Brazilian Psycho - Joe Thomas - E-Book

Brazilian Psycho E-Book

Joe Thomas

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Beschreibung

»Brazilian Psycho« zeigt, was die Kriminalliteratur zu leisten imstande ist – ein Meisterwerk epischen Ausmaßes

Brazilian Psycho verwebt Kriminalfall, historische Fakten und Gesellschaftspolitik zu einer radikalen Geschichte einer der faszinierendsten und gewalttätigsten Städte der Welt: São Paulo.

Ein bahnbrechender Roman unserer Zeit. Über einen Zeitraum von sechzehn Jahren zwischen 2003 und 2019 erleben die unterschiedlichsten Charaktere in São Paulo ein sich entfaltendes soziales und politisches Drama, das einen Wirbelsturm von Handlungen und Gegenhandlungen in Gang setzt: Der Mord an einem britischen Schuldirektor und die anschließende Vertuschung stehen im Mittelpunkt brisanter politischer und finanzwirtschaftlicher Entwicklungen, die von Gewalt und Korruption geprägt sind. Es geht auf direktem Weg von den Favelas und den dort lebenden Gangs in die Hochfinanzwelt von Brokern und Immobilienmaklern bis hin zu den hochrangigen Politikern Lula da Silva und Bolsonaro.

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Seitenzahl: 745

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Das Buch

In Brazilian Psycho erleben die unterschiedlichsten Charaktere in São Paulo über einen Zeitraum von sechzehn Jahren zwischen 2003 und 2019 ein sich entfaltendes soziales und politisches Drama, das einen Wirbelsturm von Handlungen und Gegenhandlungen in Gang setzt: Der Mord an einem britischen Schuldirektor und die anschließende Vertuschung durch die Behörden stehen im Mittelpunkt brisanter politischer und finanzwirtschaftlicher Entwicklungen, die von Gewalt und Korruption geprägt sind. Es geht auf direktem Weg von den Favelas und den dort lebenden Gangs in die Hochfinanzwelt von Brokern und Immobilienmaklern bis hin zu den hochrangigen Politikern Lula da Silva und Bolsonaro.

Joe Thomas zeigt mit Brazilian Psycho, was Kriminalliteratur zu leisten imstande ist – ein Roman epischen Ausmaßes.

Der Autor

JOETHOMAS wurde 1977 in Hackney geboren. Er ist der Autor des von der Kritik hochgelobten São-Paulo-Quartetts (er lebte zehn Jahre in der Stadt) – Paradise City, Gringa, Playboy und Brazilian Psycho. Sein Roman Bent wurde 2020 vom Guardian und von der Irish Times zum besten Kriminalroman des Jahres gekürt. Joe lebt mit seiner Partnerin und seinem Sohn in London und lehrt an der City University of London. Aktuell schreibt er an einer Krimi-Trilogie, die im London der Neunzehnsiebziger-Jahre spielt, der erste Roman heißt White Riot.

Joe Thomas

Brazilian Psycho

Aus dem Englischen von Alexander Wagner

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel BRAZILIANPSYCHO bei Arcadia Books Ltd, London Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2024

Copyright © der Originalausgabe 2021 by Joe Thomas

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, München unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

mn ∙ Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-29817-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für Martha und Lucian; und dem Andenken Marielle Francos gewidmet

Inhalt

Vorbemerkung des Autors

V für Victory

São Paulo

Erster Teil: DERWEISSETODSão Paulo, 2003–2006

1 Geld regiert die Welt

2 Police and Thieves

Zweiter Teil: BLACKRIOTSão Paulo, 2006

1 What’s love got to do with it?

2 Rebel Yell

Dritter Teil: DASKOMMUNISTISCHEMANIFESTSão Paulo, 2011

1 Das Grauen

2 Orgie

Vierter Teil: DASVERLORENEPARADIESSão Paulo, 2011

1 Nachahmungstäter

2 Herzensbrecher

Fünfter Teil: DIEGROSSEWEISSEHOFFNUNGSão Paulo, Oktober–November 2018

1 Glückliche Tage

2 Die Kulturrevolution

Sechster Teil: DERUNTERGANGDESRÖMISCHENREICHSSão Paulo, Januar 2019

1 It’s a shame about Ray

Nachwort

Danksagung

Dramatis Personae

Vorbemerkung des Autors

»Der Leser fragt sich vielleicht, wie er Fakten von Fiktion unterscheiden soll. Dazu eine ungefähre Richtlinie: Alles, was ihm besonders unwahrscheinlich vorkommt, entspricht vermutlich den Tatsachen.«

Hilary Mantel, Brüder

Brazilian Psycho ist ein fiktionales Werk, das auf Tatsachen beruht: Der historische und zeitgenössische Kontext ist erkennbar. Die Zitate zu Beginn jedes Kapitels sind belegt; fiktive Zitate sind fiktiven Personen zugeordnet. Der Roman enthält eine Reihe von Artikeln, Dokumenten und Transkripten, von denen einige real, andere frei erfunden sind. Dem Haupttext folgt ein Nachwort, in dem die herangezogenen Quellen ausgewiesen werden und eine Liste aller zitierten Medien enthalten ist.

Die Favela ist nicht das Problem. Die Favela ist die Stadt. Die Favela ist die Lösung.

Marielle Franco

Es war einmal in São Paulo …

1930: Getúlio Vargas wird durch einen Staatsstreich Präsident der Republik Brasilien. Er herrscht per Dekret, ohne verfassungsrechtliche Einschränkungen, mit einer instabilen, diktatorischen, provisorischen Regierung. Der Putsch untergräbt die staatliche Autonomie.

In São Paulo mögen sie Getúlio Vargas nicht. Vier Studenten, die gegen sein Regime protestieren, werden im Mai 1932 von Regierungstruppen getötet.

São Paulos Motto: Ich führe, ich lasse mich nicht führen.

Im Juli schlägt São Paulo zurück. São Paulo erhebt sich, greift zu den Waffen, zieht in den Krieg, rebelliert …

Es geht nicht gut aus.

Die Landesregierung hat mit der Unterstützung der politischen Eliten aus Minas Gerais und Rio Grande do Sul gerechnet, den beiden anderen großen brasilianischen Bundesstaaten.

Die Unterstützung bleibt aus.

Tolle Verbündete.

Siebenundachtzig Tage Kämpfe; neunhundertvierunddreißig Tote; Städte in Aufruhr …

Kapitulation.

Es geht alles andere als gut aus.

São Paulo lernt eine bittere Lektion:

Verlass dich auf niemanden, nur auf dich selbst.

V FÜR VICTORY

São Paulo

7. Oktober 2018

Nichts los, denkt Beto. Sonntagabend-Blues.

Tote Hose, nada, nix. Also zieht er am Tag der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen mit seinen Kumpels Andre und Fat Pedro um die Blocks.

Die ersten Ergebnisse kommen rein, und obwohl Beto sich nicht groß für Politik interessiert, freut er sich, weil Bolsonaro seine Gegner offenbar vernichtend geschlagen hat.

Vernichtend passt perfekt für den alten Bolsonaro, denkt Beto.

Wie man so hört, hat der Typ was von einem Psycho, hat einen Killerinstinkt.

Zehn Jahre beim Militär, Fallschirmjäger in den Achtzigern: So was macht knallhart. Vor ein paar Wochen erst hat er eine Messerattacke überlebt.

Im Fernsehen haben sie gezeigt, wie er im Krankenhaus einen auf ihr kriegt mich nicht klein machte.

Knallhart.

Brazilian Psycho.

Beto ist nervös, angespannt. Und er hat Schiss, vor was genau, weiß er nicht.

Natürlich lässt er nichts davon durchschimmern.

Seine beiden Kumpels sind ein Jahr älter als er, trotzdem ist er der Boss ihrer kleinen Bande.

Sechzehn Jahre und König des Dschungels.

Die Bixiga Boys.

Bixiga, die Harnblase São Paulos. Ein altes Viertel rechts und links der Avenida Paulista. Dort sind sie groß geworden, haben die Schule abgebrochen und sorgen jetzt für Ordnung. Ihr Job: das Viertel auf unerwünschte Elemente hin zu kontrollieren. Fat Pedros älterer Bruder hat ihnen den Job besorgt.

Beto blickt nicht so genau, von wem der seinen Job hat, aber von irgendwoher fließt Kohle.

Wahrscheinlich handelt es sich um eine Art Nachbarschaftswache, die von der Militärpolizei abgesegnet ist.

Sie schnorren Kippen und kicken Müll herum, hinten im Park an der Avenue, einem Paradies für Junkies und Schwule.

Sie halten Ausschau nach einem Fixer, den sie sich vorknöpfen können, oder nach einem Stricher, dem sie einen Schrecken einjagen können. Sie machen ihren Job gründlich.

Fat Pedro plappert über die Wahlen und die seit Wochen andauernden Proteste, wer da im Recht ist, und was jetzt kommt, da unser Mann am Ruder ist oder bald sein wird.

Er hat keinen Schimmer, wovon er redet, denkt Beto.

Fat Pedro faselt davon, sich zu organisieren, sich einer Skinhead-Bande anzuschließen, um es diesen linken Wichsern zu zeigen, quatscht über die Verbindungen seines Bruders.

Beto hört nicht zu. Der neue Präsident bedeutet grünes Licht für ihren Job, so sieht es Beto.

Er hält die Augen offen, ist wachsam, ihm entgeht nichts.

Jetzt geht’s richtig los, alles ist möglich, und deshalb ist er nervös, hat sogar ein bisschen Schiss, wenn er ehrlich ist. Es ist das Gefühl der Macht.

Und klar, er steht mächtig unter Strom. Es liegen beschissene Tage hinter ihm, und er ist von allem genervt.

Das Leben in Bixiga, in der Blase, kann dich richtig anpissen, sagt man.

Beto kann ein Lied davon singen. Seine Mutter jammert ständig, er soll sich einen anständigen Job suchen. Sein Dad ist nur noch ein Schatten seiner selbst, ein trauriger alter Sack, der in einer der italienischen Kantinen am Ende der Straße Tische abräumt und Geschirr spült.

