White Riot - Joe Thomas - E-Book

White Riot E-Book

Joe Thomas

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Beschreibung

Der Auftakt einer großen politischen Krimitrilogie, vom britischen Autor Joe Thomas, »einem unserer besten zeitgenössischen Krimiautoren« David Peace

Großbritannien steht Ende der Siebzigerjahre vor einer Zerreißprobe. Die neoliberale Politik von Margaret Thatcher führt zu sozialen Unruhen, während gleichzeitig die National Front auf dem Vormarsch ist. Widerstand formiert sich, als antifaschistische Gruppen unter Mitwirkung von bekannten Punkbands wie The Clash oder X-Ray Spex das Rock Against Racism-Festival im Victoria Park veranstalten. In dieser aufgeheizten Stimmung ist Detective Constable Patrick Noble damit beauftragt, einen rassistisch motivierten Mord an einem Bengali aufzuklären. Doch manche Kräfte versuchen mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kommt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 468

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Joe Thomas

White Riot

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Alexander Wagner

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »WHITERIOT« bei Arcadia Books Ltd, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung April 2025

Copyright © der Originalausgabe 2023 by Joe Thomas

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Coverdesign: www.sempersmile.denach einer Vorlage von Nathan Burton unter Verwendung von Bildmaterial der Agentur Focus / Magnum (Peter Marlow)

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

MA · Herstellung: han

ISBN 978-3-641-31287-9V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Vorbemerkung des Autors

Obwohl dieses Buch auf wahren Begebenheiten aus den Jahren 1978 – 1983 beruht, ist es ein fiktionales Werk. Wo es möglich war, habe ich dokumentierte Äußerungen realer Personen verwendet oder für den Roman adaptiert und in einigen Fällen in meine eigenen Dialoge eingebaut. Dem Haupttext folgt eine Danksagung, die eine umfassende Bibliografie aller verwendeten Quellen sowie Anmerkungen zu allen zitierten Materialien enthält.

Dieser Roman ist dem Gedenken an Altab Ali und Colin Roach, ihren Familien und Freunden sowie all jenen gewidmet, die sich im Kampf gegen die Ungerechtigkeit in Hackney engagiert haben und weiterhin engagieren.

Vorbemerkung des Verlags

Dem Verlag ist bewusst, dass der Roman Begriffe und Formulierungen enthält, die im zeitgeschichtlichen Kontext zu verstehen sind. Bei einigen Ausdrücken handelt es sich um Diffamierungen, deren Verwendung und unverfälschte, nicht beschönigende Übersetzung jedoch zur Charakterisierung der Figuren gehören.

Die Verpflichtung der Untertanen gegenüber dem Souverän besteht nur so lange und nicht länger, als dieser die Macht hat, sie zu schützen. Denn das natürliche Recht der Menschen, sich selbst zu schützen, wenn kein anderer sie zu schützen vermag, kann durch keinen Vertrag entäußert werden.

Thomas Hobbes, Leviathan

Die Vergangenheit ist ein fremdes Land.

L. P. Hartley, The Go-Between

Ich glaube fest an den Faschismus. Die einzige Möglichkeit, die Entwicklung des Liberalismus zu beschleunigen, der heute nur noch lasch in der Luft hängt, wäre, den Fortschritt einer diktatorischen Tyrannei von rechts zu beschleunigen und die Sache so schnell wie möglich hinter uns zu bringen. Adolf Hitler war einer der ersten Rockstars.

David Bowie, Interview, Playboy, 1976

Ich denke, Enoch hat recht, wir sollten sie alle zurückschicken.

Eric Clapton auf der Bühne in Birmingham, 1976

Ich glaube, dass Enoch der Richtige ist. Ich bin auf seiner Seite. Dieses Land ist überbevölkert. Man sollte die Einwanderer nach Hause schicken. Basta.

Rod Stewart, 1970, Kommentar in der International Times

Erster Teil

Heroes

Shahid Akhtar ist betrunken.

Er trägt einen Trainingsanzug und ist sturzbesoffen.

Um acht Uhr abends verabschiedet er sich von seiner Frau und seinen Kindern und verlässt sein Reihenhaus in der Mildenhall Road, um joggen zu gehen.

Doch anstatt zu joggen, landet er im Spirituosenladen an der Ecke und kauft die teuerste Flasche Scotch, die im Angebot ist: Bell’s.

Die meistverkaufte Marke Europas, sagt der Ladenbesitzer fröhlich zu Shahid Akhtar. Eine Million Menschen können nicht irren.

Tatsächlich, räumt Shahid Akhtar ein, erfüllt das Zeug seinen Zweck.

Nach seinem Einkauf weiß er nicht wohin, also schlendert er seine übliche Joggingroute entlang, trinkt dabei Europas beliebtesten Whisky und denkt über alles nach.

Irgendwann setzt er sich auf eine Bank am Uferweg neben dem Kanal, gleich hinter der belebten Lea Bridge Road, direkt bei der Brücke.

Über ihm rauschen die Autos vorbei, dahinter liegt der North Millfields Park, er blickt auf den verlassenen Hof einer Baufirma. Es ist dunkel.

Sehr dunkel, stellt Shahid Akhtar fest, und in seinem Kopf dreht sich alles.

Richtig finster.

Wenn er sich umdreht und den Hals reckt, kann er die Lichter der beiden Pubs Prince of Wales und Ship Aground sehen, und einen Moment lang überlegt er, ob er nicht einfach dorthin spazieren und sich ein paar Drinks genehmigen soll, vielleicht hat ja dort jemand eine Lösung für sein Problem.

Aber das Prince of Wales schüchtert Shahid Akhtar ein, mit seinem steifen Gehabe und der vermeintlichen Exklusivität, und das Ship Aground verfolgt eine strikte »No Asians«-Türpolitik, also scheidet auch das aus.

Shahid Akhtar lacht laut bei dem Gedanken.

Dass es so weit gekommen ist: allein im Dunkeln, besoffen und ohne Plan.

Heute Abend hat er alles noch schlimmer gemacht.

Vorhin hat er von einer Telefonzelle in der Fletching Road seine Geliebte angerufen, eine Frau namens Dawn.

Einige Tage zuvor hat Dawn, eine weiße Frau, Shahid Akhtar verkündet, dass sie von ihm schwanger ist.

In der urinverpesteten Luft der Telefonzelle hat Shahid Akhtar ihr Geld angeboten.

Erpressung, hat sie es genannt.

Es war eine ordentliche Summe, denkt er jetzt verbittert.

Er ist vermögend, Shahid Akhtar, mit seinen Geschäftsbeteiligungen in der Brick Lane und seinem Einfluss im Viertel. In der Brick Lane geht kaum etwas über den Ladentisch, ohne dass Shahid Akhtar daran beteiligt ist.

Überraschenderweise hat sich Dawn geweigert, das Geld anzunehmen.

Überraschenderweise hat sie stattdessen verkündet, dass sie am nächsten Tag zu Shahids Haus marschieren würde – das waren tatsächlich ihre Worte –, um Shahids Frau und seinen drei Kindern im Detail zu erzählen, was zwischen ihnen vorgefallen war.

Das ist ein echtes Problem, denkt er erneut.

Dieses Telefonat hat er ziemlich vermasselt.

Er überlegt, ob er einen seiner Kontakte in der Whitechapel Police Station anrufen soll. Wahrscheinlich keine gute Idee, denkt er, die werden nur darüber lachen, dass er sich so in die Nesseln gesetzt hat, oder es als Druckmittel gegen ihn benutzen. Nach dem letzten Wochenende, dem Marsch und dem Konzert, ist er ihnen ohnehin etwas schuldig, weil sie seine Interessen – ihre Interessen – geschützt haben.

Er leert seinen Whisky und schleudert die Flasche in den Kanal. Sie klatscht mit einem satten Geräusch auf das Wasser und versinkt.

Er denkt an alles, was er für Dawn getan hat; was er ihr anvertraut hat.

Zur Absicherung, hat er ihr gesagt, falls du es mal brauchst.

Das verstehe ich nicht, hat sie erwidert.

Er erinnert sich, dass er in diesem Moment gelächelt, ihr zugezwinkert und gesagt hat: Wenn du es irgendwann mal brauchst, Liebes, wirst du schon verstehen.

Es ist sehr dunkel, und Shahid Akhtar ist sehr betrunken. Er sollte nach Hause gehen, nicht zuletzt, weil bald Sperrstunde ist, und dann an einem der Pubs vorbeizugehen, ist keine gute Idee.

Er beschließt, sich eine Weile hinzulegen, um den Kopf frei zu kriegen.

Liegen tut gut.

Er atmet tief durch und schaut in den Himmel, in die Sterne, öffnet und schließt die Augen, ein Auge, dann das andere, sieht Sterne, so viele Sterne, blinkende und sich drehende Sterne, und er versucht aufzustehen, aber er schafft es nicht, er strauchelt und stolpert, und er denkt, ich muss nach Hause, aber wo bin ich eigentlich?

Die Lichter der Pubs leuchten, der Verkehr rauscht vorbei –

Er hört den Song von David Bowie, denkt: We can be heroes –

Stimmen in der Dunkelheit, Pfeifen in der Dunkelheit, Lachen in der Dunkelheit –

Shahid Akhtar schläft ein.

