Kloster zu stecken. Vielleicht hätte Gott da nicht so genau hingesehen.

Aber Gottes Plan war ein anderer und interessanterweise haderte der Pastor trotz seiner quirligen Kindheit keinen Tag mit dem für ihn vorgesehenen Berufsweg. Gottes Werk und Wort, seine Liebe und Güte in die Welt hinauszutragen, erfüllte ihn von Anfang an mit Leidenschaft.

Die Gemeinde St. Ignatius war nach acht Jahren als Kaplan seine erste eigene Gemeinde. Anfangs hatte er es hier nicht immer leicht gehabt – anders als im Ruhrgebiet, wo er aufgewachsen war. Dort war ja mehr oder weniger jeder Zweite mal irgendwann aus Polen eingewandert. Abseits der großen Städte, in einer eher konservativ geprägten, kleinbürgerlichen Gegend, gab es schon das eine oder andere Ressentiment, aber seine ruhige und in jeder Hinsicht den Menschen zugewandte Art hatte etwas, das auch den mürrischsten Zweifler früher oder später freundlich werden ließ.

Dabei war er kein Schwätzer, im Gegenteil. Meist sagte er nicht viel und ließ die anderen von sich erzählen, stellte hin und wieder interessierte Fragen und am Ende wusste der andere meist ganz genau, was er machen musste. Und wenn er dabei Hilfe brauchte, fand der Pastor immer einen Weg, diese zu organisieren.

Er war einer der ersten, die das Beichtgespräch einführten, und wo in anderen Gemeinden die Beichtstühle oftmals verwaisten, standen die Leute bei ihm teilweise Schlange, um bei frisch gebrühtem Bohnenkaffee und in lockerer Atmosphäre ihre Sorgen und Nöte des Alltags loszuwerden.

Nur eine Schatzsuche stand nicht so oft auf seiner Agenda. Aber er sah sie nicht nur als reine Gefälligkeit gegenüber Felix, nein, mittlerweile begann er sich auch selbst dafür zu interessieren, wenn auch aus einer etwas anderen Motivation heraus. Wenn Frau Mielke an diesem Thema so schwer trug, vielleicht konnte man ihr doch irgendwie damit helfen.

Gregor war froh, als der übliche Orga-Kram erledigt war, und er sich endlich dem Thema Rosenholz widmen konnte.

Anders als Felix lagen ihm lange Recherchen und Tage in staubigen Archiven nicht so sehr, daher löste er die meisten Probleme durchs Netzwerken. Ein paar Anrufe und ein Besuch bei einem seiner Gemeindereferenten hatten genug Informationen eingebracht, sodass er sich zufrieden mit seiner Arbeit auf den Weg zu Felix machte. Der war sicher zu Hause – wo auch sonst.

„Also im Gemeinderegister war nichts zu finden und im Nachhinein weiß ich auch warum“, berichtete er, als sie wieder im großen Wohnzimmer Platz genommen hatten – diesmal um den antiken Eiche-Schreibtisch. Im Rest des Zimmers war es kaum noch möglich, irgendwohin zu treten. Felix hatte bei seiner Recherche alle möglichen Bücher, Zeichnungen und weitere Unterlagen auf dem Fußboden verteilt.

„Warum? Hat er den Namen gewechselt?“

„Nein, noch ganz anders. Ich habe mit mehreren Leuten gesprochen: Die einzige in Frage kommende Person die mir genannt wurde, war der Fabrikant Samuel Rosenholz, dem die früher hier ansässige Spinnereifabrik gehörte. Er war Jude und da taucht er natürlich nicht bei uns im Gemeinderegister auf.“

„Oh je, ich fürchte, ich kann mir schon denken, wie es weiterging.“ Und Felix wurde wieder einmal daran erinnert, dass Geschichte auch etwas anderes als sentimentaler Rückzugsort sein konnte.

„Ja, da greifen wir mitten in die dunkelsten Tage unserer Geschichte. Das Unternehmen war wohl recht erfolgreich und Rosenholz dementsprechend wohlhabend. Nach der Machtergreifung wurde es für ihn aber immer schwieriger und es gab immer mehr Repressalien. Er muss wohl geahnt haben, dass das kein gutes Ende nehmen würde, daher hat er seine Kinder mit der Amme schon zeitig außer Landes geschickt. Er und seine Frau blieben aber noch am Ort. Man kann nur raten warum. Am 9. November 1938, als es in ganz Deutschland zu Pogromen kam, sind wohl beide unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen.“

„Wie schrecklich! Sind die Mörder wenigstens belangt worden?“, fragte Felix.

„Wo denkst du hin, ganz im Gegenteil. In die Sache involviert war damals wohl ein gewisser Erich Jäger, der nur wenig später zum Kreisleiter avancierte. So wie ich das mitbekommen habe, scheint das nicht das Einzige gewesen zu sein, was der Herr so auf dem Kerbholz hatte. Ich habe übrigens auch ein Foto der Familie Rosenholz bekommen, da sieht man sie vor ihrem Anwesen.“

Felix besah sich das Foto. Das Bild zeigte eine sechsköpfige Familie, die auf der Freitreppe eines fast mittelalterlich anmutenden Eingangsportals aufgereiht stand. Oben in der Mitte ein Ehepaar um die 40 in der damals aktuellen Mode, der Herr in einem schmalen, hochgeschnittenen, vermutlich grauen Anzug und einem modisch leicht ins Gesicht gezogenen Fedora-Hut, die Frau in einer hellen Bluse und mit offen getragenen, dunklen Locken. In der Reihe davor vier Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen im Alter von etwa 5 bis 15 Jahren.