Er war mal jemand, Betos Alter. Zumindest kam es Beto so vor. Vielleicht ist das der Punkt: Nur Beto dachte, dass er mal was darstellte.

Er schnappt sich eine rostige Spraydose. Packt Fat Pedro an seiner fetten Kehle.

Er hält die Düse vor Fat Pedros Nase.

Halt endlich die Klappe, sagt er.

Fat Pedro reißt die Hände hoch, will Beto wegstoßen.

Lass das, du Arsch, sagt er, ich könnte blind werden.

Beto lacht, dreht Pedro um die eigene Achse und drückt auf den Knopf.

Ich bin Graffiti-Künstler. EleNão! EleNão!, schreit Beto und lacht.

EleNão, das heißt »Nicht er«, und bedeutet, wählt irgendjemanden, bloß nicht Bolsonaro. Ein Graffiti, das sich in den letzten Wochen überall in der Stadt verbreitet hat. Man sieht es auf Brücken und Mauern, in Tunneln und auf Bussen.

Beto lacht, Fat Pedro spuckt, bedeckt die Augen, aber die Spraydose funktioniert nicht.

Nada, ein Scheiß – Fehlanzeige.

Ein müdes Zischen, mehr nicht.

Beto schubst Fat Pedro weg und schmeißt die Dose in die Luft.

Scheiß drauf, sagt er.

Dann: endlich was zu tun.

Die Luft knistert. Es ist was im Anmarsch. Beto kann es riechen.

Er rammt Andre den Ellbogen in die Rippen.

Pass auf, sagt er.

Was?

Tunte.

Wo?

Läuft die Querstraße runter, da drüben. Schleppt Einkaufstüten, die diebische kleine Fotze.

Wo?

Da, du Penner.

Beto zeigt darauf.

Ah, stimmt.

Na, dann los.

Was?

Komm schon, du kennst die Regeln: Siehst du eine Schwuchtel, ist sie dran. Mal schauen, ob sie was Schönes für uns in den Tüten hat. Komm schon.

Schon gut, mach keinen Stress, ich komm ja.

Und dann bemerkt Beto das T-Shirt der Schwuchtel:

EleNão

Das gibt den Ausschlag. Du musst klare Haltung zeigen, denkt er, du musst für deine Jungs einstehen, für deineSeite.

Und dann marschieren sie zu dritt quer durch den Park, bis der Schwule sie entdeckt und seine Schritte beschleunigt …

Nicht zum ersten Mal nehmen sich Beto und seine Jungs einen von diesen aufgedonnerten Homos vor.

Diese Schwuchteln müssen es endlich kapieren.

Aber es ist das erste Mal, dass einer von denen auch noch diesen EleNão-Scheiß verbreitet.

Und das ist echt nicht in Ordnung.

Die müssen wissen, wo ihr Platz ist, und der ist nicht hier.

Bolsonaro redet andauernd davon, diesen Abschaum loszuwerden, der unser großartiges Land ruiniert, und so weiter.

Beto legt einen Zahn zu, der Schwule biegt nach rechts in den Park, hofft wahrscheinlich, dass er sie hinter den Hecken abhängen kann. Also schickt Beto den keuchenden Fat Pedro in die eine Richtung und Andre in die andere, damit sie ihn in die Zange nehmen. Ein paar alte Säufer auf einer Bank grunzen zustimmend, prosten ihnen mit ihren Dosen zu, aber Beto ignoriert sie, er steht unter Strom, er ist jetzt von der Leine. Sie umringen diesen Typ von drei Seiten und packen ihn, er lässt seine Einkaufstüten fallen, und Betos Kopf donnert gegen seine Nase, ein hässliches Knirschen, ein Schrei, und Fat Pedro und Andre dreschen auf seine Rippen ein, wumms, wumms, knack. Und dann zückt Beto sein Messer und sticht zu, mitten in den Hals, fast widerstandslos dringt die Klinge ein, bis zum Anschlag, dann lässt Beto sie wieder rausgleiten, während Fat Pedro und Andre ihn anglotzen, was zum Teufel, und sie schütteln den Kopf, wollen wegrennen, aber Beto rennt nicht weg, stattdessen sieht er zu, wie der Typ blutet, wie er taumelt, ein paar Schritte wankt, wie er ausblutet, noch ein paar Schritte stolpert, ein paar Meter, und schließlich vor Betos Augen zusammensackt.

Und dann, ganz lässig, schlendert Beto zu ihm rüber.

Er zieht das T-Shirt der Tunte hoch. Das T-Shirt mit dem Slogan: EleNão.

Fat Pedro zischt, sie sollten jetzt verdammt noch mal verschwinden.

Beto wedelt ihn weg.

Er zerrt das T-Shirt hoch, nimmt sein Messer und ritzt etwas in die magere Brust des Toten.

Zwei Linien.

V für Victory.

Dann kratzt er sechs weitere Linien: ein unübersehbares blutiges Hakenkreuz.

Und er lacht und lacht und lacht.

Junior schiebt seit sechs Jahren Dienst bei der Militärpolizei.

Das macht ihn nicht zum alten Hasen, aber er ist viel rumgekommen und hat einiges erlebt. Und wie jeder Soldat mit langer Dienstzeit hat Junior dabei auch die eine oder andere Grenze überschritten.

Er steht neben einem Polizeimotorrad mit eingeschaltetem Blaulicht. Er beobachtet die Straße und hört seinen jüngeren Kollegen zu, die große Töne spucken. Sie haben Posten an der Avenida Paulista bezogen, auf der Höhe der Rua Bela Cintra.

Heute ist die erste Runde der Präsidentschaftswahlen über die Bühne gegangen, und es ist ein ruhiger Sonntagabend. Aber sie sind nicht ohne Grund hier …

Es gab Gerüchte über linke Proteste, eine Versammlung von Studenten, Radikalen und anderen Weltverbesserern auf der Hauptstraße.

Falls die zutreffen, dann taucht unvermeidlich auch der anarchistische Schwarze Block auf.

Und die dekorieren gerne mal die Straßen um.

Schlagen Schaufensterscheiben von Konzernniederlassungen ein, verzieren die Bürogebäude mit Graffiti, werfen Farbbeutel, streuen Reißzwecken, zertrümmern Verkehrsampeln, brechen Geldautomaten auf, werfen Mülltonnen durch die Schaufenster der Einkaufszentren.

Solches Zeug.

»Wenn sich welche von denen hier zeigen«, sagt einer von Juniors Kollegen, »dann schlagen wir zu, oder? Wir tun alles Nötige, um sie unter Kontrolle zu bringen, certo?«

»Was heißt alles Nötige?«, fragt ein anderer.

»Was wohl, Schwachkopf, Gewalt natürlich. Wir dürfen jede Form angemessener Gewalt einsetzen. Wir haben jetzt grünes Licht. Von ganz oben. Wir können mit jedem großmäuligen, ruhestörenden Arsch nach Belieben verfahren, entendeu?«

Junior schweigt. Zumindest zeigen die Jungs Engagement, und im Grunde hat der Typ ja recht, mais ou menos.

Mehr oder weniger.

Bolsonaro hat die erste Etappe der Wahl klar für sich entschieden, und das verschafft ihnen mehr Handlungsspielraum. Der Mann stößt bei den Militärs auf hundertprozentige Zustimmung, was angesichts seiner Militärkarriere und seiner Einstellung zum Umgang mit Kriminellen kein Wunder ist.

Seine Haltung ist eindeutig: Lasst das Militär anrücken und den Abschaum beseitigen.

Es gibt einen Spruch in São Paulo, wenn ein Polizist oder ein privater Wachmann einen Kriminellen erschießt.

Man lässt ihn am besten beiläufig und achselzuckend fallen.

Man sagt: Menos um.

Was so viel heißt wie: wieder einer weniger.

In einer Stadt wie dieser ist nur ein toter Gangster ein guter Gangster.

Bolsonaro verkörpert diese Botschaft wie kein Zweiter, daher hat São Paulo wenig überraschend für ihn gestimmt. Trotz all der Linken, Studenten, Radikalen und Weltverbesserer wird Bolsonaro auch diese Stadt für sich erobern.

Außerdem sind viele dieser liberalen und linken Typen inzwischen auch genervt von der Arbeiterpartei, von Lula und Dilma und ihrem ganzen Anhang; also stimmen sie entweder für Jair Bolsonaro oder gehen gar nicht wählen.

Wobei Junior das nicht ganz kapiert. Schließlich ist es ein größerer administrativer und bürokratischer Akt, nicht zu wählen, als seine Stimme abzugeben.

Für ihn ein echter Grund hinzugehen.

Junior schätzt, dass sie es noch bereuen werden.

Seine Jungs sind immer noch groß am Herumtönen.

»Es ist doch so: Das Land ist reif für einen Wandel, das ist eine Protestwahl. Das ist eine Fuck-Brasília-Wahl, sabe? Es ist eine Stimme für uns, für die Mächte jenseits der Politik, die das Land verdammt noch mal auf Kurs halten, ja?«

Junior hört mit halbem Ohr zu. Vielleicht liegt sein jüngerer Kollege gar nicht so verkehrt. Der Typ heißt Felipe, ist ein cleverer kleiner Scheißer, und skrupellos noch dazu.

Er wird es weit bringen.

»Diese Linken kapieren nicht, dass die Messerattacke dieses Irren Bolsonaro nur stärker gemacht hat. Was dich nicht umbringt, entendeu?«

Junior sieht das im Grunde ähnlich.

»Bolsonaro mag vieles sein«, fährt Felipe fort, »aber öffentliche Debatten mit anderen Politikern liegen ihm nicht. Aber das hat er nach dem Angriff auch nicht mehr nötig. Das war Gold wert. Es hat gezeigt, wie verdammt entschlossen er ist.« Felipe lacht. »Keiner kann ihn aufhalten. Er ist von Gott auserwählt, Brasilien zu retten.«

»Das meinst du doch nicht im Ernst, oder?«

»Egal, viele werden es jedenfalls glauben.«

Junior seufzt und schüttelt den Kopf.

Er ist der Dienstälteste hier und lässt sie gewähren.