1 Das Wochenende davor:

Punky Reggae Party30. April 1978, Carnival Against Racism, Victoria Park

Simon

Sie werden dich aufnehmen, weil du einer von ihnen bist. Mach dir keine Sorgen wegen des Treffens, das wird schon. Am besten, du machst gleich mit, mischst dich ein. Das willst du doch. Zeig ihnen, dass du einer von ihnen bist. Und du bist einer von ihnen. Du bist im Hackney Mothers’ Hospital in der Lower Clapton Road zur Welt gekommen. Du hast im Pembury Estate gelebt, bevor es von jamaikanischen und nigerianischen Familien überschwemmt wurde. Du bist in die Rushmore Infants’ School gegangen, dann in die Juniors’ School und schließlich in die Hackney Downs School. Danach hast du nicht gewusst, wie es weitergehen soll. Für ein College hat es nicht gereicht, für ein eigenes Geschäft hat das Geld gefehlt. Du warst ein schlauer Junge. Warst hier und da ein bisschen gewalttätig, hast Autoradios geklaut, ein paarmal haben sie dich verhaftet, aber du musstest nie richtig Zeit absitzen. Maler und Anstreicher gibt es genug in der Stadt, was blieb da für dich übrig? Jetzt bist du vierundzwanzig, hast keinen Job und ein paar kleine Vorstrafen. Niemand stellt dich ein. In der Nachbarschaft wohnt ein älterer Typ namens Harry, der braucht ab und zu Aushilfen auf dem Bau, aber immer nur tageweise, das hat keine Zukunft. Und am Ende macht er es nur dem alten Herrn zuliebe. Du bist wütend. Du fühlst dich ausgeschlossen. Du fühlst dich von der Regierung im Stich gelassen, so erklären sie es dir. Sie erklären dir, dass es jedem Fremden, jedem Ausländer, jedem Illegalen hier besser geht als dir, weil die Regierung das so will, dass es denen besser geht als dir, und zwar auf deine Kosten. Das sagt dir dein Kumpel Phil, der sich eine Glatze rasiert und Springerstiefel gekauft hat. Du hörst es von den alten Knackern in der Kneipe, die morgens ihre Sozialhilfe versaufen und nachmittags Essensreste aus dem Müll fischen. Du hörst es von den Kids in der Siedlung, die Klebstoff schnüffeln und Graffiti sprühen. Man hört es in den Wettbüros, im Arbeitsamt. Du hörst es beim Fußball, bei den Spielen von West Ham. Du hörst es in der Musik, bei Sham 69. Du hörst es überall, und du fängst an, es zu glauben, und irgendwann haben sie dich überzeugt, und du entscheidest, ja, ich bin dabei, ich komme zum Treffen, okay.

Umkleideraum, West End Central Police Station.

Detective Constable Patrick Noble macht sich für den Tag schick. Er muss zum Victoria Park, um das Festival im Auge zu behalten, also trägt er keine Uniform. Nach Hackney abkommandiert –

Wegen möglicher rassistischer Übergriffe sind alle in Alarmbereitschaft.

Was soll das werden, denkt Noble, eine Aufklärungsmission?

Und dafür opfert er seinen Sonntag.

The Clash sind in Ordnung, denkt er. Es macht Sinn, was Joe Strummer neulich gesagt hat.

»Die Leute sollen wissen, wir sind antifaschistisch, wir sind gegen Gewalt, wir sind gegen Rassismus, wir sind für Kreativität. Wir sind gegen Ignoranz.«

»Oi, Noble!« Ein Schrei vom anderen Ende des Raumes. »Du nimmst besser dein Taschentuch mit, Junge.«

Noble dreht sich um. Es ist Big Ron Robinson, Detective Constable und ein richtiges Original. Ein echter Charmeur, dieser Big Ron.

Noble sagt: »Lass das meine Sorge sein, Ron.«

»Und pass auf deine Brieftasche auf«, sagt Ron.

»Worauf willst du hinaus?«

Big Ron grinst. »Punks und Schwarze, Kumpel«, sagt er. »Bei deinem kleinen Konzert heute Nachmittag.«

Noble schüttelt den Kopf. Noble murmelt: »Blöder Wichser.«

Big Ron beugt sich vor. »Der eine spuckt dir ins Gesicht, der andere klaut dir die Kohle.«

»Verpiss dich, Ron.«

Noble schließt seinen Spind und geht zur Tür.

»Viel Glück, Chance, alter Junge«, lacht Ron. »Viel Glück, Paddy Boy.«

Chance Noble: Ein bisschen Glück hatte er, einmal, ein Zufallstreffer, aber der Spitzname ist geblieben.

Dass er Patrick heißt, hilft auch nicht unbedingt.

Der sprichwörtliche irische Glückspilz ist in den Londoner Polizeistationen selten anzutreffen.

Am selben Tag, ein paar Stunden zuvor.

Suzi Scialfa ist auf einer Hausbesetzer-Party in der Charing Cross Road.

Um vier Uhr morgens legt jemand »Police and Thieves« von Junior Murvin auf. Reggae-Stimmung.

Jemand ruft: »Ist das nicht ein Clash-Song?« Alle lachen.

Suzi schaut aus dem Fenster. Unten ist eine Prozession, Hunderte von Menschen ziehen die Straße entlang.

Suzi, ziemlich betrunken, lehnt sich aus dem Fenster. Sie ruft: »Wo wollt ihr hin?«

»Wo kommst du denn her, Süße?«, ruft jemand zurück.

Gelächter. Rufe: »Oi, oi!«

Suzi lacht zurück, lässt ihren breiten amerikanischen Akzent raus. »New York, New York, Darling.«

Sie zückt ihre Kamera und knipst. »Wollt ihr mir nicht sagen, wo ihr hingeht?«

Eine andere Stimme ruft: »Trafalgar Square, Schätzchen, Marsch gegen Rassismus.«

Suzi sagt: »Jetzt? Es ist vier Uhr morgens.«

»Man kann nie früh genug hingehen«, ruft jemand anderes.

Junior Murvins Bass rumpelt durch die Nacht.

Jemand legt The Clash auf.

Suzis Freund kommt ans Fenster. Sie zeigt auf die Menge.

»Heilige Scheiße«, sagt er.

Mildenhall Road, Clapton, etwas später.

Jon Davies kuschelt mit seinem sechs Monate alten Sohn Joe im Bett, während seine Frau Jackie unten Tee kocht.

Sie ruft nach oben: »Willst du auch mitmarschieren, Schatz? Oder nur zum Konzert gehen?«

Jon denkt schon seit Tagen darüber nach. Der Demonstrationszug marschiert vom Trafalgar Square zum Victoria Park, das sind schon ein paar Meilen. Sie nehmen den langen Weg nach Westen und dann wieder zurück nach Osten. Ob der Kleine das alles mitmacht? Jon weiß nie, wie der Junge etwas findet. Er scheint mit allem zufrieden zu sein, bis er es plötzlich nicht mehr ist.

Der Marsch wird anstrengend. Aber er wird von der Anti-Nazi League organisiert, das Konzert von Rock Against Racism, und Jon arbeitet für die Bezirksverwaltung, also könnte es diplomatisch klug sein, sich bei beidem zu zeigen –

Als ob das irgendjemandem auffallen würde.

»Nur zum Konzert, Schatz«, ruft er nach unten. »Ich will Steel Pulse nicht verpassen.«

»Steel wer?«, schreit Jackie.

Noble klopft an DS Foremans Tür und tritt ein.

Foreman lächelt. »Sie haben sich herausgeputzt, Chance, wie ich sehe. Sehr schick.«

»Sehr witzig, Chief«, sagt Noble.

»Wenigstens fallen Sie so nicht auf.«

Noble ist sich nicht sicher, ob das wirklich stimmt.

Foreman sagt: »Hier.« Er reicht Noble ein Dokument. »Das ist eine Liste mit Leuten, nach denen Sie Ausschau halten müssen.«

»Okay.«

»Das ist eine reine Aufklärungsmission, Chance, mehr nicht. Sie bleiben nur Beobachter.«

»Klar, Boss.«

»Und hier«, er reicht Noble einen Umschlag, »ist etwas Geld und ein Backstage-Pass.« Foreman lächelt wieder. »Wir dachten, Sie würden gerne mal die Glamour-Crowd aus der Nähe sehen.«

Noble nickt.

»Wir möchten, dass Sie auf der ganzen Strecke vom Trafalgar Square an dabei sind. Verschaffen Sie sich einen Überblick, okay?«

Noble überfliegt das Blatt.

Überschrift: PERSONENVONINTERESSEAUSDEMLINKENSPEKTRUM.

Und eine Liste mit Namen:

Red Saunders, Gründungsmitglied von Rock Against Racism [RAR]

Syd Shelton, Vorstandsmitglied bei RAR

David Widgery, Vorstandsmitglied bei RAR

Ruth Gregory, Vorstandsmitglied bei RAR

John Dennis, Vorstandsmitglied bei RAR

Wayne Minter, Vorstandsmitglied bei RAR

Kate Webb, Vorstandsmitglied bei RAR

Roger Huddle, Socialist Workers Party, Vorstandsmitglied bei RAR

Peter Hain, Gründungsmitglied der Anti-Nazi League

Paul Holborow, Gründungsmitglied der Anti-Nazi League

Etwa in der Mitte des Blattes findet sich eine weitere Überschrift: PERSONENVONINTERESSEAUSDEMRECHTENSPEKTRUM.