Sicher hatte keiner – insbesondere keines der Kinder – zum Zeitpunkt des Fotos daran gedacht, wie viel Leid und Elend ihnen in Kürze bevorstehen würde. Seltsam sich vorzustellen, dass diese Menschen das Buch, das er jetzt vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, vielleicht manchmal aus ihrem Regal genommen hatten, um darin abends bei Kaminfeuer und Portwein zu blättern.

„Weiß man, was aus den Kindern geworden ist?“

„Nichts Genaues. Sie haben es wohl aus verständlichen Gründen gut verstanden, ihre Spuren zu verwischen. Angeblich sind sie zunächst nach Holland geflüchtet. Dort verliert sich dann ihre Spur. Vermutlich sind sie wie viele in die USA ausgewandert.“

„Das Gebäude im Hintergrund kommt mir irgendwie bekannt vor. Weißt du, wo das Foto aufgenommen wurde?“

„Das muss wohl das Waldschlösschen sein. Liegt einige Kilometer auswärts.“

„Warte mal! Das Waldschlösschen?“ Siedend heiß fiel Felix sein Gutachten ein, das er ja seit Wochen mit Nichtachtung strafte. Das war doch auch irgendetwas im Wald. Er wühlte die diversen Unterlagen durch, die auf dem Schreibtisch lagen. Hier musste doch irgendwo die Mappe mit dem Arbeitsauftrag sein. Da. Er blätterte die Unterlagen durch und verglich das darin enthaltene Foto der ziemlich heruntergekommenen Kriegsruine mit dem stolzen, schlossartigen Bau im Hintergrund des Familienfotos. Unverkennbar: Wenn man sich die Trümmer und den Schmutz wegdachte, war es eindeutig dasselbe Gebäude. Das große, schlossartige Portal mit den beiden runden Türmchen.

„Na wie praktisch, da kannst du ja das Nützliche der Denkmalrecherche gleich mit dem Angenehmen des Rätsellösens verknüpfen“, witzelte der Pastor.

Aber in der Tat. Aus diesem Blickwinkel bekam auch die bisher eher als lästig empfundene Denkmalarbeit einen gewissen Reiz.

„Tja, dann werde ich mich morgen wohl doch mal ins Aktenarchiv aufmachen müssen. Wenn das ein so bekanntes Bauwerk ist, wird es da mit Sicherheit einiges an Material geben.“

„Mach das mal, und sag mir Bescheid, wenn du was Spannendes rausgefunden hast.“ Der Pastor verabschiedete sich. Er war sichtlich zufrieden mit dem Gesamtergebnis. Endlich zeigte Felix wieder ein bisschen Engagement, wenn auch über seltsame Umwege. Jetzt konnte er sich zu Hause endlich an die überfällige Predigt machen.

Doch dazu sollte es nicht kommen. Er war gerade durch Tür des Pfarrhauses getreten, als im Büro das Telefon klingelte. Hastig stolperte er durch die Diele zu dem kleinen Telefontischchen mit dem Nebenapparat, nahm den Hörer ab und meldete sich wie üblich.

„Hallo? Hören Sie mich? Ich versteh Sie so schlecht! Wer ist da? Sind Sie das, Herr Pfarrer?“

Es war Frau Mielke.

„Also hörense“, sagte sie schwer atmend, „ich … wegen des Buches … also ich …“

„Ja, Frau Mielke“, sagte der Pastor laut ins Telefon, „was ist mit dem Buch?“

„Also Sie hatten doch gefragt, wo wir das Buch herhaben. Nun, ich muss Ihnen dazu noch was erzählen.“

Ihre Stimme klang angestrengt.

„Ja, Frau Mielke; was gibt’s denn zu dem Buch?“

„Ja, irgendwie ist mir das unangenehm am Telefon. Können Sie nicht mal kurz vorbeikommen?“

Der Pastor versprach ihr, umgehend vorbeizuschauen und verabschiedete sich.

Also wurde es wohl wieder nix mit der Predigt. Er schnappte sich die gerade erst beim Telefonieren ausgezogene Jacke und wollte durch die noch offenstehende Tür wieder nach draußen, als ihm durch ebendiese Frau Remmers-Struckmann mit ähnlicher Verve entgegenkam.

„Herr Pastor, gut, dass ich Sie treffe. Hat man bei Ihnen eingebrochen? Die Tür stand auf … Naja, wie auch immer. Ich habe soeben die Druckfahnen für den neuen Pfarrbrief gesehen und was soll ich Ihnen sagen: Da steht doch tatsächlich eine Ankündigung für den Messdienerausflug.“

„Ja, wieso?“, entgegnete Gregor. „Der ist doch auch schon lange geplant“, wollte er noch sagen, aber Frau Remmers-Struckmann ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen.

„Eine Unverschämtheit sondergleichen …“ Ihre Stimme schraubte sich eine Oktave höher.

„Ich verstehe …“