Die Gegend ist verlassen. Die Bars sind geschlossen, die Einkaufszentren haben schon vor Stunden dichtgemacht.

Die Avenida Paulista ist breit und protzig, ein Monument finanzieller Potenz, ein Symbol der Macht und des Reichtums der Stadt.

An einem Sonntagabend jedoch ist sie menschenleer.

Nur weiter hinten in der Rua Augusta, auf der anderen Seite der Paulista, herrscht noch Betrieb. Dort, in der trendigen Ecke, mit den schicken Bars und padarias, Wop-Kantinen und Pizzerien, wird wahrscheinlich noch Umsatz gemacht. Weiter die Straße runter dann die Straßennutten und Stripclubs, die Studenten und die unvermeidlichen noias, die paranoiden Süchtigen.

Rechts von Junior führt die Parallelstraße der Augusta ins Consolação-Viertel, das berühmt-berüchtigte Schwulen-Mekka. Heute Abend werden sie dort wahrscheinlich trauern, im Gay Caneca, dem Einkaufszentrum der Gegend, das eigentlich Frei Caneca heißt.

Junior schmunzelt.

Wer dort einkauft, verwendet den Spitznamen liebevoll, alle anderen gebrauchen ihn abfällig.

Junior ist nicht so ganz klar, was das zu bedeuten hat.

Normalerweise verbringt er nicht viel Zeit in dieser Gegend. Die luxuriösen Apartments aus gebogenem Glas und bemaltem Beton unterhalb der Avenida Paulista liegen weit jenseits seiner Preisklasse. In den engen, teilweise begrünten Gassen rund um das Shoppingcenter drängen sich Bars und Clubs, in denen, sofern sie eine Lizenz dafür haben, Dragshows und Karaoke laufen; im schäbigeren Teil weiter hinten finden sich dann die illegalen Pick-up-Lokale für Stricher oder Läden mit Neonschildern namens American Bar oder Americana, wobei die weibliche Endung verrät, dass die Kundschaft hier hauptsächlich männlich ist.

Die Shoppingmall ist einfach nur ein weiteres ödes Einkaufszentrum, daher ist das gute alte Consolação insgesamt für Junior nicht sonderlich attraktiv, obwohl er an sich ein aufgeschlossener junger Mann ist.

So liegen die Dinge nun mal.

Jedenfalls hat Bolsonaro seine Haltung gegenüber der LGBTQ-Community, wie Junior sie jetzt offiziell bezeichnen soll, sehr deutlich gemacht.

Kernpunkt seiner Aussagen: Eltern sollen das Schwulsein aus ihren verweichlichten Söhnen herausprügeln.

Trotzdem haben ganze Gruppierungen von Schwulen öffentlich für ihn gestimmt.

Da soll einer durchblicken.

Ein einziges verfluchtes Chaos.

Felipe quasselt immer noch. »Lasst es euch gesagt sein, Jungs, wir sind im richtigen Spiel zur richtigen Zeit. Wir sind … «

»Okay, chega, ne, Felipe?«, unterbricht ihn Junior. Das reicht jetzt. »Warum drehst du nicht eine Runde um den Block und nimmst dein begeistertes Ein-Mann-Publikum gleich mit, hm?«

»Calma«, sagt Felipe.

Junior starrt ihn böse an.

»Wir gehen schon, Senhor, kein Grund, sich ins Hemd zu machen.«

Junior lässt das an sich abprallen und verfolgt, wie Felipe und Gilberto abziehen.

Er bleibt mit Rubens zurück, dem vierten Mann aus ihrer Truppe, der den Spitznamen »Quasselstrippe« trägt, weil er so gut wie nie den Mund aufmacht.

»Weißt du, was ich an dir mag, Rubens?«, sagt Junior. »Dass man dich nie zum Schweigen bringen muss.«

Rubens schweigt. Junior lacht über seinen Scherz.

Die Abenddämmerung verdichtet sich, die Nacht bricht an. Junior saugt die Luft ein. Es riecht leicht nach abgebrannten Feuerwerkskörpern und dem allgegenwärtigen Abgasdunst.

Sonntagabend-Blues.

Die Stille wird nur gelegentlich vom Lärm einzelner Gestalten durchbrochen, die sich verzweifelt in Stimmung zu bringen versuchen, um das Wochenende mit einem High zu beschließen.

Na, dann viel Glück.

Junior dreht sich um und späht den Hügel hinunter auf das grüne Jardins-Viertel, das ihm als Kind so fremd und weit entfernt vorkam wie Europa. Noble Restaurants und Klamottenläden mit Tausend-Dollar-Jeans. Ruhige Straßen. Reiche Paare schlendern sonnengebräunt und schick gekleidet umher. Unter den Bäumen am Straßenrand parken schnelle Autos. Hier riecht es immer nach gutem Essen. Anders als der Gestank nach frittiertem Fleisch und Kartoffeln, dort wo Junior aufgewachsen ist. Hier scheint immer eine Brise frischer Landluft zu wehen. Und er fragt sich, welcher politische Wind wohl gerade in den Hotels und luxuriösen Apartment-Hochhäusern weht, die wie Dominosteine die Straßen flankieren.

Vielleicht ist Bolsonaro der richtige Mann, um einen dieser Steine umzuschnippen und zuzusehen, wie sie alle nacheinander umfallen.

Domino-Kettenreaktion. Politische Kettenreaktion. Junior wird an dem Wortspiel, das diese Bilder in Zusammenhang bringt, noch feilen.

Plötzlich: Geschrei.

Junior fährt herum. Felipe und Gilberto schleppen eine dunkle Gestalt an: Kapuzenpulli, Hose, Schuhe, Rucksack, alles schwarz …

Gilberto hält eine Spraydose hoch.

Junior seufzt. Warum haben sie sich die Mühe gemacht, diese Witzfigur einzusammeln? Der Papierkram wird eine verdammte Plage.

»Senhor«, sagt Felipe, »wir haben diese Schlampe dabei erwischt, wie sie ein öffentliches Gebäude mit dem Schriftzug EleNão verunstaltet hat.«

Schlampe. Aha.

Felipe reißt ihr die Sturmhaube herunter. Die Augen der jungen Frau blitzen verächtlich.

»Sie werden sehen, Senhor, dass sie auch politische Flugblätter und anderes belastendes Material in ihrem Rucksack hat.«

Belastendes Material. Junior wühlt in dem Rucksack. Es ist Kinderkram – Zeug zum Drehen von Joints. Das Ganze ist eine totale Zeitverschwendung.

Er reibt sich die Augen. »Und ihr habt sie auf frischer Tat ertappt, ja?«

Felipe nickt.

»Wo genau?«

»Zwei Blocks weiter. Sie hat dem Buchladen Conjunto Nacional im Einkaufszentrum einen neuen Anstrich verpasst.«

Junior nickt. Er traut diesem Felipe nicht ganz.

»Weiß sie etwas von einer Versammlung hier heute Abend?«

Felipe schüttelt den Kopf.

Junior atmet tief durch. »Okay«, sagt er. »Ihr beide bringt sie aufs Revier. Ich überprüfe inzwischen den entstandenen Schaden. Rubens, du wartest hier.«

Felipe lächelt.

Rubens schweigt.

Eine Stunde später auf dem Revier. Junior läuft durch die Gänge. Sucht nach Felipe und Gilberto. Sie sind nicht auf ihren Posten auf der Bela Cintra zurückgekehrt, haben seine Befehle missachtet.

Nirgends eine Spur von ihnen.

Wo zum Teufel stecken die?

Er sucht im Umkleideraum.

Er sucht im Aufenthaltsraum.

Er sucht in der Kantine.

Keiner hat sie gesehen, niemand weiß, wo sie sind, nicht seit sie mit dieser scharfen kleinen Anarchistin hier aufgekreuzt sind.

Schlagartig wird es ihm klar.

Er rennt die Treppe runter.

Er ignoriert die Rufe des diensthabenden Officers …

Er eilt an den Arrestzellen entlang, reißt Türen auf und schlägt sie wieder zu.

Die letzte Zelle auf der linken Seite.

Die Tür ist geschlossen.

Die Jalousie runtergelassen.

Junior probiert den Griff.

Verriegelt.

Junior hört eine Stimme …

Du tust, was wir sagen, du widerspenstige Schlampe. Hast du das verstanden? Du weigerst dich? Deine feigen, subversiven, nichtsnutzigen Freunde werden dir jetzt nicht helfen.

Junior hört Schluchzen …

Ich werde das genießen.

Klatschen von Ohrfeigen …

Ich krieg dich klein. Ich krieg dich schon noch klein.

Geräusche eines Handgemenges …

Das ist V für Victory, Schätzchen.

Junior rüttelt an der Tür. Rammt mit der Schulter dagegen.

Holt Anlauf, tritt zu …

Die Tür splittert.

Sie fliegt auf …

Junior sieht Felipe, seine Finger bilden ein V, er steckt seine Zunge hindurch …

Er sieht die Frau, nackt, schluchzend, zusammengerollt.

Daneben Gilberto, den Kopf gesenkt.

Felipe grinst.

Die politische Meinung: ein Blog von Ellie BoeOLHA! Online-Magazin, 8. Oktober 2018

Gestern Abend, wenige Stunden nach Bolsonaros Sieg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, erwischte die Militärpolizei eine junge Frau dabei, wie sie in der Nähe der Avenida Paulista in São Paulo ein Graffiti sprühte. Ihre Botschaft: EleNão. Was so viel bedeutet wie: alle, nur nicht er. Ein Ausdruck des Protests gegen den Kandidaten Bolsonaro. Die junge Frau wurde verhaftet. Im Hauptquartier der Militärpolizei wurden ihr ein Telefonanruf und ein Anwalt verweigert, sie wurde nackt ausgezogen, brutal misshandelt, in eine Zelle geworfen und über vierundzwanzig Stunden lang ohne Essen und Wasser festgehalten.