Aber keine Namen.

»Chief«, sagt Noble. Er wedelt mit dem Zettel. »Was hat das zu bedeuten?«

Foreman lächelt. »Das müssen Sie selbst ausfüllen, mein Sohn. Das bedeutet es.«

Noble nickt.

Foremans Ton wird freundlicher. »Auf der einen Seite haben wir die Skinheads und die Headbanger, richtig? Auf der anderen Seite«, er hebt die linke Hand, »sind die Subversiven. Es ist leicht, die Skinheads im Auge zu behalten. Das sind nur Hooligans, mehr nicht.«

»Und die National Front?«, fragt Noble. »Die interessiert Sie nicht, Chief?«

»Das ist eine offizielle politische Partei, DC Noble«, sagt Foreman. »Legal.«

»Ich dachte, Chief«, sagt Noble langsam, »ich kümmere mich um rassistische Übergriffe, schwere Körperverletzung, solche Sachen.«

»Das tun Sie, mein Sohn.« Foreman seufzt.

Foreman ist in Ordnung, das weiß Noble, er ist nur –

Na ja, er sorgt sich mehr um seinen Job als um alles andere.

Foreman sagt: »Ein Tipp für Sie, Chance.«

»Schießen Sie los.«

»Die Skinheads werden es nicht mögen, wenn dieser linke Mob direkt durch ihr Gebiet marschiert, verstehen Sie?«

Noble nickt. »Brick Lane.«

Foreman schüttelt den Kopf. »Das ist nicht das Problem.«

»Nein?«

»Sie kennen doch Gardiner unten in Whitechapel, oder?«

Noble nickt.

»Er wird oben in der Brick Lane bei den Uniformierten warten. Gehen Sie hin und sagen Sie Hallo.«

»Verstehe.«

»Und wenn Sie in die Nähe von Bethnal Green kommen«, sagt Foreman, »würde ich mich an Ihrer Stelle an die Front des Zuges bewegen.«

»Im wörtlichen und im übertragenen Sinne«, sagt Noble.

Foreman lacht. »Der war gut, Chance, cleveres Kerlchen. Arrivederci.«

Mit halbem Ohr hört Suzi einem Mann zu, der laut erzählt, dass die Bühne im Victoria Park die ganze Woche über von ein paar Hafenarbeitern und gleichgesinnten West-Ham-Fans besetzt war, und dass sie dreimal von Schlägern der National Front angegriffen worden sind, die sie aber problemlos vertrieben haben, was sich anhört, als wäre es ein Riesenspaß gewesen –

Suzi dreht sich zu ihrem Freund um. »Wie spät ist es?«

»Sechs Uhr dreißig.«

»Schon halb sieben? Wie kann das sein?«

Ihr Freund tippt sich an die Nase und schnieft kräftig. »Was meinst du, Schatz? Wir sollten besser gehen, oder?«

Suzi nickt. Schließlich haben sie beide den ganzen Tag zu tun.

Sie lächelt, auf eine gute Art aufgeregt, während sie ihre Umhängetasche auf Kameraausrüstung, Notizbuch und Stift hin überprüft.

Sie tastet ihre Hosentaschen nach Schlüsseln, Geld und Zigaretten ab. Check, check, check.

»Na dann«, sagt sie. »Auf geht’s!«

Schon verlassen Menschen das besetzte Haus, aufgeregtes Geschwätz und Parolen hallen durch das Treppenhaus:

»Die National Front ist eine Nazi-Front, zerschlagt die National Front.«

Menschen singen auf der Straße. »London’s Burning« von The Clash.

Suzi lehnt sich an die Schulter ihres Boyfriends. Das Wort Boyfriend gefällt ihr, irgendwie fühlt sie sich damit englischer.

»Bist du aufgeregt, Babe?«, fragt sie.

Keith legt seinen Arm um sie. »Das bin ich, Schatz. Heute ist ein großer Tag. Bist du aufgeregt? Du solltest es sein, Süße.«

Suzi lächelt und drückt ihre Nase noch tiefer in Keiths Halsbeuge.

Sie kann es kaum erwarten, um ehrlich zu sein.

Die Luft ist feucht – seit drei Tagen regnet es ununterbrochen –, aber jetzt scheint die Sonne, die Straßen glänzen, und alle sind irgendwie fröhlich. Normalerweise ist ein Sonntagmorgen im West End trostlos, denkt Suzi. Pfützen aus Erbrochenem. Überall Müll. Aber nicht heute. Heute, so scheint es, haben alle eine Mission.

Keith ist der Tontechniker von The Ruts, und sie werden auf einem Truck spielen, der den ganzen Weg vom Trafalgar Square bis zum Victoria Park fährt. Suzi wird auf dem Truck mitfahren, Fotos für das Magazin Temporary Hoarding schießen, Notizen machen und ein paar Zitate sammeln.

Jemand rennt die Charing Cross Road hinunter und schreit: »Los! Auf geht’s!«

Sie drehen sich um. Es ist Syd Shelton, einer der Organisatoren der Demo und Grafikdesigner von Temporary Hoarding, so etwas wie Suzis Chef.

Er klopft Keith auf den Rücken und gibt Suzi einen dicken Kuss. »Alles klar, Sweetheart«, sagt er grinsend.

Als Suzi mit siebzehn Jahren in die Londoner Szene kam, nannten sie so viele Leute Sweetheart, dass sie es zu ihrem offiziellen Spitznamen machte, natürlich halb ironisch. Suzi ›Sweetheart‹ Scialfa. Sie wollte ihn testen, wie sie sagte. Er blieb.

So ist das mit Spitznamen, man wird sie nicht mehr los.

Keith sagt: »Du bist früh auf.«

»Konnte nicht schlafen.« Syd zwinkert Suzi zu.

»Du scheinst sehr zufrieden mit dir zu sein, Syd, wenn ich das sagen darf«, sagt Keith.

»Hört ihr das?« Syd bleibt stehen und hält sich lauschend die Hand ans Ohr.

Sie sind auf halbem Weg zum Leicester Square, es ist zu spät – oder zu früh – für die Nachtschwärmer von Soho, die Touristen sind noch im Bett, aber von irgendwoher kommen Stimmen.

»Es klingt wie eine Menschenmenge«, sagt Suzi.

»Wir schätzen, dass schon zehntausend hier sind«, sagt Syd. »Busse aus Schottland, Manchester, Liverpool, Sheffield, Middlesbrough, Südwales, von überall her. Sie wollten dem Berufsverkehr zuvorkommen«, sagt er mit gespielter Gelassenheit.

»Zehntausend?« Keith pfeift durch die Zähne. »Dann sollten wir heute keine Probleme haben.«

»Wohl kaum, Kumpel«, sagt Syd. »Ich habe mich gerade mit ein paar Punks aus Aberystwyth unterhalten. Die spielen alle Rugby, aber nur sonntags.«

Sie lachen.

Suzi ist erleichtert. Sie würde es nicht zugeben, aber sie hatte ein bisschen Angst, dass es Ärger geben könnte. Sham 69 spielen später – Jimmy Pursey hat angeblich etwas vor –, und bei ihren Auftritten hat es schon oft Ärger gegeben. Besonders schlimm war es, als die Skins der National Front im Middlesex Poly für Aufruhr sorgten.

Suzi hatte befürchtet, dass sie während des Marsches den Truck ins Visier nehmen könnten. Aber jetzt schon zehntausend? Da haben sie keine Chance.

»Das sind nicht nur Punks«, fügt Syd hinzu. »Das sind alle möglichen Leute. Jung und kreativ. Schwarz, weiß und braun. Teds, Mods, Biker, Punks, Greaser, Disco-Kids. Alle Altersgruppen. Im Osten werden gerade die Reggae-Soundsysteme aufgebaut. Und es ist noch nicht mal sieben.«

»Heilige Scheiße«, sagt Keith.

»Hört zu«, sagt Syd. »Ich muss los. Wir sehen uns auf dem Truck, meine Süßen.«

Sie blicken Syd nach, der die Straße hinunterfliegt.

»Wo zum Teufel ist Aberystwyth?«, fragt Suzi.

»Babe«, ignoriert Keith sie. »Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber mir ist nach einer Tasse Tee und einem Schinkensandwich, bevor der ganze Spaß losgeht.«

Suzi drückt Keiths Arm. »Bitte weisen Sie den Weg, mein Herr«, sagt sie.

Keith nimmt ihre Hand, und sie biegen rechts ab nach Chinatown.

Suzi verzieht verwirrt das Gesicht. »Schatz?«

Keith grinst. »Ich kenne da einen Laden.«

»Daran habe ich nicht gezweifelt, Schatz.«

Jon Davies sitzt in seinem großen braunen Sessel und schaut Fußballnachrichten. Auf der Armlehne stehen eine Tasse Tee und ein kleiner Teller, auf seinem Schoß hockt sein kleiner Junge.

Der Kleine zappelt ein wenig herum, die Hand im Mund. Jon Davies nippt am Tee und beißt schnell in sein Bacon-Sandwich. Die braune Soße verleiht ihm eine angenehme Schärfe.

Jackie ist unten und bereitet weitere Sandwiches für den Carnival vor.

»Schinken und Käse für dich, Jon?«, ruft sie die Treppe hinauf.

Jon Davies ruft zurück: »Wunderbar, Schatz, danke!«

Eines der Probleme, wenn man aus einer Wohnung auszieht und sein ganzes Geld in ein kleines Reihenhaus investiert, ist, dass man viel öfter die Treppe rauf und runter rufen muss.

Die Fußballergebnisse sind trostlos. Jons Mannschaft, West Ham, hat auswärts gegen Liverpool verloren, durch Tore von McDermott in der 38. und Fairclough in der 66. Minute. Liverpool scheint gegen West Ham leichtes Spiel gehabt zu haben. Der Abstieg steht bevor, denkt Jon.

Er sagt zu dem Jungen: »Du hast noch viel vor dir, mein Sohn.«

Der Junge gluckst und lächelt.

Jon will bald mit dem Jungen ins Upton-Park-Stadion gehen. Er ist sechs Monate alt und trägt bereits einen Schlafanzug in den Vereinsfarben Bordeaux und Hellblau. Jon ist schon sein ganzes Leben lang Fan von West Ham, was sonst? Arsenal? Die verdammten Spurs? Und lass mich in Ruhe mit dem verdammten Chelsea.

Aber im Boleyn haben sie gut gespielt, das muss man ihnen lassen.

Manche der Fans gehen ihm auf die Nerven. Es ist nur eine Minderheit, und mit den meisten kann er sich arrangieren, aber manchmal macht es einfach keinen Spaß mehr. Klar, es gibt die bösen Jungs, die sind in Ordnung, die von der North Bank oder vom Chicken Run, aber die legen sich nur mit ihresgleichen an. Was immer dich glücklich macht, ist Jons Einstellung.

Nein, es sind die alten Knacker auf der Haupttribüne, die Jon nicht mag. Ihre Schmähgesänge. Ihre Dreistigkeit. Manche nehmen kein Blatt vor den Mund.

Verpiss dich, Clyde, riefen sie, bis Clyde vor einer oder zwei Spielzeiten schließlich den Verein verließ.

Los, Clyde, los. Tritt ihnen in den Arsch.

Ein Mann mit Stil, dieser Clyde Best. Ein attraktiver Kerl. Gut am Ball. Ein Arbeitstier.

Eine von Jons Nachbarinnen, eine ziemlich sexy Frau in seinem Alter, soll mit Clyde Best geschlafen haben, dem ersten schwarzen Spieler bei West Ham.

»Noch Tee, Schatz?«, ruft Jackie.

»Nein, danke«, schreit Jon zurück.

Der Kleine kaut auf seiner Hand, irgendwie nachdenklich, findet Jon.

Auf dem Trafalgar Square wimmelt es von Menschen. Noble ist beeindruckt. Er hört einem Wichtigtuer zu, der in ein Mikrofon bellt. Ein Typ namens Tom Robinson, wie Noble herausfindet. Ein linker Sänger, der später mit der Tom Robinson Band auftreten wird. Wahnsinnig einfallsreicher Bandname, denkt Noble spöttisch.

Dieser Tom Robinson redet viel über Positivität, aber die Tonqualität ist miserabel, und Noble versteht nur diesen Teil:

»Die Botschaft dieses Carnival richtet sich nicht nur an die Verrückten der National Front, sondern an alle Fanatiker überall. Sie lautet: Hände weg von unseren Leuten. Schwarz und Weiß, wir stehen zusammen, heute Nacht und für immer.«[1]

Ein anderer Typ folgt. Cord und lange Haare.

Noble merkt sich den Namen: Peter Hain. Noble merkt sich das Gesicht: Dieser Peter Hain steht auf seiner Liste.

Peter Hain verkündet etwas wie: »Wir bauen eine Volksbewegung auf, um die Nazis zu schlagen.«[2]

Nazis? Noble runzelt die Stirn. Er schaut auf seinen Zettel. Peter Hain, Anti-Nazi League.

Na, das erklärt alles.

Noble bahnt sich einen Weg durch die Menge, hält den Kopf gesenkt und setzt ein breites, falsches Lächeln auf.

»Zerschlagt die National Front!«

Und so weiter. Eine Haltung, mit der er durchaus sympathisiert.

An der Ecke des Platzes, am oberen Ende von Whitehall, bemerkt Noble einen distinguiert aussehenden Mann mit Notizbuch und Presseausweis. Telegraph. Was für eine Überraschung, denkt Noble.

Die Menge wiegt sich und singt. Aus einem der abfahrbereiten Tieflader dröhnt Musik.

Noble kennt das Lied, aber nicht diese lahme Reggae-Version. »Police and Thieves«. Er lächelt. Heute sind wir alle dabei, denkt er.

»Ich hätte nicht gedacht, dass sich eure Leute hier blicken lassen«, sagt Noble zu dem Reporter.

Der vornehme Herr zeigt Noble sein Notizbuch. »Das habe ich geschrieben«, sagt er. »Falls Sie es überprüfen wollen.«

»Warum lesen Sie es mir nicht vor?«

»Das werde ich.« Er blickt Noble an und nickt in Richtung Straße. »Ich bin nur hier, um über ein Veteranentreffen zu berichten.«

»Na dann los«, sagt Noble. »Lesen Sie.«

Der Mann blättert um. »Das ist der verachtenswerteste Abschaum aus den untersten Schichten der Gesellschaft, den ich je gesehen habe«, liest er vor.[3] Er schließt das Notizbuch. »Ich spreche von Ihnen, junger Mann.«

Noble lächelt. »Schauen Sie sich um.« Er holt mit dem Arm aus. »Ich glaube nicht, dass das auf irgendjemanden hier zutrifft.«

»Das ist es auch nicht, was Sie morgen in der Zeitung lesen werden, junger Mann.«

Tom Robinson hüpft auf den Truck von The Ruts. Die Band baut ihr Equipment auf, Keith dirigiert.

Suzi beobachtet, wie Tom Robinson herumspringt.

»Verdammt viele Leute«, sagt er zur Band. »Es müssen Zehntausende sein. Was für ein Gefühl! Solidarität und Stärke, Jungs. Was für eine unglaubliche Versammlung!«

Suzi macht haufenweise Fotos.

Sie hört noch einen Sprechchor.

»We’re black, we’re white, we’re dynamite.«

Suzi entdeckt David Widgery, einen Kollegen von Temporary Hoarding. Er hält ein Plakat hoch mit den Worten seines ersten Editorials, seines Manifests:

WIRWOLLENREBELLISCHEMUSIK, STRASSENMUSIK, MUSIK, DIEDENMENSCHENDIEANGSTVOREINANDERNIMMT. MUSIKDERKRISE. JETZT-MUSIK. MUSIK, DIEWEISS, WERDERWAHREFEINDIST. ROCKGEGENRASSISMUS. LOVEMUSIC, HATERACISM.[4]

Er kommt auf sie zu, lächelt, ruft: »Lies das!«, und hält ihr sein Notizbuch hin.

Suzi liest:

Trafalgar Square in Farbe getaucht. Gelbe ANL-Buttons, punkig-pinke Rock-Against-Racism-Sterne, DayGlo-Fahnen, die während der Reden zustimmend geschwenkt werden.

Suzi denkt: goldrichtig.

»Wann geht’s los, Schatz?«, ruft Jackie wieder.

Jon, der den Jungen die Treppe hinunterträgt, sagt: »Ich glaube, es geht ziemlich früh los. Schätzungsweise halb elf? Wir könnten am Kanal entlangspazieren.«

»Gute Idee, Schatz.«

Noble bahnt sich durch die Menge, die sich auf den langen Weg zum Victoria Park macht. Er schlängelt sich zur Bühne. Dort entdeckt er eins der hohen Tiere, den Deputy Chief Constable in Uniform, der mit einem der Organisatoren spricht. Noble nähert sich langsam –

Das hohe Tier sagt: »Gott sei Dank wollten alle so schnell wie möglich losziehen, sonst hätte die Situation leicht außer Kontrolle geraten können.«

Der Angesprochene antwortet: »Diese Leute hier wollen keine Konfrontation, Officer.«[5]

Noble meint, es sei an der Zeit, sich an die Spitze des Zuges zu setzen, und wendet sich ab.

Der Truck mit den Ruts befindet sich etwa am Ende des ersten Drittels des Zuges. Misty in Roots spielen weiter vorne, und Suzi kann ihr basslastiges Reggae-Gewummer hören. Keith gibt ein Zeichen: lauter, lauter.

Die Band brüllt sich durch ihr Set, und Keith hat ein breites Grinsen in seinem wunderschönen Gesicht –

»Punky Reggae Party!«, brüllt Keith.

Sie spielen »Dope for Guns«, »Jah War«, »Savage Circle«, »Human Punk«, »Something That I Said«.

Das Publikum der Ruts ist eine Mischung aus Jugendlichen und Erwachsenen. Klebstoffschnüffler und Aktivisten.