Der rechte Populist Jair Bolsonaro, der die erste Runde der Wahlen klar für sich entscheiden konnte, bewirbt sich neben Fernando Haddad, dem Kandidaten der linken Arbeiterpartei, ehemaligen Bürgermeister São Paulos und Nachfolger Lulas und Dilmas, um die Präsidentschaft. Bolsonaro vertritt zutiefst abstoßende Ansichten über Frauen, Rassenunterschiede, die LGBTQ-Community, die frühere Militärdiktatur Brasiliens und den Einsatz von Schusswaffen; seine Standpunkte sind in seinen politischen Äußerungen der letzten Jahre überdeutlich geworden. Er verspricht, das Land zu vereinen, die korrupte Linke zu entmachten und die Kriminalität mit einer rücksichtslosen und brutalen Politik zu bekämpfen, die keine Gnade und keine Nachsicht kennt. Nur wenige Wochen vor dem ersten Wahlgang wurde Bolsonaro auf einer Kundgebung angegriffen und niedergestochen. Er überlebte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er den zweiten und entscheidenden Wahlgang mit einem Erdrutschsieg gewinnen wird.

Wo ist der Zusammenhang zwischen diesen politischen Ereignissen und dem Schicksal der armen Frau in einer Zelle der Militärpolizei? Vielleicht liegt die Antwort auf der Hand.

Viel wichtiger ist jedoch die Frage:

Wie konnte es so weit kommen?

Mehr in Kürze.

Erster Teil DER WEISSE TOD São Paulo, 2003–2006

1 Geld regiert die Welt

Januar 2003

Wie war São Paulo im Jahr 2003? So wie in jedem Jahr: erfüllt von einem grandiosen Selbstwertgefühl und sich seiner eigenen Bedeutung mehr als bewusst. Man wählte Lula und die PT, die Linke schwebte auf den Flügeln der Hoffnung und des Optimismus, und die Studenten, die Gewerkschafter, die Schwulen, die Anarchisten, die Drogenabhängigen, die Dealer und Zuhälter, die Künstler und Aristokraten waren ebenfalls ziemlich high. Es war eine gute Zeit, um ein soziales Gewissen zu haben; eine gute Zeit, um jung und zukunftsorientiert zu sein. Wer ahnte schon, dass das sozialistische Paradies Cash und Kredite für alle bedeuten würde. Nun, nicht für alle. Schließlich gab es da immer noch die sogenannte Elite von São Paulo, die den Schlüssel zum Safe besaß, einer Festung im Dschungel.

Assis, 54, Geschäftsmann

Detective Mario Leme ist unterwegs zu dem alten Nobelviertel Jardim Paulistano, um herauszufinden, wer den Direktor der British International School in dessen Villa erschlagen hat.

Leme hat nicht viel Erfahrung, und er wittert Probleme.

Er kennt die Schule; wer kennt sie nicht? Man braucht jede Menge dinheiro, um diesen Ort für die Ausbildung seiner Kinder auch nur in Erwägung zu ziehen.

Die monatliche Gebühr übersteigt bei Weitem das, was Leme als Berufsanfänger bei der Zivilpolizei verdient.

Es ist eine in vielerlei Hinsicht geschlossene Gesellschaft, die sich selbst und ihre Interessen schützt, und höchstwahrscheinlich werden sie nicht gerade begeistert sein, wenn er dort herumschnüffelt und unangenehme Fragen stellt.

Obendrein hat Lemes Vorgesetzter – Superintendent Lagnado, ein feister Mann mit einer fiesen Ader – von vornherein klargestellt, wie die Ermittlungen laufen.

»Also, Leme«, hat er heute Morgen verkündet. »Ich denke, es handelt sich hier eindeutig um einen aus dem Ruder gelaufenen Raubüberfall. Klassisches Szenario: Reicher weißer Mann wird brutal von skrupellosem Kleinkriminellen ins Jenseits befördert. Sie sollten nicht mehr als ein paar Tage brauchen, um das aufzuklären.«

Leme bezweifelt das, ohne genau zu wissen, warum.

Ricardo Lisboa, Lemes guter Freund und Partner, fährt den Wagen. »Das wird keine Win-win-, sondern eine Lose-lose-Situation, mein Junge«, sagt er und blickt nach vorne. Er ist ein großer Mann in einem schäbigen Anzug. Er hat Humor, dieser Lisboa. »Wir sind dort etwa so willkommen wie zwei katholische Priester auf einer Teenagerparty.«

Leme sieht das ähnlich und schweigt.

»Weißt du, wer auf diese Schule geht?«

Leme schüttelt den Kopf.

»Malufs Enkelkinder zum Beispiel. Oder der Junge von Mick Jagger. Ich glaube, das passende Wort dafür ist Elite.«

Leme nickt.

Paulo Maluf: ein ehemaliger Bürgermeister São Paulos.

Sie haben einen Ausdruck für den alten Maluf geprägt: Roba mais faz.

Er wirtschaftet in die eigene Tasche, aber er bringt Dinge voran.

Leute dieses Schlags hat São Paulo schon immer gewählt.

Es ist viel wichtiger, dass die Stadt funktioniert – der Müll abgeholt wird, die U-Bahn fährt, die Straßen repariert werden –, als sich über Schmiergeldzahlungen und Erpressungen im Rathaus aufzuregen.

Die meisten dieser Schmiergelder und Erpressungen stehen ohnehin in Zusammenhang mit Verträgen, die das Funktionieren der Stadt ermöglichen.

Das könnte sich ändern, denkt Leme, weil erst am Tag zuvor der linke Lula sein Amt angetreten hat. Es könnte sich was ändern, andererseits ist São Paulo, was soziale Veränderungen betrifft, seit jeher ein verdammt sturer Esel.

»Tu mir einen Gefallen«, sagt Leme. »Lass mich mit Politik in Ruhe.«

»Es ist ein Neuanfang«, erklärt Lisboa.

Leme schüttelt den Kopf.

Lisboa fährt fort: »Die Arbeiterpartei beginnt ihre Regierung mit dem erklärten Vorhaben, soziale Ungleichheit und dergleichen auszumerzen. Und schon am nächsten Tag wird ein Symbol der sogenannten Elite Opfer eines krassen Gewaltverbrechens.«

Leme unterdrückt ein Lächeln.

»Ich will damit nur sagen«, fügt Lisboa hinzu, »dass es was von ausgleichender Gerechtigkeit hat, verstehst du? Eine Art kunstvolle Symmetrie.«

Lisboa biegt von der Alameda Gabriel Monteiro da Silva in die begrünten, mit flachen Wohnhäusern gesäumten Straßen hinter der Schule. Frauen in teuren Lycra-Trikots machen Powerwalking, neben ihnen trotten Hunde an Leinen. Weiß gekleidete Hausmädchen und Nannys eilen mit hängenden Schultern zwischen Geschäften, Wohnungen und Schulen hin und her. Kinder kicken Fußbälle. Kinder machen Unsinn. Die Schule ist aus.

Lisboa schleicht um enge Kurven, vorbei an auf Hochglanz polierten SUVs.

An jeder Ecke stehen Wachkabinen privater Sicherheitsdienste.

So ein Viertel ist das.

Sicherheit ist ein Riesengeschäft, und egal ob die Typen in den Wachhäuschen eine Ahnung von ihrem Job haben – diesem Mordfall nach zu urteilen wohl nicht unbedingt –, sorgt schon die Existenz der Kabinen und der von dort gesteuerten Kamerasysteme normalerweise für eine gewisse Abschreckung.

Leme notiert sich die Namen der Sicherheitsdienste, die auf den Kabinen stehen.

Leme entdeckt die Villa des Schuldirektors. Sie ist riesig. Das Tor ist grün und massiv. Stacheldraht auf den Mauern. Davor uniformierte Beamte und Absperrband, Blaulichter und Schaulustige aus der Nachbarschaft, die üblichen Gaffer.

Er deutet auf eine Parklücke. Lisboa nickt, stellt den Wagen ab …

»Tief durchatmen, alter Junge«, sagt Lisboa. »Das wird ein Spaziergang im Park.«

Leme stößt seine Tür auf. »Wohl eher im verdammten Dschungel.«

Arbeit. Die Sonne brennt vom Himmel. Ausladende Bäume werfen Schatten auf das holprige Pflaster. Leme fährt sich mit der Hand über den Nacken, unter den Hemdkragen. Er wischt sich den Schweiß ab; Staub klebt auf seiner Haut.

Leme zeigt seinen Ausweis. Ein Uniformierter gibt den Eingang frei. Sie treten ein.

Ein dunkler Hausflur. Durch die geöffnete Tür wirft das Sonnenlicht einen hellen rechteckigen Fleck auf den Boden. Auf einem Tischchen liegen Schlüssel und silberne Manschettenknöpfe. Geschmackvolle Gemälde an den Wänden. Ein kurzer Mantel hängt zusammengefaltet über einem Stuhl.

Leme geht weiter. Die Hintertür steht offen. Sie ist mit Tape abgesperrt, was zeigen soll, dass sie genau so vorgefunden wurde, seit vergangener Nacht unberührt.

Der Garten hinter dem Haus. Um einen Metalltisch mit Glasplatte sind Stühle gruppiert. Ein Grill in der Ecke, in der Unterschale liegt Asche. Leme fährt mit dem Finger über den Rost. Er ist fettig. Leme sucht nach Anzeichen von Aktivität. Er bemerkt Fußspuren aus getrocknetem Schlamm. Auf der anderen Seite des Gartens weitere kleine Wohnräume. Vermutlich die des Dienstmädchens. Zu seiner Linken eine Gartenpforte zur Straße. Die Tür ist verschlossen, vermutlich von außen. Keine Spur eines Schlüssels.

Ein Hubschrauber dröhnt über seinen Kopf hinweg. Leme zündet sich eine Zigarette an.

Lisboa taucht in der Hintertür auf.

Leme nickt in Richtung erster Stock. »Was sagen sie?«

»Frühe Morgenstunden. Ein einziger Schlag. Wahrscheinlich ein stumpfer Gegenstand. Etwas Schweres.«

»Wir haben also keine Tatwaffe?«

»Bisher keine Spur.«

Leme nickt. »Wer hat die Leiche gefunden?«

»Das Hausmädchen. Sie ist in keiner guten Verfassung.« Er deutet quer durch den Garten. »Ihr Zimmer.«

Leme nickt. »Fehlt was?«

»Seine Brieftasche liegt noch auf der Kommode.«

»Mit Inhalt?«

»Sieht jedenfalls so aus.«

Leme schnaubt.