Suzi fotografiert. Alle tanzen, singen und skandieren. Ihre Idee, mit ein paar Leuten zu reden und ein paar Statements zu bekommen, geht nicht auf. Der Lärm. Zehntausend Trillerpfeifen, alle auf einmal. Bevor Tom Robinson vom Wagen springt, prahlt er damit, dass er sie vom Chef der EMI bekommen hat, was alle zum Lachen bringt.

Sie erreichen die Bethnal Green Road, und eine leichte Nervosität macht sich bei Suzi bemerkbar.

Die Wohnblöcke, die etwas zurückgesetzt und bedrohlich an der Straße stehen, sind die berüchtigten Brutstätten der Front. Wenn es so etwas wie eine Reaktion auf diesen provokativen Demonstrationszug durch das rechte Hinterland geben wird, dann hier.

Sie richtet ihre Kamera auf ein Plakat, knipst:

JUNGERQUEER-JÜDISCHERSOZIALISTSUCHTEINEBESSEREWELT[6]

Ruhig fließt der Kanal dahin. Irgendwie schön, denkt Jon, als sie nach Homerton spazieren, dann nach Hackney Wick und schließlich hinauf in den Park.

Der Millfields Park ist trostlos, das Gras voller Zigarettenkippen und Hundehaufen. Strommasten ragen über die Baumkronen. Die Leitungen summen und brummen. Jon muss an Krieg der Welten und Die Triffids denken.

Das Wasser sieht nicht sehr verlockend aus.

Sie spielen ein Spiel, das sie schon als verliebte Teenager gespielt haben. Einkaufswagen, Verkehrsleitkegel, Angel, Fernseher, Liegestuhl, Reifen –

Dabei zeigen sie auf das Wasser.

»Was ist das?«, fragt Jon.

»Wo?«

»Da vorn, direkt unter der Oberfläche.«

Sie starren in den Schlamm.

»Sieht aus wie ein Autoradio«, sagt Jackie. »Du solltest reinspringen und es holen, Schatz. Wir brauchen ein neues.«

Jeden Montagnachmittag geht Jackie mit dem Jungen zum Mutter-Kind-Schwimmen in der Schule von Hackney Downs. Etwa einmal im Monat wird dort die Autoscheibe eingeschlagen und die Stereoanlage gestohlen.

Jon hat es satt, für diese Schwimmstunden zu bezahlen. Jon nickt. Er bewundert die Graffiti am Deich. Es regnet.

Der Junge schläft im Kinderwagen. Schön, denkt Jon.

Da es nur langsam vorwärts geht, braucht Noble nicht lange, um die Spitze des Zuges zu erreichen. Für eine Ansammlung von Hippies und Faulenzern kommen sie ganz gut voran, denkt er.

Ein ziemlich wilder Haufen. Klar, viele Punks, aber auch viele andere. Viele Second-Hand-Klamotten, lange Haare, viel Leder. Viele in scharfen Anzügen, mit Gürtel und Hosenträgern, Mädchen und Jungs. Breite Revers, knöchellange Hosen. Schuluniform-Chic. Viel Cord. Viel Jeansstoff. Schlaghosen und Stiefel. Komisch, dass nicht wenige als Fußball-Hooligans durchgehen würden, denkt Noble. Sogar die Zartbesaiteten unter ihnen haben diesen coolen Look. Vereinzelte Matrosenpullover. Ein paar Hüte. Und viele Asiaten, viele braune Gesichter. Noble glaubt, noch nie so viele Asiaten zwischen Schwarzen und Weißen gesehen zu haben. Er vermutet, dass das etwas zu bedeuten hat.

Oben in der Brick Lane stehen uniformierte und berittene Polizisten.

Es ist ein bemerkenswerter Aufmarsch an einem besonderen Ort: Die Läden und Geschäfte in der Brick Lane sind seit Langem im Visier der Schlägertrupps der National Front, und Noble vermutet, dass einige von ihnen sich hier herumtreiben, weil ihnen die Anwesenheit der Opposition nicht gefällt. Es wäre eine Botschaft, denkt Noble, wenn sich das herumsprechen würde.

Noble entdeckt Gardiner, nickt ihm zu und schiebt sich zwischen den Uniformierten hindurch, aus dem Blickfeld der Menge. Sie schütteln sich die Hände.

»Foreman hat Sie angekündigt«, sagt Gardiner.

Noble deutet auf die Pferde. »Sie verzichten also auf taktische Einsatzschilder?«

»Nun ja.« Gardiner zuckt mit den Schultern. Er nickt die Straße hinunter. »Wir helfen nur aus.«

»Wem helfen?«

Gardiner grinst und schüttelt den Kopf. »Nicht mein Bier.«

»Vergessen Sie’s.«

Gardiner deutet auf eine Gruppe asiatisch aussehender Männer, die in der Nähe stehen. »Die Gemeindevertreter haben mit jemandem gesprochen, der mit mir gesprochen hat. Demnach wird heute in der Brick Lane nichts passieren.«

»Nur heute?«

»Wie gesagt, nicht mein Bier.«

Noble nickt. »Haben wir da einen Interessenkonflikt?«

Gardiner schnaubt. »Der Feind meines Feindes ist eher mein Freund.«

»Sehr tiefgründig.«

»Cowboys und Indianer, Kumpel, das ist es.«

Noble nickt in Richtung der Gruppe asiatisch aussehender Männer. »Die haben sicher für den Pensionsfonds gespendet, oder?«

»So etwas in der Art.«

Noble kneift die Augen zusammen. »Kennen Sie irgendwelche Namen?«

Gardiner nickt wieder in Richtung der asiatischen Männer. »Der, der freundlich aussieht, heißt Shahid Akhtar, ein Geschäftsmann.«

»Legale Geschäfte?«

»So ziemlich.«

»Und diese kleine Show ist für die Front, ja? Haltet euch zurück?«

»Man muss sich nur die Gesichter einiger Uniformierter ansehen«, zwinkert Gardiner. »Wie Bulldoggen, die auf Wespen herumkauen. Die können es kaum erwarten, zuzuschlagen.«

Noble lächelt. »Dann werden wir Sie wohl noch einmal in Aktion sehen.«

»Gut möglich. Passen Sie auf sich auf.«

Noble bahnt sich einen Weg durch die Uniformierten und zurück in die Menge.

Auf sich aufzupassen, sollte heute kein Problem sein, denkt er.

Die Organisatoren am Trafalgar Square hatten recht: Es herrscht keine aggressive Stimmung.

Er denkt darüber nach, was Gardiner ihm gerade gesagt hat – oder besser: nicht gesagt hat.

Offenbar gibt es eine Verbindung zwischen der Brick Lane und der Polizeistation in Whitechapel, mit der Gardiner jedoch nichts zu tun hat.

Mehr noch: Nicht jeder will die National Front daran hindern, Brick Lane und Umgebung zu terrorisieren.

Zurück im dichten Gedränge betrachtet Noble die Fahnen und Transparente. Das Schwarz und Gelb der Plakate der Anti-Nazi League, das allgegenwärtige Rot. Schilder der Socialist Workers Party mit marxistischen Parolen, dazwischen das vereinzelte Schwarz der Anarchisten. An fast jedem Revers, an jedem Kragen hängen irgendwelche Anstecker und Buttons.

Es sind vor allem junge Leute, die eine gute Zeit haben. Viele Kids, viele Jugendliche.

Ältere Rastas mit Dreadlocks und Spliff, mit stoischem, unergründlichem Gesichtsausdruck, nicken zur Musik einer Band auf dem ersten Truck, Misty in Roots, wie Noble erfahren hat. Britischer Reggae: anscheinend eine coole Szene.

Noble steht mehr auf Punk. Er mochte The Ruts, als er vorbeikam. Er mag ihre Energie und Direktheit, die Absicht dahinter. Das ist ein ernsthafter Haufen, die Punks. Noble bewundert das, die politische Haltung.

Der Demonstrationszug biegt in die Bethnal Green Road ein, und Noble hält die Augen offen.

Vor ihnen: das Blade Bone.

Ein Pub der National Front.

Skinheads und Sechzehn-Loch-Stiefel. Fiese rassistische Drecksäcke in billigen Anzügen, die aus dem Hinterzimmer das Kommando führen und die Leute mit Parolen darüber aufhetzen, dass man uns die Jobs wegnimmt, die Frauen klaut und wir England zurückwollen.

Es gibt kein Schwarz im Union Jack.

Noble lässt die Menge an sich vorbeiziehen. Er überquert die Straße, ist jetzt auf der gleichen Seite wie das Blade Bone.

Von ihrem erhöhten Standpunkt auf dem Truck hört Suzi Sprechchöre.

»Sieg Heil, Sieg Heil, rotes Gesindel.«

Sie verrenkt den Hals, stellt sich auf die Zehenspitzen und sieht ein paar Dutzend böse aussehende Schläger vor dem Blade Bone, die den Nazigruß zeigen und die Demonstranten mit Bier bespritzen.

Es wird gegrölt, man sieht Victory-Zeichen, und es wird gerufen: »Sucht euch einen Job und verpisst euch dahin, wo ihr hergekommen seid.«

Und nur eine Reihe Polizisten –

Suzi ist angespannt.