Erster Stock. Drei Männer in Weiß wuseln um die Leiche herum. Sie machen ihnen Platz.

Das Zimmer ist elegant eingerichtet, strahlt Ruhe aus. Das Bett ist zerwühlt. Auf der Ankleidekommode liegt ein aufgeschlagenes Notizbuch neben einer Louis-Vuitton-Brieftasche. Ein geschmackvoller Holzstuhl liegt umgestürzt auf dem Boden.

Im Bad brennt Licht. Über der Duschstange hängen benutzte Handtücher. Die Borsten der Zahnbürste sind feucht. Ansonsten wirkt alles sauber und aufgeräumt.

Das Schlafzimmer …

Die Leiche liegt mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich.

Ein zerknitterter roter Morgenmantel, offen, sodass ein Paar weiße Unterhosen zum Vorschein kommt. Dünne, haarlose Beine, die wie Fragezeichen angewinkelt sind, Arme auf halbem Weg zum Gesicht.

Seine Fußknöchel sind mit einer roten Krawatte zusammengebunden.

Seine Handgelenke sind mit einer blauen Krawatte zusammengebunden.

Er war nicht in der Lage, sich zu verteidigen.

Eine klebrige Blutlache, die aus einer Wunde am Hinterkopf stammt. Behaarter, rundlicher Bauch, eingefallene Brust. Eine seltsame Ausstrahlung von Männlichkeit.

Leme hat keine Erfahrung mit solchen Fällen.

Das spärliche Haar ist verfilzt, es klebt auf der Wunde. Einzelne Strähnen sind so steif, dass es wirkt, als könnten sie wie Eiszapfen brechen.

Auf dem Teppich blutige Fußabdrücke.

Leme wittert Probleme.

Ihm wird plötzlich kotzübel, und er krümmt sich.

Er untersucht etwas auf dem Boden.

Die Übelkeit lässt nach, und Leme richtet sich wieder auf.

Er verschafft sich einen Überblick. Er registriert die Winkel und Positionen der Gliedmaßen. Er schätzt den Abstand zwischen Tür und Bett, wie weit das Opfer gestürzt sein muss. Mit einem Stift aus seiner Hemdtasche blättert Leme in dem Notizbuch. Gekritzel auf Englisch, vermutlich Termine und To-do-Listen. Er schiebt den Stift in die Brieftasche, klappt sie auf. Exklusive Kreditkarten und ein ziemlich fettes Bündel Geldscheine. Die Glätte und Unversehrtheit des Leders lassen darauf schließen, dass die Brieftasche so gut wie neu ist. Sie enthält nichts Persönliches, keine Fotos von geliebten Menschen, keine Visitenkarten, Mitgliedsausweise irgendwelcher Clubs oder dergleichen.

Leme registriert, wie der Stuhl gelandet ist. Vermutlich hat das Opfer ihn beim Aufstehen umgestoßen. Jedenfalls nimmt er an, dass es das Opfer war, das dort saß.

Er nickt und geht wieder nach unten.

Küche. Lisboa steht gebückt da und hantiert an einer Kaffeemaschine.

Er schaut auf. »Wie funktioniert das Mistding?«

»Keine Ahnung.«

Lisboa schüttelt den Kopf. Er wirft einen Blick zur Decke. »Also, was denkst du?«

»Der Eindringling kam vermutlich durch die Gartenpforte«, erklärt Leme langsam und bedächtig. »Dann nahm er die Hintertür. Kein gewaltsamer Einbruch, aber vielleicht hat er die Tür auch ohne sichtbaren Schaden aufgehebelt. Anschließend schleicht er die Treppe rauf. Das Opfer sitzt an seiner Ankleidekommode, schreibt in sein Notizbuch, frisiert sich, zählt sein Geld, was auch immer er vor dem Schlafengehen so treibt. Überall liegen Klamotten, also mistet er vielleicht seinen Kleiderschrank aus, wer weiß. Jedenfalls betritt der Täter den Raum. Das Opfer springt auf, der Stuhl kippt nach hinten. Er geht dem Eindringling ein, zwei Schritte entgegen, der auf ihn zukommt. Vielleicht tauschen sie einen oder zwei Schläge aus oder rangeln, aber nichts allzu Gewalttätiges, entendeu? Vielleicht auch nicht. Der Eindringling bedroht ihn. Er schnappt sich zwei Krawatten vom Bett, fesselt seine Hände und Füße. Möglicherweise hat er eine Waffe und macht ihn damit gefügig. Oder er überwältigt ihn einfach so. Das Opfer unternimmt instinktiv einen Fluchtversuch, worauf der Täter mit einem schweren Gegenstand zuschlägt.«

Leme hält inne.

Leme hat wenig Erfahrung mit solchen Fällen.

Lisboa sagt: »Falls er ihn wirklich vor dem Schlag gefesselt hat. Er könnte es auch danach getan haben.«

»Ja, aber warum sollte er das tun? Vielleicht hat er die Kleider auch erst danach aus dem Schrank gezerrt, um eine falsche Fährte zu legen.«

Sie stehen einen Moment lang schweigend da.

»Also, das Opfer stürzt«, fährt Leme fort, »verblutet, und der Täter verlässt das Haus auf demselben Weg. Entweder war die Hintertür bei seiner Ankunft geöffnet, und er lässt sie so, oder er vergisst in seiner Eile, sie wieder zu schließen. Das könnte uns etwas darüber verraten, ob es sich um einen routinierten Einbrecher handelt. Wir klären mit dem Dienstmädchen, wie das mit dem Abschließen genau funktioniert.«

Leme wittert Probleme.

»Sie meint, die Tür ist normalerweise verschlossen, manchmal aber auch nicht.«

»Sehr hilfreich. Jedenfalls verschwindet der Täter durch die Gartenpforte und verschließt sie von außen. Allerdings habe ich noch nicht wegen dem Schlüssel gefragt, um das zu bestätigen.«

»Ist nirgends zu finden.«

Leme seufzt. »Klingt das alles einigermaßen stimmig?«

Lisboa nickt. »Ja, schon. Jedenfalls ab dem Punkt, wo er drin war. Die Frage ist nur, ob wir Überwachungsvideos kriegen, wie er reingekommen ist.«

»Dann fang doch mit den privaten Sicherheitsdiensten draußen auf der Straße an. Die CCTV-Überwachungsvideos sichten sie auf dem Revier.«

»Und was hast du vor?«

Leme beugt sich über die Maschine, zieht den Stecker und grinst.

»Ich hole uns einen Kaffee.«

Leme tritt hinaus auf die Alameda Gabriel Monteiro da Silva. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine padaria, eine Bäckerei. Eine Gruppe von Arbeitern hockt bei Kaffee und cachaça zusammen. In der Luft Abgaswolken von Lastwagen, die auf der viel befahrenen Straße bremsen und wieder Gas geben. Leme bestellt zweimal Kaffee pra viagem – zum Mitnehmen – und setzt sich an den Tresen. Die Kellnerin macht Small Talk, was Leme mit einem Grunzen erwidert. Die Kellnerin zuckt mit den Schultern, Leme nimmt den Kaffee und gibt ihr ein dickes Trinkgeld.

Er überquert die Straße, die Schule zu seiner Linken.

Stimmengewirr, Lärm von spielenden Kindern.

Sie ahnen noch nichts, denkt er.

Wessen Job ist es, sie zu informieren? Vermutlich seiner. Oder zumindest muss er entscheiden, wer es übernimmt.

Das wird ein verdammt harter erster Fall, das ist abzusehen.

Er schlendert an der Schule vorbei.

Draußen lungern private Leibwächter herum. Viele dieser Kinder sind potenzielle Entführungsopfer.

Es sind Söhne und Töchter von Medienmogulen und Politikern, von Geschäftsleuten und Baumagnaten, von Anwälten und Hedgefonds-Managern, von Philanthropen und Rockstars.

Kinder von unheimlich viel Geld und gewaltigen Besitztümern, ererbt und erwirtschaftet.

Ein Leibwächter schaut über die Schulter zu Leme. Leme will ihn umrunden, er ist nicht scharf auf eine Begegnung. Der Leibwächter verstellt ihm den Weg, und Leme hält inne.

Der Bodyguard kratzt sich im Schritt. Er trägt eine Piloten-Sonnenbrille. Er grinst Leme an, ein kleines, fieses Lächeln. »Sie sind der Detective, stimmt’s?«

Leme nickt. Der Leibwächter nickt.

Leme hält in jeder Hand einen Kaffee. Er macht eine Geste: Ich muss weiter, Junge.

»Tun Sie uns einen Gefallen?«, sagt der Leibwächter. »Falls Sie in dem Fall Fortschritte machen sollten, geben Sie uns Bescheid. Wir sind alle bereit zu helfen, ja? Wir mochten Senhor Lockwood.«

Leme nickt. Er eilt weiter. Kaffeeschaum schwappt über.

Paddy Lockwood, so hieß der Mann. Klingt irisch, findet Leme, brachte ihm aber offensichtlich nicht das sprichwörtliche Glück.