Als sich ihr Truck nähert, stimmen The Ruts ihr bekanntestes Lied »Babylon’s Burning« an. Keith drückt einen Knopf, zwinkert Suzi zu, und aus den Lautsprechern dröhnt Sirenengeheul, genau wie auf der Platte, nur lauter – lauter! –, und dann das auf- und abschwellende Gitarrenriff, ein Brüllen ertönt, und ein gemäßigter Pogo setzt ein –

Alle singen mit, Arme hoch. Noble versteht etwas wie »burning in the street, burning in your houses«, es geht irgendwie um Angst …[7]

Die Nazigrüße lassen nach.

»Die halten das nicht durch!«, ruft jemand.

Suzi denkt: Stimmt. Die halten keine zwei Stunden durch, und so lange dauert es, bis fünfzigtausend Menschen an ihnen vorbeigezogen sind.

Ein anderer schreit: »Nehmt den rechten Arm zum Wichsen, ihr Fotzen!«

Er erntet Gelächter.

Ein alter Mann, der einen Einkaufswagen zieht, flucht über irgendetwas, winkt der Menge zu.

Die Menge applaudiert.

Suzi richtet ihre Kamera auf ein blaues Schild, die Corporation of The City of London, das St. George’s Cross in der Mitte des Logos.

Darunter wälzt sich die Menge weiter.

Jon, Jackie und der Junge erreichen den Victoria Park. Sie betreten ihn durch den Südost-Eingang und kämpfen sich mit dem Buggy durch den Schlamm. Als sie die Bühne sehen, muss Jon lächeln.

Ein rotes Banner mit weißen Buchstaben ist über die gesamte Breite gespannt:

CARNIVALAGAINSTTHENAZIS

Die Großbuchstaben haben etwas Charmantes, etwas Amateurhaftes, findet Jon.

Darunter ein anderes Transparent, schwarze Buchstaben auf weißem Grund:

ANTI-NAZILEAGUE

Sieht aus wie eine Schulaufführung, meint Jon.

Etwas weiter unten, auf der Höhe, wo die Bands spielen werden:

ROCKAGAINSTRACISM

Sie halten kurz inne, alle drei. Sie sind noch ein ganzes Stück entfernt, aber sie können jemanden auf der Bühne erkennen, sie können etwas hören. Es sind kaum Leute da. Ein paar Hundert, weit verstreut.

»Sieht aus, als wären wir zu früh, Schatz«, sagt Jackie. Jon nickt abwesend.

»Wer ist das?«, fragt Jackie.

Jon ist nicht sehr beeindruckt von der Lautsprecheranlage, aber er weiß, wer es ist.

»X-Ray Spex«, sagt er. »Die Sängerin heißt Poly Styrene.«

»Sieht nett aus«, sagt Jackie.

»Wo sind denn alle?«, fragt Jon.

Noble ist einer der Ersten im Park.

Er hat den Truck hinter sich gelassen, als dieser in die falsche Richtung in eine Einbahnstraße einbog und beim Rückwärtsfahren auf einem Grünstreifen stecken blieb. Die Band spielte weiter, was Noble erfreut zur Kenntnis nahm.

Alle strömen in den Park und bewegen sich in Richtung Osten, wo die Bühne aufgebaut ist. Jugendliche schreien und lachen, es müssen Tausende sein.

Irgendein komischer Vogel mit Turban steht auf der Bühne und schreit ins Mikrofon, irgendwas von Bondage und ihr könnt mich mal, und dass man kleine Mädchen sehen, aber nicht hören sollte –

Noble lächelt. Aber alles in allem kein so schlechter Sonntag. Nicht, dass er mit seiner Arbeit vorangekommen wäre. Er überlegt, was er in den Bericht schreiben könnte, ist sich aber nicht sicher, ob er überhaupt einen schreiben muss. Er zückt seinen Backstage-Pass, oder was diese Amateure dafür halten, und geht zu einem Seiteneingang, gleich rechts neben der Band, die gerade ihr Repertoire durchspielt.

Er wird sich umsehen, er wird mit ziemlicher Sicherheit keine rechtsextremen Personen von Interesse finden, aber es wird hilfreich sein, ein paar Namen mit Gesichtern zu verbinden.

»Na toll, so ein Scheiß, ehrlich.«

Das Stöhnen kommt von John Jennings, genannt Segs. Der Bassist von The Ruts ist stinksauer. Suzi versteht, warum: Der Truck steckt fest.

»Segs, der Fahrer kann dich nicht hören, du Witzbold«, schreit Dave Ruffy, der Schlagzeuger.

Suzi hört nur halb hin. Keith hat ein schiefes Grinsen im Gesicht.

Wie immer, denkt sie.

Die Gänge quietschen, und der Truck ruckelt ein Stück weiter. Die schmalen Straßen rund um Bethnal Green sind verdammt eng. Die Siedlung wirkt grau und abweisend.

Suzi sieht die Menge durch das Haupttor des Parks strömen.

Es müssen Tausende sein.

Der Lastwagen rumpelt los. Die Menge teilt sich. »Wie das Rote Meer«, ruft jemand und winkt sie durch.

Ein anderer hält eine Art Funktelefon in der Hand. »Kein Empfang!«, schreit er. »Wir kommen nicht durch.«[8]

In der Victoria Park Road versuchen sie, den Lastwagen durch das Nordtor zu manövrieren, direkt neben dem Hemingway Pub. Kinder hocken auf den Mauern der Siedlung, verspotten sie, werfen Steine, machen das V-Zeichen. Alle sind gut gelaunt, Suzi lächelt, winkt. Segs schreit: »Verpisst euch, ihr kleinen Rotzlöffel!«

Das Tor ist verschlossen, zumindest der untere Teil. Eine Diskussion entbrennt.

Dann springt Syd Shelton wieder auf.

»Der Parkwächter ist total betrunken«, lacht er. »Wir haben ihm heute Morgen eine Flasche Johnnie Walker gegeben, und seitdem zieht er mit der Crew von Steel Pulse durch die Gegend.«[9]

Die Band, die gerade eine Pause macht, lacht.

»Hier«, sagt Syd. »Er konnte die Schlüssel nicht finden, aber er hat mir das hier gegeben.«

Er reicht dem Fahrer einen Vorschlaghammer. Der zertrümmert das Schloss.

Applaus brandet auf. Suzi spürt, dass die Luft voller guter Energie ist.

Sie rollen in den Park, Suzi klettert auf einen Lautsprecher.

»Vorsicht, Liebling«, ruft Keith.

Suzi grinst und winkt.

Die Bäume tropfen. Die Sonne bricht durch. Ein leichter Wind weht.

In der Ferne betritt eine Band die Bühne –

The Clash.

Sie winkt Keith noch einmal zu, ihr Mund formt: »Ich bin dann mal weg.« Sie deutet auf ihre Kamera, dann rennt sie quer durch den Park, um die achtzigtausend Menschen herum, zum Seiteneingang rechts der Bühne und steigt die Stufen hinauf, gerade als Jimmy Pursey –

»Wie die Menge plötzlich abgeht«, sagt Jon. »Aus dem Nichts!«

Jackie stupst Jon an. »Wie die Band plötzlich loslegt.«

»Ja, schon gut, Jacks«, sagt Jon grinsend. »Sie sind gut, sie sind ernsthafte Musiker, politisch.«

»Genau«, sagt Jackie. »Sie wirken sehr ernst.«

Jon ist dankbar, dass sie so weit hinten stehen.

Noble schiebt sich an den Bühnenrand, gerade als The Clash mit »London’s Burning« loslegen.

Sie sehen richtig heiß aus, The Clash, das muss Noble ihnen lassen. Strummer trägt ein rotes T-Shirt und weiße Rude-Boy-Jeans. Simonon in blauer Jacke, Nietengürtel zur Lederhose, Plateaustiefel. Jones ganz in Schwarz, bedrohlich und mit Ketten.

Die Menge tobt. Es sieht chaotisch aus da unten, denkt Noble, der Ansturm auf die Bühne, ein Gewühl aus wild rudernden Armen und zuckenden Körpern.

In der Nähe entdeckt Noble Jimmy Pursey von Sham 69. Noble weiß alles über Sham 69 und ihre üblen Skinhead-Anhänger. Er entdeckt eine kleine Gruppe von Skins am Rande der Bühne, die mit Flaschen werfen.

Die aufgebrachte Menge stürzt sich auf sie. Sie werden verschluckt, verdaut, wieder ausgespuckt.

Links von der Bühne gibt es Streit. Streit darüber, ob The Clash noch länger spielen sollen. Irgendein aufgeblasener Kerl im roten Hemd gerät deswegen mit einem langhaarigen Schotten aneinander. »Die haben den Stecker gezogen«, brüllt jemand.[10]

Nobles Kiefermuskeln spannen sich an, er ist wachsam.

Die Hochhaussiedlung auf der anderen Seite des Parks schimmert durch die Bäume.

Dann springt Pursey auf die Bühne, in einem rot-weiß gestreiften T-Shirt, sehr französisch, mit Hosenträgern und Stiefeln. Er brüllt »White Riot« in ein Mikrofon, das jemand sofort ausschaltet.

Pogo. Fäuste werden in die Luft gestreckt. Wildes Getümmel.

Strummer singt in Simonons Mikro.