Miami Airport. Ray Marx schlendert durch das Abflugterminal. Er lässt sich in einen Sitz gleiten. Das Terminal hallt wider von Stimmen, rollenden Koffern, klackenden Absätzen. Ray schaut sich um, blickt auf seine Uhr. Noch ein paar Minuten bis zur Übergabe, eine gute Stunde bis zu seinem Flug …

Ray macht es sich bequem und überprüft seine Taschen. Geld, Schlüssel, Pässe, ein One-Way-Ticket Erster Klasse nach São Paulo. Zu seinen Füßen ein stylisher Lederkoffer. Er nimmt die typische Mittelstreckenhaltung an, das teilnahmslose Starren des internationalen Flugmodus. Die Schultern zurück, der Bauch flach, der Brustkorb kraftvoll gewölbt. Er studiert die Ankunftstafel. Die Flüge scheinen pünktlich zu sein, das Wetter ein Traum, minimale Turbulenzen, die Flugbedingungen sind optimal. Sonne durchflutet die Halle. Die Wolken lichten sich. Ray macht unter den Urlaubern zwielichtige Gestalten aus. Ihre Trolleys schaukeln, überladen mit brandneuen Elektronikartikeln. Auf dem Heimweg, denkt Ray. Späte Weihnachtsgeschenke für die Großfamilie, Dutzende von tías und tíos und all ihre rotznäsigen Kinder. Oder sie verhökern den Kram gleich von der Ladefläche eines schmutzigen Lieferwagens aus. Die Tafel blinkt, leert sich, ordnet sich neu. Er registriert: Mexico City. Gelandet, pünktlich.

Ray legt eine Zeitung auf den Sitz neben sich. Obwohl natürlich niemand wagen würde, ihn zu fragen, ob da noch frei ist. Er hat diesen Blick perfektioniert: Denk nicht mal dran, cabrón. Er braucht den Platz.

Jemand nimmt die Zeitung weg und setzt sich. Ein gedrungener Mann, dicke Schweißperlen auf der Stirn. Seine Ausdünstungen schreienEnchilada.

»Holá, Big Ray«, sagt der Mann. »Alles roger?«

Ray lächelt. Big Ray. Er ist nicht gerade klein, Big Ray, aber er ist auch kein Koloss. Er ist im besten Fall groß gewachsen. Im Vergleich zu seinen compadres südlich der Grenze, den sinaloanischen Cowboys und schießwütigen Bohnenfressern, wie dem jungen Mann neben ihm, ist Ray allerdings ein Riese. Schlank wie eine Bohne und zäh wie alte Lederstiefel – und er schaut immer auf dich herab, dieser Ray.

»Sag das nicht«, verbessert Ray. »Sag nicht alles roger. Du bist hier in keinem beschissenen Film.«

»Okay, Señor Marx.« Der Typ zieht eine Grimasse. »Como está?«

Ray lockert den Nacken. »Ist alles da?«

»Es ist alles roger, Ray.«

Ray lächelt. »Du bist ein echter Herzensbrecher. Jetzt mach dich aus dem Staub, mi’jo.«

Der Bohnenfresser-Punk verpisst sich. Ray schaut nach unten. Zu seinen Füßen steht derselbe Lederkoffer, der jetzt ein anderer Lederkoffer ist. Dieser neue, identische Lederkoffer hat einen doppelten Boden, unter dem sich genau zweihundertfünfzigtausend US-Dollar befinden.

Startkapital.

Ray fliegt nach São Paulo, um eine Saat auszubringen. Dazu braucht er aus dem Umlauf gezogenes Bargeld, das man nicht zurückverfolgen kann und das zu Hause gerade nicht zu kriegen ist. Als ehemaliger CIA-Agent, aktueller Firmenteilhaber und freiberuflicher Drahtzieher hat Ray Zugang zu sauberem Saatgut, wie er es nennt. Clean Cash.

Ray hat zwei Martinis intus und genießt die Aussicht von seinem Fensterplatz.

»Und, was führt Sie nach São Paulo?«

Ray schaut zur Stewardess auf. Er ist sich des Gesamteindrucks, den er abgibt, durchaus bewusst. Er wirft einen kurzen Blick auf den Lederkoffer, den er zu seinen Füßen verstaut hat. Er grinst. »Geld«, sagt er.

Die Stewardess mixt ihm einen frischen Drink.

»Dann sind Sie also was genau, ein Bankmensch?«

»Consultant«, erwidert Ray. »Ich sorge dafür, dass Vorhaben in die Tat umgesetzt werden.«

»Hm.« Die Stewardess reicht ihm sein Getränk. Sie hat es nicht eilig, beugt sich über seinen Sitz.

»Wie wär’s mit noch ein paar Erdnüssen?«, sagt Ray.

»Kommen sofort, Money Man.«

Ray schlürft den Martini. Seine Zähne prickeln vor Kälte. Sein Blick richtet sich wieder nach draußen und nach unten …

Die Atlantikküste blitzt auf.

Ray passiert die Schnellabfertigung am Gate und beim Zoll. Der Koffer trägt sich angenehm, weiche Ledergriffe, gut ausbalanciert, genau das richtige Gewicht – ausgezeichnet gepackt.

Auf dem Flughafen herrscht Hochbetrieb. Rays Name steht auf einem Schild, das von einem fies aussehenden jungen Mann in schickem Anzug hochgehalten wird. Ray gefällt sein Stil. Er mustert die anderen Typen mit den hochgehaltenen Namensschildern. Eine erbärmliche Truppe. Große, fette Kerle mit niedrigen Stirnen, wulstigen Augenbrauen, übergroßen Schirmmützen und Industrieparfüm. Billige Anzüge bedeuten eine beschissene Fahrt. Wenn man mit Peanuts bezahlt, kriegt man Affen, denkt Ray.

Ray sagt zum Fahrer: »Hotel Unique, amigo.«

Der Fahrer nickt. Ray kennt die Verkehrsverhältnisse. Ray kennt die Route. Jetzt ist genau die richtige Zeit für ein Nickerchen, und Ray lehnt sich in seinem Sitz zurück.

Das Hotel Unique heißt zu Recht so.

Ray bewundert die Außenfassade. Sie ist geformt wie ein Schiff. Mit einem Bug, elegant geschwungenen Flanken, einem flachen Deck und Bullaugen als Zimmerfenster. Ray lächelt, als er eincheckt.

»Sie bleiben dann also länger bei uns …?«

»Auf unbestimmte Zeit«, sagt Ray.

Die Empfangsdame wirkt leicht panisch, vielleicht versteht sie ihn nicht, findet nicht die richtige Antwort im Computer, ihr Kollege runzelt die Stirn …

»Ich …«

Ray lächelt weiter. »Nicht nervös werden, Schätzchen«, sagt er. »Es ist alles gut.«

Eine Hotelmanagerin erscheint. Sie räumt die Empfangsdame mit sanften Kommandos aus dem Weg. Sie schenkt Ray ein verlegenes, entschuldigendes Lächeln. Ray weiß das zu schätzen. Er nimmt die Bemühung wohlwollend zur Kenntnis, das Eingeständnis ihres Fehlers. Das sagt etwas aus.

»Wenn Sie mir bitte folgen würden, Senhor Marx …«

Rays Zimmer ist bereits vollständig hergerichtet. Die Schränke sind voll. Hemden und Jacketts, ein paar Jeans. T-Shirts und Shorts. Badesachen. Die richtige Art Schuhe. Das Bad ist genau nach seinen Wünschen eingerichtet. Ray verstaut den Koffer hinter der doppelten Rückwand eines Schranks, schließt sie mit einem Klicken, tastet nach dem Schloss und zieht den winzigen Schlüssel heraus. Er steckt ihn ein.

Cocktailstunde. Auf dem Deck wimmelt es von Menschen. Die Nacht bricht an …

An einer Seite verläuft ein schmaler Swimmingpool. Eine rot-lila Unterwasser-Lightshow sorgt für exotisches Ambiente. Ein Gefühl von Luxus.

Ray schlendert über das Deck, bei dem es sich offenbar um ein originales Schiffsdeck handelt. Es ist zugleich das Hoteldach, und Ray verschafft sich einen Überblick. Er befindet sich in einem teuren Viertel mit niedrigen Häusern. Im Norden erkennt er die Avenida Paulista, Hochhäuser und Strommasten mit blinkenden Warnlichtern – ankommende Hubschrauber, Kurzstrecken-Inlandsflüge, Signalmasten auf Helipads. Im Osten ein dunkelgrüner Fleck: vermutlich der Ibirapuera Park. Im Westen Luxuswohnanlagen mit Pools, Tennisplätzen und ausgedehnten Grünflächen. Den Blick nach Süden versperrt die Sushibar des Hotels.

Er sucht sich einen Platz und bestellt einen Caipirinha. Die Nacht senkt sich herab. Ray atmet.

Zurück im Zimmer schiebt Ray die Schranktür auf. Ray ist bereit fürs Bett, aber er spürt …

Ein Verlangen. Er holt den ledernen Koffer hervor, entfernt den falschen Boden und greift unter die Geldbündel. Er zieht einen eleganten Lederwaschbeutel heraus und öffnet den Reißverschluss. Ray hatte drei Caipirinhas. Der Alkohol lässt etwas in ihm schmelzen. Im Lederbeutel: eine Flasche reines mexikanisches Heroin, in medizinischer Qualität – sehr hochwertig, sehr schwer zu kriegen, sehr stark, nichts für Amateure. Ray ist nicht süchtig, aber er hat Bedürfnisse, er genießt …

Das Zeug hat Gourmetqualität, genau Rays Ding.

Ray schiebt die Nadel der schlanken Spritze in die Flasche. Er zieht sie auf, nimmt sie heraus. Er spritzt einen Tropfen ab. Nimmt einen Gummischlauch aus dem Lederbeutel. Wickelt ihn um seinen linken Arm. Er findet eine Ader, drückt den Abzug …

Das wird reichen, mein Freund, denkt Ray.

Er lässt sich in den Sessel unter dem Bullaugenfenster sinken. Ray fühlt sich wohl auf dem Meer, die Wellen plätschern, eine Brise weht, die sanfte Nachtluft …

Als Ray ins Bett schlüpft, fragt er sich: Wo soll ich hier so guten Stoff herkriegen? Er hat schätzungsweise einen Monat – vielleicht drei Wochen – Zeit, bis er sich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen muss.

Renata Sanchez ist nicht das erste Mal in einer Favela, aber zum ersten Mal musste sie ihren Chef deswegen anlügen.

Sie steht vor einem Por-Kilo-Restaurant an einer Kreuzung im oberen Teil von Paraisópolis, einen Block von der Hauptstraße entfernt.