»I wanna riot«, brüllt die Menge. »I wanna riot.«

Dann ist alles vorbei, die Band verlässt die Bühne, sie sehen aus wie Rockstars, nicht wie Punks.

Noble schiebt sich weiter nach vorne.

Rotes Hemd hat irgendeinen Wichser in Lederjacke auf die Bühne geschubst, und der Wichser trinkt aus seiner Flasche mit Special Brew und schreit ins Mikro: »Mehr, mehr Clash, mehr Clash«[11], und der Schotte schreit: »Schafft den Idioten von der Bühne«[12], und die Lederjacke grinst. Noble mag nicht, wie der Typ sich benimmt, also geht Noble raus, sieht die Menge unter sich, Transparente und Trillerpfeifen, Irokesen und Sicherheitsnadeln, und er packt die Lederjacke am Revers und zieht sie nach hinten und sagt, direkt ins Gesicht dieses Wichsers: »Runter von der Bühne, du Wichser, verstanden?« Und der Typ schaut Noble an und merkt, dass Noble es ernst meint, und dass Noble niemand ist, mit dem man sich anlegen sollte, und die Lederjacke schrumpft, nickt, und Rotes Hemd macht eine beschwichtigende Geste: »Okay, alles in Ordnung, beruhigt euch«, und dann ist Noble schon weg, die Treppe runter, und er spürt eine Hand an seiner Jacke und dreht sich um –

»Das war ziemlich cool«, sagt Suzi zu dem Kerl, der gerade geholfen hat, die Bühne von der bescheuerten Roadcrew von The Clash zu befreien.

Er zuckt mit den Schultern. »Ein echter Herzensbrecher, der Typ in Leder.«

Suzi lächelt. »Ray Gange.«

»Äh?«

»Sein Name. Ray Gange. Er ist Schauspieler oder so. Sie drehen einen Film über The Clash, und er spielt ein Mitglied ihrer Roadcrew.«

»Tolle Idee«, sagt der Mann.

»Rude Boy soll der Film heißen.«

»Na, da passen die beiden ja perfekt.«

»Darf ich ein Foto machen?«, fragt Suzi und macht eine entsprechende Geste mit dem Zeigefinger. »Klick, klick.«

»Nein, tut mir leid«, sagt der Typ. »Ich sehe auf Fotos immer aus wie ein Schwerverbrecher.«

Suzi schaut ihm nach, wie er in der Menge verschwindet. Sie macht zwei Fotos von seiner sich entfernenden Gestalt.

Sie steigt wieder die Treppe hinauf und wartet auf Steel Pulse.

»Ziemlich viele Familien hier, was, Jon?«, sagt Jackie.

»Karnevalsatmosphäre«, sagt Jon. »Ein verdammter Zirkus.«

Jackie lacht. »Wahrscheinlich sind die Leute von der Spielgruppe mittendrin.«

Jetzt muss auch Jon lachen. »Bestimmt. Hippies, was?«

Sie essen ihre Sandwiches. Sie haben eine ruhige Bank gefunden, ein Stück östlich von der Bühne, und Jackie füttert den Jungen, während sie ihr Mittagessen genießen.

Jon blickt auf das alte Schwimmbad, die etwas heruntergekommenen Tennisplätze, den Abenteuerspielplatz, der schon bessere Tage gesehen hat. Am See, erinnert er sich, hängt ein Schild:

ANGELNVERBOTEN, BADENVERBOTEN, BOOTEVERBOTEN

Ein echter Vergnügungssee, hat er immer gedacht.

Besser als so manches Graffiti, das er gesehen hat.

»Das ist mal was anderes als der übliche Sonntag«, sagt Jackie.

Jon nickt. Er schaut auf die Uhr. »Steel Pulse ist als Nächstes dran«, sagt er.

Er ist aufgeregt, um ehrlich zu sein. Klar, The Clash waren etwas ganz Besonderes, dieses »White Riot« ein unglaublicher Moment, das stimmt. Aber britischer Reggae, das ist ganz große Klasse.

Ihre Sonntage verlaufen seit den Tagen in ihrer ersten Wohnung in der Queensdown Road immer gleich.

Jackie schiebt völlig erschöpft ein Huhn in die Röhre, später schlurfen sie durch Millfields Park und genehmigen sich noch einen im Prince of Wales am Kanal, gleich neben der Lea Bridge Road. Den Kleinen dürfen sie nicht mitnehmen, also wartet Jackie draußen, während Jon ein Pint, ein Glas Weißwein und ein paar Tüten Chips holt. Er nickt und lächelt Harry zu, seinem Nachbarn, einem Bauunternehmer, der kurz vor der Rente steht und in der Bar gegenüber trinkt, wo Sägespäne auf dem Boden liegen und die Männer ihre Pints leeren, woraufhin ihre Gläser in Windeseile nachgefüllt werden.

Das Prince ist okay. Draußen gibt es einen Stand mit Meeresfrüchten, und Jackie isst gern eine Schale Herzmuscheln und eine mit Krabben. Auch den Essig mag sie. Sie trinkt das Zeug, schlürft es hinunter.

Ein paar Männer angeln, ein paar Kinder klettern auf dem dicken Rohr über den Kanal. Auf der anderen Seite ist so eine Art Schleusentor, dessen Sinn Jon nicht versteht, aber es sieht hübsch aus, und daneben steht ein kleines Häuschen, vielleicht gehört es einem Schleusenwärter, und es kommt Jon immer wie eine Idylle vor, wenn sie am Wochenende unten am Kanal sind.

Ja, es ist ganz in Ordnung, das Prince. Manchmal spazieren sie weiter am Kanal hinauf, überqueren die Fußgängerbrücke, werfen einen Blick auf das sonntägliche Fußballspiel, auf die Angler, die mit ihrer Ausrüstung am Ufer hocken und schweigend Karpfen angeln. Dann gehen sie weiter, schauen den Ruderern am Ufer des Springfield Park zu – Ruderer, denkt Jon immer, in Hackney? –, bevor sie im Robin Hood mit seinem traurigen Spielplatz oder vor dem Anchor and Hope – einem Pub ohne Tische, ohne Frauen und Kinder – Bier, Wein und Chips zu sich nehmen.

Ja, sie mögen das Prince.

Früher gingen sie ab und zu in den Pub daneben, das Ship Aground. Ein seltsamer Ort. Ein Betonklotz mit einer Betonterrasse. Nicht direkt wie ein Pub in einer Sozialsiedlung, aber nicht weit davon entfernt; die Sozialsiedlungen liegen noch ein Stück hinter der Lea Bridge Road. Das Ship war praktisch, wenn die Tische vor dem Prince voll waren.

Aber da gehen sie nicht mehr hin.

Das Schild am Victoria Park Lake –

ANGELNVERBOTEN, BADENVERBOTEN, BOOTE VERBOTEN

Es fällt Jon wieder ein.

Vor etwa einem Jahr saßen sie vor dem Ship Aground, als es plötzlich in Strömen zu regnen begann. Der Wirt steckte den Kopf aus der Tür und rief die Familien herein.

Guter Mann, dachte Jon.

Aber kaum waren sie drinnen, sah er, wie der Wirt die Hand hob, »Nein danke« sagte und der bengalischen Familie, von der Jon wusste, dass sie in der Nähe wohnte, den Zutritt verwehrte.

Ein paar Wochen später prangte ein neues Graffiti an der Wand vor dem Ship.

KEINEHUNDE, KEINESCHWARZEN, KEINE IREN

»Können wir ein bisschen näher ran, Schatz?«, fragt Jon. »Für Steel Pulse.«

Jackie nickt. »Sind sie das jetzt?«, fragt sie und zeigt auf die Bühne. »Es ist plötzlich so schrecklich still.«

»Ja, das sind sie.«

»Was haben sie da an?«

Jon ist sich nicht sicher. Sie sind ganz in Weiß gekleidet, mit weißen Gewändern – und großen weißen Kapuzen. Totenstille in der Menge. Dann setzt die Band mit ihrem Song »Ku Klux Clan« ein.

»Verdammte Scheiße«, sagt Jon.

Als Noble den Backstage-Bereich verlässt, klopft ihm noch jemand auf die Schulter.

»Danke, großer Mann. Dafür, dass Sie die Bühne geräumt haben«, sagt der Typ. »Jemanden wie Sie könnten wir gut gebrauchen. Hier.«

Er gibt Noble eine Karte.

»Alles klar«, sagt Noble.

Auf der Karte steht ein Name: Red Saunders.

Noble verlässt den Park und geht auf die Uniformierten zu, die sich in der Nähe des Ausgangs von Bethnal Green versammelt haben. Er will wissen, was sie vorhaben. Er entdeckt Gardiner, der lacht.

»Alles klar, Chance«, ruft Gardiner und winkt ihm zu. »Genießen Sie die Show?«

»Welche?«

»Nicht frech werden, Junge.«

Noble grinst, geht weiter und denkt: die Musik oder Brick Lane.

Von der rechten Seite der Bühne aus gelingt Suzi ein legendäres Foto, das für sie den ganzen Tag widerspiegelt. Im Hintergrund ist das Publikum zu sehen, eine bunte Mischung aus schwarzen, braunen und weißen Gesichtern, eine Vielfalt von Gesichtsausdrücken, Ehrfurcht, Verwunderung, Entschlossenheit, Freude und vor allem, kurz bevor sie auf den Auslöser drückt, Schock, ja, genau das ist es, Schock.

Auf vielen Gesichtern ist eine Art Erschrecken zu sehen.

Im Vordergrund stehen Steel Pulse in langen weißen Gewändern und mit weißen Kapuzen und spielen ernsthaften politischen Reggae.

2 Skinhead

Mai 1978

Simon

Dein Kumpel Phil sagt, heute Abend ist was los, du solltest kommen. Du beschließt hinzugehen. Es ist eine wichtige Veranstaltung, sagt Phil, ein paar Chefs kommen, es gibt eine Ankündigung. Du holst Phil auf dem Weg ab. Tüte Pommes, Phil?, fragst du, hast du Lust? Ich hab noch ’ne Tüte mit was anderem, Kumpel, sagt Phil, die pfeifen wir uns rein. Ihr setzt euch auf eine Mauer am Rande der Siedlung, und Phil zieht eine kleine Plastiktüte mit vergilbtem Amphetamin heraus. Traveller Speed, sagt Phil, gebraut in der Tasche eines lüsternen Zigeuners. Ihr lacht beide darüber. Das wird dich gut drauf bringen, fügt Phil hinzu. Davon gehst du aus. Ihr schnupft beide kräftig, und das Zeug wirkt sofort, dieses Schwefelbrennen in der Nase und im Kopf. Phil sagt: Lass uns noch was trinken, bevor das Meeting anfängt. Also marschiert ihr beide über die Kreuzung Cambridge Heath und Hackney Road, dann die Bahngleise entlang, werft Steine und spuckt, biegt rechts ab, an der U-Bahn vorbei und die Bethnal Green Road entlang. Ihr schaut in die Pubs, und jeder in den Pubs schaut euch an, manchmal mit einem Nicken, ja, weiter so, oder mit einer hochgezogenen Augenbraue, oder mit einem Wegschauen, aber ihr werdet bemerkt, ein paar große, furchterregend aussehende Jungs in Bovver-Boy-Stiefeln und Jacken, mit kurz geschorenen Haaren und durchtrainiert. Ihr erregt Aufmerksamkeit, als würden sie euch anfeuern oder zumindest wahrnehmen, und das fühlt sich gut an. Der Pub ist brechend voll. Du nickst und murmelst etwas, beißt nervös die Zähne zusammen, sie knirschen, aber ein Lächeln bahnt sich seinen Weg durch die zusammengebissenen Zähne, und Phil bahnt sich einen Weg durch die Menge zur Bar, wo schon volle Gläser mit Lager und Bitter in Reih und Glied stehen und ein paar leere Pint-Gläser mit Geldscheinen drin. Phil wirft ein paar Scheine in eines der Gläser und reicht dir ein Lager, das schal und säuerlich ist, aber trotzdem gut schmeckt, dich entspannt und deine schmerzenden Zähne kühlt. Phil nickt dem einen oder anderen in der Menge zu, schüttelt die eine oder andere Hand, stellt dich vor, und du wirst angestarrt, und man nickt dir zu, und da ist dieser seltsame Zug um den Mund, der zu sagen scheint, ja, der sieht lecker aus, und es ist ein Stimmengewirr im Raum, das dich an die Pubs in der Green Street und in Plaistow an Spieltagen erinnert, wo du mit deinem alten Herrn warst, und all der Lärm und der Optimismus und das Gelächter, so ähnlich, aber hier hat es irgendwie mehr Schärfe, mehr Bedeutung oder so, mehr Wichtigkeit. Du schaust dich um und siehst graue Gesichter und rote Gesichter und weiße Gesichter und Glatzen und Stiefel und Hosenträger und Leder, du siehst braune Anzüge und Koteletten und graue Anzüge und Krawatten, Arbeitsmäntel und staubige Overalls, du siehst Männer, viele Männer, und die drei Schlampen hinter der Theke, die diese Männer bedienen, sie bedienen mit ihrem großen Lächeln und ihren großen Titten und ihren großen Zähnen, sie plappern auch, ihre großen Zähne sind mit rotem Lippenstift verschmiert, und sie lachen, lachen, lachen, schenken ein Pint nach dem anderen aus. Phil stupst dich an und reckt sein Kinn vor. Das ist Tyndall, und das ist Webster, sagt er, das sind die Chefs, genau, und da, da drüben, und er nickt, das ist Derrick Day, er ist der Organisator des ganzen Ladens, und du nickst und knirschst mit den Zähnen, und du glaubst, den Namen zu kennen, und Phil sagt, Ich stelle dir nachher Days Sohn vor, Derrick Junior, Little Derrick, nennen wir ihn, weil er so verdammt groß ist, und Phil lacht, und du lachst, und Phil sagt, Ruhe, es fängt an, und es wird still im Saal, und du kramst nach deinem Geld und holst dir und Phil Nachschub, und dann schlägt Tyndall oder Webster, du bist nicht sicher, wer von beiden, Tyndall oder Webster, mit einem Hammer auf einen Tisch, schreit Ruhe, Ruhe, und dann steht Tyndall oder Webster auf einem Stuhl, und Tyndall oder Webster spricht.

DIEMETROPOLITANPOLICEBITTETUM MITHILFE

MORD

DONNERSTAG, 4. MAI, 19:40 UHR

ALTABALI, 24, wurde in der Adler Street, E1 (Ecke Whitechapel Road) erstochen.

WARENSIEZURTATZEITINDERGEGEND? HABENSIEETWASBEOBACHTET?

Bitte wenden Sie sich an die Mordkommission in der LEMANSTREETPOLICESTATION

Tel: 01-488 5212

Alle Hinweise werden streng vertraulich behandelt[13]

Whitechapel Police Station, 5. Mai 1978.

Die Jungs von der Whitechapel Station brauchen nicht lange, um die drei kleinen Rotznasen zu schnappen, die in der Nacht zum 4. Mai den armen Altab Ali im Park an der Adler Street erstochen haben.

Noble vermutet, dass die Alteingesessenen dafür gesorgt haben. Die von der alten Schule. Wahrscheinlich war ihnen die beiläufige, bösartige, öffentliche Art des Angriffs nicht recht, weil sie zu viel Aufmerksamkeit erregte.

Drei junge Männer in Haft. Noble wurde vom West End Central herbeigerufen, weil er Teil der Met Initiative on Race Crime ist, der städtischen Initiative gegen rassistisch motivierte Straftaten.

Er nickt DC Gardiner zu. »Ich hab doch gesagt, wir werden uns öfter sehen.«

Gardiner sagt: »Zwei sind unten in der Zelle, und einer der Mistkerle sitzt im Verhörraum.«

»Sie haben es also getan?«

Gardiner zwinkert. »Sieht so aus.«

»Verstehe.«

»Nur eine Frage der Zeit. Wir haben den Anführer, wenn man ihn so nennen kann.«

Gardiner reicht Noble einen Zettel. Darauf steht eine Erklärung:

Wenn wir Pakis gesehen haben, sind wir auf sie losgegangen. Wir haben sie nach Geld gefragt und sie dann verprügelt. Ich habe mindestens fünfmal Pakis verprügelt.[14]

»Das hat er gesagt, ja?«

Gardiner schüttelt den Kopf. »Der Jüngere, aber es ist ein Anfang.«

»Aber das ist doch kein Geständnis, oder?«

Gardiner schüttelt den Kopf. »Er wollte ein bisschen angeben.«

»Charmant«, sagt Noble. »Hat der andere auch was gesagt?«

»Der Mistkerl hat nach seiner Mama geschrien.«

»Hat sie ihn besucht?«

Gardiner lacht. »Sie hat auch gesessen.«

»Was für ein Land.«

Gardiner nickt in Richtung Flur. »Sie gehören Ihnen, mein Freund.«

Im Verhörraum, einem fensterlosen Kabuff mit festgeschraubtem Tisch und fest installiertem Aschenbecher in der Mitte, blickt Noble in die toten Augen des siebzehnjährigen Roy Arnold. Eine Geschichte der Gewalt ist in sein Gesicht und seine Knöchel gebrannt. Seine Stirn ist niedrig und zerfurcht, gezeichnet von Rebellion und Hass.

Noble zündet Arnolds Zigarette an, eine Embassy, und sieht zu, wie er in Handschellen raucht.

Die Situation scheint dem Jungen vertraut.

Noble sagt: »Es wird nicht lange dauern. Dein Kumpel Carl Ludlow hat gestanden und dich und deinen jüngeren Kumpel hingehängt.«

»Okay«, sagt Arnold.

»Mich interessiert weder das Was noch das Wie, mein Junge«, sagt Noble. »Wir wissen genau, was du getan hast, wo du es getan hast, wie das Opfer – dein Opfer – ein paar Meter durch den Park getorkelt und dann verblutet ist.«

Arnold scheint von Nobles Schilderung völlig unbeeindruckt zu sein.

»Nein«, sagt Noble. »Mich interessiert das Warum.«

»Gibt überhaupt keinen Grund«, sagt Arnold.

Noble nickt. »Wir glauben, das Opfer war auf dem Weg zur Wahl.«