Sie ist nicht hungrig – sie hatte gerade erst ein frühes, ausgiebiges Mittagessen mit einem Kunden in Itaim –, aber der Duft von Reis, Bohnen und geschmortem Schweinefleisch ist einfach zu verlockend. Sie checkt ihr Handy; sie ist pünktlich. Der Makler muss jeden Moment kommen. Er hat ihr versichert, dass er sie nicht warten lässt, dass es um diese Tageszeit dort sicher ist, keine Sorge, überhaupt ist es dort eigentlich zu jeder Tageszeit sicher, außerdem haben Sie doch gesagt, dass Sie schon mal hier waren, also sind Sie doch mit der Gegend vertraut, oder?

Nun wartet sie also doch – steht vor dem Restaurant, das freundlicher wirkt als die Bar auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Kein schöner Ort für einen schnellen Kaffee. Rostige Tische und knorrige alte Männer mit blutunterlaufenen Augen; räudige Hunde, die Krieg gegen ihre Flöhe führen. Die Restaurantbesitzerin starrt Renata an. Eine kräftige Frau mit einem grimmigen Gesichtsausdruck und einer fettigen Schürze. Sie steht mit verschränkten Armen da, schüttelt den Kopf, bleckt die Zähne und saugt daran.

Renata lächelt.

»Quer alguma coisa?«, fragt die Frau. Möchten Sie was? »Ich habe Mittagstisch, Snacks.« Sie deutet auf die Plastiktische auf dem Bürgersteig. »Sie können sich auch setzen.«

»Ich nehme eine coxinha«, sagt Renata. »Und eine Coke.« Sie denkt: Ja genau, eine Teigtasche gefüllt mit Hühnchen, Käse, Kartoffeln und dann ordentlich Tabasco drauf. Sie kramt in ihrer Handtasche nach Kleingeld.

Die Frau hebt eine Hand, schüttelt den Kopf. »Setzen Sie sich. Ich bringe es Ihnen. Sie können später zahlen.« Sie lächelt ironisch. »Sie sehen einigermaßen ehrlich aus.«

Renata setzt sich an einen gefährlich wackelnden Tisch und beobachtet die weiß gekleideten Dienstmädchen und Nannys, die céstas mit Reis und Bohnen tragen. Sind sie unterwegs zur Arbeit oder nach Hause? Die céstas sind eher klein, also geht es wahrscheinlich nach Hause. Die Körbe sind gerade groß genug für eine kleine Familie, ein bisschen zu schäbig für ein Haus oben auf dem Hügel.

»Hier.«

Die Restaurantbesitzerin stellt ein Tablett mit der coxinha, eine Flasche Cola und ein Glas mit Strohhalm auf den Tisch.

»Obrigada.« Renata lächelt. »Sie haben keine scharfe Soße, oder?«

Die Frau hebt eine Augenbraue und brummt etwas.

In der Nähe parkt ein Wagen, aus dem Musik dröhnt, und Renata beäugt die Männer mit Flip-Flops und dunklen Sonnenbrillen, die um den Wagen herumstehen und die fünf Schotterstraßen überwachen, die sich an der Kreuzung treffen.

»Hier.«

Renata lächelt. Sie packt den Snack mit einer dünnen, rauen Serviette aus dem Spender auf dem Tisch. Die Teigtasche ist trocken und nur stellenweise heiß – vermutlich liegt sie seit einer guten Stunde auf der Heizplatte. Aber sie schmeckt salzig und nach Frittiertem, der geschmolzene Catupiry tropft heraus, gerade richtig so. Sie schlürft die Cola, und die Bläschen prickeln in ihrem Mund. Die perfekte Kur bei einem Kater; obwohl sie gar keinen hat.

Straßenarbeiter stapfen von der Bushaltestelle nach Hause, vorbei an Reifenläden und ausgebrannten Autos. Sie tragen weiße Helme, haben die Oberteile ihrer orangefarbenen Overalls um die Hüften geknotet. Müllgeruch liegt in der Luft. Eine dichte Wolke scheint über ihrem Sitzplatz zu hängen. Dümmlich aussehende, schlappohrige Hunde schnüffeln in den Abfallsäcken und zerren Reste heraus. Der Eigentümer knurrt sie an, hebt drohend einen Besen, und sofort trotten sie davon.

Renata wischt sich den Mund ab, schaut noch einmal auf ihr Handy. Der Immobilienmakler ist jetzt eine Viertelstunde überfällig.

Auf der Hauptstraße rattern Trucks vorbei, und der Abgasgestank weht Renata in die Nase. Zwei Militärpolizisten haben sich neben ihren Motorrädern aufgebaut, das Blaulicht ist eingeschaltet, jeweils eine Hand ruht auf der Waffe im Gürtel.

Wenn die Hauptstraße Giovanni Gronchi verstopft ist, gibt es eine Umleitung durch die Favela. Eine Abkürzung vor allem für die Mittelschicht, sodass hier immer Militär präsent ist.

Renata fragt sich, ob das die Gegend wirklich sicherer macht.

Die Militärpolizei ist durchsetzt von zweifelhaften Gestalten. Eine Truppe schwer bewaffneter, korrupter Vollstrecker, und wie man hört, sind sie kaum weniger übel als die Drogenbanden. Renata weiß nicht, ob das zutrifft, aber für ihr Projekt in der Favela braucht sie auf jeden Fall die Kooperation beider Seiten.

Das bringt sie in eine spannende Lage.

Das Leben um sie herum entfaltet sich, nimmt seinen Lauf …

Mit Müll beladene carrossos quietschen vorbei, Jungen rollen Autoreifen den Hügel hinunter, Männer laden Holzkisten mit Obst und Bier aus rostigen, in zweiter Reihe geparkten Lieferwagen, Schulkinder hüpfen durch die Straßen, klatschen auf die Motorhauben der besseren Autos und winken durch die getönten Scheiben. Wäsche flattert im Wind, gelbe und blaue Müllsäcke kochen in der Hitze, leises Summen von illegal angezapften Stromleitungen. Kinder schieben ihre Köpfe aus Autofenstern und strecken ihre Zungen heraus.

Renata fragt sich, ob sie wirklich jeden Tag hierherkommen will. Und wo sie dann parken wird. Sie zieht ein paar Scheine aus ihrem Portemonnaie und winkt der Frau. Die Besitzerin kommt herübergeschlendert, inzwischen etwas weniger missmutig, wie Renata findet.

»Stimmt so«, sagt sie lächelnd.

»Valeu.« Prost. Die Frau wendet sich zum Gehen, überlegt es sich dann aber anders. »Was machen Sie eigentlich hier?«, fragt sie. Ihr Lächeln ist schief.

Ein Mann in weißem Hemd und schwarzer Krawatte eilt heran und winkt entschuldigend.

Renata nickt in seine Richtung. »Ich glaube, da kommt meine Verabredung.«

»Ha, na dann viel Glück«, sagt die Frau und stopft die Scheine in ihre Schürzentasche.

Renata sieht dem Mann mit dem weißen Hemd und der schwarzen Krawatte beim Schwitzen zu. Sein Hemd wirkt billig, das Fassungsvermögen des Kragens und der Achseln ist deutlich überschritten.

»Sorry«, sagt der Mann, »aber das müsste jetzt der richtige Schlüssel sein.« Er murmelt so was wie vamos, porra. Komm schon, du Scheißding.

Sie stehen auf dem Treppenabsatz im ersten Stock, und der schwitzende Mann versucht verzweifelt, die Tür zu öffnen.

Renata lächelt, schüttelt leicht den Kopf. »Kein Problem.«

»Und bitte entschuldigen Sie die Verspätung. Der Verkehr, ne? Ein Alptraum.«

»Ich weiß«, sagt Renata. »Ich bin selbst von Itaim hierhergefahren. Dort in der Nähe ist ja auch Ihr Büro, glaube ich. Oder kommen Sie von der Filiale auf der anderen Straßenseite?«

Die Stirn des Mannes glänzt, seine Wangen tropfen, coitado. Armes Lämmchen.

»Jep, ich meine, natürlich.« Ein Klicken. »So. Endlich.«

Er öffnet die Tür und hält sie ihr auf.

»Hier entlang.«

Er lächelt verlegen.

Renata tritt ein und denkt sofort: Ja, das ist perfekt …

Von einem Fenster aus blickt man auf die Favela, in ihren tiefsten Krater hinein, dann wieder hinauf zum höchsten Rand.

Unten in Paraisópolis krabbelt es, es wimmelt.

Die Hütten aus Beton, Ziegeln und Holz glühen in der Hitze.

Die ganze Gegend flimmert in der prallen Sonne wie eine Fata Morgana.

Es ist genau das, was sie sich vorgestellt und erhofft hat.

Aus dem Fenster auf der anderen Seite schaut sie hinunter auf die Kreuzung und bis zur Hauptstraße. Es ist wie ein Außenposten; sie fühlt sich, als stünde sie an der Grenze, dem letzten Fort vor dem Wilden Westen.

Sie spürt sofort, dass sie von hier aus Menschen helfen kann, jemandem helfen kann.

»Fantastische Aussicht«, sagt der Makler.

»Absolut. Wann, sagten Sie, ist es bezugsfertig?«

»Oh, genau in einem Monat.«

»Und warum nicht schon früher?«

»Also, wir nennen das lokale Verwaltungsvorgänge.«

»Sie meinen, Sie müssen es erst mit Räubern und Gendarmen klären, richtig?«

Er nickt. »So kann man es auch sagen.« Er hat sich wieder etwas gefasst. »Sie arbeiten für Capital SP, nicht wahr? Die Privatbank?«

Privatbank ist ein möglicher Ausdruck dafür. Renata ist Anwältin bei einem der größten Finanzkonzerne Südamerikas.

Die Reichweite ihres Hedgefonds ist legendär; sie vermitteln privaten Investoren Beteiligungen an lukrativen öffentlichen Aufträgen, darunter die größten Bauprojekte des Kontinents.

Renata mustert ihn streng.

»Oh, ich habe mich über Sie informiert. Ist so üblich in unserer Agentur, entendeu?«

»Verstehe.«

»Komisch«, sagt der Makler. »Eine Freundin von mir arbeitet dort, in derselben Abteilung wie Sie, also dachte ich …«

»Eine Freundin?«

»Eine Rechtsanwaltsgehilfin, was für ein Zufall, oder …«

Renata nickt. Die einzigen Rechtsanwaltsgehilfinnen bei Capital SP arbeiten alle für sie.

Damit ist die Sache geklärt.

»Ich nehme das Büro«, sagt sie. »Sie können schon mal den Papierkram fertigmachen.«

Rafa sieht, wie die schicke, durchtrainierte weiße Frau das Gebäude verlässt, begleitet von einem schmierigen Wichser im Anzug. Er ist sich ziemlich sicher, dass sie nicht zum Vögeln drinnen waren. Der Typ hat nicht die Eier, denkt Rafa, und außerdem spielt die Braut Klassen über seiner Liga.

Sie ist Weltklasse, findet Rafa, stilvoll, elegant und lässig – so einen Arsch findest du in der Favela nicht.

»Rafinha! Fala aí, mano!«

Rafa dreht sich um. Es ist sein Kumpel Franginho, der wissen will, was abgeht. Rafa springt von dem Reifenstapel, und sie klatschen sich ab. Franginho folgt Rafas Blick.

»Wer ist das?«

»Keine Ahnung. Sie kam vor einer halben Stunde und hat bei Dona Regina zu Mittag gegessen. Ging mit diesem Schmierlappen da rein und kam wieder raus.«

»E daí?« Na und? Was soll’s?

»Nada, ich halte nur die Augen offen, entendeu?«

Franginho weiß Bescheid. Sie gehen beide morgens zur Schule, um eins sind sie fertig, nachmittags verdienen sie sich was als Aufpasser für die Bosse. Der Job ist easy: Du notierst einfach jeden, der kommt und geht, meldest es am Ende deiner Schicht. Und falls es ungebetener Besuch von der Militärpolizei ist, piepst du deinen Verbindungsmann an und entzündest ein bisschen Feuerwerk.

Rafa macht den Job, seit er elf ist, also fast auf den Tag genau zwei Jahre, und er musste noch nie ein Feuerwerk abfackeln.

Seiner Einschätzung nach ist es in letzter Zeit ohnehin ziemlich ruhig.

Es gab schon lange keine Razzia mehr.

Und die Typen oben auf dem Hügel haben schon länger keine Strafexpedition mehr gestartet.

Früher war das Alltag …

Ein kleiner moleque zieht irgendeinen Scheiß ab, den er besser lassen sollte, einen Diebstahl, vielleicht eine besoffene Schlägerei, oder zweigt was von Einnahmen ab, die ihm nicht zustehen, vielleicht hat er auch die falsche Braut angebaggert; jedenfalls endet er zu Brei geschlagen auf der Straße, wenn er Glück hat gerade noch atmend, bei weniger Glück in der Kanalisation, schwarz und verkohlt, nach seiner vorzeitigen Einäscherung.

Also, alles in allem friedliche Tage.

»Willst du helfen?«, fragt Rafa.

»Warum nicht? Ich geh᾽ meiner Großmutter aus dem Weg.« Sie klettern auf ihre Throne aus Reifenstapeln. »Das ist aktuell die einzige wichtige Verpflichtung in meinem Kalender.«

Rafa lacht. »Das geht hier genauso gut wie woanders, ne?«

»Dein Wort in Gottes Ohr.«

Rafa grinst. Franginho hat ihn schon immer zum Lachen gebracht. Seine Art, mit Worten umzugehen, sein bate papo – seine freche Schnauze – ist Weltklasse.

»Meinst du, ich sollte noch mehr über die Braut im Auto rausfinden?«

Franginho überlegt. »Wenn das bedeutet, dass du Dona Regina einen Besuch abstattest, ihr ein paar Fragen stellst, uns ein paar coxinhas mitbringst, dann würde ich sagen, ja, das ist exakt das richtige Prozedere.«

Rafa fährt sich mit der Zunge über die Zähne. »Gut. Du bleibst hier.«

Franginho streckt sich, lehnt sich zurück. »Ich häng derweil bisschen am Strand ab, Baby.«

Rafa springt von den Reifen und überquert die Kreuzung.

Ja, Franginho macht ihm gute Laune, das steht fest. Den Spitznamen Franginho – Kleines Huhn – hat sich Rafa selbst vor Jahren ausgedacht. Sie spielten auf der Straße Fußball, als Franginho eine Schulter senkte, eiskalt einen Mörderschuss antäuschte, dann tänzelnd an dem dicken Jorginho vorbeidribbelte, der daraufhin mit der Fresse im Matsch landete. Als Jorginho schließlich wieder aufstand, schlammig und lachend, rief Rafa: »Er hat den Funky Chicken mit dir getanzt, Alter. Gack, gack, gack!« Dabei zuckte er mit seinen angewinkelten Armen und machte pickende Kopfbewegungen, um Franginho zu imitieren.

Außerdem waren da natürlich noch seine dünnen sehnigen Hühnerbeine.

Von da an hieß er Kleines Huhn. Und was soll man sagen, sie sind immer noch beste Kumpels.

Ein paar alte Säufer vor der Bar winken ihm zu und schreien, er soll sich aus Schwierigkeiten raushalten, kichern. Er nickt, ja, ja, halt die Klappe, alter Mann, zeigt ein falsches Lächeln, gesenkter Kopf, seine Flipflops klatschen über die holprige Straße …

Auf dem kleinen mercado drängen sich Frauen, die fürs Abendessen einkaufen. Obwohl er weiß, dass seine Mutter nicht darunter ist, hält er Ausschau. Jedes Mal, wenn er eine Gruppe Frauen sieht, späht er nach ihrem Gesicht, nach etwas Vertrautem, einem liebevollen Blick, einem Lächeln, einer Geste, einer Bewegung, die ihre Anwesenheit verrät …

Natürlich wird er sie nie wiedersehen. Schließlich ist er nicht naiv. Er vermisst sie nur, das ist alles. Sechs Jahre ist sie jetzt nicht mehr da, und sein Vater tut sein Bestes, seine Oma kommt jedes Wochenende in die Favela zurück, räumt ihr kleines Haus auf, kocht für sie und lässt ihnen Essen für die Woche da. Also ist er ziemlich gut versorgt, trotzdem ist es nicht immer einfach …

Es ist hart.

Aber jetzt ist keine Zeit für solche Grübeleien.

Rafa betritt das kleine Restaurant. Die Besitzerin ist nirgends zu sehen.

Er hämmert mit der Faust auf den Tresen.

»Dona Regina, bonitinha!«, schreit er. »Wo steckst du?«

Wie ein mürrischer Geist materialisiert sie sich vor ihm, die Schürze fettbespritzt, das Haar streng nach hinten gebunden.

»Ach, lass das, Rafinha. Bin nicht in Stimmung, sabe?«

»In Wahrheit liebst du es doch, Dona Regina.«

»Hmm.« Sie verzieht das Gesicht und verschränkt die Arme. »Was willst du?«

»Eigentlich, Dona Regina, haben der alte Franginho und ich dringend je eine coxinha nötig. Wie stehen da die Chancen?«

»Quatsch nicht so geschwollen daher, junger Mann. Ist das alles?«

»Nun, eine leckere Dose Guaraná zum Runterspülen schiene mir auch ein guter Plan, was meinst du?«

»Solltest du nicht in der Schule sein?«

Dona Regina fischt zwei coxinhas von der Warmhalteplatte und legt sie auf Servietten. Dann holt sie zwei Dosen Guaraná aus dem Kühlschrank.

»Schule ist für heute aus, Ma’am.«

»Dann solltest du besser deine Hausaufgaben machen«, Dona Regina deutet mit dem Kinn in Richtung Franginho, »statt mit diesem Faulpelz für die malandros oben auf dem Hügel zu arbeiten.«

Oben auf dem Hügel. Die Bosse tendieren dazu, sich selbst aus der Schusslinie zu halten, abseits vom Dschungel der Favela. Deshalb brauchen sie Fußvolk wie Rafa und Franginho für den Kontakt zur Basis. Die Befehlskette, weiß Rafa, verläuft buchstäblich bergauf.

»Die dürfen uns keine Hausaufgaben mehr geben«, sagt Rafa. »Das läuft jetzt unter Kindesmisshandlung.«

Dona Regina schüttelt den Kopf. »Schaffst du das alles, oder muss ich dir ein Tablett leihen?«

»Ich schaff das schon.« Rafa zwinkert ihr zu. »Tiefe Taschen.«

Dona Regina hebt eine Augenbraue, zieht eine Grimasse. »Die wirst du brauchen, mein Sohn.«

»Hier.« Rafa reicht ihr das exakt abgezählte Geld. »Stimmt so.«

»Vagabundo«, brummt Dona Regina.

Rafa wendet sich zum Gehen, dreht sich dann aber noch mal um. »Eine Frage noch. Wer war die Frau, die vorhin hier zu Mittag gegessen hat, du weißt schon, wen ich meine? Die hatte Klasse, entendeu? Die würde ich gerne öfter hier sehen.«

Dona Reginas Miene verhärtet sich. »Keine Ahnung.«

»Komm schon, du hast doch mit ihr geredet, oder?«

»Sie hat mich gefragt, ob ich scharfe Soße habe.«

»Da fällt mir was ein.« Rafa schnappt sich eine Flasche Tabasco von der Theke. »Ich bring sie zurück.«

»Das will ich dir auch raten.«

»Du hast also keine Ahnung, warum sie hier in der Gegend war? Sie sah nicht aus, als hätte sie bisher viel Zeit im Getto verbracht.«

»Ich habe keinen Schimmer.«

»Okay, gut zu wissen.« Rafa wendet sich ab, schaut dann noch mal über die Schulter zurück. »Dann werde ich das so nach oben weitergeben, ja? Damit sie dich vielleicht besser selbst fragen?«

Dona Regina seufzt, wechselt von einem Fuß auf den anderen. »Frecher Kerl«, sagt sie. »Wie alt bist du? Dreizehn, vierzehn? Cleverer, als es gut für dich ist.«

»Dreizehn. In der Blüte meiner Jahre.«